2 Perchuschouuo,
Freitag, 19. April 1991


U

ns liegen eindeutige Beweise vor«, sagte der KGB-Vorsitzende Wladimir Krjutschkow, »dass es der amerikanischen CIA gelungen ist, Agenten in den engsten Kreis um Gorbatschow einzuschleusen.«

Verteidigungsminister Marschall Dimitri Jasow, ein stumpfer, sturer alter Haudegen mit bulligem Gesicht, der am Ende des Tisches saß, rief: »Wir brauchen Namen.«

Krjutschkow kam der Aufforderung sofort nach und nannte fünf Personen, die bekanntlich zum engsten Mitarbeiterkreis des Generalsekretärs gehörten. »Jeder Idiot sieht doch, dass Gorbatschow von der CIA manipuliert wird – die Amerikaner planen, zuerst unsere Regierung, dann unsere Wirtschaft und Forschung zu sabotieren. Letztendlich geht es ihnen darum, die Kommunistische Partei zu vernichten, den Sozialismus niederzuwalzen und die Sowjetunion als eine Weltmacht zu eliminieren, die in der Lage ist, die amerikanische Arroganz im Zaum zu halten.«

Die achtzehn Männer und Frauen, die an dem langen Tisch im Garten saßen, lauschten bestürzt. Mitten unter ihnen saß Jewgeni. So viele Prominente wie hier hatte er zuletzt bei Fernsehübertragungen von der Parade am Ersten Mai gesehen. Ab dem Vormittag waren die ersten Limousinen an der stattlichen, aus Holz erbauten Datscha am Rand des Dorfes Perchuschowo vorgefahren. Die Gäste hatten in einem überheizten Raum mit Kachelofen ein Glas Punsch getrunken und geplaudert, während sie auf die Nachzügler warteten. Schließlich hatten sich alle warm angezogen – der letzte Schnee war geschmolzen, aber die Luft noch immer kühl – und waren hinaus in den Garten gegangen, für den Fall, dass die Datscha abgehört wurde. Wladimir Krjutschkows Gäste nahmen an dem langen Tisch unter einer Gruppe Tannen ihre Plätze ein. Jenseits der Bäume erstreckte sich der Rasen bis hinunter zu einem großen See, auf dem junge Leute mit kleinen Segelbooten eine Regatta fuhren. Ab und zu wehte vergnügtes Gekreische den Hügel herauf. Wenn man durch die Bäume nach links schaute, sah man, dass bewaffnete Wachmänner an dem Elektrozaun entlangpatrouillierten, der das Grundstück umgab.

Mathilde, die Jewgeni direkt gegenübersaß, lächelte ihm komplizenhaft zu und drehte sich dann zur Seite, um ihrem Gatten Pawel Uritzki etwas ins Ohr zu flüstern. Er war ein ernster Mann, der aus seiner tiefen Aversion gegen Juden keinen Hehl machte. Jetzt nickte er und wandte sich Krjutschkow zu, der am Kopfende des Tisches saß. »Wladimir Alexandrowitsch, was Sie uns da eben über die Spione im engsten Kreis um Gorbatschow eröffnet haben, könnte der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Es ist eine Sache, nicht mit Gorbatschow einverstanden zu sein, wie wir alle, und ihm den Vorwurf zu machen, dass er die sozialistischen Bruderstaaten Osteuropas im Stich lässt; ihn dafür zu kritisieren, dass er auf unsere bolschewistische Geschichte spuckt; ihm die Schuld dafür zu geben, dass er überstürzt Wirtschaftsreformen in die Wege leitet, ohne die geringste Ahnung zu haben, wohin er das Land führt. Es ist jedoch etwas völlig anderes, ihn anzuklagen, der Handlanger der CIA zu sein. Haben Sie mit dem Generalsekretär darüber gesprochen?«

»Bei unseren regelmäßigen Besprechungen habe ich mehrere Ansätze gemacht, ihn zu warnen«, erwiderte Krjutschkow. »Jedes Mal ist er mir ins Wort gefallen und hat das Thema gewechselt. Anscheinend will er nicht hören, was ich zu sagen habe. Und die wenigen Male, wo ich tatsächlich etwas länger reden konnte, hat er ungläubig abgewinkt.«

»Wissentlich oder unwissentlich verkauft Gorbatschow die Sowjetunion an den Teufel«, warf Mathilde mit Inbrunst ein.

»Das Land steht vor einer Hungerkatastrophe«, vermeldete Ministerpräsident Walentin Pawlow vom anderen Ende des Tisches. »Die Wirtschaft ist nur noch ein heilloses Chaos. Niemand führt irgendwelche Aufträge aus. Fabriken haben Produktionsausfälle, weil ihnen das Rohmaterial fehlt. Die Bauern können nicht ernten, weil keine Ersatzteile für Traktoren da sind.«

»Unsere geliebte Heimat geht vor die Hunde«, bestätigte der für die sowjetischen Bodentruppen verantwortliche General Walentin Warennikow. »Die Steuern sind derart hoch, dass kein Geschäftsmann sie mehr aufbringen kann. Rentner, die ihr ganzes Leben für den Kommunismus gearbeitet haben, können sich von ihrer kargen Rente nicht einmal mehr Tee kaufen.«

Einer der Apparatschiks des Außenministeriums, Fjodor Lomow, der Urenkel eines berühmten alten Bolschewiken, der nach der Revolution von 1917 der erste Volkskommissar für die Justiz gewesen war, meldete sich zu Wort. »Wie allgemein bekannt ist, haben die jüdischen Architekten den Puschkin-Platz so angelegt, dass der große Puschkin mit dem Rücken zum Kino Rossija stand. Die Symbolik ist niemandem entgangen.« Lomow, ein Mann mit aufgedunsenem Körper und gelben Alkoholflecken in seinem schneeweißen Ziegenbart, sprach weiter. »Die shids und Zionisten sind verantwortlich für Rockmusik, Drogensucht, Aids, Lebensmittelknappheit, Inflation, den Verfall des Rubels, Pornografie im Fernsehen, ja sogar für den Unfall im Kernkraftwerk von Tschernobyl.«

Und so ging es weiter; die Verschwörer (wie Jewgeni sie insgeheim bezeichnete) machten ihrem Unmut und ihren Ängsten Luft. Die Emotionen überschlugen sich, und manchmal, wenn mehrere durcheinander redeten, musste Krjutschkow sie wieder zur Ordnung rufen.

