3
»Unsere Informationen waren falsch, die Zielperson ist nicht hier. Ich blase diese Mission ab und befehle Ihnen«, Shane sah mit festem Blick von Rick zu Owen, dann zu Magic und zum Senior Chief, »mit dem Rest des Teams zurück über die Grenze zu gehen. Dabei könnte es allerdings –«
»Bei allem Respekt, Sir«, unterbrach Owen ihn ernst und blickte von der Ausrüstung auf, mit der er gerade versuchte, die Funksignale des mysteriösen Teams anzuzapfen. Er war jetzt, ebenso wie der Senior, Rick und Magic, gekleidet wie ein Ziegenhirte – bis hin zum Hut, der half sein Gesicht zu verbergen. »Wir lassen Sie nicht allein hier zurück.«
»Es reicht«, übertönte ihn der Senior und warf dem Jungen seinen bohrendsten Blick zu.
»Dabei könnte es allerdings passieren«, wiederholte Shane und übertönte sie beide, »dass Sie aufgehalten werden, weil sie aufgrund eines bevorstehenden Angriffs durch einen unbekannten, nicht identifizierten und potenziell tödlichen Feind humanitäre Hilfe leisten und Zivilisten in Sicherheit bringen müssen.«
»Mannomann, Sir, ganz schön happig«, sagte der Senior.
»Achten Sie auf Ihre Wortwahl, Senior Chief«, sagte Shane zu dem älteren Mann. »Und das ist die Stelle, wo Sie aye, aye, Sir sagen. Allesamt.«
Sie murmelten es, ohne besonders große Überzeugung, und er fuhr fort. »Ich habe das Kommando. Ich habe gemeldet, dass die Mission fehlgeschlagen ist und den Befehl erteilt. Sie haben besagten Befehl befolgt. Für den Fall, dass Sie gefragt werden, werden Sie die Wahrheit sagen. Das sind schlichte Fakten zu Ihrem Schutz.«
Wegen des gestörten SAT-Signals würde es keine Aufzeichnung darüber geben, wann das Team das Gebiet verließ. Und da Shane allein zurückbleiben und vom Helikopter am vorgesehenen Aufnahmepunkt abgeholt werden würde, würde er darauf bestehen, sich allein um die Rettung der falsch identifizierten Frau zu kümmern.
Seine wohlüberlegte Wortwahl würde es seinen Männern erlauben, Lügendetektortests zu bestehen, wenn es so weit kam.
Außer Magic Kozinski, der zwar die Wahrheit kannte, aber die bizarre Fähigkeit besaß, seinen Puls und Blutdruck zu kontrollieren, während er log wie gedruckt.
Sie waren alle darauf trainiert, rudimentäre Lügendetektoren zu einem gewissen Grad an der Nase herumzuführen. Aber es war wirklich der helle Wahnsinn, wie gekonnt Magic die dazu nötige Ruhe erlangte. Einmal hatte er seinen Puls sogar mitten in einem Feuergefecht auf fünfzig reduziert.
Also machte Shane sich um ihn keine Sorgen, was gut war, denn Magic kannte Einzelheiten wie Tomasin Montagues Namen. Shane hatte beschlossen, dass es das Beste war, dem Rest des Teams diese Information vorzuenthalten. Je weniger sie wussten, desto besser standen ihre Chancen, den administrativen Donnerschlag zu überleben, der sich bereits am Horizont zusammenbraute.
»Und wer oder was schützt Sie, Sir«, fragte nun Magic, der Klang seines Sir war wieder bei Arschloch angekommen, »vor den hochrangigen Konzern-Heinis, die trotzdem wollen, dass die falsch identifizierte Zielperson ausgelöscht wird?«
»Ich komme schon klar«, sagte Shane wieder. Vielleicht, mit Ashley und ihrem mächtigen Vater und Onkel an der Seite … Vielleicht konnte er das überleben.
Aber es spielte eigentlich keine Rolle. Er hatte keine andere Wahl. Er würde nicht den Befehl erteilen, eine unschuldige Frau zu töten.
