25. Kapitel
15. Februar 2010
Die Küste von Haiti
5.47 Uhr
Doch leider verlief nichts nach Plan!
Gleich nachdem sie an Land gegangen und ein paar Yards den Flusseinschnitt hinaufgewandert waren, mussten sie auch schon in Deckung gehen, denn ein Militärhubschrauber kam plötzlich am noch grauen Morgenhimmel dicht über den Kamm geflogen. Hastig warfen sich Ondragon, Rod und Madame Tombeau in eine kärgliche Ansammlung von Büschen und warteten, bis die Maschine außer Sichtweite war.
„Das war knapp“, sagte Rod und half der Madame aufzustehen. Glücklicherweise trug sie nicht mehr ihren Kittel, sondern den dunklen Kapuzenpulli über der Kevlarweste. Darauf hatte Ondragon bestanden. Die weiße Arztkluft war im Gelände ein viel zu riskanter Blickfang. Erst kurz vorm Dorf sollte sie ihn wieder anziehen, denn erst dann würde er ihnen nützlich sein.
Er warf der Madame einen prüfenden Blick zu.
Sie hatte die Finger hinter die Gurte ihres Rucksackes gehakt und schaute das schattige Flusstal hinauf. Ihr Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden und ihre Brille gegen Kontaktlinsen getauscht. Ondragon bemerkte, dass ihr Gesicht noch keine Spur von Anstrengung zeigte, während er unter seiner Montur zu schwitzen begann wie bei der skandinavischen Sauna-Meisterschaft. Mal sehen, wie sie sich mit dem ganzen Gepäck machen würde. Sein Blick blieb an der Ausbeulung in der Känguru-Tasche ihres Pullis hängen. Ein verstohlenes Grinsen legte sich auf seinen Lippen. Die Madame hatte die Desert Eagle immer griffbereit.
Er nickte Rod zu, der wie er selbst mit Helm, Rucksack und einem M16-Gewehr ausgerüstet war, und sie marschierten weiter in Richtung Westen.
Wenig später hob sich in ihrem Rücken die Sonne über den Horizont und übergoss das Tal mit orangefarbenem Licht. Ihre über den staubigen Boden kriechenden Strahlen holten die kleine Gruppe ein, als diese sich gerade nach Norden wandte und damit begann, den Hang hinaufzuklettern. Plötzlich hallte erneut das Knattern von Rotoren über das Tal. Gehetzt blickte Ondragon sich um. Nirgendwo war ein Baum oder Gebüsch zu sehen. Verflixt, sie hockten hier wie auf dem Präsentierteller.
„Dort!“, rief Rod und wies auf einen Überhang aus lockerem Gestein.
Wenn sie sich beeilten, konnten sie die Schatten gerade noch rechtzeitig erreichen, um dort in Deckung zu gehen.
„Los!“, drängte Ondragon seine Begleiter und rannte stolpernd durch das lose Geröll des Schuttfächers. Er erreichte den Überhang, warf sich in den Schatten und winkte den anderen, sich zu beeilen, während er den Himmel nach dem Helikopter absuchte, dessen Dröhnen immer lauter wurde.
Wenige Schritte vor dem Überhang geriet die Madame ins Straucheln, und Ondragon sah sie schon mit dem Gesicht voran auf die Steine stürzen, doch Rod packte sie am Arm, bugsierte sie mit einem schwungvollen Stoß in Sicherheit und rettete sich selbst mit einem Hechtsprung in den Schatten, wo er unsanft neben ihr auf dem Bauch landete. Im selben Moment erschien der Hubschrauber über der südlichen Schulter des Flusseinschnitts.
Im Schutz des Schattens verfolgte Ondragon seinen Flug quer über das Tal, und allmählich beruhigte sich sein Atem wieder. Die Piloten hatten sie nicht entdeckt.
„Ist derselbe wie vorhin. Wahrscheinlich eine Patrouille“, sagte Rod, setzte sich auf und überprüfte, ob seine Waffe bei dem Stunt etwas abbekommen hatte.
„Sieht ganz so aus“, bestätigte Ondragon. „Wollen wir hoffen, dass sie nicht noch öfter hier vorbeikommen. Dort oben am Hang gibt es kaum noch Versteckmöglichkeiten. Erst wieder an der Straße.“ Er wandte sich an die Madame, die sich den Staub aus dem Gesicht wischte. „Es sind noch etwa drei Meilen bis zum Dorf, schaffen Sie das?“
„Ist dies mein beschissenes Land oder Ihres?“, schnauzte sie zurück. „Merde! Natürlich schaffe ich das!“
Aha, wir waren also wieder bei den frankophonen Kraftausdrücken, dachte Ondragon. Eine Weile lauschte er in das Tal hinab, und als alles still blieb, gab er das Zeichen zum Weitermarsch.
Der Hubschrauber erschien nicht noch einmal, und so trafen sie eine Stunde später unbehelligt auf die Route 208. Nach einer kurzen Trinkpause im Schatten eines Baumes setzten sie ihren Weg fort und folgten einem schmalen Trampelpfad, der in einigem Abstand zur Straße durch ein tropisches Waldstück führte. Hier waren sie wenigstens vor neugierigen Augen und sporadisch vorbeifahrenden Autos geschützt.
Als das Gelände abschüssig wurde, hielt Ondragon erneut an und gab letzte Anweisungen. „In Kürze erreichen wir das Dorf. Ich will, dass wir die Befragung der Leute so schnell wie möglich durchführen und bis heute Abend unser Ziel in den Bergen erreicht haben. Im Dorf bleiben wir immer beieinander und verhalten uns ruhig und professionell. Und immer die Augen offen halten.“ Er sah die Madame an, die sich bei der Kletterpartie trotz ihres Gepäcks überraschend geschickt angestellt hatte. Ein dünner Schweißfilm bedeckte ihr Gesicht und ließ ihre Wangenknochen glänzen. Sie sah verdammt attraktiv aus.