»Gorbatschow ist ein Lügner, er hat uns weisgemacht, er wolle nur ein bisschen an der Parteistruktur herumverbessern, aber in Wirklichkeit will er sie zerstören.«

»Die böswillige Verspottung aller staatlichen Institutionen ist an der Tagesordnung.«

»Ich spreche aus Erfahrung – die Staatsgewalt hat auf allen Ebenen das Vertrauen der Bevölkerung verloren.«

»Die staatlichen Kassen sind leer – die Regierung zahlt die Solde fürs Militär und die Pensionen regelmäßig mit Verspätung.«

»Die Sowjetunion ist im Grunde unregierbar geworden.«

»Gorbatschows Entscheidung, die sowjetischen Truppen aus Afghanistan abzuziehen, war für das Militär eine Demütigung.«

»Die drastischen Kürzungen im Militärhaushalt und der klägliche Rest-Etat haben uns in eine schlechte Position gegenüber den Amerikanern nach ihrem Hundert-Stunden-Sieg im Golfkrieg gebracht.«

Krjutschkow blickte in die Runde und sagte mit ernster Stimme: »Die einzige Lösung sehe ich darin, den Ausnahmezustand auszurufen.«

»Dem wird Gorbatschow niemals zustimmen«, hielt Pawel Uritzki entgegen.

»In dem Fall«, fuhr Krjutschkow fort, »müssen wir ihm die Entscheidung abnehmen. Ich bitte alle, die dafür sind, die Hand zu heben.«

Neunzehn Hände schossen in die Höhe.

Vom See her drang der Schrei eines Jungen herauf, dessen Boot gekentert war. Die anderen kamen aus allen Richtungen mit ihren Booten herbei und fischten ihn aus dem Wasser.

»Wenn es an der Zeit ist, unser Projekt zu starten«, sagte Uritzki, »dürfen wir nicht zimperlich sein, wenn dabei Leute über Bord fallen.« Er zog viel sagend die Augenbrauen hoch. Einige am Tisch lachten leise.

Später, als die Gäste sich verabschiedeten und zu ihren Wagen gingen, nahm Krjutschkow Jewgeni beiseite. »Wir haben einen gemeinsamen Freund, der eine hohe Meinung von Ihnen hat«, sagte der KGB-Chef. »Über Ihre Arbeit in der Zentrale bin ich informiert, bei einem kleinen Kreis von Kollegen genießen Sie einen legendären Ruf.«

»Ich habe nur meine Pflicht getan, Genosse Vorsitzender.«

Krjutschkow gestattete sich ein humorloses Lächeln. »Seit Gorbatschow an der Macht ist, werden es immer weniger, die noch den Begriff Genosse benutzen.«

Er bugsierte Jewgeni ins Badezimmer und drehte die beiden Wasserhähne voll auf. »Einer von uns – ein führender Funktionär, der im Zentralkomitee für die Finanzen zuständig ist – hat im Laufe der Jahre erhebliche Summen ausländischer Devisen nach Deutschland transferiert und sie mit Hilfe eines Devisenbeschaffers in Dollars und Gold umgewandelt. Falls wir Gorbatschow ausbooten und den Ausnahmezustand ausrufen, brauchen wir immense Summen, um unsere Bewegung zu finanzieren. Sobald wir Erfolg haben, müssen wir in den größeren Städten umgehend die Regale der Lebensmittel- und Spirituosenläden füllen, um zu beweisen, dass wir das gorbatschowsche Chaos beseitigen können – wir machen die Grundnahrungsmittel und vor allen Dingen Wodka billiger. Außerdem schicken wir den Rentnern, die seit Monaten kein Geld mehr erhalten haben, die ausstehenden Renten. Dafür brauchen wir eine sofortige Kapitalspritze.«

Jewgeni nickte. »Jetzt verstehe ich, warum ich eingeladen wurde –«

»Ihre Große Russische Handelsbank hat eine Zweigstelle in Deutschland, soviel ich weiß.«

»Sogar zwei. Eine in Berlin, eine in Dresden.«

»Ich frage Sie jetzt ganz offen – können wir auf Ihre Hilfe zählen, Genosse?«

Jewgeni nickte energisch. »Ich habe nicht das ganze Leben für den Kommunismus gekämpft, um jetzt zuzusehen, wie ein Reformer ihn zugrunde richtet, der vom Hauptgegner manipuliert wird.«

Krjutschkow ergriff mit beiden Händen Jewgenis Hand und blickte ihm tief in die Augen. »Der für die Finanzen verantwortliche Funktionär im Zentralkomitee heißt Iswolski. Nikolai Iswolski. Prägen Sie sich den Namen ein. Iswolski wird sich in den nächsten Tagen mit Ihnen in Verbindung setzen. Er wird als Verbindungsmann zwischen Ihnen und dem deutschen Devisenbeschaffer fungieren – mit ihm gemeinsam werden Sie die Rückführung der Gelder über Ihre Bank abwickeln. Wenn es so weit ist, werden Sie die Gelder für unsere gemeinsame Sache zur Verfügung stellen.«

