1 Moskau,
Samstag, 25. Februar 1956


I

n einem überheizten Büro der Lubjanka in Moskau lauschte eine Gruppe von hochrangigen Offizieren und Direktoratsleitern aufmerksam der rauen Bauernstimme des Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei, Nikita Chruschtschow, die aus einem Armeeradio drang. Chruschtschow beendete gerade seine geheime Rede vor der Delegiertenversammlung des XX. Parteitages. Starik starrte durchs Fenster hinaus auf den eisbedeckten Platz vor der Lubjanka, zog nachdenklich an seiner bulgarischen Zigarette und versuchte, die Auswirkungen dieser Geheimrede auf den Kalten Krieg im Allgemeinen und auf die Operation mit dem Codenamen CHOLSTOMER im Besonderen auszuloten. Sein Instinkt sagte ihm, dass Chruschtschows Entscheidung, die Verbrechen des verstorbenen (und zumindest in KGB-Kreisen betrauerten) Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, besser bekannt als Stalin, beim Namen zu nennen, die kommunistische Welt in ihren Grundfesten erschüttern würde.

Das wurde auch Zeit, fand Starik. Je mehr man sich einer Idee, einer Institution, einer Lebenstheorie verschrieb, desto schwieriger wurde es, mit deren Fehlern zu leben.

»Jeder Mensch kann irren«, hörte er Chruschtschow gerade sagen, »aber Stalin hielt sich für unfehlbar. Niemals gab er zu, einen Fehler gemacht zu haben, obwohl er sowohl in theoretischen Fragen als auch in der Praxis so manchen Fehler beging.«

»Was denkt er sich denn dabei!«, rief einer der Direktoratsleiter.

»Nicht ungefährlich, in der Öffentlichkeit schmutzige Wäsche zu waschen«, murmelte ein anderer. »Wo will man da aufhören, wenn man erst mal angefangen hat?«

»Stalin hat eine Revolution gefestigt«, zischte ein großer Mann, der mit einem Seidentaschentuch seine Nickelbrille putzte. »Und das war kein Kindergeburtstag.«

»Wer ein Omelett machen will«, pflichtete jemand bei, »muss Eier zerschlagen.«

»Wenn Stalins Hände blutbefleckt waren«, sagte einer der jüngeren Leiter, »dann aber auch Chruschtschows. Was hat er denn die ganze Zeit in der Ukraine gemacht? Dasselbe wie Stalin in Moskau – Feinde des Volkes eliminiert.«

Chruschtschows Stimme im Radio wurde lauter. »Stalin war der Hauptvertreter des Personenkultes, indem er seine eigene Person glorifizierte. Genossen, wir müssen diesem Kult des Individuums mit aller Entschiedenheit ein für alle Mal ein Ende bereiten.« Aus dem Radio ertönte der dröhnende Applaus der Delegierten. Gleich darauf war die Übertragung zu Ende. Die unvermittelte Stille verunsicherte die versammelten Männer, die sich abwandten und es geflissentlich vermieden, einander in die Augen zu sehen. Einige gingen zu einem Wandbrett und gossen sich dort einen Wodka ein. Ein kleiner, fast glatzköpfiger Mann um die sechzig, Leiter der auf Entführungen und Liquidationen spezialisierten Dreizehnten Abteilung des Ersten Direktorats, trat neben Starik ans Fenster.

»Gut, dass die Rede geheim war«, bemerkte er. »Andernfalls würden Chruschtschows Enthüllungen das Aus für die Kommunistischen Parteiführer bedeuten, die in den sozialistischen Staaten Osteuropas in Stalins Namen und mit Stalins Methoden regieren.«

Starik nahm die Zigarette aus dem Mund und starrte sie an, als verberge sich in ihrer Glut ein Geheimnis. »Sie wird nicht lange geheim bleiben«, erklärte er seinem Kollegen. »Diese Sache wird wie eine Flutwelle über das sowjetische Lager hereinbrechen. Und dann wird der Kommunismus entweder reingewaschen – oder weggewaschen.«

Eine halbe Stunde nach dem offiziellen Schluss des XX. Parteitages empfing der Rabbi eine »Bebenmeldung« von einer kommunistischen Quelle in Ostberlin: In Moskau hatte es ein politisches Erdbeben von Stärke neun auf der Richterskala gegeben.

Da es Samstag war, bat der Rabbi seinen Schabbat-goj Hamlet, die Privatnummer des Zauberers in Berlin-Dahlem zu wählen und ihm den Hörer ans Ohr zu halten. »Bist du das, Harvey?«, fragte der Rabbi.

Torritis whiskeyverschleierte Stimme knisterte in der Leitung. »Himmel, Ezra, du rufst mich an einem Samstag an? Hast du vergessen, dass so ein samstägliches Telefonat dir Ärger mit dem Schöpfer einbringt?«

»Ich telefoniere nicht«, beteuerte der Rabbi. »Ich spreche einfach nur so vor mich hin. Es ist ein absoluter Zufall, dass mein Schabbat-goj gerade den Hörer in der Nähe meines Munds hält.«

»Was ist los?«, fragte der Zauberer.

