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Sonntag, 5. April, 22.30 Uhr 101.5 FM

Und nun ein exklusives Telefoninterview mit Belenos, dem Vampirkönig des Ostens. Majestät, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie geehrt wir uns fühlen, dass Sie zu einem Gespräch mit uns bereit sind.«

»Ich danke Ihnen, Errata, dass Sie mich interviewen wollen. Lassen Sie mich vorweg sagen, dass ich froh über die Gelegenheit bin, mit Ihren Hörern im reizenden Nordwesten zu sprechen.«

»Das Vergnügen ist ganz auf unserer Seite, Majestät. Worüber würden Sie gern reden?«

»Über die Beziehungen zwischen den Arten. Die menschlichen Medien behaupten seit langem, eine Vermischung von menschlicher und nichtmenschlicher Gesellschaft würde zwangsläufig zur Katastrophe führen.«

»Nicht alle menschlichen Medien sagen das.«

»Aber die meisten. Ich möchte nachdrücklich darauf hinweisen, dass es nicht stimmt. Es kann sehr wohl eine friedliche Koexistenz geben.«

»Und wie sollte die Ihrer Meinung nach zustande kommen?«

»Die Menschen sind uns zahlenmäßig überlegen, deshalb glauben wir, sie wären stärker, was ich allerdings bezweifle.«

»Warum spielt es eine Rolle, wer stärker ist?«

»Errata, meine Liebe, die Hälfte Ihrer Zeit tragen Sie den Pelz eines Berglöwen. Gewiss ist Ihnen das Gesetz von Klauen und Zähnen vertraut. Die Herrschaft gehört dem Jäger, nicht der Beute.«

»Verzeihen Sie, Majestät, aber wir müssen eine kleine Werbepause einlegen.«

 

Reynard wusste, dass er bewusstlos war, denn diesen Traum hatte er schon oft gehabt. Es war der Neujahrstag 1758, ungefähr zehn Uhr morgens. Er stieg gerade aus seinem Bett in dem großen Herrenhaus der Familie in Surrey und stellte fest, dass er in voller Bekleidung geschlafen hatte. Vorn auf seinem Hemd und seiner Kniebundhose waren Weinflecken. Gut gemacht, Reynard!

Benommen entsann er sich, wieder einmal ausfallend gegenüber seinem älteren Bruder Faulkner geworden zu sein; an Einzelheiten erinnerte er sich nicht mehr. Andererseits war sein Bruder gleichfalls betrunken gewesen, also wüsste er wohl kaum mehr als Reynard. Hoffentlich. Trotzdem wünschte Reynard, ihm fiele wieder ein, was zum Teufel er gesagt hatte. Ihm war unbehaglich, als er am Klingelband zog, um einen Diener herbeizurufen.

Draußen konnte er seine Nichten und Neffen aufgeregt kreischen hören. Bei dem Lärm fuhr Reynard zusammen, wie auch gleich darauf, als er die Vorhänge öffnete und ihm greller Sonnenschein entgegenstrahlte. Die dünne Schneedecke auf den Bäumen und Wegen intensivierte die Helligkeit noch. Er blinzelte. Die Kinder, mit Schals und Handschuhen geschützt, waren begeistert.

Lärmende kleine Nervensägen, dachte Reynard, wenn auch mit einer Spur von Wehmut. Früher hatte er unter denselben schneebestäubten Bäumen gespielt.

Dann kam Elizabeth aus dem Haus, in einen Pelz gehüllt und die Hände in einem Muff. Sie lachte mit den Kindern und stakste vorsichtig mit winzigen Schritten auf sie zu. Die Steine waren anscheinend überfroren.

Lizzie. Ein Dichter hätte ausdrücken können, wie schön sie war, wie weich ihr hellbraunes Haar, wie glatt ihre Haut; doch Reynard war kein Poet. Ihr Anblick raubte ihm die Worte, machte ihn sprachlos, so dass nichts als ein stummes Echo in ihm war. Solch eine Macht besaß sie über seinen Geist. Sie hielt ihn davon ab, irgendjemanden sonst zu lieben.