»Ich freue mich, wieder dabei zu sein«, sagte Jewgeni, »und ich bin stolz, wieder mit Gleichgesinnten dafür zu kämpfen, Schaden von der Sowjetunion abzuwenden.«

 

Am nächsten Tag ging Jewgeni auf einen Drink in die Pianobar des Monolith Club, wo sich die neue Elite traf und Aktienempfehlungen und Tipps für Kapitalanlagen im Ausland austauschte. Während er über das Treffen in Perchuschowo nachdachte und sich fragte, auf was er sich da eingelassen hatte und was er unternehmen sollte – irgendwie musste er Gorbatschow warnen –, tauchte ein feminin wirkender Mann mit durchscheinenden Augenlidern und einer Kinnpartie wie aus Porzellan an der Tür auf. In dem altmodischen Anzug aus Synthetik mit breitem Revers und ausgebeulter Hose wirkte er inmitten der Stammgäste, die englischen Flanell mit italienischem Schnitt bevorzugten, äußerst fehl am Platz. Jewgeni fragte sich, wie der Homo sovieticas, denn so hatte er ihn spontan getauft, es wohl an den Türstehern vorbei geschafft hatte. Der Mann spähte durch die Schwaden von Zigarrenrauch in der dämmrigen Bar, als wäre er mit jemandem verabredet. Als sein Blick auf Jewgeni fiel, der an einem kleinen Tisch in der Ecke saß, öffnete er den Mund, als hätte er gefunden, was er suchte. Er durchquerte den Raum und sagte: »Sind Sie Jewgeni Alexandrowitsch Tsipin?«

»Kommt darauf an, wer das wissen will.«

»Ich bin Iswolski, Nikolai.«

Jewgeni bedeutete Iswolski, Platz zu nehmen, und fragte: »Möchten Sie was trinken?«

»Ich trinke niemals Alkohol«, erwiderte Iswolski mit einer gewissen Selbstgefälligkeit, als fühlte er sich aufgrund seiner Abstinenz moralisch überlegen. »Ein Glas Tee vielleicht.«

Jewgeni winkte dem Kellner, formte mit dem Mund das Wort tschai und wandte sich wieder seinem Gast zu. »Mir wurde gesagt, Sie arbeiten im Zentralkomitee –«

»Wir müssen diskret sein – die Wände hier haben angeblich Ohren. Jemand mit einer bedeutenden Position in der politischen Führung hat mich angewiesen, Kontakt mit ihnen aufzunehmen.«

Eine Tasse Tee und eine Porzellanschale mit italienischem Würfelzucker wurden vor Iswolski hingestellt. Er steckte sich eine Hand voll Zuckerwürfel in die Tasche, beugte sich vor und blies auf seinen Tee, um ihn abzukühlen. »Ich habe den Auftrag«, fuhr er mit leiserer Stimme fort, während er nervös seinen Tee umrührte, »Ihnen mitzuteilen, dass ein deutscher Staatsbürger in den kommenden Monaten beträchtliche Summen US-Dollar bei der Dresdner Filiale Ihrer Bank einzahlen wird.«

»Wie ist sein Name?«

»Es genügt, wenn er für Sie der Devisenbeschaffer ist.«

»Wenn Sie mir mit dem Geld vertrauen, können Sie mir doch wohl sagen, wie der Devisenbeschaffer heißt.«

»Es ist keine Frage des Vertrauens, Genosse Tsipin, sondern der Sicherheit.«

Jewgeni nickte mit überzeugender Professionalität, so hoffte er zumindest.

Iswolski zog einen Stift aus der Brusttasche seines Jacketts und schrieb akkurat eine Moskauer Telefonnummer auf eine Serviette. »Das hier ist eine Privatnummer, an die ein Anrufbeantworter angeschlossen ist, den ich tagsüber immer wieder abhöre. Sie brauchen lediglich eine banale Nachricht zu hinterlassen – zum Beispiel, dass ich mir eine bestimmte Fernsehsendung anschauen soll; ich werde Ihre Stimme erkennen und mich mit Ihnen in Verbindung setzen. Fürs Erste sollten Sie Ihre Filiale in Dresden anweisen, ein Konto auf Ihren Namen zu eröffnen. Dann teilen Sie mir Ihre Kontonummer mit. Wenn es so weit ist, dass wir die auf Ihrem Konto eingegangenen Summen zurückführen möchten, teile ich Ihnen mit, wann genau Sie sie an die Hauptgeschäftsstelle Ihrer Bank transferieren sollen.«

Iswolski hob die Tasse an die Lippen und prüfte behutsam, ob der Tee genügend abgekühlt war. Zufrieden mit dem Ergebnis trank er ihn in einem langen Schluck, als wollte er seinen Durst löschen. »Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Einladung, Genosse Tsipin«, sagte er. Und ohne einen Handschlag oder ein Wort des Abschieds stand der Homo sovieticus auf und strebte zur Tür.

 

Leo Kritzky lauschte aufmerksam, als Jewgeni ihm von seinem Besuch bei Starik und dem Treffen mit den Verschwörern in Perchuschowo erzählte. »Ich hatte Starik gar nicht ernst genommen«, gab Jewgeni zu. »Ich dachte, er deliriert – das ganze Gerede über Juden und Reinigung und Neuanfang. Aber ich habe mich geirrt. Sein Leben hängt an einem seidenen Faden – genauer gesagt am Tropf-, und er schmiedet Intrigen.«

Leo pfiff durch die Zähne. »Was du da erzählst, ist ein Hammer.«

Jewgeni hatte Leo tags zuvor am späten Abend aus einer Telefonzelle angerufen, um mit ihm ein Treffen zu vereinbaren. »Ich muss dich sehen. Morgen früh, wenn möglich«, und so hatten sie sich auf Jewgenis Vorschlag hin nicht weit vom Grab des unbekannten Soldaten an der Kremlmauer getroffen. Jetzt schlenderten sie an Blumenständen und einer Gruppe Touristen vorbei.

