26
Sobald der stellvertretende Sheriff Butch im Polizeiauto verfrachtet hatte, baute sich Dru vor J.D. auf und klopfte ihm mit der flachen Hand aufgebracht gegen die Brust. »Fahr einfach mit mir in den Wald und erschieß mich dort?«, wiederholte sie seine Worte, schlang ihm ihre Arme um die Taille und hielt ihn mit der Kraft der Verzweiflung fest. Gott, sie hatte solche Angst um ihn gehabt. Sie schmiegte ihre Wange eng an seine Brust, schaute ihm dann jedoch abermals zornig ins Gesicht und erklärte: »Dafür hättest du es verdient, dass du von mir erschossen wirst.«
»Ich weiß.« Er zog sie in seine Arme und hielt sie eine Weile stumm fest. Dann rückte er gezwungenermaßen ein Stückchen von ihr ab und sah sie derart traurig an, dass sich ihr Magen verknotete.
»Es tut mir Leid, Dru«, sagte er, während er sanft mit seinen Daumen über die Vertiefung oberhalb ihres Schlüsselbeins strich. »Es tut mir Leid, dass du das gehört hast. Es tut mir Leid, dass du gezwungen warst, Gewalt auszuüben. Verdammt, es tut mir Leid, dass ich dich überhaupt in diese ganze grässliche Sache mit hineingezo...«
»Drucilla!« Beim Klang von Sophies aufgeregter Stimme drehte Dru den Kopf und sah, dass ihre Tante und ihr Onkel den Weg heraufgelaufen kamen.
Der Wagen des Sheriffs fuhr gerade rückwärts aus der Einfahrt und sie konnte sehen, dass Butch mit geradezu gekränkter Miene durch das Seitenfenster sah. Ein Schauder rann ihr über den Rücken. Das Letzte, was sie wollte, war, dass ihr Sohn auch nur in Sichtweite von diesem Schurken geriete – selbst wenn dieser Mörder ihn nur kurz sah, wäre das bereits zu viel. Sie löste sich aus J.D.'s Umarmung und hastete ängstlich auf Tante und Onkel zu.
»Schon gut«, meinte Sophie, und ihre Fähigkeit, die Gedanken ihrer Nichte zu lesen, hatte etwas Tröstliches für Dru. »Tate liegt in seinem Bett und schläft. Wir haben mit dem Babysitter telefoniert und gesagt, dass es noch ein bisschen dauert. Was ist passiert, Liebling? Du hast dich am Telefon ziemlich undeutlich ausgedrückt.«
»Vielleicht kann ich die Sache erklären«, mischte sich J.D. in das Gespräch und erzählte knapp, was vorgefallen war.
Als Dru merkte, dass er die Absicht hatte, seine eigenen – guten – Taten mit keiner Silbe zu erwähnen, vervollständigte sie die Schilderung. Die ganze Zeit über jedoch hatte sie das Gefühl, eine gespaltene Persönlichkeit zu haben. Sie war hin- und hergerissen zwischen glühender Bewunderung für seinen Mut und mühsam unterdrücktem, nicht minder glühendem Zorn. Sie wollte, dass ihre Tante und ihr Onkel ein vollständiges Bild von den Geschehnissen bekamen, zur gleichen Zeit jedoch ...
»J.D. hat diesem Butch erklärt, wenn er ihn in seiner Hütte erschießen würde, würde er bestimmt erwischt – und dann hat er ihm allen Ernstes geraten, ihn mit in den Wald zu nehmen und ihm in aller Ruhe dort eine Kugel in den Kopf zu jagen!« Sie musste es aussprechen, sonst platzte sie womöglich noch.
»Um Himmels willen, Dru!«, fuhr J.D. sie derart wütend an, dass sie erschrocken blinzelte. »Wenn die Sache schief gegangen wäre, hätte ich nicht gewollt, dass du oder Tate mich findet, aber aus deinem Mund klingt das, als hätte ich bereitwillig das Opferlamm gespielt.«
»Wie sollte es auch anders klingen, denn schließlich habe ich genau das gedacht.«
»Bestimmt hatte J.D. einen Plan, um sich zu retten«, mischte sich Ben taktvoll ein.
»Und ob.« Gleichzeitig jedoch verzog J.D. den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Womit ich jedoch nicht sagen will, dass ich nicht echt dankbar war, als du mir die Sache abgenommen hast.«
Zu ihrem Entsetzen konnte sich Dru nicht länger beherrschen und brach in lautes Schluchzen aus.
