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Von einer Sekunde auf die andere können Eltern dein Leben umkrempeln.

Wie kann es sein, dass ein relativ intelligentes sechzehnjähriges Mädchen in eine beschissene Situation gerät, aus der es nicht mehr herauskommt? Genau diese Frage stellt sich mir, als ich an einem Montagnachmittag während einer eindreiviertelstündigen Verzögerung am O’Hare International Airport von Chicago sitze und über die letzten vierundzwanzig Stunden meines verpfuschten Lebens nachdenke.

Gestern hing ich in meinem Zimmer ab, als Ron, mein biologischer Vater, anrief. Nein, ihr versteht nicht, was ich meine … Ron ruft nie an. Außer an meinem Geburtstag – und der liegt schon acht Monate zurück.

Nach ihrer Affäre mit Ron im College stellte meine Mutter nämlich fest, dass sie schwanger war. Sie stammt aus einem reichen Elternhaus und Ron … na ja, eben nicht. Auf Druck ihrer Eltern sagte Mom Ron, es wäre wohl das Beste, wenn er sich aus unserem Leben weitgehend raushalten würde. Damit lagen sie so was von daneben! Aber das Schlimmste ist, dass er mehr oder minder kampflos aufgab.

Ich weiß, dass er ein Konto für mich eingerichtet hat, und am Geburtstag führt er mich zum Essen aus. Aber das ist mir egal. Ich will einen Vater, der immer für mich da ist.

Früher ließ er sich öfter blicken, aber irgendwann habe ich ihm gesagt, er soll mich in Ruhe lassen, damit meine Mom einen richtigen Vater für mich finden kann. Dabei habe ich es eigentlich gar nicht so gemeint – ich wollte ihn nur testen. Und er ist mit Pauken und Trompeten durchgefallen.

Und jetzt ruft der Typ einfach an und sagt meiner Mom, er will mich nach Israel mitnehmen. Israel! Ihr wisst schon, dieses kleine Land im Nahen Osten, das so viel Kontroversen verursacht. Man muss nicht täglich die Nachrichten verfolgen, um zu wissen, dass Israel der Nährboden für internationale Konflikte ist.

Aber ich schweife ab, kommen wir wieder zum Thema zurück. Meine Mom reicht mir das Telefon weiter – ohne jegliche Vorwarnung wie Es ist dein Vater oder Es ist der Typ, mit dem ich einen One-Night-Stand hatte, den ich aber nicht heiraten mochte.

Ich kann mich noch genau an seine Worte erinnern: »Hi, Amy. Ich bin’s, Ron.«

»Wer?«, frage ich.

Ich will ja kein Klugscheißer sein, es überstieg nur einfach meine Vorstellungskraft, dass der Kerl, der für fünfzig Prozent meiner Gene verantwortlich zeichnet, mich tatsächlich anruft.

»Ron … Ron Barak«, sagt er etwas lauter und langsamer – als wäre ich beschränkt.

Ich erstarre und sage erst mal gar nichts. Ob ihr es glaubt oder nicht, manchmal ist es sogar von Vorteil, wenn man keinen Ton rausbekommt. Das weiß ich aus jahrelanger Erfahrung. Es macht die anderen nervös, lockt sie aus der Reserve – und was soll ich sagen: besser sie als mich. Ich schnaufe laut, damit er weiß, dass ich noch dran bin.

»Amy?«

»Ja?«

»Äh, ich wollte dir nur Bescheid geben, dass deine Großmutter krank ist.« Grandmudder sagt er mit seinem israelischen Akzent.

Vor meinem inneren Auge blitzt kurz ein gesichtsloses Bild einer kleinen, weißhaarigen Dame auf, die nach Babypuder und alten Leuten riecht und deren Lebensinhalt darin besteht, Schokokekse zu backen.

»Ich wusste nicht, dass ich eine Grandmother habe«, erwidere ich und betone das »th«, weil Ron wie alle Israelis, die ich kenne, kein »th« sprechen kann – diesen Laut gibt es in ihrer Sprache nicht.

Die Mutter meiner Mom starb kurz nach meiner Geburt, sodass ich ohne Großmutter aufgewachsen bin. Plötzlich spüre ich einen Stich in der Brust – eine Mischung aus Trauer und Selbstmitleid –, weil ich gar nicht gewusst habe, dass ich noch eine Oma habe. Und nun, da ich es erfahre, ist sie krank. Kein schönes Gefühl. Schnell schiebe ich es in die hinterste Ecke meines Gehirns, weit weg, damit ich davor sicher bin.

Ron räuspert sich. »Sie lebt in Israel und … äh … ich fliege über den Sommer dahin. Ich würde dich gern mitnehmen.«

Israel?

»Ich bin keine Jüdin«, platze ich heraus.