»Was hältst du von der Sache?«, fragte Leo.

»Das Treffen in Perchuschowo war keine Diskussionsgruppe«, sagte Jewgeni. »Krjutschkow plant die Machtübernahme. Er ist ein akribischer Mann, und er zieht ganz langsam die Schlinge um Gorbatschows Hals zu.«

»Deine Liste mit Verschwörern liest sich wie das Who’s Who der politischen Spitze. Verteidigungsminister Jasow, der Pressebaron Uritzki, Innenminister Pugo, General Warennikow, Lomow vom Außenministerium, der Vorsitzende des Obersten Sowjets Lukjanow, Ministerpräsident Pawlow.«

»Und nicht zu vergessen, Jewgeni Tsipin«, sagte Jewgeni mit einem nervösen Grinsen.

»Sie wollen über deine Bank riesige Geldsummen aus Deutschland transferieren, um den Putsch zu finanzieren –«

»Und um die Läden zu füllen. Die Verschwörer sind raffiniert, Leo. Wenn sie rasch die Macht übernehmen, mit wenig oder ohne Blutvergießen, und die Massen mit kosmetischen Verbesserungen bestechen, kommen sie wahrscheinlich damit durch.«

Leo blickte seinen Freund an. »Auf wessen Seite stehen wir?«, fragte er halb im Scherz.

Jewgeni lächelte grimmig. »Wir haben die Seiten nicht gewechselt. Wir sind für die Kräfte, die die Genialität und Großzügigkeit des menschlichen Geistes fördern, wir sind gegen reaktionären Nationalismus und Antisemitismus und gegen alle, die den demokratischen Reformen in Russland Steine in den Weg legen. Kurzum, wir sind auf der Seite Gorbatschows.«

»Was erwartest du von mir?«

Jewgeni hakte sich bei Leo ein. »Es ist möglich, dass Krjutschkow mich beobachten lässt. Könnte sein, dass mein Telefon abgehört wird. Vielleicht hat man meine Mitarbeiter bestochen, damit sie über meine Aktivitäten Bericht erstatten.«

Leo begriff, worauf Jewgeni hinauswollte. »All die Jahre warst du mein Verbindungsmann. Jetzt willst du das Blatt umdrehen.«

»Du kannst dich freier bewegen –«

»Vielleicht beobachten sie uns jetzt, in diesem Moment«, sagte Leo.

»Ich habe ein paar profimäßige Vorsichtsmaßnahmen getroffen, bevor ich zum Grab des unbekannten Soldaten gekommen bin.«

»Also schön. Nehmen wir an, ich kann mich freier bewegen. Um was zu tun?«

»Zunächst einmal denke ich, dass du alles, was ich dir erzählt habe – das geheime Treffen in Perchuschowo, die Liste mit den Teilnehmern – deinen ehemaligen Freunden bei der CIA stecken solltest.«

»Um das zu erreichen, brauchst du doch nur einen anonymen Brief an die Moskauer Dienststelle der CIA zu schicken –«

»Wir müssen davon ausgehen, dass der KGB die CIA-Dienststelle abhören lässt. Wenn die Amerikaner über meinen Brief sprechen, kommt der KGB mir im Handumdrehen auf die Spur. Nein, jemand muss direkt mit den Spitzenleuten der Company in Washington sprechen. Und dieser jemand bist logischerweise du. Dir werden sie glauben, Leo. Und wenn sie dir glauben, können sie möglicherweise Gorbatschow überzeugen, dass es Zeit ist, den Stall auszumisten, die Verschwörer festzunehmen. Die CIA hat einen langen Arm – vielleicht können sie hinter den Kulissen agieren, um die Verschwörung zu vereiteln.«

Leo kratzte sich am Ohr, dachte über Jewgenis Vorschlag nach.

»Natürlich darfst du ihnen nicht verraten, woher du deine Informationen hast«, fügte Jewgeni hinzu. »Sag ihnen bloß, dass du einen Maulwurf im Kreis der Verschwörer hast.«

»Angenommen, ich mache mit. Das heißt aber nicht, dass du deshalb nicht doch erst versuchen solltest, direkt mit Gorbatschow zu sprechen –«

»Ich bin dir einen Schritt voraus, Leo. Ich kenne da eine Person, der ich vertrauen kann, die eng mit Jelzin zusammenarbeitet. Vielleicht kann ich über sie etwas erreichen.«

Die beiden Männer blieben stehen und sahen einander an. »Ich habe gedacht, das Spiel wäre vorbei«, sagte Leo.

»Es ist nie zu Ende«, sagte Jewgeni.