»Verdammt. Ach, verdammt, Liebling.« J.D. zog sie in seine Arme. »Nicht. Bitte. Nur nicht weinen.« Er umarmte sie fest und wiegte sie beruhigend hin und her. »Tut mir Leid, dass du ihn niederschlagen musstest. Ich weiß, dass Gewalt dir völlig fremd ist.«
Während sie gleichzeitig ein Teil seines Lebens war. Auch wenn er diesen Satz nicht laut aussprach, war er es, der Dru derart zum Weinen brachte. Sie wusste inzwischen genau, wie J.D.'s Gedankengänge funktionierten. »Du willst uns immer noch verlassen, nicht wahr?«
»Natürlich will er das nicht, Schätzchen«, antwortete Ben an seiner Stelle. »Du bist jetzt noch erregt, aber sobald du ein bisschen Abstand bekommen hast, wird dir klar werden, dass es für J.D. keinen Grund mehr gibt zu gehen.«
Doch Dru spürte J.D.'s innerliche Starre und sie hatte die Traurigkeit in seinem Blick gesehen. Also wischte sie sich die Tränen aus den Augen und sah Tante und Onkel bittend an. »Könnte ich einen Moment allein mit J.D. sprechen?«
»Ja, natürlich.« Sophie hakte sich bei ihrem Gatten ein. »Komm mit, Liebling.«
»Aber ...«
Sie bedachte ihren Mann mit einem strengen Blick und wandte sich mit einem sanften Lächeln an die Nichte. »Wenn du uns brauchst – wir sind zu Hause.«
Kurz darauf waren die beiden verschwunden, und J.D. musterte Dru aufmerksam. Als sie sich aus seiner Umarmung löste, einen großen Schritt zurücktrat und ihm mit vor der Brust gekreuzten Armen wortlos ins Gesicht sah, wurde ihm bewusst, dass die nächsten Minuten äußerst schwierig werden würden.
Ihr Blick sagte: Ich warte auf deine Erklärung, Freundchen, und er kreuzte ebenfalls kampfbereit die Arme vor der Brust. »Guck mich nicht so an.« »Du hast die Absicht, aus meinem Leben zu verschwinden – also hast du nicht zu bestimmen, wie ich gucke.«
Er machte einen Schritt in ihre Richtung, denn am liebsten hätte er sie gepackt und geschüttelt – oder aber in den Arm genommen und geküsst, bis sie ihren starrsinnigen und zugleich angewiderten Gesichtsausdruck verlor. Stattdessen blieb er mit fest verschränkten Armen vor ihr stehen.
Sie jetzt zu berühren, wäre eine schwachsinnige Idee. Nicht, wenn er die Absicht hatte, von hier zu verschwinden, damit sie das Leben fortführen könnte, das sie gehabt hatte, bevor er in die Idylle eingedrungen war.
Das Leben, das ihr zustand.
Also reckte er zornig seinen Kopf. »Kannst du vielleicht plötzlich Gedanken lesen?« Er durfte keine Schuldgefühle zeigen. Selbst wenn es ihn umbrächte, würde er tun, was für sie das Beste war. »Weshalb zum Teufel bildest du dir ein, du wüsstest, was ich will?«
Sie reckte ebenfalls das Kinn. »Hast du vor zu bleiben?«
Ach, verdammt. Damit kam sie leider direkt auf den Punkt. Er blickte in ihre großen, himmelblauen Augen und erklärte: »Ich habe Butch ein Alibi gegeben für den Tag, an dem er den Verkäufer in dem Supermarkt erschossen hat. Bis heute wusste ich nicht, dass er den Mann getötet hat, aber dadurch wird mein Verhalten nicht entschuldigt. Ebenso wenig wie durch die Tatsache, dass ich Butch was schuldig war dafür, dass er mich als Kind davor bewahrt hat, von einem Fabrikdach zu fallen. Ich möchte jedoch, dass du weißt, dass ich ihm geglaubt habe, als er mir erzählt hat, er wäre, während der Supermarkt überfallen worden war, bei einer Frau gewesen. Ich schwöre dir, ich hätte niemals für ihn gelogen, wenn ich auch nur eine Sekunde gedacht hätte, er hätte etwas mit dem Überfall zu tun.« Wenigstens das musste sie ihm glauben.
