5. Kapitel

07. Februar 2010

Kerrville, Texas

mitten in der Nacht

Todmüde fiel Ondragon auf das Bett in dem Motelzimmer, das er sich gemietet hatte. Er war neun Stunden gefahren, was eine ziemlich gute Zeit für diese Strecke darstellte – dank der Limitüberschreitungen und dem Glück, dass kein Sheriff auf seiner Bahn unterwegs gewesen war. Aber sein mattschwarzer Mustang war in der Dunkelheit auch beinahe so unsichtbar wie eine Fledermaus.

Nach einem letzten Blick auf sein Telefon schloss er erschöpft die Augen. Noch immer keine Nachricht von Roderick oder Charlize. Am meisten aber beunruhigte ihn, dass sich sein Chemiker noch nicht wieder gemeldet hatte. Der vierundzwanzigjährige Doktorand der Chemie hatte ihm das Eintreffen der Probe um sieben Uhr abends zwar bestätigt, aber er hatte ihm auch eröffnet, dass das Gerät für den Milzbrand-Schnelltest nicht in seinem Labor stand. Dafür würde er zur Universität fahren müssen und auch dort käme er so ohne Weiteres nicht dran. „Dr. Strangelove“, wie er sich nannte, war eines von den hochbegabten Wunderkindern in der Forschung und er gab seine gesamten Ersparnisse für ein privates Labor aus, das beinahe die gesamte Wohnung einnahm. Zumeist tüftelte er dort des Nachts noch an seinen Projekten herum und war neuen bahnbrechenden Entdeckungen auf der Spur. Aber Strangelove war nicht nur ein Intelligenzbolzen, er hatte auch dieses verrückte Etwas an sich, das ihn zu einem wahrhaft brillanten Wissenschaftler machen konnte, und Ondragon war sich sicher, dass der Junge eines Tages den Durchbruch schaffen würde. Leider war Strangelove ständig klamm. Er hatte zwar ein Stipendium, aber enorm hohe Ausgaben für seine Privatforschung. Aus diesem Grund engagierte Ondragon ihn immer wieder für kleinere Aufträge und bezahlte gut dafür. Das sicherte ihm nicht nur exzellente Ergebnisse, sondern auch die Verschwiegenheit des Nachwuchsfresenius‘. Wie auch in dieser prekären Angelegenheit, die den jungen Chemiker am Handy hörbar in Aufregung versetzt hatte. „Ich werde mein Bestes geben, Mr. Ondragon. Ich fahre sofort zur UCLA und füttere den Bioflash mit Ihrer Probe. Ich verspreche Ihnen, Sie bekommen Ihr Ergebnis!“ Das waren Strangeloves letzte Worte gewesen, und Ondragon wünschte sich, das verdammte Telefon würde endlich klingeln.

Er öffnete seine Augen wieder. Er konnte einfach nicht schlafen, nicht mit dieser Ungewissheit. Vielleicht war er übermorgen schon tot! So wie Bolič … und Ellys.

Aber Ondragon wäre nicht Ondragon, wenn er nicht längst andere Hebel in Bewegung gesetzt hätte. Auf der Fahrt hierher hatte er mehrmals mit Charlize telefoniert und ihr aufgetragen, nach Tucson zu fahren, um vor Ort zu sein, wenn Bolič gefunden werden würde. Seine Leiche würde mit großer Sicherheit obduziert werden und dann gäbe es möglicherweise ein verwertbares Ergebnis. Charlize hatte den Auftrag, den Polizeifunk abzuhören und so dicht wie möglich an Bolič dranzubleiben. Natürlich war sie entsetzt gewesen, nachdem sie vom Anthrax erfahren hatte. Aber Ondragon hatte ihre Bitten, sich sofort in ein Krankenhaus zu begeben, eisern abgeblockt. Dann könnte er gleich in die Zeitung setzen lassen, wer er war und welche zumeist illegalen Geschäfte er betrieb. Nein, er musste der große Unbekannte auf den Spielbrett der Weltgeschichte bleiben. Ein Milzbrandfall und ein damit verbundener Pressehype konnte sein Lebenswerk zerstören.