»Sei um Gottes willen vorsichtig.«

Jewgeni nickte. »Es wäre doch wohl zu albern, wenn ich Amerika überlebt habe und dann in Russland drauf gehe.«

Auch Leo nickte. »Zu albern und zu absurd.«

 

Das Auditorium, eine zugige Fabrikhalle, wo sich Arbeiter einst langatmige Vorträge über die Schönheiten der Diktatur des Proletariats anhören mussten, war zum Bersten voll. Studenten saßen im Schneidersitz auf dem Boden oder standen dicht gedrängt an den Wänden. Auf einem niedrigen Podest, unter einem einzigen Strahler an der Decke, stand eine schlanke Frau mit kurzen dunklen Haaren und sprach in ein Mikrofon. Ihre melodiöse Stimme ließ sie jünger klingen, als sie mit ihren neunundfünfzig Jahren war. »Als sie von meiner Kartei erfuhren«, sagte sie, »als sie herausfanden, dass ich die Namen von Stalins Opfern sammelte, verschleppten sie mich in einen überhitzten Raum in der Lubjanka und machten mir klar, dass ich eine Gefängnisstrafe riskierte … oder Schlimmeres. Das war im Jahre 1956. Danach erfuhr ich, dass ich als gesellschaftlich gefährliches Element gebrandmarkt worden war. Und wieso? Weil ich mit meiner Dokumentation über Stalins Verbrechen – meine Kartei umfasst mittlerweile zweihundertfünfundzwanzigtausend Fälle, und ich habe erst die Oberfläche angekratzt – drohte, die Geschichte denjenigen zurückzugeben, denen sie gehört, nämlich dem Volk. Wenn die Kommunisten die Kontrolle über die Geschichte verlieren, landet ihre Partei, um es mit Trotzki zu sagen, im Mülleimer der Geschichte.«

Tosender Applaus brandete auf. Als der Lärm wieder abebbte, fuhr die Rednerin fort.

»Michail Gorbatschow ist eine führende Kraft bei der Rückgabe der Geschichte an das Volk – keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass unsere Nation nie eine Reformation, eine Renaissance, eine Aufklärung durchlebt hat. Seit er 1985 an die Macht kam, hat das Fernsehen Dokumentarfilme nicht nur über Stalins brutale Kollektivierung der Landwirtschaft Anfang der Dreißigerjahre gezeigt, sondern auch über die gnadenlosen so genannten Säuberungen Mitte der Dreißigerjahre, in denen Millionen von Menschen teils ohne Prozess exekutiert oder in die Gulags geschickt wurden.«

Die Rednerin nahm einen Schluck Wasser. Die Zuschauer waren totenstill. Sie stellte das Glas wieder ab und sah auf, ließ den Blick über die Gesichter schweifen, bevor sie mit leiserer Stimme weitersprach. Die Studenten lauschten angestrengt, um ihre Worte zu verstehen.

»Das alles ist die positive Seite von Gorbatschows Regierung. Es gibt aber auch eine negative. Wie viele Reformer scheut Gorbatschow sich, dem Weg zu folgen, den Logik und gesunder Menschenverstand und eine unvoreingenommene Geschichtsbetrachtung weisen würden. Gorbatschow sagt, dass Stalin eine Verirrung war – eine Abweichung von der leninistischen Norm. Blödsinn! Wann geben wir endlich zu, dass Lenin das Genie des Staatsterrors war? Als die Bolschewiken 1918 die Wahl verloren, löste Lenin die demokratisch gewählte Konstituierende Versammlung auf. 1921 begann er systematisch mit der Liquidierung der politischen Gegner, zunächst außerhalb, schließlich innerhalb der Partei. Was er schuf, war eine Partei, die sich der Ausmerzung abweichender Meinungen und der physischen Vernichtung Andersdenkender verschrieb. Dieses leninistische Modell hatte Stalin geerbt.« Die Stimme der Frau wurde noch leiser; die Zuhörer wagten kaum zu atmen. »In diesem System wurden Gefangene so schlimm misshandelt, dass sie auf Tragen vor die Erschießungskommandos gebracht werden mussten. In diesem System wurde dem Schauspieler Meyerhold der linke Arm gebrochen, bevor man ihn zwang, mit dem rechten ein Geständnis zu unterschreiben. In diesem System wurde der Lyriker Ossip Mandelstam nach Sibirien verbannt, und zwar für das Verbrechen, ein Gedicht über Stalin, das alles andere als ein Loblied war, verfasst und öffentlich vorgetragen zu haben. In diesem System wurden meine Eltern ermordet und ihre Leichen zusammen mit denen von neunhundertachtundneunzig anderen, die am selben Tag exekutiert wurden, zur Einäscherung ins Kloster Donskoi gekarrt.« Die Rednerin wandte den Blick ab, um sich zu sammeln. »Mir selbst ist bisher jeder Zugang zu den sowjetischen Archiven verwehrt worden, in denen Geheimakten gelagert sind. Aber ich habe Grund zu der Annahme, dass dort an die sechzehn Millionen Akten über Festnahmen und Exekutionen liegen. Solschenizyn schätzt, dass dem Stalinismus sechzig Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind.«

Die Frau brachte ein tapferes Lächeln zustande. »Meine lieben Freunde, es wartet einiges an Arbeit auf uns.«

Nach einem Augenblick der Stille setzte stürmischer Beifall ein, der gleich darauf durch rhythmisches Füßestampfen noch verstärkt wurde. Scharenweise eilten die begeisterten Zuhörer nach vorn und umringten die Rednerin. Als der Saal sich schließlich leerte, näherte Jewgeni sich dem Podium, wo die Frau gerade ihre Notizen in einer abgegriffenen Aktentasche verstaute. Sie blickte auf und erstarrte.

»Bitte entschuldige, dass ich so plötzlich hier auftauche –« Jewgeni schluckte schwer und setzte neu an. »Wenn du bereit bist, mit mir zu sprechen, wirst du verstehen, dass es für mich und auch für dich gefährlich hätte sein können, wenn ich dich zu Hause angerufen hätte. Deshalb war ich so frei –«

»Wie viele Jahre ist es her?«, unterbrach sie ihn im Flüsterton.