»Natürlich nicht«, stimmte sie ihm zu seiner Erleichterung zu. »Aber warum hast du nicht diese Frau für ihn aussagen lassen?«
»Weil er mit der schlimmsten Furie in der gesamten westlichen Hemisphäre verheiratet ist und ich wusste, dass sie ihm die Eier abschneiden und sie zum Abendbrot servieren würde, wenn sie je erführe, dass er sie betrügt.« Na klasse, Carver. Er hatte einem Mörder ein Alibi gegeben, damit dessen Frau nicht merkte, dass er sie betrog. Wirklich heldenhaft, nicht wahr?
Er stöhnte leise. »Ich habe keine vernünftige Entschuldigung für das, was ich getan habe. Ich habe mich einfach dazu überreden lassen – was einer der Gründe dafür ist, dass ich nach Seattle zurückfahren und mich den Behörden stellen muss.«
»Was werden sie mit dir machen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht komme ich mit einem blauen Auge davon. Vielleicht aber stecken sie mich auch direkt in den Knast.« Letzteres hielt er für wahrscheinlicher, doch das sagte er nicht laut.
Dru ließ die Arme etwas sinken und schlang sie, als würde sie plötzlich frieren, eng um ihren Körper. »Aber so oder so hast du nicht die Absicht, noch mal zurückzukommen, oder?«
Er hielt dem Blick aus ihren schmerzerfüllten Augen stand. »Nein.«
Dru spürte, wie etwas in ihrem Inneren zerbrach. Sie hatte genug von seinem Gespräch mit Butch mit angehört, um zu wissen, dass er etwas für sie empfand. Und trotzdem war er bereit, einfach zu gehen und die Kostbarkeit ihrer Verbindung fortzuwerfen.
Er warf sie wie einen wurmstichigen Apfel weg!
Wie eine Flamme, die plötzlich frischen Sauerstoff bekam, loderte heißer Zorn in ihr auf. Er brannte heißer und stärker als ihr Schmerz und sie war dankbar für die reinigende Hitze.
»Tja, das kommt dir doch sicher sehr gelegen, oder?«, fragte sie mit kühler Stimme.
Er sah sie reglos an. »Was?«
»Auf diese Weise kannst du dich klammheimlich aus einer Affäre stehlen, die dir allmählich langweilig geworden ist.«
»Himmel, Dru. Du kannst doch unmöglich glauben ...«
»Warum nicht? Habe ich vielleicht irgendeinen Liebesschwur von dir überhört? Nein – du hast mich von Anfang an davor gewarnt, dass du nicht an die ewige Liebe glaubst, nicht wahr?« Sie schlang die Arme noch enger um sich, bemühte sich jedoch gleichzeitig um ein möglichst gleichgültiges Gesicht. Es erschien ihr lebenswichtig, dass er nicht erführe, wie verletzt und vor allem wie wütend sie war. »Also tu dir keinen Zwang an, wenn du jetzt verschwinden willst. Ich bin es schließlich gewohnt, von den Männern wie ein benutztes Kleenex weggeworfen zu werden, nachdem sie ihr Vergnügen mit mir hatten.«
Die Flammen ihres Zorns loderten immer höher. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen, hätte sie ihm die gleichen Schmerzen zugefügt, die sie empfand. »Aber, John David, lass mich dir noch sagen, wie es für mich dann weitergehen wird. Sobald du verschwunden bist, werde ich runter in den Red Bull fahren, mir einen netten Cowboy suchen, ein paar langsame Tänze mit ihm drehen, ein paar Gläser mit ihm trinken und – wer weiß? Vielleicht nehme ich ihn am Ende des Abends noch mit heim. Schließlich weiß ich aus zuverlässiger Quelle, dass ich das perfekte Schlampenkleid besitze, in dem ich den Männern ...«
Er packte ihre Arme, schüttelte sie unsanft, schob sich dicht an sie heran und knurrte: »Du würdest mein Kleid anziehen, um einen anderen zu verführen?«
»Allerdings, Kumpel. Vielleicht erspare ich mir dieses Mal die Mühe, auch noch Unterwäsche zu tragen. Auf diese Weise braucht mein neuer Stecher keine Zeit zu verlieren, bevor er ans Eingemachte geht.«
»Nie im Leben! Kein verdammter Cowboy sollte es jemals wagen, Hand an dich zu legen. Du gehörst nämlich mir.«
»Als deine Frau.« So hatte er sie Butch gegenüber genannt.