Der Senior Chief brach das Schweigen. »Bei allem Respekt, L.T.«, sagte er und wiederholte genau die Worte, für die er Owen eben noch einen finsteren Blick zugeworfen hatte, »wir lassen Sie nicht hier zurück.«
Auch darauf war Shane vorbereitet, und er nahm die Spritze heraus, die er im Ärmel versteckt hatte. »Die Schmerzen sind so stark geworden, dass ich mir – gerade eben, nachdem ich den Befehl erteilt habe, die Mission abzublasen – die Medikamente verabreicht habe, die Rick mir gegeben hat«, sagte er ihnen und überreichte dem Sanitäter des Teams die Spritze, die er in Wahrheit geleert hatte, während Magic den Senior und Owen geholt hatte. Er hatte das wirkungsvolle Schmerzmittel auf den staubigen Boden laufen lassen – was sie zweifellos alle wussten, aber nicht beweisen konnten, insbesondere, weil er sich die Mühe gemacht hatte, es aussehen zu lassen, als hätte er sich gerade selbst die Injektion gesetzt.
»Ich brauche eine weitere Dosis«, sagte er zu Rick, der die Nadel vorsichtig entsorgte, »außerdem noch ein paar Dosen von dem Lokalanästhetikum.«
»Na, das setzt dem Ganzen ja die Krone auf«, sagte Magic aufgebracht. »Du legst es nicht nur darauf an, auf die schwarze Liste zu kommen, sondern auch, den verdammten Rest deines Scheißlebens am Scheißstock zu gehen. Was ist bloß los mit dir?«
Shane ignorierte seinen Freund, während Rick zum Senior Chief blickte, der augenblicklich die Verantwortung hatte, wenn der kommandierende Offizier des Teams ein solches Medikament genommen hatte. Gemäß dem überarbeiteten Militärkodex von 2024 bedeutete die Einnahme starker Schmerzmittel automatisch, dass Shane aufgrund seiner medizinischen Dienstunfähigkeit willentlich auf seine Befehlsgewalt verzichtet hatte. Darüber brauchte man kein Wort mehr zu verlieren. Es war einfach so.
Und nun war Shane im Grunde nichts anderes als irgendein Mensch, dem sein früheres Team helfen würde, denn er unterstützte – als Zivilist – Tomasin Montague und ihre Familie.
»Geben Sie Lieutenant Laughlin, was er braucht«, befahl der Senior Rick mürrisch und richtete ein scharfes »Behalten Sie Ihre Meinung für sich, Kozinski« an Magic.
Shane warf einen Blick auf seine Taucheruhr. Er lag gut in der Zeit. »Ich weiß, dass ich nicht mehr das Kommando führe, aber wir sollten in Position gehen, um sie abzufangen, Senior Chief«, sagte er, während Rick ihm ein neues Päckchen eingewickelter Spritzen aushändigte und er sie in seine Weste stopfte.
Sie hatten alle vor Beginn des Einsatzes das Gelände studiert. Es gab zwei mögliche Wege aus dem Dorf und in die Berge hinauf. Einen davon würden Tomasin Montague und ihr Sohn nehmen müssen.
Der Senior Chief runzelte die Stirn. Auch Rick und Owen stutzten.
Magic war der Einzige, der mitbekommen hatte, wie Shane auf die Uhr sah, und weil er Shane ebenso gut kannte wie sich selbst, wusste er auch, was jetzt kam.
Bumm!
Da war er. Der erste Treffer des Luftschlags, den Shane angefordert hatte. Er hatte die Koordinaten des verlassenen Bauernhauses durchgefunkt, das sie auf ihrem Weg den Berg hinauf passiert hatten.
Bumm-ba-da-bumm! Ba-bumm! Ba-da-bumm! Es klang, als ginge ein Feuerwerk los, als die Landminen um den Bauernhof herum ebenfalls zu explodieren begannen.
»Ich habe Dex überprüfen lassen, ob das Bauernhaus immer noch verlassen ist«, informierte Shane den Senior, während er sich selbst eine weitere ordentliche Dosis des Lokalanästhetikums verabreichte und mühsam auf die Beine kam. Sein Knöchel tat immer noch höllisch weh und fühlte sich beschissen an, aber er hielt seinem Gewicht stand. Er brauchte nicht Magics düstere, mahnende Worte, um zu wissen, dass er, wenn er mit einer solchen Verletzung lief, einen bleibenden Schaden davontragen konnte. Aber er hatte keine große Wahl und musste tun, was er tun musste. »Ich dachte, wir könnten genauso gut so viel wie möglich von dem Minenfeld zerstören – zwei Fliegen mit einer Klappe.«
Der Lärm des Angriffs wirkte unten im Dorf wie eine Alarmsirene, und tatsächlich konnte Shane von ihrem Aussichtspunkt am Berghang eine kleine Gruppe von Personen sehen, die hinten aus der Wellblechhütte der Schule strömten. Sie bewegten sich schnell, aber vorsichtig auf den steilsten der beiden Pfade zu, die den Berg hinaufführten, als wären sie darauf gedrillt.