„Sie dürfen Ihren Arztkittel jetzt anziehen, Frau Doktor“, sagte er und zwinkerte ihr zu, um die angespannte Stimmung zwischen ihnen etwas aufzulockern.
Die Madame schnalzte jedoch lediglich mit der Zunge, zog sich den Pulli über den Kopf, holte den Kittel aus ihrem Rucksack und schlüpfte in die weißen Ärmel. Danach verstaute sie die Desert Eagle im Holster und gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass sie bereit war.
Ondragon setzte sich den mit blauem Lack und den weißen UN-Lettern besprühten Helm auf und übernahm die Führung zum Dorf, das M16 locker im Arm. Gefolgt von der Madame und Rod trat er aus dem Wald und blickte über die Ebene, die mit kleinen Feldparzellen und nur spärlich wachsenden Bäumen bedeckt war. Das Dorf Nan Margot war eigentlich kein Dorf, es bestand eher aus einer weit verstreuten Ansammlung von trostlosen Behausungen aus Wellblech, grob behauenen Steinen und Holz. Einige der Hütten besaßen Dächer aus getrockneten Palmwedeln.
Ondragon sah sich um, während er sich den ersten Hütten näherte. Es war still, und nur vereinzelt sah er einen dünnen schwarzen Körper auf einem der Felder arbeiten. Auf einem kleinen, eingezäunten Grundstück stand ein angepflockter Esel mit einem primitiven Sattel aus Stroh und abgeschnittenen Ohren. Eine jämmerliche Kreatur. Genau wie die mageren Hühner, die zwischen den Behausungen hin und her liefen. Sonst war niemand zu sehen. Viele der Hütten, an denen sie vorbeigingen, waren eingestürzt. Aus anderen quoll der Rauch von Kochfeuern. Es roch nach Abfall, Hühnerdreck und dem süßen Parfüm tropischer Blütenpflanzen.
Ondragon fühlte sich an seine Einsätze in Afrika erinnert.
Nur dass sich dieses Afrika direkt vor der Haustür der Vereinigten Statten von Amerika befand.
Er blieb vor einer der Hütten stehen und fragte die Madame, wo all die Bewohner waren. Noch ehe sie antworten konnte, kam eine Horde verdreckter Kinder über die Straße auf sie zugelaufen. Sie umflossen die drei Fremden wie Wasser einen Felsen und reckten ihnen laut durcheinanderrufend die dünnen Arme entgegen.
„Was wollen sie?“, rief Ondragon, der trotz seines sehr guten Französischs keine Chance hatte, das Kreolische zu verstehen.
„Dass wir mitkommen!“, entgegnete die Madame.
„Wohin?“
„Sie sagen, einer aus dem Dorf sei aus den Bergen zurückgekehrt.“
„Was soll das heißen?“ Ondragon stieß eine kleine Hand weg, die in seinen Taschen zu forschen begann. „Sagen Sie den Schreihälsen: Derjenige, der uns zu jemandem führt, der uns Informationen über die Mine und das Labor geben kann, bekommt Bonbons.“
Die Madame warf ihm einen Blick zu, der sagte, dass sie diese Art der Konversation nicht guthieß, wandte sich dann aber wieder an die Kinder.
Ondragon schüttelte den Kopf. Was hatte sie gedacht, wozu sie hier sind? Bestimmt nicht, um Almosen zu verteilen.
Nachdem die Madame übersetzt hatte, wurde das Geschrei der Kinder jedoch nicht weniger. Jeder schien ihnen etwas mitteilen zu wollen, und das Gedränge wurde allmählich nicht nur Ondragon unangenehm. Er sah, dass auch Rod sein Gewehr hob, um sich Platz zu verschaffen.
„Sagen Sie den Kindern, sie sollen Abstand halten! Sonst gibt es gar nichts. Sofort!“, rief er der Madame über die Köpfe der schreienden Kinder hinweg zu. Doch seine Bitte ging in dem Lärm unter.
Es gab nur eine Möglichkeit, Ruhe zu schaffen. Er hob sein Gewehr und gab drei Schüsse in die Luft ab.
Schlagartig verstummte die Horde Kinder und floh in alle Richtungen davon. Bis auf einen kleinen Jungen, der mit großen Augen zu der Madame aufsah und mit dünner Stimme zu ihr sprach.
„Er sagt, sie brauchen dringend einen Arzt, und da ich einer bin, soll ich schnell mitkommen.“
Ondragon seufzte und ließ das M16 sinken. Nun gut, dann würde sie jetzt eben Arzt spielen. Er winkte der Madame und Rod, dem kleinen Jungen zu folgen. Zumindest konnte er hoffen, dass sie dort, wo er sie hinführte, auf andere Menschen träfen, die sie würden befragen können.
Der Knirps rannte barfuß vorweg und hinterließ eine dünne Staubfahne in der Luft, der sie folgten. Er lief quer über Felder mit trockenen Maisstauden und mickrigen Bananenpflanzen, vorbei an verlassenen Hütten, einem verrosteten Autowrack und brennenden Müllhaufen. Sie erreichten eine flache Mauer, die ein staubiges Feld umrahmte, aus dem behauene Steine und Holzkreuze ragten, und sahen am Rand eine große Menschenansammlung in der prallen Sonnen stehen. Ondragon verlangsamte sein Tempo, während der kleine Junge zu der Gruppe rannte und laut rufend auf sie zurückzeigte.
„Langsam nähern!“, warnte Ondragon seine beiden Begleiter und entsicherte vorsichtshalber wieder das Gewehr.