»Genau! Und niemand legt Hand an meine Frau außer ...« Plötzlich ließ er von ihr ab und machte einen Schritt zurück. »Oh. Wirklich clever. Aber es wird nicht funktionieren, Dru. Außerdem würdest du so etwas niemals tun.«
»Wer sagt das? Du wirst ja nicht hier sein, weshalb also sollte ich auf diesen Spaß verzichten?«
»Ich schätze, es gibt keinen richtigen Grund, aber ich kenne dich, Lady. Ich bezweifle nicht, dass du früher oder später mit einem anderen ins Bett gehst, aber ganz sicher nicht mit dem ersten Mann, der dir über den Weg läuft, nur weil du sauer auf mich bist.«
»Aber früher oder später werde ich mit einem anderen ins Bett gehen.« Sie sah, dass seine Wangenmuskeln zuckten. »Und dieser Gedanke gefällt dir ganz und gar nicht, habe ich nicht Recht?«
»Nein.«
»Warum?« Sie war sich nicht sicher, wen von ihnen beiden sie durch die Verfolgung dieses Themas stärker quälte, ihn oder sich selbst. »Weshalb interessiert dich das? Schließlich bist du dann nicht mehr hier.«
»Du kapierst es einfach nicht, nicht wahr, Dru?« Er raufte sich die Haare und funkelte sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich werde wahrscheinlich in den Knast gehen. Himmel, könnten zwei Menschen verschiedener sein als wir beide? Du führst dein ordentliches Leben, umgeben von deiner Familie und deinen Freunden, die immer nur das Beste für dich wollen, während mein bester Freund mich umbringen wollte und meine Zukunftsaussichten alles andere als rosig sind. Wir haben nichts gemeinsam, was die Grundlage für eine dauerhafte Beziehung bilden könnte.«
»Du irrst dich! Gott, nie im Leben habe ich einen Mann getroffen, der sich so bemüht hat, ein falsches Bild von sich zu zeichnen!« Ihr Zorn wurde durch Entschlossenheit ersetzt. »Beantworte mir nur noch eine Frage, ja? Was empfindest du für mich?«
Er wartete so lange mit der Antwort, dass ihr das Herz bis in die Kehle schlug. Verdammt, egal, welchen Preis er dafür zahlen müsste – er war fest entschlossen, sie vor seinem angeblich schlechten Einfluss zu bewahren.
Zu ihrer Überraschung jedoch erklärte er schließlich, wenn auch zögernd: »Ich ... mag dich.«
»Du magst mich«, wiederholte sie. »So wie Crème Brulée? Oder wie das Reparieren irgendwelcher Sachen? Oder, nein, warte! Wahrscheinlich bin ich einen Hauch wichtiger als diese Beispiele. Vielleicht wie ein kleines Hündchen?«
Seine Brauen zogen sich wie dunkle Gewitterwolken auf seiner Stirn zusammen. »Wie die Luft, die ich zum Atmen brauche, bist du jetzt zufrieden?«
Ja. Trotz seiner gerunzelten Stirn fasste sie ein wenig neuen Mut. »Sogar sehr. Obgleich du an deiner Rede noch ein wenig hättest feilen können.« Sie strich mit ihren Fingerspitzen über seinen Arm. »Ich liebe dich, John David. Liebst du mich auch?«
»Was, wenn ich es tue, Drucilla? Das wird nichts daran ändern, dass ...« »Liebst du mich?«
»Verdammt, hörst du mir bitte endlich zu? Es macht keinen Unterschied, ob ich dich liebe oder nicht...«
»Liebst du mich?«
»Ja! Aber so einfach ist das nicht...«
»Doch, doch, das ist es. Wir lieben einander und das ist das Einzige, was zählt.«
Er stopfte die Hände in die Hosentaschen und ließ die Schultern hängen. »Ich wünschte mir, dass es so wäre. Aber die Wahrheit ist nun einmal die, dass ich mich meiner Vergangenheit stellen muss, und zwar ganz allein.«
»O nein. Du sagst, wir wären so verschieden. Der einzige wirkliche Unterschied zwischen uns beiden ist, dass ich mein Leben lang die Unterstützung anderer hatte, du hingegen nicht. Aber du bist jetzt nicht mehr allein.«
»Dru...«
»Du hast einen Fehler gemacht«, fuhr sie in dem verzweifelten Verlangen, dass sie zu ihm durchdrang, mit eindringlicher Stimme fort. »Tate, Tante Sophie, Onkel Ben und ich – wir alle kennen dich. Du hast es nicht verdient, wegen dieser Geschichte ins Gefängnis zu wandern, und wenn nötig, gehen wir deshalb bis vor das oberste Gericht. Und wenn das nicht reicht und du tatsächlich zu einer Haftstrafe verurteilt wirst, werde ich halt warten, bis du wieder rauskommst.«
Seine Miene wurde steinern und seine Stimme hatte einen Klang, der keinen Widerspruch mehr zuließ. »Nein. Das wirst du nicht. Kehr zurück zu deinem alten Leben, Drucilla. Genauso mache ich es auch.«
Sein Blick und seine Stimme waren derart kompromisslos, dass Drus Überzeugung erneut ins Wanken geriet.