»Auf beiden Pfaden in Position gehen«, befahl der Senior. »Für den Fall, dass es ein Ablenkungsmanöver ist. Haltet Ausschau nach unserer falsch markierten früheren Zielperson, identifiziert sie, lasst sie passieren, aber folgt ihr dann. Wir holen sie ein, wenn sie sich sicherer fühlt.« Er blickte Shane an, der ihm zunickte.
Genau das hatte Shane vorgehabt und geplant. Montague und ihre Beschützer waren zweifellos durch den Lärm des nahen Bombardements verängstigt. Wahrscheinlich würden sie zuerst schießen, ohne Fragen zu stellen, zumindest in dieser Phase des Spiels.
»Rick geht mit Kozinski«, fuhr der Senior fort. »Owen und der L.T. mit mir.«
»Entschuldigung, Sir«, sagte Owen und blickte von Shane zu Salantino, wieder zu Shane und zurück, als er sich korrigierte, »Ich meine, Senior. Aber ich habe es endlich geschafft, in das Funkgespräch des Schurkenteams einzudringen, und gerade ist der Befehl rausgegangen, einen Mörserangriff zu starten.«
Und da war es. Shane hörte es, und er wusste, dass seine SEALs es auch hörten. Das Wamm eines Granatwerfers, der ausgelöst wurde, war ebenso unverwechselbar wie die Stille, die unmittelbar darauf folgte. Keine Chance, zu wissen, was das Ziel war, denn man hörte das verfluchte Ding nicht kommen.
Kein Pfeifen, keine Warnung. Nur plötzlicher, sofortiger Tod.
Und dann kam der Einschlag – ein direkter Treffer auf die Wellblechhütte der Schule. Sie alle hörten den Knall, laut und deutlich, während die Explosion die Nacht zerriss. Dort wimmelte es immer noch von Menschen – hauptsächlich Kindern.
Ein weiteres Wamm folgte, und alle SEALs rannten los.
»Tun Sie alles, was nötig ist, um diese Arschlöcher zu stoppen, wer die auch immer sind«, befahl Shane dem Senior Chief, während sie den Berghang hinunterstolperten, obwohl es ihm nicht mehr zustand, Befehle zu erteilen. »Legen Sie ihnen das Handwerk, dann helfen Sie den Verwundeten! Ich bringe die Frau und ihre Familie in Sicherheit!«
»Wagen Sie nicht, sich von den eigenen Leuten abknallen zu lassen, L.T.«, rief der Senior zurück, während er mit Rick und Owen auf den Fersen direkt auf die Todeszone zusteuerte und dabei ein Funksignal an Dex eröffnete.
»Magic, du kommst mit mir«, rief Shane, doch der größere SEAL war bereits Schulter an Schulter mit ihm.
»Mein Paschtu ist beschissen, also versuch ich es mal mit Französisch«, sagte Magic. »Von wegen kanadischer Vater und so.«
»Rede einfach drauflos und hör nicht auf, bis du sicher bist, dass sie uns nicht umbringen«, sagte Shane, als die Gruppe Dorfbewohner auf halbem Weg den steilen Pfad hinauf stehen blieb, sich umdrehte und entsetzt mit ansah, wie ein weiteres Geschütz einschlug; dieses Mal ging ein Auto in Flammen auf.
Die Leute machten kehrt und schickten sich an, den Berg wieder hinunterzusteigen, zweifellos um den Verletzten zu helfen, die nun vor dem in der Schule lodernden Feuer flüchteten. Das würde den sicheren Tod für Tomasin Montague bedeuten, also setzte sich Shane in Bewegung, hin zu ihr. Er ging nicht.
Er rannte, was das Zeug hielt.