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Vor manchen Problemen kann man weglaufen, aber dann tauchen eben neue auf.

Zögernd betrete ich das Haus und sehe mich um. Direkt vor mir befindet sich die Küche. Ich folge Ron nach links und stehe einer Frau gegenüber, die neben dem Fenster in einem Schaukelstuhl sitzt. Ihr weißes Haar ist von dunklen Strähnen durchzogen.

Mit Augen – so strahlend blau, dass sie fast zu leuchten scheinen – sieht sie mich an. Als unsere Blicke sich treffen, kommt es mir vor, als würde ich mir im Spiegel in die Augen schauen. Ich bin so überwältigt, dass es mir den Atem verschlägt. Die Luft kommt mir auf einmal dick und zäh vor.

Ich schnaufe – das Atmen fällt mir schwer.

Meine Großmutter.

Meine kranke Großmutter.

Sie sieht klein und schwach aus. Ob sie sterben muss?

Als ich mich zum Rest der Familie umdrehe, merke ich, dass mich alle angaffen. Ich komme mir vor, als stünde ich bei irgendeiner Doku-Soap vor der Jury, und die anderen sind die Zuschauer. Die Stimme eines überdrehten Fernsehansagers in meinem Kopf dröhnt: Wird Amy einen Fehler machen und dieses erste Kennenlernen vermasseln? Verpassen Sie nicht die nächste Folge von »Uneheliche Kinder«, in der wir erfahren, ob ihre kranke Großmutter Amy vor den Augen von dreißig Millionen Zuschauern annimmt oder zurückweist

Noch ehe ich mich’s versehe, mache ich kehrt und laufe aus dem Haus. Tränen schießen mir in die Augen. Ich renne und renne und renne, bis mir die Beine versagen. Vorbei an Häuserreihen, Heuhaufen, Pferden, Kühen und Schafen, als wäre ich auf irgendeinem Farm-Set in Hollywood.

Als ich aufhöre zu rennen und stattdessen normal laufe, geht mir durch den Kopf, dass Safta mich für völlig bescheuert halten muss. Eigentlich wollte ich sie umarmen – ehrlich. Aber nicht vor dem Rest der Familie, der jeden meiner Schritte, jede meiner Gesten beobachtet.

Ich laufe weiter, stinksauer auf ME, weil er aus meinem ersten Treffen mit Safta eine Großveranstaltung gemacht hat. Vor mir taucht ein niedriger Drahtzaun auf, doch als ich gerade darübersteigen will, hält mich eine Stimme auf.

»Da kannst du nicht hin.«

Ich erstarre und drehe mich zu der barschen Stimme um. Es ist Kein-T-Shirt-Typ, der vor einem Heuhaufen, so hoch wie ein dreistöckiges Haus, steht. Ein dünner Schweißfilm auf seiner Brust glänzt in der Sonne, aber ich versuche, dem keine Beachtung zu schenken, und denke stattdessen an etwas Unangenehmes. Zum Beispiel, dass er bestimmt nach Schaf und Schweiß stinkt und ganz dringend eine Dusche braucht. Genauso wie ich. Mit den Fingerspitzen wische ich mir die Tränen weg, die mir über die Wangen laufen.

»Ist das etwa kein freies Land?« Ich bemühe mich, meiner Stimme einen festen Klang zu verleihen.

Das würde mir gerade noch fehlen, vor irgend so einem supercoolen Macho Schwäche zu zeigen.

Er dreht sich um und wirft einen ganzen Ballen Heu in den Schafpferch.

»Auf dem Schild steht, dass hinter dem Zaun ein Minenfeld liegt. Wenn du dein Glück auf die Probe stellen willst – ich werde dich nicht aufhalten«, sagt Kein-T-Shirt-süßes-Arschloch, während er die Schafweide betritt.

Ich sitze noch immer rittlings auf dem Zaun. Verdammt. Das IST ein Kriegsgebiet. Ich betrachte meinen Fuß auf der anderen Seite des Drahtzauns – da habe ich wohl Glück gehabt, dass er noch dran ist und nicht weggesprengt wurde. Behutsam hebe ich mein Bein und bringe es zurück auf die sichere Seite des Zauns.

»Du hast keinen Schimmer, wo du hier bist, stimmt’s?«, fragt er schroff und nimmt einen weiteren Heuballen in Angriff.

»Doch«, sage ich. »Auf einem Berg mitten in Israel.« Ach nee!

»Um genau zu sein, im nördlichen Teil von Israel, nicht in der Mitte. Auf den Golanhöhen.«

»Und?«

»Amis«, murmelt er und schüttelt langsam und sichtlich genervt den Kopf.

»Okay, was ist so Besonderes an den Golanhöhen?«

»Sagen wir mal so, Syrien ist in dieser Richtung nur ungefähr zehn Meilen weg.« Er deutet irgendwohin. »Für ein jüdisches Mädchen weißt du nicht viel über deine Heimat.«

Ja, nur dass ich keine Jüdin bin. Aber das verrate ich ihm nicht, weil er mich dann wahrscheinlich noch blöder anmachen würde. Jedenfalls bin ich froh, als er sich umdreht und zurück auf die Schafweide geht.

»Ärg!«

Bei dem Geräusch zu meinen Füßen zucke ich zusammen. Ein räudiger, völlig verdreckter Welpe, der vermutlich mal weiß war, haut mir mit Karacho seinen Schwanz gegen die Beine. Als ich ihn ansehe, rollt er sich auf den Rücken und reckt die Pfoten in die Luft.