Elizabeth war die Frau seines Bruders. Sie war Reynards gewesen, bis Faulkner mit seinem Titel und Vermögen des Erstgeborenen erschien. Elizabeth behauptete, ihre Eltern hätten sie zur Heirat gedrängt, aber Reynard war nicht sicher, ob er ihr glaubte. Sie hatte mit einem Wappen geliebäugelt.

Jedenfalls ähnelte Julian Reynard, der charmante Kavallerie-Captain, am Ende nichts als einem Kometen, der von Zeit zu Zeit vorübergeflogen kam, Träume weckte und für Unfrieden sorgte. Wenn er seinen Bruder liebte, vor allem aber, wenn er Lizzie liebte, musste er sie loslassen.

 

Reynard wachte auf. Wo zur Hölle bin ich? In diesem Zimmer war er noch nie gewesen. Er blickte sich um. Der Aschegeschmack, der damit einherging, dass man zu viel Magie benutzt hatte, lag auf seiner Zunge. Reynard war hundemüde, und seine Gliedmaßen fühlten sich wie aufgeweichtes Brot an. Er ließ seinen Blick über das Mobiliar wandern. Sah es neu aus? Alt? Wie hätte er das erkennen sollen? Für ihn wirkte alles modern. Er schloss die Augen, weil er zu erschöpft war, um sie offen zu halten. Er hatte Durst, schlief jedoch wieder ein, ehe er länger darüber nachdenken konnte.

 

Im Traum befand er sich abermals in seinem alten Zuhause, an demselben Tag wie zuvor. Er wusch sich das Gesicht, kämmte sein langes Haar nach hinten und wand ein schwarzes Band um den Zopf. Dann zog er sich seine neue Uniform an, weil er ausgehen wollte. Ein bisschen Goldbesatz beeindruckte die Damen.

Reynard knöpfte sich die Jacke zu, während er die Treppe hinunterstieg. Helles, vom Schnee reflektiertes Sonnenlicht flutete die Diele und malte Scherbenumrisse an die hohe Decke, wenn es durch die Schrägkanten im Fensterglas fiel. Regenbogenfarben schimmerten auf den Kristalltropfen des Kronleuchters und auf dem geschliffenen Glas einer Vase. Das erbarmungslose Licht tat Reynards weingetränktem Schädel weh.

Er blieb vor der offenen Tür des Morgensalons stehen und entdeckte gleich das Kaffeeservice auf einem Tisch am Fenster. Auch hier drinnen war alles sonnenbestrahlt, so dass der Dampf aus der Kaffeekanne wie hauchdünne Gaze anmutete.

Faulkner, der im Gegensatz zu Reynard helles Haar hatte, und ein anderer Mann saßen in den Sesseln zu beiden Seiten des Kamins. Der andere, ein älterer Herr mit schwarzer Jacke und Allongeperücke, sah genauso aus wie vor Jahren, als er Reynards und Faulkners Vater besucht hatte, nur konnte Reynard sich nicht an seinen Namen erinnern. Bellamy? Barstow? Beelzebub?

Bartholomew. Ja, das war es.

Faulkner war vorgelehnt, hatte die Ellbogen auf seine Knie gestützt und die Hände in einer Geste grübelnder Besorgtheit zusammenlegt. Er zuckte zusammen, als Reynard über den türkischen Teppich zu ihnen schritt. Entweder war er sehr angespannt oder hatte ebenfalls einen scheußlichen Kater.