Er stößt einen leisen Laut aus, als hätte er Schmerzen. »Man muss kein Jude sein, um nach Israel zu reisen, Amy.«

Und man muss kein Raketentechniker sein, um zu wissen, dass Israel genau mitten in einem Kriegsgebiet liegt. Ein Kriegsgebiet!

»Danke für das Angebot«, sage ich, »aber ich fahre diesen Sommer ins Tennis-Camp. Richte Grandma gute Besserung von mir aus. Tschüss!« Ich lege auf.

Es dauert keine vier Sekunden, bis das Telefon wieder klingelt. Das war ja klar. Ich weiß, dass es Ron ist. Ein wenig ironisch ist es schon, dass er sich sonst im ganzen Jahr kaum zweimal meldet und jetzt ruft er innerhalb weniger Sekunden zweimal hintereinander an.

Mom nimmt im Wohnzimmer ab, und ich versuche, durch die Tür meines Zimmers zu lauschen. Viel kann ich nicht verstehen, nur murmel, murmel, murmel. Nach ungefähr vierzig langen Minuten klopft sie an meine Tür und meint, ich soll für Israel packen.

»Du machst Witze!«

»Amy, du kannst ihm nicht ewig aus dem Weg gehen. Das ist nicht fair.«

Nicht fair? Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Entschuldige mal: Wenn was nicht fair ist, dann ist es die Tatsache, dass ihr zwei es nicht mal miteinander probiert habt. Erzähl du mir also nichts von Fairness.«

Ja, ich weiß, mit sechzehn sollte ich eigentlich darüber hinweg sein, aber ich bin es nun mal nicht. Ich habe nie behauptet, ich wäre perfekt.

»Die Dinge sind manchmal eben kompliziert«, sagt sie, »das wirst du verstehen, wenn du älter bist. Wir haben in der Vergangenheit alle Fehler gemacht, aber es wird Zeit, sie wiedergutzumachen. Du fliegst, das ist beschlossene Sache.«

Ich kriege die Panik und verlege mich auf die Tour mit den Schuldgefühlen.

»Ich könnte einem Anschlag zum Opfer fallen. Aber wenn es das ist, was du willst –«

»Amy, übertreib nicht so schamlos. Er hat mir versprochen, gut auf dich achtzugeben. Es wird eine tolle Erfahrung.«

Die nächsten zwei Stunden setze ich alle Hebel in Bewegung, um aus der Nummer rauszukommen, ich lasse nichts unversucht, echt. Dabei hätte ich wissen müssen, dass solche Diskussionen mit Mom nur zu Heiserkeit führen und sonst zu gar nichts.

Ich beschließe, meine beste Freundin Jessica anzurufen. Die liebe, gute Jessica, die immer für mich da ist und mich versteht.

»Hey, Amy, was gibt’s?«, antwortet eine fröhliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Meine Eltern haben beschlossen, mein Leben zu zerstören«, platze ich heraus.

»Was meinst du mit ›Eltern‹? Hat Ron sich gemeldet?«

»Ja, genau. Er hat angerufen. Und irgendwie hat er es geschafft, meine Mom davon zu überzeugen, dass sie meine Pläne für den Sommer cancelt, damit er mich mit nach Israel nehmen kann. Dabei will ich noch nicht sterben!«

»Ähm, du willst meine Meinung darüber nicht wirklich hören, Amy, glaub mir.«

Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen, als mir klar wird, dass Jessica, meine allerbeste Freundin auf der ganzen Welt, nicht hundertzehn Prozent hinter mir steht.

»Es ist ein Kriegsgebiet!« Ich sage es langsam, damit meine Worte ihre Wirkung richtig entfalten können.

Ist das ein Lachen am anderen Ende der Leitung?

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«, fragt Jessica. »Also meine Mom fliegt jedes Jahr zum Shoppen nach Tel Aviv. Sie sagt, die haben da die reinsten Diamanten. Erinnerst du dich an das schwarze Kleid, das ich so gern mag? Sie hat es dort für mich gekauft. Die haben super-coole Mode, die neuesten Trends aus Europa und –«

»Ich brauche jetzt deine Unterstützung, Jess, kein Gequatsche über Klunker und Klamotten«, unterbreche ich ihre Werbeveranstaltung für Israel.

»Tut mir leid. Du hast recht«, sagt sie.

»Schaust du nie Nachrichten?«

»Sicher, in Israel gibt es Probleme. Aber meine Eltern sagen, dass vieles, was im Fernsehen gesendet wird, pure Propaganda ist. Halte dich einfach von Bushaltestellen und Cafés fern. Ron wird schon auf dich aufpassen.«

»Ha«, mache ich.