»Sorry«, sage ich zu dem Köter, »Aber ich steh nicht so auf Hunde.« Such dir einen anderen Dummen, der seine Hände an deinem versifften, flohverseuchten Bauch reibt. Ein Katzenfreund bin ich übrigens auch nicht. Eigentlich mag ich gar keine Tiere. Und von ganzen Herden von Viechern umgeben zu sein, verursacht mir Juckreiz.

Ich mache mich langsam auf den Rückweg. Dummerweise folgt mir der Köter.

»Ärg!«, kläfft das Vieh wieder.

Ich laufe weiter.

»Weißt du nicht, dass Hunde ›Wuff‹ machen und nicht ›Ärg‹?«, frage ich ihn. »Was soll das werden? Machst du einen auf Pirat oder was?«

Der Hund antwortet mir mit einem weiteren »Ärg«. Diesmal schriller als zuvor, als wolle er mich absichtlich ärgern. Also so, wie mein Tag bisher verlaufen ist, würde mich das nicht wundern.

»Wuff! Wuff! Wuff!«

Man könnte denken, der Köter verarscht mich, oder? Doch als ich mich zu dem rauen, tiefen Bellen umdrehe, wird mir schlagartig klar, dass der Köter Freunde hat. Viele Freunde.

Außerdem lag ich falsch damit, dass er völlig verdreckt ist. Diese fünf Hunde starren nur so vor Schmutz – dagegen wirkt der Köterwelpe geradezu gepflegt. Und noch außerdemer sind sie sehr, sehr groß.

Sie rennen auf mich zu und bellen sich die Kehle aus dem Hals, als hätte ich ihr Junges entführt.

Panik ist nicht das richtige Wort, um zu beschreiben, was in mir vorgeht. Als mein Leben blitzartig vor meinem inneren Auge vorüberzieht, wäge ich kurz meine zwei Optionen ab. Ich könnte entweder über den Zaun ins Minenfeld hechten oder in den Schafpferch.

Ich habe keine Zeit zu verlieren, also renne ich, so schnell mich meine verschwitzten, müden, schmerzenden Beine tragen. Während ich rase, bin ich mir nicht einmal darüber im Klaren, für welche der beiden Möglichkeiten ich mich entschieden habe.

Ich renne schneller und schneller und nehme die hohen »Ärgs« zu meinen Füßen und die tiefen »Wuffs« nicht weit dahinter kaum mehr wahr. Nur noch ein kleines Stück, sagt mir mein vernebelter Verstand. Ich glaube, ich kreische und brülle Obszönitäten, aber ich kann es nicht sicher sagen, weil ich zu sehr mit meinen Beinen beschäftigt bin und mich nicht damit aufhalten kann, auch noch meinen Mund zu zensieren.

Es erscheint mir wie eine halbe Ewigkeit. Als ich die Weide erreiche, gebe ich noch einmal richtig Gas. Mein Sportlehrer Mr Haraldson wäre stolz auf meinen Sprung. Ich bin letztes Schuljahr nicht mal in der Nähe einer Sporturkunde gekommen, aber mit diesem Satz stelle ich vermutlich gerade einen neuen Weltrekord auf.

Ich hechte nicht gezielt irgendwohin, nehme alles nur undeutlich und verschwommen wahr. Dann kneife ich die Augen zu. Hoffentlich mache ich bei meiner Bruchlandung kein Schaf platt.

Doch statt gegen ein Schaf zu knallen, bremst etwas Hartes, Festes meinen Sturz.

Aus Angst vor dem, was kommt, traue ich mich nicht, die Augen zu öffnen, doch meine Nase ist im Himmel. Der Duft von Jungenschweiß umfängt mich.

Kein ekliger, grottiger Körpergeruch, sondern dieses zarte Jungs-Moschus-Aroma, das mich tief einatmen lässt.

Oh-oh, jetzt wird mir klar, was ich hier tue, wo ich bin und wessen Geruch ich inhaliere, als wäre er eine verdammte Rosenknospe – dabei ist es eigentlich nur ein Typ. Ich reiße die Augen auf.

Fragt mich jetzt nicht, wie es kommt, dass ich rittlings auf Kein-T-Shirt-süßes-Arschloch sitze. Seine Hände sind auf mir. Um genau zu sein, liegt eine auf meinem Rücken und die andere auf meiner Hüfte. Und ich ertappe mich dabei, wie ich in seine Mokka-Augen starre, die definitiv einen hypnotisierenden Effekt haben.

Ich will mich gerade aufrappeln, da höre ich Schritte. Jemand läuft durch das Gras neben dem Schafpferch. Ich spähe darüber, um zu sehen, wer es ist. Mir ist bewusst, dass die Stellung, in der ich mich befinde, ziemlich eindeutig aussieht und mir vermutlich ein Riesendonnerwetter einbringen würde.

Als ich mich schließlich von ihm herunterwälze, erhasche ich einen Blick auf denjenigen, der Zeuge dieses Debakels geworden ist. Es ist der letzte Mensch, den ich hier gebrauchen kann: O’snot.

Und als ich sehe, wie ihr Mund zu einem schmalen Strich wird und sie anklagend die Hände in die Hüften stützt, ziehe ich die einzig mögliche Schlussfolgerung.

Kein-T-Shirt-süßes-Arschloch ist der Freund meiner Cousine O’snot.

O’shit.