23

Reynards Portal schwankte und schrumpfte langsam, bis es in sich zusammenfiel wie eine welkende Blume.

Holly fing die Miniaturkirche, hielt sie hoch über ihren Kopf und tänzelte rückwärts. »Hey, du! Hier drüben!«

Nur ließ Tony sich nicht mehr ablenken. Er kämpfte dagegen, ins Burgexil gedrängt zu werden – kämpfte und siegte. Reynard fluchte. Ein Portal war schwierig genug zu halten, ohne dass ein Dämon versuchte, es zuzuschlagen. Er konnte die anderen Wachen hinter der Öffnung fühlen, die zu helfen versuchten, doch Reynard war der stärkste von ihnen.

Diesmal leider nicht stark genug. Der Sammlerdämon mochte weniger Macht besitzen als ein Seelenfresser oder ein Feuerdämon, sie hatten es aber immer noch mit einer Höllenbrut zu tun. Dass er sich friedlich ergab, war nicht zu erwarten.

Reynard gab das Portal auf und nahm seine Arme herunter, während es zuwirbelte.

Sie mussten sich etwas anderes einfallen lassen.

Aus Erfahrung wusste Reynard, dass Dämonen leichter mittels Beharrlichkeit denn purer Kraft zu fangen waren. Wenn sie sich jetzt zurückzogen, bedeutete das keine Niederlage, sondern lediglich den Beginn einer Prüfung. Reynard wollte die Schwäche der Kreatur herausfinden. Er war der Captain der Burgwachen. Gegen Monstren zu kämpfen war sein Beruf.

Er wischte sich die Hände an seiner Jeans ab und machte sich für die nächste Runde bereit. Ein verdrehter Teil von ihm genoss die Herausforderung – aber er war müde. Der Urne nahe zu sein genügte nicht. Er musste sie finden und in die Burg zurückkehren.

Die der letzte Ort war, an den er gehen wollte. Und möglicherweise schaffte er es gar nicht mehr dorthin. Das Ende kam so oder so, worüber nachzusinnen Reynard sich gegenwärtig nicht erlauben konnte.

Das Ding, das Tony der Buchhändler gewesen war, riss sein gewaltiges Maul auf und kreischte wie eine Todesfee, dass es einem durch Mark und Bein fuhr.

Der saure Gestank von Dämonenmagie rollte durch das Geschäft, als die Kreatur albtraumhaft ihre Flügel ausbreitete.

Riesig und dunkel schwoll der Dämon an, bis er den vorderen Teil des Verkaufsraumes vollständig ausfüllte, wobei sein Schatten einer Flutwelle gleich die Decke verfinsterte. Alles wurde duster, als würde die Dämmerung einsetzen. Im falschen Zwielicht fiel das Atmen schwer. Die Luft schien allen Lebens beraubt.

Holly warf einen Energieball, und die dunkle Welle zog sich für einen Moment zurück. Dann drehte Holly sich um und rannte den Gang hinunter, die Miniaturkirche unter ihrem Arm. Mit einem gewaltigen Rauschen schlug der Dämon seine Flügel, stieg auf und segelte bedrohlich hinter der Hexe her.

Reynard stürmte vorwärts, um sich zwischen sie zu bringen, kam aber zu spät. Kaum hatte Holly den gefliesten Wandelgang erreicht, packte der Dämon sie mit seinem Schnabel an den Schultern und riss sie nach oben.

Reynard sprang und streckte die Arme nach ihr aus. Hollys Hand streifte seine, doch es gelang ihr nicht, sie zu ergreifen. Sie verlor die kleine Modellkirche, die in unzählige befremdlich melodisch klirrende Scherben zerfiel, als sie auf dem Boden landete.

Fauchend machte Alessandro einen Satz nach vorn, das Schwert zum beidhändigen Schlag bereit. Die Hebelkraft des Vampirs katapultierte ihn gute drei Meter hoch in die Luft. Als er jedoch die Klinge schwang, verwandelte der Dämon sich in Dunst. Holly fiel wie ein Stein, aber Alessandro fing sie mit einem Arm und hielt sie, während er wieder auf dem Gang aufsetzte.

Reynard behielt den Dämon im Blick. Der wirbelte herum, wurde zu einer langen schwarzen Rauchfahne und fädelte sich durch eine schlichte Tür, auf der ZU DEN PARKDECKS stand. Reynards erster Impuls bestand darin, ihm zu folgen, ehe ihn Panik überkam.

Wo war Ashe?