Die Menschen hatten sich derweil umgedreht, und Feindseligkeit und Misstrauen schlugen ihnen aus deren Blicken entgegen. Absolute Stille kehrte ein, als sie bei der Gruppe ankamen, die etwas in ihrer Mitte verbarg. Ondragon starrte in die schwarzen Gesichter der schlotterdünnen Gestalten in Kleidungsstücken, die man in Amerika nicht mal an einem Bettler finden würde. In den kohlschwarzen Augen stand Hass und in den geöffneten Mündern kaum ein gesunder Zahn. Viele Gesichter waren von schwärenden Ekzemen gezeichnet. Einem der Kinder fehlte ein Auge. Was für ein Haufen Elend!
Er bat die Madame, zu erklären, wer sie waren, und in der Stille hörten die Leute zu. Plötzlich trat ein älterer Mann vor und entließ einen wilden Wortschwall gegen die Madame. Seine knorrige Faust fuhr dabei immer wieder vor ihrem Gesicht durch die Luft.
Bereit, jederzeit einzuschreiten, trat Ondragon neben sie und ließ den Kerl nicht aus den Augen. „Was sagt er?“, fragte er flüsternd.
Die Madame legte ihre Stirn in Falten und übersetzte den starken Dialekt. „Er sagt, er sei der Vertreter des verstorbenen Dorfvorstehers und schimpft darüber, dass wir uns wochenlang nicht hätten blicken lassen und dass wir uns jetzt zum Teufel scheren sollen! Sie würden das selber regeln. Er beklagt die schlechte Organisation der Hilfskräfte nach dem Erdbeben. Ein Dutzend Jeeps seien durch ihr Dorf gefahren, doch keiner hätte angehalten und sich um ihre Verletzten gekümmert. Nicht ein einziger blanc hätte sich für sie interessiert. Wir seien die ersten, die hier aufkreuzen – und das nach einem ganzen Monat. Dabei benötigen die Kranken im Dorf dringend Medikamente. Siebzehn Menschen seien an einer Infektion gestorben, als Folge ihrer Verletzungen, weil sie keinen Arzt hatten. In Jacmel und den anderen Städten, da seien die blancs mit ihrer Hilfe fleißig und verteilten Essen und Medizin. Auf dem Land aber überließen sie die Bevölkerung ihrem Schicksal!“
Oh Mann, dachte Ondragon. Ein Konflikt dieser Art hatte ihm gerade noch gefehlt. Es wäre besser gewesen, sie hätten das Dorf ausgespart und die Mine auf eigene Faust erkundet. Aber dafür war es nun zu spät. „Sagen Sie den Leuten, sie bekommen von Ihnen als Ärztin eine Voruntersuchung und versprechen Sie ihnen, dass wir weitere Ärzte hierherschicken werden.“
„Aber das stimmt doch nicht!“, wandte die Madame empört ein.
„Das weiß ich selbst, aber wir sind nicht hier, um die Samariterrolle zu spielen. Wir haben einen konkreten Auftrag! Ich hoffe, das haben Sie nicht vergessen.“
„Seien Sie unbesorgt, das habe ich nicht.“ Sie drehte sich zu dem alten Mann um und fragte ihn etwas. Dann wandte sie sich wieder an Ondragon. „Er sagt, dann könnten wir gleich hier mit der Untersuchung anfangen!“
Kaum hatte die Madame das ausgesprochen, entstand eine Lücke in dem Ring aus Menschen und gab den Blick auf das Innere frei, das bis eben noch verdeckt gewesen war.
Ondragon sog scharf Luft ein, und auch Rod erging es neben ihm genauso, als er sah, was dort auf der Erde lag.
„Holy Shit!“, flüsterte sein Freund.
„Bondieu!“ Die Madame stürzte in den Mittelpunkt des Kreises und kniete sich neben die blutüberströmte Gestalt am Boden. Ondragon beeilte sich, ihr zu folgen. Mit zusammengepressten Lippen und schussbereiter Waffe blickte er auf den jungen Mann hinab, dem die Madame gerade einen Finger an den Hals legte, um den Puls zu fühlen. Sein Gesicht war pechschwarz, trotz des erlittenen Blutverlustes, seine Augen geschlossen. Die Kleidung, die er trug, war mit Blut durchtränkt, wovon das meiste allerdings schon getrocknet war, bis auf jene Stellen, an denen es aussah, als sei er von einer Axt oder Machete getroffen worden. Dort glänzte es feucht und in frischer Röte.
Nüchtern zählte Ondragon vier tiefe Wunden am Oberkörper des Jungen, die ihn wie offene Münder anlächelten. Der linke Arm war beinahe vom Ellenbogen abgetrennt und wurde nur noch von einem faserigen Muskelstrang und etwas Haut gehalten. In einem unnatürlichen Winkel lag er hochgeklappt neben dem Oberarm.
„Er lebt noch!“, sagte die Madame aufgeregt und strich dem übel zugerichteten Jungen über die Wange.
„Was für eine widerwärtige Sauerei“, sagte Roderick, hob das Gewehr und zielte auf die Menge. „Wer hat dem Jungen das angetan?“
„Die Leute sagen, er sei heute Morgen so aus den Bergen zurückgekommen. Niemand weiß, wer das getan hat. Der Junge soll ein Mitglied einer Expedition sein, die vor fünf Tagen das Dorf verlassen hat.“
„Was für eine Expedition?“
„Das wollen sie nicht sagen.“
„Verdammte Bagage! Die lügen doch!“ Ondragon drehte sich zu Rod um, der alarmiert die Umgebung sondierte. Er wusste, dass der Brite Erfahrung mit solchen Situationen hatte und war froh, ihn dabeizuhaben.