Himmel. Würde sie es niemals lernen? Inzwischen sollte sie wissen, dass sie niemanden zwingen konnte, sie zu lieben und zu bleiben, wenn er es nicht wollte. Zeit ihres Lebens war sie verlassen worden, egal, wie sehr sie sich auch danach sehnte, dass es einen Menschen an ihrer Seite hielt. Je eher sie es akzeptierte, umso besser für sie alle. Sie trat einen Schritt zurück und ließ die Arme sinken.
»Ich weiß nicht, warum ich dachte, dass du anders als die anderen bist«, erklärte sie ihm traurig. »Weißt du was? Ich gebe auf. Kehr zurück zu deinem alten Leben, John David.« Ein letztes Mal musterte sie sein Gesicht. Sie war müde. Müde und erschöpft. »Ich hoffe, dass dich das glücklich machen wird.«
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ließ ihn allein auf der Lichtung zurück.
J.D. fixierte den inzwischen menschenleeren Pfad. Ihm war hundeübel. Eben noch hatte ihm Dru mit blitzenden Augen versichert, sie würde praktisch alles für ihn tun – und jetzt stand er plötzlich verlassen vor der Tür seiner Hütte.
Wieder einmal allein.
»Tja, umso besser«, sagte er, starrte auf die Stelle, wo sie verschwunden war und wandte sich der Verandatreppe zu. »Umso besser.« Er bückte sich nach seiner Tasche.
Sie hatte das getan, worum er sie gebeten hatte und was das Beste für sie war. Er war immer schon allein gewesen und so gefiel es ihm am besten. Er ging die Treppe hinunter in Richtung seines Wagens.
Ich hoffe, dass dich das glücklich machen wird.
Er ließ seine Tasche auf die Erde fallen, als es ihn wie ein Blitz durchfuhr.
Zeit seines Lebens hatte er sich ein Zuhause gewünscht. Weshalb also warf er das Zuhause, das ihm hier liebevoll angeboten wurde, so gedankenlos weg?
Aus lauter Angst, Dru eines Tages enttäuschen zu können. Irgendwie war es ihm besser erschienen, ihr jetzt weh zu tun als später, wenn es kein Zurück mehr für sie gab.
Nie zuvor jedoch hatte er eine solche Resignation in ihrem Blick gesehen. Er hatte sie wütend und erregt erlebt, verächtlich, glücklich und verletzt. Niemals jedoch resigniert. Bis vor ein paar Minuten.
Und er hatte diese Resignation bei ihr bewirkt. Er hatte sie verstoßen und sich obendrein geweigert, ihr die Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen zu überlassen. Was hatte Ben über Verantwortung gesagt? Dass sie manchmal bedeutete, andere schwere Entscheidungen allein fällen zu lassen, statt zu versuchen, ihnen zukünftige Schmerzen zu ersparen, indem man sie gar nicht erst frei wählen ließ?
Er hatte Dru die Möglichkeit der Wahl genommen. Und aus welchem Grund? Weil er eventuell für seine Rolle bei dem von Butch begangenen Verbrechen verurteilt werden würde?
Was, wenn sie ihn nicht ins Gefängnis steckten? Wollte er tatsächlich den Rest seines Lebens in einem Einzimmerapartment nach dem anderen verbringen, ohne jemals einen Ort wirklich sein Zuhause nennen zu können? Wollte er weiter als Außenseiter leben und seine Dosis Familienglück darauf beschränken, dass er ab und zu einen Blick auf die Leben anderer Menschen warf?
»Verdammt. Was bin ich doch für ein Idiot.«
Aber zumindest ein nicht ganz und gar kompletter Idiot.