»Es war gestern«, erwiderte Jewgeni mit Gefühl. »Ich war unter einem Baum im Garten der Datscha meines Vaters in Peredelkino eingeschlafen. Du hast mich geweckt – deine Stimme war gestern so klangvoll wie heute: ›Eigentlich mag ich den Sommer nicht besonders.‹«

Er stieg aufs Podium und trat nahe an sie heran. Sie wich zurück, verunsichert durch die Intensität in seinem Blick. »Du raubst mir wieder den Atem, Jewgeni Alexandrowitsch«, gestand sie. »Wie lange bist du schon wieder im Lande?«

»Sechs Jahre.«

»Wieso hast du sechs Jahre gebraucht, um zu mir zu kommen?«

»Als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben – ich habe dich von einer Telefonzelle aus angerufen –, hast du mir zu verstehen gegeben, dass es besser wäre, zumindest für dich, wenn wir uns nie wieder sehen.«

»Und was hat dich bewogen, dich über das Verbot hinwegzusetzen?«

»Ich habe Artikel in den Zeitungen über dich gelesen – ich habe im Fernsehen ein Interview von dir mit Sacharow gesehen –, ich weiß, dass du eng mit Jelzin zusammenarbeitest, dass du zu seinem Beraterstab gehörst. Deshalb habe ich mich über das Verbot hinweggesetzt. Ich habe sehr wichtige Informationen, die Jelzin erreichen müssen, und über ihn Gorbatschow.«

Von der Tür des Saales rief der Hausmeister: »Gospodina Lebowitz, ich muss abschließen.«

Jewgeni sagte mit drängender Stimme: »Bitte. Ich bin mit dem Wagen da. Lass uns irgendwo hinfahren, wo wir reden können. Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass das Schicksal von Gorbatschow und der demokratischen Reform davon abhängen könnte, dass du dir anhörst, was ich zu sagen habe.«

Asalia Isanowa nickte misstrauisch. »Also auf.«

 

An einem kleinen Tisch am Fenster eines Cafés nicht weit von der Lomonosow-Universität dachte Asa darüber nach, was Jewgeni ihr eben erzählt hatte. Es war nach Mitternacht, aber draußen auf der Straße herrschte noch dichter Verkehr, und das Rauschen der vorbeifahrenden Autos hörte sich an, als würde die Stadt stöhnen. »Und du bist wirklich sicher, dass Jasow dabei war?«, fragte Asa. »Das wäre ein richtiger Dolchstoß – er war ein Niemand, bevor Gorbatschow ihn zum Verteidigungsminister gemacht hat.«

»Ich bin absolut sicher – ich hatte ihn schon von Fotos in der Zeitung erkannt, bevor jemand ihn mit Minister ansprach.«

»Und Oleg Baklanow, Vizechef des sowjetischen Verteidigungsrates? Und Oleg Schenin vom Politbüro?«

»Baklanow hat sich mir in der Datscha persönlich vorgestellt, bevor wir alle in den Garten gingen. Er hat mir gezeigt, wer Schenin ist.«

Asa las die Liste mit Namen, die sie auf der Rückseite eines Briefumschlags notiert hatte, noch einmal durch. »Das ist schrecklich beängstigend. Wir wussten natürlich, dass irgendwas im Busch ist. Krjutschkow und seine KGB-Freunde haben keinen Hehl daraus gemacht, was sie von Gorbatschow halten. Aber wir hätten nie gedacht, dass sich so viele mächtige Leute an einem Komplott beteiligen würden.« Sie blickte auf und musterte Jewgeni, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen. »Sie waren ganz sicher, dass sie dich für ihre Sache gewinnen würden –«

»Ich habe für den KGB im Ausland gearbeitet. Sie gehen davon aus, dass jeder, der sich um den KGB verdient gemacht hat, gegen Reformen und für die Wiederherstellung der alten Ordnung ist. Außerdem sind so gut wie alle, die eine Privatbank aufgemacht haben, Gangster, die keine politische Orientierung haben und sich nur von Gier leiten lassen. Die Verschwörer brauchen jemanden, dem sie vertrauen können und der das Geld zurückführt, das sie in Deutschland gehortet haben. Und man hat mich empfohlen –«

»Wer?«

»Jemand, der in KGB-Kreisen eine Legende ist, aber dir nichts sagen würde.«

»Es ist sehr mutig von dir, dass du zu mir gekommen bist. Wenn sie dahinterkommen –«

»Deshalb möchte ich, dass niemand erfährt, auch nicht Boris Jelzin, von wem du die Informationen hast.«

»Aber dann sind sie nicht so glaubwürdig.«

»Sag nur, dein Informant ist jemand, den du sehr lange kennst und dem du vertraust.« Jewgeni lächelte. »Nachdem ich dich so enttäuscht habe, vertraust du mir, Asa?«

Sie dachte über die Frage nach. Dann nickte sie fast widerwillig. »Am Anfang hast du in mir Hoffnungen geweckt – und dann hast du sie zerstört. Ich habe Angst, wieder zu hoffen. Und doch –«

»Und doch?«

»Kennst du das Buch von Nadeshda Mandelstam über ihren Mann Ossip? Es ist voller Hoffnung. Auch ich brauche die Hoffnung wie die Luft zum Atmen.«

Jewgeni blickte auf die Rechnung und legte das Geld auf den Tisch. »Ich bringe dich nicht nach Hause – wir dürfen nicht riskieren, dass man uns zusammen sieht. Ich melde mich bei dir, wie wir es verabredet haben. Weißt du noch, wie?«

»Du rufst mich zu Hause oder bei der Arbeit an und sagst, du möchtest Soundso sprechen, und nennst einen Namen mit Z. Ich sage, dass es unter dieser Nummer niemanden mit dem Namen gibt. Du entschuldigst dich und legst auf. Genau eine Stunde und fünfzehn Minuten nach deinem Anruf gehe ich an der Nordseite des Novi Arbat entlang in westlicher Richtung. Irgendwann hält ein Taxi neben mir, der Fahrer kurbelt die Scheibe runter und fragt, ob er mich irgendwo hinfahren kann. Wir feilschen kurz über den Preis. Dann steige ich hinten ein. Der Fahrer des Taxis bist du.«