„Heiliger Loco“, rief die Madame erneut aus. „Er bewegt die Lippen.“ Sie legte ihr Ohr an den Mund des Verwundeten und lauschte. Es schien ein Wunder zu sein, dass er überhaupt noch lebte, denn die Wunden sahen so aus, als seien sie dem Burschen schon vor ein paar Tagen beigebracht worden, außerdem hatten sie sich übel entzündet. Und die Feuchtigkeit auf der zerschlitzten Kleidung war, so erkannte Ondragon jetzt, nicht nur Blut, sondern auch Eiter und Sekret. Was zur Hölle war mit dem armen Kerl passiert?
Mit trauriger Miene sah die Madame wieder auf. Der Kopf des Jungen war zur Seite gekippt. Offensichtlich war er seinen schweren Verletzungen soeben erlegen. Ondragon blickte zu den Felsen der Berge hinauf. Wie hatte der Kerl sich derart verstümmelt den ganzen Weg bis hierhin schleppen können?
Die Madame erhob sich und ging auf den alten Mann zu, der sie vorhin so wortreich beschimpft hatte. Mit düsterer Stimme sprach sie ihn an, und Ondragon sah, dass der Mann ängstlich zurückwich.
„Was ist los?“, fragte er und fluchte innerlich darüber, dass er kein Wort verstand.
Aber die Madame antwortete nicht, sondern starrte den Mann weiterhin böse an. Dann sagte sie etwas auf Kreolisch, das wie ein Befehl klang, und kurz darauf löste sich die Gruppe auf, wobei sie den Leichnam des Jungen forttrugen. Der Alte blieb jedoch da und verneigte sich widerwillig. Mit einem Wink bedeutete er ihnen, ihm zu folgen. Die Madame nickte Ondragon zu, der es zuließ, dass sie dem Greis zurück zum Dorf folgten.
„Ich habe ihm gesagt, dass ich ein Dokte Feuilles und eine Mambo bin und dass ich den Priester von Nan Margot sprechen will“, sagte die Madame leise, als sie nebeneinander hergingen. „Der Mann sagt, dass die Mambo die mysteriöse Expedition angeführt hätte. Bis auf den armen Jungen sei jedoch bislang niemand zurückgekehrt. Ich habe ihn aufgefordert, uns zum Tempel zu bringen, der in Abwesenheit der Mambo vom La Place, dem Zeremonienmeister, bewacht wird. Dort werden wir beratschlagen, wie es weitergehen soll. D‘accord?“
„D‘accord!“, stimmte Ondragon grimmig zu.
Sie gelangten an ein Haus, das größer war als die anderen im Dorf, und umrundeten es. Dahinter kamen ein Peristyl, ein Altarraum und die Kay-mystè in Sicht – das Heiligtum des Humfó, wie die Madame erklärte. Das Dach der Kay-mystè war eingestürzt und die „Hütte des Geistes“ dadurch nicht begehbar. Die Madame besah sich den Schaden und forderte den alten Mann auf, dafür zu sorgen, dass niemand bis auf den La Place das Gelände des Humfó betrat, solange sie hier seien. Dann sah sie Ondragon an. „Ich empfehle, unser Lager dort im Schatten des Peristyls aufzuschlagen. Ich werde einige der Menschen behandeln und versuchen, etwas über die Mine herauszufinden. Die Mittel zur Behandlung werde ich mit Sicherheit hier im Tempel finden. Nur so werden uns die Leute etwas verraten. Ist das in Ihrem Sinne?“
Ondragon nickte, doch bevor sich die Madame ihrer Aufgabe zuwenden konnte, hielt er sie am Arm zurück. „Was ist mit dem Jungen passiert? Was hat er zu Ihnen gesagt? Ich habe genau gesehen, dass es Sie beunruhigt hat.“
Die Madame wich seinem Blick aus, und zunächst schien es, als wolle sie ihm nicht antworten. Doch dann sah sie ihn direkt an und sagte: „Das wollen Sie nicht wissen, Monsieur!“
„Ach, und woher nehmen Sie diese Gewissheit?“
„Weil dies nichts, rein gar nichts mit unserer Operation zu tun hat!“
„Ich denke aber schon, dass es etwas damit zu tun hat. Denn wir werden demnächst in diese Berge hinaufgehen, genau da, wo dieser unglückliche Kerl hergekommen ist. Und es scheint, als gäbe es dort oben jemanden, der mehr oder weniger gut mit der Machete umzugehen weiß. Und solange es auch nur einen Deut von Bedrohung für uns gibt, geht es mich sehr wohl etwas an, was mit dem Jungen geschehen ist. Also, heraus damit!“
„Nun gut. Wie Sie wollen. Der Junge hat mir gesagt, dass es ein Zombie war, der ihn angegriffen hat! Und die Expedition war eine Zombie-Expedition. Jemand mit dem Namen Etienne Dadou ist von einem Bokor zum Zombie gemacht worden und hält sich dort oben in den Bergen versteckt. Die Priesterin des Dorfes hatte sich bereiterklärt, etwas dagegen zu unternehmen, und jetzt ist sie verschwunden. Sind Sie nun zufrieden, Monsieur Ondragon?“ Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„Na klar, Zombies! Hätte ich mir ja gleich denken können! Wollen Sie mich eigentlich verarschen?“ Ondragon war laut geworden, er hatte den Quatsch satt.
„Ich habe ja gesagt, dass Sie es nicht wissen wollen! Sie ignoranter Affe!“, blaffte die Madame zurück.