Der Rabbi gab kurz die Meldung seiner Quelle in Ostberlin wieder, und der Zauberer knurrte dankbar: »Ich bin dir was schuldig, Ezra.«

»Allerdings bist du das. Sobald der Schabbat zu Ende ist, werde ich mir das in mein kleines Notizbuch schreiben, das unter meinem Kopfkissen liegt.« Der Rabbi gluckste ins Telefon. »Mit unauslöschbarer Tinte, Harvey.«

Torriti hängte sich ans Telefon und zog selbst einige diskrete Erkundigungen ein, dann schickte er eine »Top secret« -Meldung an Wisner, der mittlerweile Deputy Director for Operations geworden war, nachdem man seinen Vorgänger Allen Dulles zum Director, Central Intelligence befördert hatte. Die Gerüchteküche in Moskau sei außer Rand und Band, so meldete der Zauberer. Chruschtschow habe in seiner Rede vor dem XX. Parteitag scharfe Kritik an Stalins Kult des Individuums geübt, was angeblich nur ein Euphemismus für dessen siebenundzwanzigjährige Schreckensherrschaft sei. Die Enthüllungen würden sich wie ein Lauffeuer in der kommunistischen Welt ausbreiten und hätten mit Sicherheit starke Auswirkungen auf den Kalten Krieg.

In Washington war Wisner so beeindruckt, dass er Torritis Meldung umgehend persönlich zu Dulles brachte.

Dulles erkannte auf Anhieb die propagandistischen Möglichkeiten; falls die Company den Text der Chruschtschow-Rede in die Hände bekäme, könnte man sie in den Satellitenstaaten und der Sowjetunion bekannt machen. Die Folgen wären nicht auszudenken. Hartgesottene Kommunisten in der ganzen Welt würden sich desillusioniert vom Sowjetsystem abwenden; in Frankreich und Italien wäre die Kommunistische Partei auf Dauer als mögliche Regierungspartei diskreditiert; die stalinistischen Regierungschefs in Osteuropa, vor allem Polen und Ungarn, könnten Angriffsziele für revisionistische Kräfte werden.

Dulles instruierte Wisner, sämtliche Company-Dienststellen von Chruschtschows Rede in Kenntnis zu setzen und Anweisung zu geben, dass sie alles Menschenmögliche versuchen sollten, um eine Abschrift davon aufzutreiben.

Letztlich war es dann der Mossad, dem Chruschtschows Geheimrede in die Hände fiel. Auf einem Schreibtisch der kommunistischen Parteizentrale in Warschau entdeckte ein polnischer Jude eine polnische Übersetzung der Rede, und es gelang ihm, sie in die israelische Botschaft zu schmuggeln, wo sie von Mossad-Leuten fotografiert und nach Israel geschickt wurde.

James Angleton studierte gerade die Personalakte eines CIA-Offiziers, als seine Sekretärin ihm eine versiegelte Dokumententasche ins Büro brachte, die soeben von einem jungen israelischen Diplomaten abgegeben worden war. Angleton brach das Siegel mit einer Schere auf und zog einen großen Umschlag hervor. Quer darüber hatte der Chef des Mossad eine Notiz gekritzelt. »Jim – betrachten Sie dies als Anzahlung auf die Informationen, die Sie mir versprochen haben bezüglich der ägyptischen Truppenaufstellung entlang des Suezkanals.« Als Angleton den Umschlag öffnete, fand er darin ein gebundenes Skript mit der Überschrift: »Geheime Ansprache des sowjetischen Ersten Parteisekretärs N. Chruschtschow vor dem XX. Parteitag«.

Einige Tage später gab Dulles (gegen den heftigen Widerstand von Angleton, der die Rede zunächst »bearbeiten« wollte, um die Russen noch mehr zu beschämen) den Text der Geheimrede an die New York Times.

Dann lehnten er und Wisner sich zurück, um in Ruhe zuzuschauen, wie die Sowjets sich wanden.

 

Ein Freund von Asalia Isanowa, ein Redakteur der Parteizeitung Prawda, teilte ihr das Geheimnis mit, als sie in der Kantine auf einer kleinen Straße hinter dem Kreml für Tee und Gebäck anstanden: Die New York Times hatte den Wortlaut einer Geheimrede abgedruckt, die Nikita Sergejewitsch Chruschtschow vor dem XX. Parteitag gehalten hatte. Chruschtschow hatte bei den Delegierten einen Skandal ausgelöst, so die amerikanische Zeitung, als er die »wahren Verbrechen« von Jossif Stalin anprangerte und den großen Steuermann des Machtmissbrauchs und Personenkults bezichtigte. Asalia wollte der Nachricht zuerst nicht glauben; sie vermutete, die amerikanische Central Intelligence Agency habe die Story lanciert, um Chruschtschow Schwierigkeiten zu bereiten und innerhalb der kommunistischen Hierarchie Uneinigkeit zu säen. Nein, nein, die Story stimmte, beteuerte ihr Freund. Die Schwester der Frau seines Bruders war mit einem Mann verheiratet, der an einem nicht öffentlichen Treffen seiner Parteizelle in Minsk teilgenommen hatte, und dort war Chruschtschows Rede bis ins Kleinste analysiert worden. Es würde Tauwetter in Russland geben, jetzt da Chruschtschow persönlich das Eis gebrochen hatte, prophezeite Asalias Freund übermütig.