»Jedes Mal, wenn wir uns treffen, verabreden wir etwas Neues für das nächste Treffen. Wir müssen höllisch aufpassen.«

»Du hast offenbar Erfahrung in solchen Sachen.«

»Ich bin ein Meister auf dem Gebiet.«

Asa sagte: »Es gibt noch vieles an dir zu entdecken, Jewgeni Alexandrowitsch.« Sie spürte, dass das Gespräch zu ernst geworden war, und bemühte sich um einen heiteren Ton. »Ich wette, du hast den Mädchen den Kopf verdreht, als du jung warst.«

»Ich hatte in der Kindheit keine Freundin, wenn du das meinst.«

»Ich hatte nie eine Kindheit.«

»Vielleicht, wenn das alles hier vorüber ist –«

Sie errötete und hob die Hand, um ihn zu bremsen, bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte.

Er lächelte. »Wie du hoffe auch ich entgegen aller Hoffnung.« Boris Jelzin befand sich auf vertrautem Gebiet. Er gab gerne Interviews, weil er dann über sein Lieblingsthema sprechen konnte: sich selbst. Gerade erzählte er der britischen Journalistin ausführlich von seiner Kindheit in der Region Swerdlowsk, seinem Aufstieg zum leitenden Kommissar von Swerdlowsk und schließlich zum Vorsitzenden der Moskauer KP. Er schilderte sein Zerwürfnis mit Gorbatschow drei Jahre zuvor. »Ich hatte gerade einen Besuch in Amerika hinter mir«, sagte er. »Sie sind dort mit mir in einen Supermarkt gegangen, und ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich die endlosen Regale voll gestopft mit unzähligen Produkten sah. Mir sind die Tränen gekommen. Mir wurde bewusst, dass wir es mit all unserer Ideologie nicht geschafft hatten, unsere Regale zu füllen. Bedenken Sie, das war zu Beginn der perestroika, und unsere Kommunistische Partei war über jede Kritik erhaben. Aber auf einer Versammlung des Zentralkomitees bin ich aufgestanden und habe die Partei kritisiert; ich habe gesagt, wir hätten den falschen Weg eingeschlagen, ich habe Gorbatschows Reformen als unzureichend kritisiert, ich habe ihm nahe gelegt, zurückzutreten und die Macht dem Kollektiv der Republikführer zu übertragen. Gorbatschow ist blass vor Zorn geworden. Für mich war es der Anfang vom Ende der Zusammenarbeit mit ihm. Er ließ mich aus dem Zentralkomitee und dem Politbüro hinauswerfen. Alle meine Freunde wussten, was es geschlagen hatte, und ließen mich fallen. Ich war kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Meine Rettung waren meine Frau und meine beiden Töchter Lena und Tanja, die mir Mut gemacht haben, für meine Überzeugung zu kämpfen. Gerettet hat mich auch, dass ich 1989 zum Mitglied des Obersten Sowjets und letztes Jahr zum Parlamentspräsidenten gewählt wurde.«

Die Journalistin machte sich eifrig Notizen von dem, was Asa übersetzte. Jelzin, in Hemdsärmeln, warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Die Journalistin verstand den Wink, erhob sich und dankte Jelzin für seine kostbare Zeit. Asa brachte sie zur Tür und trat dann wieder an Jelzins Schreibtisch. »Boris Nikolajewitsch, ich würde gern mit Ihnen einen kleinen Spaziergang im Hof machen.«

Jelzin begriff, dass sie mit ihm über etwas Heikles sprechen wollte. Sein Büro wurde zwar einmal in der Woche nach Wanzen durchsucht, doch da diese Arbeit von KGB-Leuten erledigt wurde, hatten seine Mitarbeiter es sich zur Gewohnheit gemacht, wichtige Themen draußen im Hof des Weißen Hauses zu besprechen. Jelzin warf sich ein Jackett über die massigen Schultern und ging mit Asa durchs Treppenhaus nach unten ins Erdgeschoss, von wo sie in den Hof gelangten. Ein großes Thermometer zeigte an, dass der Winter sich endgültig verabschiedet hatte, doch nach mehreren Stunden in den überheizten Büros des Weißen Hauses fühlte sich die Luft noch ziemlich frisch an. Jelzin zog die Jacke enger um den dicken Hals, Asa schlang sich ihr usbekisches Schultertuch um den Kopf.

»Was ist so wichtig, dass Sie es mir nicht oben erzählen konnten?«

»Ich habe einen alten Bekannten, der viele Jahre für den KGB gearbeitet hat – im Ausland. Er ist heute ein erfolgreicher Unternehmer und hat eine von den Privatbanken eröffnet, die zurzeit in Moskau wie Pilze aus dem Boden schießen. Wegen seiner KGB-Vergangenheit und seiner Bank wurde er von der Frau des Pressebarons Uritzki zu einem geheimen Treffen in einer Datscha am Rand des Dorfes Perchuschowo eingeladen.«

Jelzin, der dafür bekannt war, sich Unmengen scheinbar nutzloser Informationen merken zu können, sagte: »Krjutschkow hat eine Datscha in Perchuschowo.«

Asa erzählte, was sie von Jewgeni über das Treffen erfahren hatte. Sie holte den Briefumschlag hervor, auf dem sie die Namen der Teilnehmer notiert hatte, und las die Liste vor. Sie erwähnte Krjutschkows Vorschlag, den Ausnahmezustand ausrufen zu lassen, und dass alle dafür gestimmt hätten.