Er sprintete den Weg hinunter zum Hotel.
Als Dru eilige Schritte hinter sich hörte, trat sie blicklos zur Seite. In der Ferne hörte sie fröhliches Rufen und nahm an, dass da noch ein später Gast an der ausgelassenen Feier teilnehmen wollte.
Stattdessen ächzte eine Stimme ihren Namen, jemand packte sie am Arm, wirbelte sie herum – und sie schaute erschrocken in J.D.'s Gesicht.
Er nahm ihren zweiten Arm und atmete, statt etwas zu sagen, keuchend ein und aus. Unsicher, ob sie die Kraft zu einer weiteren Sparringrunde hätte, schloss sie die Augen.
Er schüttelte sie sanft, sie schlug die Augen wieder auf und beobachtete, dass er mühsam schluckte. »Drucilla Lawrence?«, begann er mit heiserer Stimme. »Willst du meine Frau werden?«
»W-was?« Doch sie hatte ihn verstanden, wusste, sie hatte die Worte ganz genau gehört. Plötzlich wurde ihr so leicht ums Herz, dass sie meinte, es flöge ihr davon. »Du willst mich heiraten?«
»Oja.«
Nachdem er sich so beharrlich geweigert hatte, sie an seinem Leben teilhaben zu lassen, kamen ihm diese Worte verdächtig mühelos über die Lippen, und sie bedachte ihn mit einem unsicheren, argwöhnischen Blick. »Weshalb sollte ich dir das jetzt auf einmal glauben? Schließlich ist es keine fünf Minuten her, dass du dein Leben alleine verbringen wolltest.«
»Vor fünf Minuten war ich ein Idiot. Jetzt bin ich eine ganze Ecke klüger. Ich will den Rest meiner Tage mit dir verbringen, Dru. Ich will mit dir alt werden, will Tate aufziehen als wäre er mein Sohn und weitere Kinder mit dir haben.«
Er neigte seinen Kopf, gab ihr einen sanften Kuss und sah sie mit leuchtenden Augen an.
»Du bedeutest mir so viel«, erklärte er mit ungeahnter Inbrunst. »Ich liebe dich mit einer Innigkeit, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Ich weiß, es war total blödsinnig von mir, dich aus meinen Problemen heraushalten zu wollen, aber der Gedanke, dir könnte irgendwas passieren, war mir unerträglich. Doch ich schätze, niemand kommt durchs Leben, ohne dass er ab und zu ein paar Schrammen abkriegt, oder?«
»Niemand«, stimmte sie ihm zu. »Ich glaube, der Trick besteht darin, dafür zu sorgen, dass nur die guten Zeiten zählen, und mit beiden Händen die Menschen festzuhalten, die einen lieben, damit man, wenn die Zeiten einmal nicht so gut sind, Unterstützung hat.« Sie umfasste sein Gesicht mit beiden Händen. »Bist du bereit, dich in guten und in schlechten Zeiten von mir unterstützen zu lassen, John David?«
Seine Augen leuchteten noch heller als zuvor. »Ja.« Er riss sie in seine Arme und presste sie so eng an seine Brust, dass sie mühsam nach Luft schnappte. »Großer Gott, ja. Ich kann mir zwar immer noch nicht vorstellen, dass du mir womöglich in der Besucherzelle eines Gefängnisses gegenübersitzen sollst, aber wenn du sagst, dass du mich auch in dieser Sache unterstützen willst, dann wird das wohl so passieren. Ich liebe dich so sehr, Dru. Lass mich der Mensch sein, der bis ans Lebensende an deiner Seite ist. Lass mich nicht noch einmal allein in die Kälte zurückkehren.«
»Wenn du nicht willst, brauchst du nie wieder allein zu sein«, erwiderte sie sanft, legte den Kopf in den Nacken und grinste ihn an. »Solange du mich jeden Streit gewinnen lässt und mir jeden Wunsch erfüllst.«
Er versteinerte – und dann legte sich der ihr inzwischen so vertraute Ausdruck des »Rechtlosen« auf sein zuvor so zärtliches Gesicht. Er erklärte: »Da kannst du lange warten, Süße«, fuhr mit seinen Händen über ihr Hinterteil und tat etwas derart Verruchtes mit seinem Prachtstück, dass sie giggelnd aufjapste. »Und zwar mindestens die nächsten fünfzig Jahre.«