„Ignoranter Affe? Fuck! Und was sind Sie dann? Ein Engel? Verdammt! Eine Götzendienerin sind Sie! Eine Schwindlerin! Denken Sie, ich merke nicht, wie Sie mich schon die ganze Zeit über verschaukeln. Ihr französischer Akzent, ihr ganzes Voodoo-Blabla, das ist doch alles bloß Show. Sie ko-“
„Hey folks stop it. Let‘s calm down“, meldete sich Rod zu Wort. Er trat zwischen sie und streckte einen Arm aus. „Wir sind hier bei einer Operation und nicht in einer Talkshow. Habt ihr das verstanden? Ich will, dass ihr eure Differenzen beilegt und euch vertragt, solange wir hier auf dieser beschissenen Insel sind, klar? Danach könnt ihr euch immer noch die Köpfe einschlagen oder miteinander ins Bett gehen, ist mir gleich. Hier aber will ich nichts mehr davon hören, schließlich wollen wir das Ganze mit heiler Haut überstehen. Und das geht nur, wenn wir zusammenarbeiten!“
Ondragon sah Rod überrascht an, dann hob er eine Hand und gab klein bei. Sein Freund hatte natürlich recht. „Verzeihung“, sagte er.
„Shake hands!“, forderte der Brite.
Ondragon seufzte und streckte der zornig funkelnden Madame eine Hand entgegen. Sie schlug ein, wandte sich ab und stapfte zum Peristyl hinüber, wo sie sich daranmachte, die Behandlung der Leute vorzubereiten.
„Bleib cool“, hörte er Rod neben sich sagen. „Sie wird dir das Kommando über die Bounty schon nicht entreißen, Captain Bligh!“
Ondragon musste trotz seiner schlechten Laune grinsen und lud den Rucksack von seinen Schultern. Das ganze Zeug darin war höllisch schwer. Die Dynamitstangen, das Seil, der Proviant und die Munition. Den Rest hatten Rod und die Madame in ihrem Gepäck. Plus Ausrüstung und Kevlarwesten schleppten sie ganz schön was mit sich herum. Ondragon merkte, dass er diesen Teil des Jobs, wie er ihn auch bei DeForce ausgeführt hatte, nicht vermisste.
Sie errichteten ein provisorisches Lager auf dem festgestampften Lehmboden des zu allen Seiten hin offenen Peristyls, hielten aber auf Wunsch der Madame einen respektvollen Abstand zu dem hölzernen, mit heiligen Zeichen geschmückten Mittelpfosten.
Wenig später saß Ondragon neben der Voodoo-Priesterin auf einem wackeligen Stuhl in Kindergröße und sah dabei zu, wie sie die Leute behandelte, die in einer wohlgeordneten Schlange anstanden. Es war mittlerweile Mittag und die Sonne brannte ungehindert vom Himmel auf das Wellblechdach des Peristyls, das leider nur einen zweifelhaften Schutz gegen die Hitze bot, denn trotz der offenen Wände war es brütend heiß darunter.
In aller Seelenruhe, die Ondragon fast wahnsinnig machte, besah und befragte die Madame einen Bittsteller nach dem anderen. Genervt warf er einen Blick auf die Schlange von wartenden Menschen und zählte an die fünfundfünfzig Patienten. War denn jeder im Dorf hier krank? So viele Einwohner konnte das Nest doch gar nicht haben. Ondragon schätzte, dass sich unter den Leuten wohl auch solche befanden, die sich ganz einfach nur den geistigen Beistand einer Priesterin erhofften. Unter diesen Umständen würden sie hier noch bis zum Sanktnimmerleinstag festsitzen. Aber eine derartige Verzögerung konnte er nicht hinnehmen. Außerdem war da noch der Fall des Jungen, der ihm keine Ruhe ließ. Er tippte der Madame auf die Schulter.
„Ja?“, fragte sie, ohne ihren Kopf zu drehen.
„Sehen Sie, wie viele Menschen dort anstehen? Eigentlich war es geplant, dass Sie sich zwei oder drei ansehen, um ihr Vertrauen zu erlangen, nicht das halbe Dorf! Ich habe keine Zeit, darauf zu warten, bis jeder seinen Segen von Ihnen empfangen hat. Sagen Sie denen, es werden nur die behandelt, die wirklich krank sind. Der Rest soll gehen!“
Jetzt wandte sie doch ihren Kopf und sah ihn an. „Wollen Sie nun Informationen über die Mine oder nicht?“
„Natürlich, aber am besten schon gestern. Ich kann es mir nicht leisten, hier einen ganzen Tag zu vergeuden und den Handaufleger zu spielen. Außerdem besteht zu jeder Zeit die Gefahr, dass wir entdeckt werden. Dann haben wir nicht nur die Behörden am Hals, sondern auch noch die MP der US-Army!“ Er biss wütend die Kiefer aufeinander. Es war ein Fehler gewesen, die Madame mitzunehmen. Sie entpuppte sich gerade als eine zweite Mutter Theresa. Er hätte es wissen müssen. „Ich gebe Ihnen drei Stunden, dann sagen Sie den Leuten, dass wir weiter müssen.“ Er erhob sich und ging zu Rod hinüber, der im Schatten des Haupthauses an die Wand gelehnt stand und die Reihe der Wartenden mit ebensolcher Skepsis betrachtete, wie er es getan hatte.
„Schöner Mist!“, brummte Ondragon, als er bei ihm ankam.
„Diese Frau ist wirklich beharrlich, das muss man ihr lassen.“
„Wir könnten sie einfach hierlassen und ohne sie zu der Mine hinaufsteigen. Wir erledigen unseren Job und gabeln sie dann später wieder auf.“
„Das könnten wir tun …“, entgegnete Rod. Er wischte sich den Schweiß aus dem Nacken und bleckte die kräftigen Zähne. „Allerdings wäre mir wohler, wenn sie tatsächlich etwas über die Mine und diesen Jungen herausfinden kann. Denn ich möchte nicht wie ein Blinder zwischen Bärenfallen dort oben herumtappen. Außerdem will ich immer noch gerne wissen, was mit meinen Mailmen passiert ist.“
„Deswegen sind wir hier!“ Ondragon holte sich eine Packung Kaugummis aus der Tasche, bot zuerst Rod einen an, und steckte sich dann selbst einen in den Mund. Mit verschränkten Armen lehnte er sich neben seinen Freund und beobachtete die Madame bei ihrer Audienz.