„Dein Tod auch!“, hatte Charlize geschimpft, und insgeheim gab er ihr recht, doch es ging nicht anders. Danach hatte sie ihm versprochen, sofort aufzubrechen, und Ondragon traute ihr zu, dass sie früher oder später an die gewünschten Informationen gelangte. Charlize konnte … nun ja, sehr überzeugend agieren. Nur leider musste er ihre Ergebnisse auch erst abwarten.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es noch sechs Stunden bis zum Sonnenaufgang waren. Gottverdammt! Ondragon erhob sich. Er war noch voll angezogen. Er musste irgendetwas tun, um sich abzulenken. Leicht schwankend verließ er das Zimmer, durchquerte die verlassene Lobby und ging zu seinem Auto. Wo war der nächste 24h-Liquorstore?

Ondragon erwachte in seinem Auto auf einem Supermarktparkplatz. Er saß am Steuer, eine halbleere Whiskeyflasche und ein Röhrchen Aspirin zwischen seinen Beinen. Die Sonne schien grell durch die staubige Frontscheibe und verursachte stechende Schmerzen auf seiner Netzhaut.

Er sah auf die Uhr. Halb Elf.

„Na, das Motelzimmer hätte ich mir auch sparen können“, murmelte er, hustete und rieb sich den steifen Nacken. Nachdem er seine Sonnenbrille gefunden und mit einem Schluck Wasser den schlechten Geschmack aus seinem Mund gespült hatte, warf er den Motor an und fuhr zurück zum Motel.

Dort machte er sich einigermaßen frisch, während er alle fünf Minuten auf sein Handy schaute.

Strangelove melde dich! Oder Rod! Wenigstens einer von euch beiden!

Frustriert packte er seine Reisetasche, verließ das Zimmer und holte sich im Frühstücksraum einen Kaffee, dessen fürchterlicher Geschmack allein schon wach machte.

Wenig später saß er in seinem Auto und fuhr auf den Interstate 10. Bei Tageslicht würde er nicht so rasen können wie vergangene Nacht, also schaltete er den Tempomat ein und schaukelte mit enervierenden 75 Meilen pro Stunde durch Texas. Während die Landschaft zu beiden Seiten des Highways flacher und grüner wurde, schaute er immer wieder auf sein Telefon, doch die Nachrichten von Strangelove, Charlize und Rod ließen weiterhin auf sich warten. Ondragon starrte nach vorn auf die flirrende zweispurige Straße. Bis auf den Kater fühlte er sich eigentlich ganz gut. Auch das Zittern in seinen Händen war verschwunden. Aber vielleicht unterdrückten die Schmerztabletten auch nur die Symptome. Er musste wissen, was in diesem Brief gewesen war!

Kurz nachdem er Houston passiert und sich bei Starbucks einen vernünftigen Kaffee und zwei Bagels mit Lachs und Frischkäse gegönnt hatte, klingelte sein Handy während der Fahrt. Hastig griff er danach, doch es rutschte vom Beifahrersitz in den Fußraum. Fluchend taste er danach, während links an ihm die Trucks vorbeidonnerten. Er bekam es zu fassen und im gleichen Moment hörte das Klingeln auf. Er drückte auf Rückruf.