»Bist du jetzt sauer auf mich?«, fragt Jess. »Soll ich lieber lügen und sagen, dein Leben ist auf immer und ewig verpfuscht? Würdest du dich dann besser fühlen?«

Jessica ist der einzige Mensch, dem ich es durchgehen lasse, wenn er mich auf den Arm nimmt. »Du haust heute die Kalauer nur so raus, Jess. Du weißt, dass ich dir nie böse sein kann, du bist meine ABF – meine allerbeste Freundin.«

Andererseits, was sagt es über unsere Freundschaft aus, wenn meine ABF kein Problem damit hat, mich in ein Kriegsgebiet zu schicken?

Jetzt, keine vierundzwanzig Stunden später, sitze ich am Flughafen und warte auf das Boarding für unseren Flug mit El Al Israel Airlines.

Als ich mich gelangweilt umsehe, entdecke ich einen Typ im dunklen Anzug, der in die Hocke geht und die Unterseite jeder einzelnen Sitzreihe untersucht. Falls er eine Bombe findet, weiß er dann auch, wie man die entschärft?

Ich werfe einen Blick auf meinen biologischen Vater, den fast inexistenten Mann in meinem Leben. Er liest Zeitung. Auf dem Weg zum Flughafen hat er versucht, sich mit mir zu unterhalten, aber ich habe ihn kaltgestellt, indem ich meine Kopfhörer aufgesetzt und iPod gehört habe.

Als ob er spüren würde, dass ich ihn anstarre, lässt er die Zeitung sinken und dreht sich zu mir. Seine Haare sind kurz. Sie sind dick und dunkel, genau wie meine. Ich bin mir sicher, wenn er sie wachsen lassen würde, wären sie auch lockig. Obwohl es eine ziemliche Plackerei ist, plätte ich meine jeden Morgen, weil ich meine Locken hasse.

Mom hat grüne Augen, meine sind blau. Alle sagen, sie wären so hellblau, dass sie richtig leuchten. Meine Augen mag ich an mir am liebsten.

Das Auffallendste, was ich von meiner Mutter geerbt habe, sind leider die Brüste. Wenn ich könnte, würde ich mir andere Haare wünschen und kleinere Dinger. Beim Tennisspielen sind sie mir immer im Weg. Habt ihr jemals versucht, mit ein Paar Riesendingern vorne dran eine beidhändige Rückhand zu schlagen? Frauen mit großen Brüsten sollten beim Tennis echt einen Behindertenbonus bekommen.

Wenn ich älter bin, lasse ich sie mir vielleicht operieren. Aber Jessica sagt, bei einer Brustverkleinerung schnippelt der Arzt die Areola weg … ihr wisst schon, den kompletten rosafarbenen Bereich um die Brustwarze, und dann, wenn sie das überschüssige Fettgewebe weggenommen haben, nähen sie den Warzenhof wieder dran.

Ich glaube, ich möchte meine Brustwarze gar nicht erst abgemacht haben.

Während ich über abgetrennte Brustwarzen nachdenke, merke ich, dass Ron mich noch immer ansieht. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, glaubt er wohl, dass ich von ihm angewidert bin. Ich kann ihm schlecht erklären, dass ich mir gerade vorgestellt habe, wie ich mit abgeschnippelten Brustwarzen aussehe.

Außerdem bin ich sowieso noch wütend auf ihn, weil er mich zu dieser bescheuerten Reise gezwungen hat. Wegen ihm musste ich das Tennis-Camp absagen, was bedeutet, dass ich es im Herbst bei den Ausscheidungsspielen wahrscheinlich nicht ins Highschool-Team schaffen werde. Dabei will ich unbedingt in die Schulauswahl.

Dazu kommt noch, dass mein Freund Mitch nicht mal weiß, dass ich weg bin, weil er mit seinem Dad ein paar Wochen »handy-freien« Camping-Urlaub macht. Wir sind noch nicht lange zusammen, und wenn wir uns den ganzen Sommer über nicht sehen, dann lernt er vielleicht eine andere kennen, die nicht Tausende von Meilen weit weg ist.

Ich weiß sowieso nicht, warum mich Ron dabeihaben will. Er mag mich nicht mal. Mom wollte mich wahrscheinlich los sein, damit sie mit ihrem neuen Freund mal Ruhe hat.

Ihr aktueller Freund, Marc mit »c«, hält sich für Mr Right. Dass ich nicht lache! Kapiert der nicht, dass er weg vom Fenster ist, sobald Mom einen Besseren findet?

»Ich gehe kurz auf die Toilette«, sage ich zu Ron.

Eigentlich muss ich gar nicht, aber ich nehme meine Handtasche und laufe den Gang entlang. Als ich außer Rons Sichtweite bin, hole ich mein getreues Handy heraus. Mom hat mich ermahnt, es wegen der Kosten nur im Notfall zu benutzen. Aber erstens sind wir ja noch nicht in Israel. Und zweitens spüre ich ganz deutlich, dass dies ein Notfall ist.