„Ich frage mich immer wieder“, begann Ondragon wenig später, „warum es Darwin Inc. so wichtig war, dass das Labor versiegelt wird. Allein Industriespionage als Grund erscheint mir zu dünn.“
„Patente in dem Bereich Gentechnik sind viel Geld wert“, entgegnete Rod.
„Genau das macht mich stutzig. Wenn es so viel wert ist, warum holt man dann nicht das Material aus dem Labor, bevor man es versiegelt? Warum wurde in diesem Falle der Eingang gesprengt, anstatt die Einrichtung zu retten? Was ist mit den Forschungsergebnissen? Dafür wurde auch viel Geld ausgegeben. Darwin Inc. muss doch daran interessiert sein, sie zu sichern.“
„Vielleicht war das ein anderer Auftrag für eine andere Gruppe.“
„Du meinst, jemand war vor euch da und hat die Materialien aus dem Labor gesichert und danach seid ihr gekommen und habt gesprengt?“
„Könnte doch sein.“
„Hm, wenn ich mich recht an den Bericht erinnere, hatte die MSC den RT am 16. Januar. Das war nur vier Tage nach dem Erdbeben. Wer soll denn noch früher dort gewesen sein?“
„Eine Operation von Darwin Inc. selbst?“
„Aber dann hätten sie doch auch gleich sprengen können. Nein, ich denke, die MSC war die einzige Gruppe dort oben.“
„Es war nur eine Vermutung.“ Rod zuckte mit den Schultern.
„Zumindest war niemand – auch deine Mailmen nicht – nach dem Beben hier im Dorf, also auch keine andere Crew“, konstatierte Ondragon. „Vorausgesetzt, es stimmt, was die Leute hier sagen, wir seien die ersten Soldaten, die hier aufkreuzen.“
„Hmm hm.“
„Ich habe mir die Berichte von Green und Stern durchgelesen.“
„Und, was hältst du davon?“
„Green schreibt, sie hätten um zwei Uhr nachmittags die Mine erreicht, das Gelände abgesucht, zerstörte Gebäude und vier Tote vorgefunden. Sie haben die Reste der Hütte, die über dem Schachteingang stand und beim Beben wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt war, entfernt und den mit Stahlplatten abgesicherten Zugang freigelegt. In den Platten war eine Falltür mit elektronischem Schloss eingelassen. Da kein Strom und auch kein Notstrom mehr vorhanden waren, konnten sie das Schloss ganz einfach öffnen und drangen in den Schacht ein, in dem eine Stahltreppe hinab in die Dunkelheit führte. Die Crew wurde aber auf der halben Strecke von einem Erdrutsch gestoppt, der die Treppe zerstört und ein Weiterkommen unmöglich machte. Green entschied, es dabei zu belassen, und die Sprengladungen anzubringen. Das Setzen des Dynamits zog sich wie geplant bis zum späten Abend hin. Als die Mailmen fertig waren, brachten sie die Toten und andere verdächtige Materialien, wie zum Beispiel Dinge mit aufgedrucktem Firmenlogo, in den Schacht, so lautete zumindest der Auftrag: Keine Spuren an der Oberfläche hinterlassen!“
„Willst du mir einen Vorwurf machen?“, knurrte Rod.
„Nein, ganz bestimmt nicht.“
„Gut!“
Ondragon warf Rod einen kritischen Seitenblick zu. Warum war er plötzlich so empfindlich? Wuchs ihm etwa ein Gewissen? Oder machte ihm die Sache mit dem Jungen zu schaffen? Nur gut, dass ihn so etwas nicht tangierte. Mitgefühl oder ein Gewissen waren etwas, das in seinem Job nur störte. Vielleicht brauchte sein Freund ein Anti-Gewissen-Training. Und vielleicht sollten sie die Madame doch gleich hier und jetzt sich selbst überlassen und ohne sie zur Mine gehen. Zu viel Rücksicht war schließlich ungesund. Er blickte zu der Madame hinüber, die ein Viertel der Schlange abgearbeitet hatte, und dann auf seine Uhr. Zweieinhalb Stunden noch. Sie lag gut in der Zeit. Womöglich blieben sie trotz der unvorhergesehenen Störungen doch noch im schedule.
Er zuckte mit den Schultern und setzte seine Ausführung fort: „Die Sprengung des Schachtes sollte in den frühen Morgenstunden erfolgen. In der Nacht hatte zuerst Green die Wache, danach Ellys und zum Schluss Stern. Keine Vorkommnisse. Am nächsten Morgen wurde das Gelände von Stern und Ellys abgesichert, während Green noch einmal die Ladungen überprüfte. Um 6.15 Uhr verließ er den Schacht und um 6.30 Uhr zündete er. Die Sprengung verlief nach Plan und der Schacht stürzte ein. Eine darauf folgende Inspektion bestätigte, dass der Eingang komplett versiegelt war. Die Crew packte ihre Sachen und kehrte über denselben Weg, über den sie gekommen war, nämlich durch das Flusstal, zurück zur Küste, wo sie um 12.40 Uhr das Boot bestiegen. PO und MC. Saubere Arbeit!“ Ondragon schnippte mit den Fingern. „Sterns Bericht ist so weit identisch, bis auf die Tatsache, dass er von nur dreizehn Ladungen Dynamit spricht, anstatt von fünfzehn, wie Green es tut.“
„Einer von den beiden hat sich eben verzählt“, bemerkte Rod ironisch.