Hai, Chef?“, meldete sich die Stimme seiner Assistentin. „Alles in Ordnung?“

„Wie man’s nimmt“, brummte Ondragon. „Was gibt‘s?“

„Also, ich habe gestern Abend um sieben Posten im Hotel Arizona bezogen, Zimmer 510. Seitdem sitze ich mehr oder weniger hier unten in der Lobby oder marschiere durch den Flur vor Boličs Zimmer, aber nichts hat sich bisher getan!“

„War der Zimmerservice schon da?“

„Nein, die sind nicht gerade von der schnellen Sorte hier, mein Zimmer wurde auch noch nicht gemacht. Ich muss also noch warten. Oder ich gebe der Polizei einen anonymen Tipp, dann geht‘s schneller.“

Ondragon checkte die Zeit und sah, dass es zwei Uhr nachmittgas war. „Lieber nicht, Charlize. Warte noch, bis die Putztruppe kommt. Ein Tipp ist mir zu heiß, außerdem könnte er die Cops auf eine falsche Fährte leiten.“

„Ist gut, Chef. Hat Strangelove sich inzwischen gemeldet?“

„Leider nein.“

Kuso! Oh, gomen nasai, Chef, das tut mir leid. Aber wenn ich den Kerl in die Finger bekomme, der mit diesem gefährlichen Zeug herumhantiert, dann schneide ich ihm die Daumen ab und gebe sie ihm als Sushi zu essen.“ Sie fluchte erneut auf Japanisch und Ondragon musste grinsen. Charlize war wirklich bezaubernd, und in diesem Moment hätte er sie in seine Arme nehmen und küssen mögen. Er hörte ihr geduldig zu, wie sie einen weiteren Versuch unternahm, ihn davon zu überzeugen, doch besser einen Arzt zu konsultieren, und spürte, dass sie Angst hatte. Um ihn. Das war wirklich (und er meinte wirklich wirklich) rührend. Schon sehr lange hatte sich niemand mehr um ihn gesorgt. Dennoch konnte er nicht darauf eingehen, so gerne er ihr den Gefallen getan hätte.

„Ich habe dir doch erklärt, warum das nicht geht, Charlize. Keine Sorge, ich werde schon nicht draufgehen.“ Ondragon war sich nicht sicher, ob er seinen eigenen Worten glauben konnte, denn er selbst hatte eine Scheißangst. Aber er wollte nicht, dass seine Assistentin sich weiter seinetwegen verrückt machte. „Konzentriere dich auf Bolič, und ruf mich sofort an, wenn du etwas Neues herausgefunden hast. In ein paar Stunden bin ich in New Orleans – The Big Easy. Da kann ich mich ein bisschen amüsieren und bin abgelenkt.“

Das Schweigen am anderen Ende ließ ihn ahnen, dass ihr noch etwas auf der Seele lag. „Frag mich, Charlize!“

„Also … ähm, bist du nicht ansteckend und solltest dich von anderen Menschen fernhalten? Ich meine, falls du überhaupt infiziert bist.“

„Ich habe recherchiert. Milzbrand ist nicht ansteckend, zumindest nicht von Mensch zu Mensch. Beruhigt?“

Hai, Paul-san. Du sagst mir Bescheid, wenn Strangelove das Ergebnis hat? Ich möchte schließlich noch etwas länger für dich arbeiten, Chef!“ Charlize lachte, aber Ondragon konnte ihre Anspannung hören. Er verabschiedete sich von seiner Assistentin und starrte danach weiter auf die Straße … und dachte natürlich mit jeder Minute, die verstrich, an das mögliche Ergebnis des Biosensor-Tests.

In der Pause, die er einige Meilen vor Baton Rouge einlegte, um sich Wasser zu kaufen und weitere Tabletten gegen seine Kopfschmerzen einzuwerfen, klingelte erneut sein Handy. Die Sonne brannte vom Himmel, und Ondragon ging in den schützenden Schatten eines Baumes. Dort nahm er das Gespräch entgegen. „Ja?“

„Alejandro Green hier.“

„Hallo, Mr. Green, gut, dass Sie zurückrufen. Sicherlich haben Sie die Nachricht von Spider bekommen, dass ich Sie dringend sprechen muss.”