Es hielten sich keine Bediensteten in dem Zimmer auf. Wortlos schenkte Reynard sich Kaffee ein und biss in ein gebuttertes Brötchen. Mit dem Rücken zu den anderen beiden schlang er sein Essen hinunter. Er brauchte dringend etwas im Magen. Es war unhöflich, keine Frage, doch sein Temperament war ungleich weniger gefährlich, wenn er satt war. Also schluckte er den letzten Bissen Brötchen hinunter und nahm sich ein zweites, ehe er in den Park hinausschaute. Die Fenster waren doppelt so hoch wie ein erwachsener Mann und mit himmelblauem Samt drapiert, der in weichen Wellen über die oberen Glasteile fiel. Schön, nur ließen sie die Kälte herein, als trennte den Raum nichts von dem Schnee draußen. Reynard wischte sich die mehlbestäubten Finger ab, füllte sich Kaffee nach und begab sich an das wärmende Feuer.

Während er aß, hatte er der Unterhaltung gelauscht. Sein Gehör war immer schon außergewöhnlich gut gewesen, weshalb er oft Dinge hörte, die nicht für ihn bestimmt waren.

»Nun, was ist das für ein Unsinn?« Er baute sich vor seinem Bruder auf. »Dein Name wurde in einem Losverfahren gezogen? Was für ein Losverfahren? Und was ist das für ein Orden, von dem ihr redet?« Letzterer kam ihm bekannt vor, auch wenn er nicht sagen konnte, woher.

Faulkner blickte auf. »Es ist kein Unsinn, obgleich ich wünschte, es wäre welcher.«

»Und wieso hast du diese Burg nie erwähnt, wenn sie so verdammt wichtig ist?«

Langsam lehnte sein Bruder sich im Sessel zurück. »Weil die Chancen, dass dies geschieht, äußerst gering waren. Und je weniger Menschen von der Burg wissen, desto besser.«

»Wenn dich etwas so bleich werden lässt wie den Schnee draußen, habe ich ein Recht, davon zu erfahren.« Mit diesen Worten ging Reynard zum Tisch zurück und stellte seine Tasse auf das Tablett. Sein Leben mochte in mancherlei Hinsicht ungeordnet sein, aber die Armee hatte bewirkt, dass ihm Ordnung in seiner Seele wichtig war.

Erstmals seit Reynard den Salon betreten hatte, ergriff Bartholomew das Wort. »Vielleicht können wir die Einzelheiten jetzt klären, statt uns damit aufzuhalten, was in der Vergangenheit hätte gesagt werden müssen und was nicht.«

Die trockene, gleichsam eingestaubte Stimme erschreckte Reynard, denn ihr grausamer Klang brachte die Erinnerung an jenen Tag zurück, als er noch ein Junge gewesen war und sich unter der Treppe versteckt hatte. Auch damals hatte er Dinge gehört, die ihn verwirrten. Innerlich zitternd, kehrte Reynard zu den beiden zurück, blickte zu seinem Bruder hinab und verschränkte die Arme.

»Also gut«, sagte Faulkner.

Der ältere Mann beugte sich auf seinem Sessel vor und sah Reynard an. »Für den Fall, dass Sie sich meiner nicht entsinnen: Mein Name ist Bartholomew. Wie auch Ihr Vater gehöre ich zu einer Institution, die seit Jahrhunderten als der Orden bezeichnet wird. Wir bewachen eine bestimmte Burg.«

Faulkner vergrub sein Gesicht in den Händen. Angesichts der Verzweiflung seines Bruders überkam Reynard ein merkwürdig mulmiges Gefühl, das nichts mit dem übermäßigen Alkoholgenuss letzte Nacht zu tun hatte. Er erkannte die eisigen Wogen der Furcht. »Es ist keine Ehrenpflicht. Ich übernehme sie.«

»Nein«, erwiderte Faulkner ruhig. »Es ist mindestens so gefährlich wie manches, dem du dich in Indien stellen musstest. Und es ist vollkommen real.«

Reynards Verstand suchte nach einem Bezugspunkt. Trotz Faulkners Reaktion schien nichts an dieser Unterhaltung glaubhaft. »Wo steht besagte Burg?«

Bartholomew stand auf und ging rastlos auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten.«

»Wie das?«, fragte Reynard ein wenig aufbrausend, doch Faulkner winkte sogleich ab.