„Das glaube ich kaum“, entgegnete Ondragon. Nachdenklich kniff er die Augen zusammen und sah hinauf zum Himmel über den Bergen, wo eine Schar Truthahngeier ihre Runden flog. „Wem von den beiden vertraust du mehr?“
Rod warf ihm einen Blick zu. In dieser Hitze wirkten seine blauen Augen noch kühler. „Green, deswegen ist er auch der Head.“
„Gut, dann gehen wir mal davon aus, dass sein Bericht stimmt, was schlussfolgern wir dann aus Sterns Abweichung?“
„Dass sich die Zahl der Ladungen in dem Schacht erhöht hat, ohne dass Stern davon wusste. Green war schließlich als Letzter am Abend im Schacht und am nächsten Morgen der Einzige, der die Ladungen überprüft hat. Vielleicht hat er zwei zusätzliche Stangen gesetzt, von denen Stern und Ellys nichts gewusst haben. Könnte doch sein?“
„Könnte sein. Könnte aber auch nicht sein.“Ondragon nahm den Helm ab und kratzte sich am Kopf. Es machte ihn außerordentlich nervös, dass er nicht auf die Lösung dieses Rätsels kam. Nur eines war sicher. Einer der beiden Mailmen wollte etwas vertuschen. Das sagte ihm sein Gefühl.
„Ich hoffe, wir werden bald mehr wissen“, sagte er und stieß sich von der Wand ab. „Ich horche mal, was die Madame schon so herausgefunden hat.“ Er ging zu ihr hinüber und ließ sich auf den Stuhl sinken. Das Gewehr zwischen den Knien musterte er eine junge hübsche Frau, die der Madame gerade eine böse Wunde auf ihrem Arm zeigte. Eitrige Blasen hatten sich unter dem Schorf gebildet, und die Haut um die Verletzung war bläulich angelaufen. Schüchtern wich die Frau seinem Blick aus und biss sich auf die Unterlippe, während die Madame auf Kreolisch mit ihr sprach und in einem abgewetzten, altmodischen Koffer zu kramen begann.
„Wo haben Sie denn das Ding her?“, fragte er.
„Aus dem Altarraum, dort bewahrt jeder Priester seine Zutaten für Heilmittel und Tränke auf.“ Sie zog den Korken aus einer grünen Weinflasche und schüttete ein braunes Pulver in die hohle Hand der Frau. Dann nahm sie eine zerbeulte Dose, und tat zwei Löffel der getrockneten Kräuter dazu, die sich darin befanden. „Das sollte gegen die Infektion helfen. Ihr Arm wurde von einem Stück Wellblech aufgerissen, das sich beim Beben vom Dach gelöst hatte. Ich hoffe, sie wird es überleben. Die Wunde sieht brandig aus. Eigentlich bräuchte sie Antibiotika.“
Moderne Medizin? Und das aus dem Munde dieser Kräuter-Hexe! Ondragon wandte den Blick von der jungen Frau ab. Ihr Schicksal war nicht sein Problem. „Und haben Sie schon etwas über die Mine oder den Jungen in Erfahrung bringen können?“
Die Madame entließ die Frau und winkte den nächsten Kandidaten heran, dessen kartoffelgroßes Geschwür über seinem linken Auge ganz bestimmt nicht von dem Beben stammte. „Bis jetzt nicht viel. Geben Sie mir noch etwas Zeit. Die Leute fangen gerade erst an, ein wenig gesprächiger zu werden.“
Ondragon sah auf die Uhr. „Noch zwei Stunden, dann brechen wir auf! Egal, was wir bis dahin wissen!“
„Bien sûr, mon Generale!“, sagte die Madame und fragte den Mann vor sich etwas in seiner unmöglichen Landessprache.
Ondragon blieb einen Moment sitzen, wurde der flehenden Blicke der Dorfbewohner aber schnell überdrüssig und gesellte sich wieder zu Rod, der sich eine Havanna angezündet hatte. „Wie kannst du bei dieser Hitze bloß rauchen?“, fragte er den Briten und nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche.
Wortlos hielt ihm Rod die Zigarre hin. Ondragon nahm sie und zog daran. Das nussigherbe Aroma des Tabaks floss über seine Zunge, und überrascht stellte er fest, dass der Rauch sich beinahe kühl anfühlte. Zumindest wirkte das bei über 100 Grad Fahrenheit im Schatten so. Er nahm noch einen Zug und reichte den Glimmstengel an seinen Freund zurück. „Good stuff!“
„Jepp.“
Eine Weile herrschte ein angenehmes Schweigen zwischen ihnen. Sie blickten gedankenvoll über den Hof zum Peristyl, wo die Madame emsig ihre Kräuterkuren mischte. Doch dann spürte Ondragon, dass Rod etwas sagen wollte, sich aber offensichtlich nicht so recht traute.