„Ja. Geht es um Ty?“

„In gewisser Weise.“ Ondragon blickte über den Parkplatz zu der Tankstelle hinüber und überlegte, wie er die Geschichte formulieren sollte, ohne zu viel preiszugeben. „Wissen Sie, ob jemand es auf Ihren Kollegen Ellys abgesehen haben könnte?“

„Abgesehen? Auf Ty? Ist er tot?“ Green klang neutral. Ondragon schob das auf das knallharte Arbeitsklima, schließlich erlebte man als Mailman ständig unangenehme Überraschungen. Und damit umzugehen, war eine von den vielen Überlebensstrategien, die man sich bei DeForce zulegen musste.

„Das wissen wir nicht, es fehlt noch immer jede Spur von ihm“, beantwortete er Greens Frage wahrheitsgemäß.

„Ich habe keine Ahnung, ob Ty Feinde hatte, Mr. O. Sicher, er trieb sich manchmal mit zweifelhaften Typen herum, aber …“

„… mit Leuten von der White-Power Bewegung?“

„Genau mit denen, aber davon hat man bei den Jobs nie etwas gemerkt. Ich weiß auch nicht, warum Ty sich mit diesen Nazi-Spinnern trifft. Er selbst ist nämlich gar nicht so extrem. Ty war immer cool und zuverlässig, müssen Sie wissen. Er ist ein Kamerad und Freund, auf den man sich verlassen kann, auch wenn‘s brenzlig wird. Sie wissen schon, wovon ich spreche.“ Green machte eine Pause und sagte dann unvermittelt: „Spider hat mir erzählt, dass Sie der legendäre Mr. O sind.“

Ondragon rollte mit den Augen und wünschte sich, Rod hätte die Klappe gehalten. Er ignorierte die unverhohlene Bewunderung in Greens Stimme und fragte ihn nach den letzten Einsätzen von Tyler Ellys.

„Spider sagte, dass Sie sein absolutes Vertrauen genießen. Ich werde Sie unterstützen, Mr. O, schließlich will auch ich wissen, was mit Ty geschehen ist.“ Ondragon hörte im Hintergrund Tippgeräusche, dann sprach Green weiter: „Am vierten Januar waren wir für drei Tage in Kolumbien, am sechzehnten Januar direkt nach dem großen Erdbeben in Haiti und danach in Mexiko, Leichentransport. Das kennen Sie ja.“

„Was war das für ein Job in Haiti?“ Das passte zu dem Voodoo-Hokuspokus, dachte Ondragon.

„Der Auftrag kam direkt nach dem Erdbeben am zwölften Januar rein. Die MSC bekam die Anweisung …“

„MSC?“, unterbrach Ondragon.

„Die Mittel- und Südamerika Crew.“

„Und die besteht aus wie vielen Leuten?“

„Tyler Ellys, Sylvester Stern und ich.“

„Okay.“

„Wir hatten die Anweisung, eine unterirdische Forschungseinrichtung, die bei dem Beben zerstört wurde, aufzusuchen. Nach den schweren Erdstößen hatte es keinen Funkkontakt mehr zu den Mitarbeitern des Labors gegeben und deshalb war man davon ausgegangen, dass sie ums Leben gekommen sind. Unsere Aufgabe war es zu kontrollieren, ob sich dies auch tatsächlich so verhielt und wie viel von dem Labor zerstört wurde. Für den Fall, dass es noch zugänglich wäre, sollten wir den Schacht sprengen und ihn endgültig versiegeln. Das war alles.“

„Und was war mit den Mitarbeitern des Labors? Waren die wirklich alle tot?“, fragte Ondragon.

„Wir haben an der Oberfläche vier Leichen und keine Anzeichen von weiteren Überlebenden gefunden und daraufhin gemäß unserer Anweisung den Eingang zum Schacht gesprengt, in dem sich die Einrichtung befand. Da kommt jetzt keiner mehr so leicht rein.“

„Vielleicht gab es noch Überlebende im Schacht.“ Ondragon beobachtete einen Chrysler-Kombi, der neben dem Mustang einparkte. Eine Familie mit zwei Kindern stieg aus.