»Entsinne dich der Märchen aus dem finsteren Mittelalter«, erklärte er. »Die Geschichten von Feen und Dämonen, von Ungeheuern und Ghulen. Hast du dich nie gewundert, wo diese Kreaturen hin sind, warum sie nicht mehr auf Erden wandeln?«

»Eigentlich nicht.« Reynard lachte spöttisch. »Das sind Märchen für Kinder.«

»Im Gegenteil!«, mischte Bartholomew sich ein, der Reynard in die Augen sah. »Die frühen Hexer sperrten alles Böse in einen unendlichen Kerker zwischen den Welten.«

Es dämmerte Reynard, auch wenn es nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam, sondern eher wie ein sachtes Anrempeln durch einen Fremden in einem überfüllten Saal. Eine Weile starrte er vor sich hin, während ihm die Gesprächsfetzen aus seiner Kindheit wieder einfielen. Erwachsene, die verstummten, wenn die Kinder sich näherten, jedoch nicht schnell genug, so dass einige Bruchstücke, phantastische, schaurige Worte zu hören gewesen waren: über ein Buch mit einer goldenen Sonne darauf, über Hexer, über den Orden.

Darum ging es also bei dem heimlichen Getuschel! Reynard versuchte, diesen Gedanken von sich zu weisen, doch er haftete hartnäckig an ihm wie Spinnweben im Altweibersommer. Alte schlechte Träume erwachten in den dunklen Nischen seiner Erinnerung, und trotz der Kälte im Zimmer fühlte er, wie ihm Schweiß über die Rippen rann.

»Und der Dienst, von dem Sie sprachen?«

Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Eine Burg braucht Wachen. Die Familien des Ordens senden ihre Söhne hin.«

»Sie brauchen einen von uns«, folgerte Reynard und wies auf sich und Faulkner, »der in den Wachdienst geht, um das Böse in der Burg zwischen den Welten festzuhalten?«

»Ja«, antwortete Bartholomew.

Reynards Verstand rebellierte.

»Und welche Welten sollen das sein?« Sein Tonfall schwenkte ins Sarkastische. Diese Geschichte muss Lücken aufweisen, die ich nutzen kann, um ihr das Fundament zu entziehen. Dämonen? Feen? Wohl eher eine Bruderschaft von Dieben und Mördern! Ein Phantasiespiel womöglich, mit dem sie sich auf Bällen und Jagdgesellschaften die Langeweile vertreiben.

»Alle Welten. Ich weiß nicht einmal, welche das alles sind. Niemand, der in die Burg ging, ist jemals zurückgekehrt, um uns von ihnen zu berichten.«

»Das sagte man auch über gewisse Etablissements in Kalkutta, und dennoch stehe ich heute hier.«

»Sie begeben sich demnach gern in Gefahr, vermute ich?« Bartholomew lächelte verächtlich und nahm seinen Platz wieder ein.

Reynard wandte sich zum Feuer. Schurken sind aus Fleisch und Blut, furchteinflößend, mag sein, aber mir nicht neu. »Verraten Sie mir, warum ich Sie nicht die Vordertreppen hinunterwerfe!«

»Es ist unseres Vaters Vermächtnis«, ließ Faulkner sich mit matter Stimme vernehmen. »Unser Familienname verlangt es.«

»Dann erlaube, dass ich mich dieses kleinen Mannes und seiner Burgen annehme.«

»Dein Mut ehrt dich, Reynard, ist indessen nicht vonnöten.« Faulkner erhob sich aus seinem Sessel. »Ich bin der Erstgeborene, folglich fällt diese Pflicht mir zu. Und ich werde da sein, wenn es die Familienehre verlangt.«

Wie bezeichnend für Faulkner! »Und was ist mit Elizabeth und deinen Kindern? Falls wahr ist, dass die Männer in diese Burg gehen und nie zurückkehren, was wird aus ihnen? Hast du daran gedacht?«