Er stieß seinen Freund an. „Raus damit. Was brennt dir auf der Seele?“
„Die Madame und ich, wir haben uns im Flugzeug unterhalten, als du geschlafen hast. Sie erzählte mir etwas, das ich merkwürdig fand. Und ich weiß nicht, ob ich ihr glauben soll.“ Rod drehte sich zu ihm, so dass er nur noch mit der Schulter an der Wand lehnte. „Hast du wirklich einen Bruder? Einen, der seit über dreißig Jahren tot ist?“
Es war nur verständlich, dass Rod danach fragte, dachte Ondragon. Nach all den Jahren ihrer Freundschaft fühlte er sich jetzt getäuscht, weil er ihm nie etwas davon erzählt hatte. Er drehte sich ebenfalls zu seinem ehemaligen Mentor und sah ihn an. „Das bleibt jetzt unter uns. Nichts davon soll die Madame erfahren oder irgendjemand sonst.“
„Ich bin dein Freund, Ecks! Wahrscheinlich der Einzige auf dieser Welt, dem du wirklich vertrauen kannst!“
Damit hatte Rod vermutlich recht. Und weil er auch der Einzige war, der seine komplette Familiengeschichte kannte bis hin zum Zwist mit seinem Vater, wollte Ondragon ihm die Sache mit seinem Bruder erklären. „Es stimmt, ich hatte einen Zwillingsbruder. Per Gustav. Er starb mit zehn Jahren. Und wahrscheinlich bin ich schuld an seinem Tod.“
„Du?“
Ondragon wand sich innerlich. Aber er wusste, dass er es eines Tages laut aussprechen musste. „Wir hatten Stubenarrest und mein Vater sperrte uns in seine Bibliothek. Ich fand das ungerecht und trat oder warf etwas gegen ein Bücherregal – ich weiß es nicht mehr genau. Zumindest geriet das Regal ins Wanken und stürzte auf uns drauf. Du musst wissen, dass diese Regale bis zur Decke voll waren mit …“, er zögerte, weil er allein schon dieses Wort verabscheute, „mit … scheiß Büchern!“ Er spuckte es aus wie einen ekligen, schwarzen Käfer. „Sie begruben mich und meinen Bruder unter sich. Ich bekam kaum noch Luft, aber es gelang mir nach einiger Zeit, mich aus dem Berg zu wühlen. Oder waren es meine Eltern, die mich befreit haben? Auch das kann ich nicht mehr genau sagen. Das ist doch seltsam, nicht? Ich weiß nur noch, wie bleich ihre Gesichter wurden, als sie schließlich Per Gustav fanden. Erst später sagten sie mir, er habe ein schweres Schädelhirntrauma erlitten und sei unter dem Stapel aus Papier erstickt.“ Ondragon spürte, wie plötzliche Übelkeit in seiner Kehle aufstieg, und hielt sich eine Hand vor den Mund. Jetzt um alles in der Welt bloß nicht kotzen, dachte er und versuchte angestrengt, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. „Verzeihung, Rod“, presste er nur mit Mühe hervor und fuhr sich mit der Hand über den Hals, der sich wie zugeschnürt anfühlte. „Es …“, er räusperte sich, „es fällt mir schwer, darüber zu sprechen.“
„Schon gut, du musst das nicht …“
Ondragon hob eine Hand. „Doch! Ich muss! Es lässt mir keine Ruhe, verstehst du? Seit ich davon weiß, geht mir mein Bruder nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe seinen Tod, ja, seine ganze Existenz jahrzehntelang verdrängt. Dabei hat er ein Recht darauf, dass ich mich an ihn erinnere. Es ist meine Pflicht, das zu tun!“
„Was ist mit deinen Eltern?“
„Ach, was soll mit denen schon sein?!“, gab Ondragon unwirsch zurück. „Sie haben all die Jahre schön den Mund gehalten. Haben so getan, als sei das Ganze nie passiert. Oder wie erklärst du dir, dass ich Per einfach vergessen konnte.“
Rod hob die Schultern. „War es wirklich so? Vielleicht hat deine Psyche dir nur einen Gefallen getan und die Sache für dich weit weggeschlossen, damit du den Schmerz erträgst.“
„Jetzt fängst du auch schon an wie der Psycho-Doc, bei dem ich vergangenen Sommer in Behandlung war. Nein, das alles klingt zwar plausibel, aber ich glaube, da steckt etwas anderes dahinter. Es kommt mir manchmal so vor, als wäre meine Erinnerung ausgelöscht worden.“
„Das bildest du dir ein, Ecks.“
„Das ist es ja. Ich löse all diese verzwickten Probleme anderer Leute, bekomme aber mein eigenes nicht in den Griff. Beschissene Ironie des Schicksals! Oder doch etwas anderes? Ein Geheimnis, das zu schwer ist, um von mir geknackt zu werden.“ Ondragon breitete die Arme aus. „Der große Problemlöser Paul Eckbert Ondragon scheitert an seiner eigenen Vergangenheit. Ein Scheißdreck ist das!“
„Wenn es dir hilft, kann ich Nachforschungen anstellen.“
„Danke, mein Freund, aber das habe ich schon getan. Das letzte halbe Jahr habe ich alles an Dokumenten und Informationen durchleuchtet, derer ich habhaft werden konnte. Von der Geburts- bis zur Sterbeurkunde Pers, dem ärztlichen Gutachten bis hin zu der dubiosen Behauptung, meine Mutter sei eine Spionin der schwedischen Krone – lachhaft!“ Aufgebracht fuhr er mit der Hand durch die Luft. „Ein paar Gesellen, die sich für ganz schlau hielten, hatten nämlich behauptet, das herausgefunden zu haben. Hat sich natürlich als falsch herausgestellt. Die Mistfliegen wollten mich bloß ärgern. Glaub mir, Rod, ich habe jeden Fetzen an Information durch meine Zentrifuge laufen lassen. Da ist nichts zu finden! Nada, niente! Und doch spüre ich, dass da etwas nicht koscher ist.“
„Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass dein Gespür dich täuscht? Vielleicht ist da tatsächlich nichts zu finden und du steigerst dich bloß in etwas rein.“
Ondragon winkte gereizt ab. „Ich weiß, dass da etwas ist! Und wenn ich noch weitere dreißig Jahre daran zu knabbern habe, ich werde dem Teufel auch dieses Geheimnis entreißen! Gibst du mir noch einen Zug?“ Er deutete auf die erloschene Zigarre zwischen Rods Fingern.
Sein Freund reagierte nicht sofort, holte dann aber sein Feuerzeug hervor, entzündete den Stumpen neu und gab ihn Ondragon, der voller Inbrunst zu rauchen begann.