„Das gehörte nicht zu unserem Auftrag“, antwortete Green eiskalt.

„Und transportiert haben Sie auch nichts?“

„Wie meinen Sie das?“

„Nun, DeForce Deliveries, das besagt ja schon der Name, ist meines Wissens auf Transporte spezialisiert, nicht aber auf Sprengkommandos. Kam Ihnen das nicht seltsam vor?“

„Nein, nicht im Geringsten. Wir haben die Bombe geliefert.“

„Aha. Könnte es nicht sein, dass einer Ihrer Kollegen einen Sonderauftrag hatte? Tyler Ellys vielleicht? Hat er etwas transportiert … aus Haiti herausgebracht?“

„Ich wüsste davon, denn ich habe den Einsatzplan von Spider bekommen. Da stand nichts von einem Transport. Unsere Aufgabe bestand lediglich in der Sprengung. Außerdem war Ty immer in meiner Nähe.“

„Dann sind Sie der Head?“

„Ja, ich habe das Kommando bei den Einsätzen. Ty ist der Neck, Sly der Body.“

„Schon gut, ich wollte mich nur vergewissern“, besänftigte Ondragon den nun leicht gereizt klingenden Mailman und wechselte das Thema. „Was, glauben Sie, war das für ein Labor? War es legal? Für mich klingt Ihre Schilderung verdächtig nach Drogen oder verbotenen Experimenten.“ Ondragon dachte an das Anthrax. „Vielleicht Biowaffen?“

„Keine Ahnung, Mr. O. Ist mir auch gleich. Meine Kameraden und ich haben unseren Job gemacht und das erfolgreich. Aber falls es Sie beruhigt, für mich sah es aus wie jedes andere Labor. Außerdem wurde uns zuvor versichert, dass keine biohazard bestünde.“

Ein wenig naiv war Green schon. Die Wahrheit war besonders in diesen Kreisen ein rares Gut! Ondragon wusste, dass die nächste Frage sinnlos war, probierte es aber trotzdem. „Wer war der Auftraggeber?“

„Mr. O, ich muss Ihnen ja wohl nicht die Regeln von DeForce erklären. Sie waren doch selbst ein Mailman und wissen, dass wir lediglich im Auftrag handeln. Nur Spider kennt den Auftraggeber.“ Green hatte recht, das war gängige Praxis bei DeForce. So konnte man nichts ausplaudern. Er fragte Green, wie die MSC nach Haiti reingekommen und ob die Aktion unbemerkt geblieben war.

„Es war ganz unproblematisch. Wir sind mit dem Schnellboot angelandet und direkt in die Berge. Es ging ganz fix: rein, sprengen und wieder raus. Zwei Tage später waren wir schon wieder zu Hause. Das Erdbeben hat auf der Insel ganze Arbeit geleistet, das sage ich Ihnen. Sämtliche Dörfer rund um die Berge, in denen sich das unterirdische Labor befand, sind komplett zerstört worden. Nur noch Schutt und Trümmer. Dort herrschte absolutes Chaos, was für uns optimal war, denn wir operieren gern im Chaos. Es ist unser bester Freund. Aber die Leute dort sind echt am Arsch!“

Als ob das einen Mailman juckte!

„Und was ist mit Ihrem Kollegen Stern? Warum meldet der sich nicht bei mir?“, wollte Ondragon wissen.

„Vielleicht verprasst er sein Geld gerade mal wieder bei den Weibern. Das macht er gerne, ist seine Weise, das Leben zu genießen. Ich habe gestern Abend mit ihm telefoniert. Da sagte er aber nichts von Ihnen. Naja, vielleicht hat er Ihre Nummer nicht erkannt und ist deshalb nicht drangegangen.“ Green machte eine Pause. „Wenn ich ihn das nächste Mal spreche, werde ich ihm ausrichten, dass er Sie anrufen soll, Mr. O. Aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass Sly auch keine Peilung hat, wo Ty stecken könnte.“

Ondragon spürte eine Ahnung in sich aufsteigen. Es gab da noch einen anderen Grund, warum Stern sich nicht meldete. Was, wenn er und Ellys längst dasselbe Schicksal teilten und mausetot irgendwo im Graben lagen?