»Selbstverständlich habe ich das. Doch was sollen sie von mir halten, wenn ich mich der Aufgabe entziehe und sie dir aufbürde?« Faulkner verstummte, und Reynard hörte, wie er entschlossen Atem schöpfte. »Du wirst für sie sorgen. Du bist ein Ehrenmann. Ich weiß, dass dieses Haus, dieser Titel alles war, was du dir jemals von Herzen gewünscht hast. Nun bekommst du deine Chance.«

Seine Frau erwähnte er nicht, dabei dürfte sie ihnen beiden so präsent sein, als stünde sie im Zimmer. Elizabeth.

Verdammt! Reynard hegte ernste Zweifel an Bartholomews Märchen – welcher Mann, der bei Sinnen war, hätte das nicht getan? –, und dennoch schien Faulkner jedes Wort zu glauben. Vielleicht hatte ihr Vater ihm mehr erzählt. Faulkner war schließlich der älteste Sohn.

Was umso mehr Zweifel begründete. Sollte irgendetwas von dem Erzählten wahr sein, durfte Reynard seinen Bruder nicht gehen lassen. Faulkner hatte eine Familie, die ihn liebte und brauchte.

Und Reynard war einer Räuberhöhle sehr viel eher gewachsen.

Er drehte sich um und schwang seine Faust gegen Faulkners Kinn, dass es laut knackte. Schmerz schoss ihm von der Hand den Arm hinauf, während Faulkner zu Boden ging.

Fluchend rieb Reynard sich die Handknöchel und blickte auf seinen reglosen Bruder hinab. Dessen weiße Manschetten leuchteten hell auf dem rubinrot gemusterten Teppich.

Reynards Lippen kräuselten sich zu einem bitteren Lächeln. »Ich sorge für deine Familie, du Idiot! Für wen hältst du mich?«

Faulkner war ohnmächtig; seine Brust hob und senkte sich wie bei einem Schlafenden, was geradezu höhnisch anmutete.

»Recht nobel. Ich hoffe, Sie haben ihm nicht den Kiefer gebrochen«, bemerkte Bartholomew trocken. »Aber Ihre Heldenhaftigkeit ist fruchtlos. Es muss der Erstgeborene sein.«

Reynard neigte nachdenklich seinen Kopf. Faulkners Gesicht sah ziemlich normal aus, auch wenn er gewiss noch einen Bluterguss bekäme. Egal. Reynard würde gehen, und sein Bruder wäre nicht entehrt.

»Welch ein Jammer! Nun, Sie bekommen mich oder gar nichts.«

Der kleine Gewaltausbruch hatte seine Fassung wiederhergestellt, all die vagen, märchenbedingten Kindheitsängste auf ihren Platz verwiesen – in die Kindheit. Er würde sich dieses Burgunsinns annehmen und anschließend das erste Schiff zurück nach Indien nehmen.

Unerwartete Gefühle verschleierten ihm die Sicht. Faulkner war aufrecht, mutig, menschlich und würde im Angesicht ernster Gefahr keine Stunde bestehen. Reynard biss die Zähne zusammen und verdrängte alles Rührselige. »Erzählen Sie mir, wohin ich gehen muss, um diesen Unfug zu erledigen!«

Bartholomew nickte bedächtig. »Eine unvorhergesehene Wendung, aber nun gut. Wir reisen sofort ab. Lassen Sie einen Diener packen, was Sie auf einen langen Feldzug mitnehmen möchten. Vornehmlich so viele Waffen, wie Sie irgend tragen können. Ich treffe Sie vorn am Torhaus.«

Obgleich er jahrelange Erfahrung darin hatte, sein Lager von einem Moment auf den anderen zu verlegen, war der plötzliche Marschbefehl beängstigend. »Werde ich Proviant brauchen?«

Batholomew wirkte seltsam verlegen. »Nein.«

Reynard schlug die Augen auf. Sein Atem ging langsamer, sowie er begriff, dass er lediglich die ferne Vergangenheit nochmals durchlebt hatte. Es war nicht real. Er befand sich in demselben fremden Zimmer. Alles war dunkel bis auf eine Lampe in einer hinteren Ecke. Reynard tat alles weh.