 

Ashe setzte sich ruckartig auf, nach Luft japsend, und wäre beinahe mit Reynards sorgenvoll gerunzelter Stirn kollidiert. Jemand hatte sie umgedreht und das Papier von ihrem Gesicht gerissen. Wie eine Mumie war sie in Zeichnungen von Körben, Küken und Häschen eingewickelt. »Holt das runter von mir!«

Drei Paar Hände begannen, sie auszuwickeln. Holly war links von ihr, Alessandro zu ihren Füßen. Als der Vampir sie ansah, bemerkte sie das amüsierte Funkeln in seinen Bernsteinaugen.

»Das ist nicht witzig!«, zischte sie wütend.

»Du siehst aus wie ein Osterei«, entgegnete er seelenruhig.

»Ich dachte, du wärst erstickt«, raunte Reynard, der todernst dreinblickte. »Wie fühlst du dich?«

»Gut«, antwortete Ashe automatisch. Sie keuchte, weil sie möglichst viel Sauerstoff bekommen wollte, und ihr Kopf tat weh, aber sie hatte sich nichts gebrochen und blutete nicht. Also war sie einsatzbereit.

Reynards Miene sagte ihr, dass er ihren Drang zu kämpfen verstand.

Ashe schüttelte die letzten Fetzen ihrer Verpackung ab und stand auf. Der Laden sah aus, als hätte ihn ein Schneesturm erwischt. Zu Hügeln verwehte Kartenberge bedeckten den Boden, aber wenigstens waren sie leblos. Von heute an verschicke ich nur noch E-Cards!

»Der Dämon ist zur Treppe zu den Parkdecks«, sagte Reynard. »Ich vermute, dass es nur eine Ablenkung sein soll. Früher oder später kehrt er zu seiner Sammlung zurück. Dort können wir ihn in die Falle locken.«

Alessandro nickte. »Okay.«

»Ich fürchte nur, Tony könnte wieder Menschengestalt angenommen haben und weggefahren sein«, gab Ashe zu bedenken.

»Nicht mit den ganzen Sirenen da draußen«, erwiderte Alessandro. »Die Polizei hat das ganze Einkaufszentrum abgeriegelt. Uns bleiben noch etwa zwei Minuten, bevor sie uns hier entdecken.«

Ashe griff nach ihrer Waffe. »Dann lasst uns gehen!«

Alessandro nahm Hollys Hand und schritt auf den Ausgang zu, wobei er mit den Füßen Karten aufwarf wie Herbstlaub. Ashe und Reynard folgten ihnen.

Bis sie den Hauptgang des Einkaufszentrums erreichten, wimmelte es von Polizei und Presseleuten. Aus dem Augenwinkel sah Ashe Gary, den Verkäufer, der sich bemühte, ein paar Reporter vom Buchladeneingang zu verscheuchen. Er hatte keine Chance. Die Presse hatte es irgendwie durch die Polizeiabsperrung geschafft, und damit war das gesamte Sicherheitskonzept hinfällig geworden.

»Was ist hier los?«, fragte Reynard so laut und energisch, dass er alle anderen übertönte.

Ashe zog ihn weg, als schon eine sehr entschlossene Frau mit Mikro auf ihn zukam. »Willkommen an deinem ersten modernen Katastrophenschauplatz! Lächle für die Kameras!«

Die Stadt hatte nur drei Fernseh- und eine Handvoll Radiosender, doch hier schien mehr Presse versammelt zu sein. Nicht zu vergessen die Polizisten, Feuerwehrleute, Sanitäter, Leute von der Center-Verwaltung sowie ein paar, die nach Gesundheitsamt aussahen. Der Spaß wurde immer besser!

Ashe bemerkte außerdem ein paar Höllenhunde, Werwölfe und einige groggy wirkende Vampire, die sie vom Sehen kannte. Alessandro musste seine Truppen herbeigerufen haben.

In dem Gewirr verlor sie ihre Schwester aus dem Blick. Ashe drängelte sich durch die Menge, die immer dichter wurde, je näher sie dem Sammellager des Dämons kamen. Alessandro konnte sie ebenfalls nicht entdecken. Beständig unhöflicher bahnte Reynard ihnen den Weg. Sie musste zugeben, dass seine durch und durch männliche Aggression etwas für sich hatte. Mühelos dirigierte er Ashe durch das Gewimmel.