„Ich gebe Ihnen einen Rat, Mr. Green“, sagte er schließlich zu dem Mailman, „lassen Sie Ihre Post ungeöffnet, bis Sie von mir grünes Licht bekommen! Und stecken Sie vorsichtshalber alle Briefe in luftdichte Tüten.“

„Warum?“

„Weil ich es Ihnen sage!“, erwiderte Ondragon schroff. Er hatte keine Lust, mit dem Kerl zu diskutieren.

Green räusperte sich. „Natürlich, Mr. O, ich habe verstanden.“

Die überraschende Unterwürfigkeit des DeForce-Mailman erfreute Ondragon und er erlaubte sich ein Schmunzeln. Wenigstens hatte es ein Gutes, eine Legende zu sein. Der Ruf eilte einem voraus und zeigte den erwünschten Respekt!

„Eins noch, existiert das Codewort ‚Carwash‘ noch?“

Green schien verunsichert, denn er antwortete nicht sofort. Erst nach einigem Zögern kam ein „Nein, das wurde schon mehrmals wieder geändert. Es heißt jetzt ‚Coca Cola‘.“

Möglicherweise reagierte Rod deshalb nicht darauf, dachte Ondragon und ärgerte sich ein wenig, dass sein Freund und Auftraggeber es offensichtlich versäumt hatte, ihm den neuen Code mitzuteilen. Er verabschiedete sich von Green und wählte gleich im Anschluss die Nummer seines Freundes in Dubai. Er benötigte weitere dezidierte Angaben über die Haiti-Aktion.

Als sich die Frauenstimme wieder meldete, stieß Ondragon einen lauten Fluch aus und trat gegen einen Mülleimer, womit er die Familie erschreckte, die neben seinem Auto gerade Hotdogs aß. Wütend stapfte er zum Mustang zurück und stieg ein. Er brauchte kühle Luft aus der Klimaanlage! Die Hitze hier draußen reizte ihn nur umso mehr. Er warf den Motor an und parkte rückwärts aus, da piepte sein Handy. Ein hektischer Griff zum Telefon. Es war eine SMS! Strangelove!

Muss noch warten! Probe kann erst gegen Abend ins Bioflash. Sry, mehr kann ich nicht tun. :-(

Ondragon unterdrückte den Impuls, das iPhone aus dem Fenster zu schleudern. Stattdessen schlug er ein paar Mal mit der Faust auf das Armaturenbrett. Dann drückte sein Fuß das Gaspedal durch, und mit quietschenden Reifen fuhr er vom Parkplatz der Tankstelle.

Er war keine Meile gefahren, da klingelte das Handy erneut. Erst meldete sich stundenlang niemand und dann alle auf einmal!

„Charlize, gibt’s was Neues?“, fragte er genervter, als beabsichtigt.

Seine Assistentin ließ sich wie üblich nicht von seinen Launen aus der Ruhe bringen – zumindest ließ sie es sich nicht anmerken. „Und ob, Chef!“, sagte sie bedeutungsvoll. „Der Zimmerservice war da, hat aber keinen Alarm geschlagen.“

„Aber die müssen doch Boličs Leiche gefunden haben!“

„Haben sie aber nicht.“

„Wie das denn? Der Typ ist tot und stinkt fröhlich vor sich hin! Wie kann man so etwas nicht bemerken?“ Ondragon konnte es nicht fassen.

„Ich kann dir sagen, warum!“ Charlize machte eine Pause. „In dem Zimmer ist nämlich keine Leiche!“