Jelzin blieb abrupt stehen und betrachtete den Himmel, als könnte er den Wolkengebilden entnehmen, was die Zukunft bringen würde. »Und wer ist ihr alter Bekannter?«, fragte er Asa, die Augen noch immer auf den Himmel gerichtet.

»Ich musste ihm versprechen, seinen Namen nicht zu nennen. Und er möchte, dass Sie es für sich behalten, dass Sie die Informationen von mir haben.«

»Ich werde die Warnung natürlich an Gorbatschow weitergeben, aber er wird sie nicht ernst nehmen, wenn ich die Informationsquelle nicht nennen kann; er wird denken, ich wollte bloß einen Keil zwischen ihn und die Parteitreuen treiben.«

Asa sagte: »Aber Sie glauben doch, was ich Ihnen erzählt habe, nicht wahr, Boris Nikolajewitsch?«

Jelzin nickte. »Ehrlich gesagt, ich bin ziemlich überrascht, wie viele und welche hochrangigen Leute sich den Putschisten angeschlossen haben, aber ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass Krjutschkow Gorbatschow verdrängen würde, wenn er könnte. Man darf nicht vergessen, dass Krjutschkow an der Planung des Angriffs der Roten Armee auf Budapest 1956 und auf Prag 1968 beteiligt war. Er gehört fraglos zu den Erzkonservativen, die denken, dass sich mit der richtigen Dosis Gewalt zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort der Geist wieder in die Flasche zurückrufen lässt.« Jelzin seufzte. »Selbstverständlich werde ich Ihren Namen nicht erwähnen, wenn ich Gorbatschow warne. Aber Sie müssen mit Ihrem Bekannten in Verbindung bleiben. Seine Kollaboration wird in den kommenden Wochen und Monaten von entscheidender Bedeutung sein.«

 

Die Reden nach dem Diner nahmen kein Ende; russische Bürokraten ließen sich, wenn sie einen bestimmten Alkoholpegel erreicht hatten, gern von Emotionen mitreißen. Das Staatsbankett im Kreml fand zu Ehren von Walentina Wladimirowna Tereschkowa statt, der russischen Kosmonautin, die als erste Frau im Weltall gewesen war.

»Walentina Wladimirowna«, sagte der Leiter der Raumfahrtbehörde, während er sich mit einem Taschentuch die Schweißperlen von der glänzenden Stirn tupfte, »hat der ganzen Welt vor Augen geführt, was sowjetischer Mut, sowjetische Technologie und Ideologie im unaufhörlichen Kampf um die Eroberung des Weltraums leisten kann. Auf Walentina Wladimirowna«, rief der Redner und hob sein Glas in ihre Richtung.

Die Gäste an dem hufeisenförmigen Banketttisch standen auf und hielten ihre Gläser in die Höhe. »Auf Walentina Wladimirowna«, riefen sie im Chor, bevor sie den bulgarischen Champagner hinunterstürzten.

Asa, ganz am Ende des Tisches, betrachtete das von Alkohol und der stickigen Luft gerötete Gesicht der Tereschkowa. Asa selbst nippte nur an ihrem Champagner, wenn wieder einmal ein Toast ausgesprochen wurde, aber trotzdem war sie schon leicht benebelt. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es sein mochte, eingezwängt in einer Kapsel in die Erdumlaufbahn geschossen zu werden. Sicher brachte das Erfahrungen mit sich, die das Leben veränderten, wenn man sie überstand; danach konnte nichts mehr so sein wie zuvor. Vielleicht lag es an der späten Stunde – die Kremluhr hatte gerade Mitternacht geschlagen – oder an der schlechten Luft oder dem Alkohol, aber Asa wusste plötzlich, dass die seltenen Begegnungen, die sie im Lauf ihres Lebens mit Jewgeni gehabt hatte, ihr Leben verändert hatten. Rückblickend erkannte sie, dass sie ihrem ersten und einzigen Ehemann niemals die Chance gegeben hatte, dem Vergleich standzuhalten, als sie von Scheidung sprach. Aber welchem Vergleich? Dem Vergleich mit dem überwältigenden Erlebnis, wenn zwei Seelen sich vereinen und dann zwei Körper miteinander verschmelzen und die Frau sich nicht hinterher betrogen vorkommt?

Noch mehr Reden und Trinksprüche folgten. Asa sah, dass Boris Jelzin, der mit der Faust ein Gähnen unterdrückte, aufstand, ans Kopfende des Tisches ging, hinter die Tereschkowa trat und ihr etwas ins Ohr flüsterte, was sie zum Lachen brachte. Jelzin tätschelte ihr die Schulter und schlenderte dann weiter zu Gorbatschows Platz. Er beugte sich hinab und sagte etwas, das Gorbatschow sich scharf auf seinem Stuhl umwenden ließ. Jelzin deutete mit dem Kopf in eine Ecke des Saals. Gorbatschow überlegte, stand auf und folgte ihm mit sichtlichem Widerwillen dorthin. Asa beobachtete, dass Jelzin einige Minuten lang eindringlich auf Gorbatschow einsprach. Der Generalsekretär hörte unbewegt zu, den Kopf zur Seite geneigt, die Augen beinahe geschlossen. Einmal stieß Jelzin Gorbatschow mehrmals mit dem Zeigefinger gegen die Schulter, um einen Punkt seiner Rede zu unterstreichen. Als Jelzin zum Ende gekommen war, öffnete Gorbatschow die Augen; es war ihm deutlich anzusehen, dass er wütend war. Das große Muttermal auf seiner Stirn schimmerte rot. Mit ruckartigen Kopfbewegungen knurrte er eine barsche Antwort. Dann drehte er sich abrupt um und ging zu seinem Platz zurück.

Jelzin sah ihm nach, suchte den Blickkontakt mit Asa und hob resigniert die Schultern.