Eine unsichtbare Linie hielt die Leute einige Meter auf Abstand von der Dämonenhöhle. Das war immer noch dichter als vernünftig, aber wenigstens drückte niemand dem Dämon ein Aufnahmegerät an den Schnabel. Die Hunde und Wölfe bewegten sich vorwärts. Sie halfen den Cops, die Menge zurückzudrängen. Ashe schob sich ganz nach vorn und ignorierte die Flüche der Kameraleute, denen sie die Bilder verwackelte.

Der Dämon lauerte in der Ecke des leeren Geschäfts, die Flügel weit ausgebreitet und die schwarzen Augen feucht und faulig schimmernd. Im Moment war er außer Gefecht. Holly und Alessandro hockten hinter Bergen von Dämoneneinkaufen, von wo aus Holly die Höllenbrut bannte, wann immer sie versuchte, sich zu bewegen, und Alessandro sie vor den Gegenständen schützte, die der Dämon in ihre Richtung segeln ließ.

Reynard rannte geduckt nach vorn, einem Set von Kupfertöpfen ausweichend, das durch die Luft flog.

Ashe eilte ihm nach und überlegte. Sie konnte nichts tun, um den Dämon zu schlagen. Zwar war sie stark und eine gute Kämpferin, nur brauchte es hier gehobene Magie, und die besaß sie nicht. Ihr wurde speiübel, als sie daran dachte, dass sie einst genau solche Kräfte besessen und sie weggeworfen hatte.

Reynard öffnete wieder das Portal. Es waberte über ihren Köpfen: wirbelnde grüne und orange Energie. Die Ränder schienen zu brennen, die Realität dort fortzuschmelzen wie ein Film, der in einem Projektor stecken geblieben war. Ashe glaubte, Mac auf der anderen Seite auszumachen, der mit seinen Männern bereitstand.

Regungslos, den schmalen Kriegerkörper zum Inbegriff gezähmter Kraft gespannt, hob Reynard seine Hände. Ein kaltes Glühen bündelte sich um sie herum, und Ashe hielt den Atem an. Noch nie zuvor hatte sie diese Art Magie gesehen.

Das Licht floss von Hand zu Hand, wurde stärker, heller und war von kristalliner Geometrie. Kalt wie Väterchen Frost und symmetrisch wie ein Spinnennetz breitete sich die Struktur bis zur Decke aus und fing die Dämonenfinsternis in einem schneeweißen Käfig ein.

Zunächst war Ashe erstarrt vor Staunen, bevor sie sich besann und anfing, in den Schutt- und sonstigen Brocken auf dem Boden nach der Urne zu suchen. Sie bewegte sich, so schnell sie konnte, aber die Magie in der Luft war sehr dicht, was jeden Schritt mühsam machte, als würde sie Wasser treten.

Hollys Kampf mit dem Dämon war kurz, aber zerstörerisch gewesen. Porzellan war zu Bruch gegangen, Bücher waren niedergetrampelt worden, Spielsachen zerbrochen. Er hat gesagt, die Urne ist aus Ton, und damit wäre sie in diesem Chaos in Gefahr. Ashe folgte den Scherbenhaufen zur anderen Seite des Ladens. Derweil ermahnte sie sich, konzentriert zu bleiben, denn sollten ihre Gedanken abschweifen, sich in das Spektakel von Portal und Menge ziehen lassen, würde sie es niemals durch diesen Wust an Dingen schaffen, die der Dämon zusammengerafft hatte.

Dennoch fühlte sie, dass der Dämon mit aller Macht darum kämpfte, in der Welt zu bleiben. Eine Schockwelle erschütterte den Boden. Leute schrien. Kartons kippten um. Ashe stützte sich an der Wand ab.

Und da war es, wo die Kartons umgekippt waren: ein goldverziertes Tongefäß mit Deckel, das in seiner schlichten Form wunderschön war. Ashe rannte darauf zu, auch wenn die schwere Magie in der Luft alles in Zeitlupe verwandelte.

 

Reynard fühlte, wie der Dämon sich gegen die Anziehung des Portals wehrte, ähnlich einem großen Hund, der an seiner Leine riss. Der Captain hatte aus ihrem vorherigen Kampf gelernt und seine Taktik angepasst. Ein gewöhnliches Portal konnte diesen Dämon nicht einfangen, doch mit der zusätzlichen Stärke der Wachen auf der anderen Seite und Holly Carver neben ihm formte Reynard dieses Portal zu einem Vakuum. Sie konnten den Dämon nicht niederschlagen, aber ihre vereinte Magie würde die Kreatur dorthin zurücksaugen, wo sie hingehörte.