Aber Ashe lag im Bett neben ihm und sah ihn an. Ihre leuchtend grünen Augen wurden von dem schwachen Licht gedämpft.

»Du bist wach«, sagte sie leise und strich über seine Stirn. »Wir sind bei Holly. Hier ist es geschützter.«

»Eden?«

»Eden ist in Sicherheit. Mac hat Miru-kai gefangen genommen.«

Er fühlte sich besser. Unwillkürlich legte er eine Hand auf seine Brust, die in der Burg so geschmerzt hatte. Das Pochen war fort. Teils war das dem Umstand geschuldet, dass er sich in derselben Dimension aufhielt wie seine Urne, aber die Heilung ging tiefer.

Ashe schien seine Gedanken zu lesen. »Grandma und Holly haben eine Medizin gemischt. Sie sollte dir für eine Weile helfen. So gewinnen wir ein bisschen Zeit.«

»Wie viel Zeit?« Sie schien nichts außer einem langen T-Shirt zu tragen, das ihr zwar über die Oberschenkel reichte, ihre wohlgeformten unteren Beine jedoch entblößt ließ.

Auf einmal war die Vergangenheit nur noch, was sie eben war: vergangen und vorbei. Mit Ashe an seiner Seite war es möglich, in die Zukunft zu schauen.

Er würde jedwede Zukunft nehmen, die er bekommen konnte, solange sie nur darin vorkam.

»Was hast du geträumt?«, fragte sie. »Es sah wie ein Albtraum aus.«

Er erzählte alles – ihr, dem ersten Menschen überhaupt, dem er verriet, wie er einst in die Burg gelangt war. Nie zuvor war er imstande gewesen, diese Worte über die Lippen zu bringen. »Bartholomew teilte mir mit, dass es eine begrenzte Anzahl Familien gab, welche die richtige Magie besaßen, um die Wachen zu stellen – Fähigkeiten, die sich vom Vater zum Sohn vererbten. Es handelte sich um die Hexerdynastien, aus denen sich der Orden rekrutierte.«

»Hexerdynastien?«, wiederholte Ashe verwundert. »Ich dachte, die wären längst ausgestorben.«

»Was mich nicht erstaunen würde. Alle zehn Jahre wurde ein Erstgeborener per Losverfahren ausgewählt und musste in die Burg. Es war ein magischer Pakt, den der Orden schloss, auf dass die Ungeheuer bewacht blieben. In jenem Jahr war es unsere Familie, die ihren Beitrag leisten musste.«

»Und du hattest keine Ahnung?«

»Nein.«

»Hmm.« Ashe runzelte die Stirn. »Und was ist passiert, als du den Typen beim Torhaus getroffen hast? Wer war er eigentlich?«

»Bartholomew war derjenige, der von Haus zu Haus reiste und die schlechte Neuigkeit übermittelte. Er war selbst ein Unsterblicher und erledigte diese Arbeit, seit der Pakt vor Tausenden von Jahren geschlossen worden war.«

Ashe blinzelte und kräuselte ihre Stirn noch mehr. »Gehörte er zu dem Zauber, der die Wachen schuf, oder war er sein Überbringer?«

»Teils, teils, glaube ich. Zuerst dachte ich, er lügt, oder hoffte es vielleicht. Als ich schließlich akzeptierte, dass er die entsetzliche Wahrheit sagte, war es für mich zu spät.« Reynard wandte den Blick ab und hinauf an die schattige Zimmerdecke. »Also zog ich mein Schwert und tötete ihn. Er sollte auf keiner Schwelle mehr erscheinen, Familien zerstören und junge Männer in die Hölle verbannen.«

»Deshalb gab es nach dir keine neuen Wachen mehr«, murmelte Ashe.