Wenn dies gelang, würde niemand mehr verletzt und kein weiterer Grundbesitz zerstört. Was nicht bedeutete, dass es einfach würde.

Reynard richtete all sein Denken auf den Zauber. Kraft rauschte durch ihn hindurch, eine tosende Flut, die sich von Zauberei und Hexenkunst nährte. Sein Leib bestand bloß aus Fleisch und Knochen, nicht ausreichend, all das zu fassen, aber sein Hexenmeisterblut lenkte die Magie wie einen Docht in Öl. Brutal, aber wirksam.

Brennender Schmerz war die Folge. Er jagte einem bösen Dorn gleich durch seine sämtlichen Nervenbahnen. Es wurde schlimmer, weil der Dämon sich sträubte, so dass Reynard jeden Schlag, jede Verdrehung der Kreatur wie einen bohrenden Stich spürte. In dem Moment, in dem der Dämon erschöpft zusammensank, hörte es auf. Reynard kam sich vor wie ein ausgehöhlter, trockener Schwamm, eine Ansammlung von Membranen, die ein Nichts umhüllten.

Und dann nahm der Dämon abermals den Kampf auf.

Vage bemerkte Reynard, dass ihm vom Schweiß die Kleidung an der Haut haftete. Er sank auf ein Knie und stützte sich ab. Ich bin ein Wächter. Ich bin eine Waffe.

Die Dämonenstimme drang in seinen Kopf. Lass mich gehen! Nimm deine Seele, aber lass mich frei!

Reynard antwortete nicht, denn er weigerte sich, seine Gedanken auch nur für einen winzigen Moment in eine andere Richtung zu lenken.

Ich begehre doch nur einige wenige Dinge, die mir Vergnügen bereiten. Ist das so schrecklich? Ein paar Töpfe und Pfannen? Einige Bücher? Diese Welt hat so viel, da kann sie doch gewiss das wenige entbehren.

Der Dämon reckte sich vor, schnappte mit seinem Schnabel, schlug mit den Flügeln, um seinen Schatz im fleckigen Schatten zu verbergen. Reynard brüllte vor Pein, ließ seinen Schmerz heraus, ehe er ihm den Verstand raubte. Der Dämon bäumte sich auf und peitschte mit seinen riesigen Flügeln.

Freiheit! Du willst sie doch auch! Ich kann die bittere Galle deiner Sehnsucht in deinen Gedanken schmecken!

Das war Reynards Schwäche, seine Achillesferse. Egal, was er erreichte, wie viele Leben er rettete: Er war für immer an das Elend der Burg gekettet. Ganz gleich, wie diese Schlacht endete, es gäbe weder eine freudenreiche Zukunft noch Heldentriumph.

Folglich hatte er keinen Grund, sich zu schonen. Pflicht, Würde und Tod.

Über Jahrhunderte hatten Reue und Wut in Reynard gegärt, und nun konnte er sie nutzen. Zornig schleuderte er alle Kraft, die er aufbrachte, gegen die Kreatur.

Holly und die anderen strengten sich an, Reynards Angriff mit derselben Wucht zu unterstützen. Er hämmerte auf den Dämon ein. Seine Rage verlieh ihm Kraft.

Die Attacke drängte, schob und trieb den dunklen Schatten in das Portal. Reynard spürte, wie die Magie der anderen Wachen ihre Klauen in den Dämon versenkte. Doch die Kreatur wollte ihre gehorteten Schätze nicht aufgeben. Sie stürzte sich noch ein letztes Mal vorwärts, verzweifelt nach ihrer Habe greifend. Ihre Gier nach den Objekten hielt sie ebenso erbarmungslos gefangen, wie Reynard von seinem Fluch gefesselt war.

Die Magie zerriss gleich einem überdehnten Gummiband. Energie schnellte zurück, knallte in den Dämon und zerschmetterte ihn. Eine Explosion krachte durch das leere Geschäft, bei der die Stapel von Lampen, Spielzeugen, Filmen und allem anderen gegen die Wände geschleudert wurden.

Reynard, der Wächter, und alle anderen flogen durch die Luft. Das Letzte, woran Reynard sich erinnerte, war, dass der gleißende Schmerz endlich aufhörte, während er mit dem Dämon in die Burg zurückgesaugt wurde.

 

Ashe streckte ihre Arme vor, so dass sie mit der Schubkraft des Energieschwalls geradewegs auf die Urne und das Leben darin zuflog.