»Ich brach den Zauber, indem ich Bartholomew vernichtete. Zuerst habe ich die Vorstellung genossen, mir eingebildet, ein heimlicher Held zu sein, ehe ich erkannt habe, dass die verbliebenen Wachen einen verlorenen Kampf ausfochten. Bis Mac kam, gab es keine Rekruten mehr, die uns halfen, die Burg unter Kontrolle zu bringen.«

»Du hast das Leben deines Bruders gerettet«, erinnerte sie ihn und verwob ihre Finger mit seinen. »Und wer weiß, wie viele andere, die nach dir gekommen wären.«

»Einen Mann zu töten stellt dennoch eine furchtbare Tat dar, ganz gleich, warum oder wie oft man sie begeht.«

Ashe legte ihren Kopf auf Reynards Schulter. »Ich wirkte einen Zauber, als ich sechzehn war. Er hat meine Eltern umgebracht und meine Magie zerstört, beinahe auch Hollys. Ich wollte nicht, dass es so weit kommt, aber meine Arroganz hat mich verleitet.« Ihre Stimme klang schwach und weich, wie ein Tuch, das durch zu viele Hände gewandert war.

Reynard legte einen Arm um sie und küsste sie aufs Haar. »Wir geben ein recht eigenwilliges Paar ab.«

Einen Moment lang war Ashe still, ehe sie leise sagte: »Es fällt mir leichter, darüber nachzudenken, wenn ich nicht allein bin.«

Die Worte rührten an sein Herz, denn er wusste sehr wohl, was sie meinte. Mehrere Minuten lang lagen sie so da, während Reynard in der Wärme Ashes und des Bettes einschlummerte.

Schließlich rollte sie sich herum, so dass sie auf seine Brust aufgestützt war, das Kinn auf ihre Hände gelehnt. »Mir ist noch nie ein Hexer begegnet. Wie gesagt, ich dachte, es gäbe niemanden mehr aus den alten Familien.«

Vielleicht bedeutet das, dass der Orden ausgestorben ist. »Wir sind genau wie Hexen, nur dass bei uns die Magie väterlicherseits weitergegeben wird, nicht mütterlicherseits.«

»Doch du hast nicht gewusst, dass du ein Hexer bist? Ich meine, Hexen kommen in das Alter, in dem sie ihre Magie merken, ungefähr in dem Alter, in dem Eden jetzt ist. Da kann man nicht übersehen, was los ist.«

Reynard überlegte. »Bei uns muss es anders gewesen sein. Wenn ich zurückdenke, gab es Anzeichen. Ich hatte zum Beispiel immer ein außergewöhnlich gutes Gehör. Aber da war nichts, was man nicht irgendwie hätte erklären können. Hexermagie muss erweckt werden. Ich lernte erst, was für meine Pflichterfüllung nötig war, als ich Wächter wurde.«

»Wie ein Gewehr gerade schießen zu lassen?« Ashe bedachte ihn mit einem verschmitzten Augenzwinkern.

»Ja, unter anderem.«

Er spürte, wie die Worte in das sanfte Zwielicht des Zimmers entschwebten, denn er dachte nicht mehr an Bartholomew. Stattdessen entsann er sich des letzten Males, das er verwundet in Ashes Armen gelegen hatte, während drumherum die Schlacht um die Burg tobte. Auch da hatte sie auf ihn geachtet, sanft und entschlossen zugleich. Ein solcher Trost widerfuhr keinem Wächter, und dennoch war er hier, ein zweites Mal in diese Wohligkeit gebettet.

Er mochte verflucht sein, aber er war zweifellos auch gesegnet.

Ashe strich ihm über die Stirn, bis er in einen traumlosen Schlaf sank.

»Du hast meine kleine Tochter gerettet«, flüsterte sie. »Das werde ich nie, niemals vergessen.«