 

»Wenn sich das Klima weiter verändert«, so fügte er im Flüsterton hinzu, »veröffentlichst du vielleicht ja sogar bald deine –«

Asalia hob einen Finger an die Lippen und schnitt ihm das Wort ab.

Asalia – studierte Historikerin und seit vier Jahren Archivarin im Historischen Institut von Moskau, eine Stelle, die sie auf Empfehlung des Vaters einer Freundin, des KGB-Chefs Lawrentij Pawolowitsch Beria, erhalten hatte – war heimlich damit beschäftigt, eine Kartei über die Opfer Stalins zusammenzutragen. Vor Jahren hatte sie die Schwarzdruckausgabe eines Lyrikbändchens von Achmatowa in die Hände bekommen, und zwei Zeilen des Gedichts »Requiem« hatten sie ungeheuer bewegt:

 

Ich würde euch gern alle mit Namen nennen,

Doch sie haben die Listen verloren …

 

Asalia hatte Stalins Tod im Jahre 1953 gefeiert, indem sie begann, die verlorenen Listen zusammenzustellen, und die Katalogisierung von Stalins Opfern war zu ihrer geheimen Leidenschaft geworden. Auf den ersten beiden Karteikarten standen die Namen ihrer Eltern, die Ende der Vierzigerjahre von der Geheimpolizei verhaftet und (wie sie aus Unterlagen wusste, die sie im Archiv des Historischen Institutes ausgegraben hatte) im Schnellverfahren »als Volksfeinde« zum Tode verurteilt worden waren; man hatte sie in den Kellerverliesen des riesigen KGB-Hauptquartiers am Lubjanskaja-Platz hingerichtet. Ihre Leichname, wie die von Dutzenden anderen, die am selben Tag das gleiche Schicksal ereilte, waren in einem Krematorium der Stadt eingeäschert worden (auf dem Hof musste ein kleiner Leichenberg gelegen haben, und Augenzeugen berichteten, Hunde hätten auf einem Gelände in der Nähe an menschlichen Armen oder Beinen genagt), und die Asche hatte man in einen Graben am Rande Moskaus geschüttet. Die überwiegende Mehrheit der Namen hatte Asalia aus Akten, die in verstaubten Kisten im Archiv lagen. Andere Informationen verdankte sie persönlichen Kontakten zu Schriftstellern und Künstlern und Kollegen, von denen fast jeder einen Elternteil oder einen Verwandten oder Freund durch Stalins blutige Säuberungen verloren hatte oder jemanden kannte, der den Tod eines ermordeten Menschen betrauerte. Als Chruschtschow seine geheime Rede hielt, umfasste Asalias Kartei bereits 12 500 Karten, auf denen sie den Namen, das Geburtsdatum sowie das Datum der Verhaftung und Hinrichtung oder des spurlosen Verschwindens von jedem der bis dahin namenlosen Opfer der stalinschen Tyrannei aufgelistet hatte.

Anders als Achmatowa würde Asalia sie mit Namen nennen können.

Auf Anraten ihres Freundes von der Prawda verabredete Asalia sich mit einem entfernten Cousin, einem Redakteur bei der Wochenzeitschrift Ogonjok, die für ihre relativ liberalen Ansichten bekannt war. Asalia deutete ihm gegenüber an, sie sei im Historischen Institut per Zufall auf längst vergessene Akten gestoßen. Angesichts der Anprangerung von Stalins Verbrechen durch Chruschtschow sei sie bereit, einen Artikel zu schreiben, in dem sie die Namen von einigen Opfern des Stalinismus nennen und auch Einzelheiten über die Umstände ihres Todes schildern wolle.

Wie andere Moskauer Intellektuelle waren dem Redakteur Gerüchte über Chruschtschows Angriff auf Stalin zu Ohren gekommen. Allerdings scheute er sich, Stalins Verbrechen publik zu machen; Redakteure, die sich zu weit vorwagten, waren schon öfter tief gestürzt. Ohne Asalias Namen zu nennen, wolle er bei den Chefredakteuren der Zeitschrift vorhorchen, sagte er. Selbst wenn sie ihrem Angebot zustimmten, sei es unwahrscheinlich, dass ihr Artikel abgedruckt würde, ohne die Sache zuvor mit hochrangigen Parteifunktionären abzuklären.

In derselben Nacht wurde Asalia von polternden Schritten im Treppenhaus aus dem Schlaf gerissen. Sie wusste sogleich, was das zu bedeuten hatte; selbst in Häusern mit funktionierenden Aufzügen benutzten die KGB-Schergen stets die Treppe, damit ihre lärmende Ankunft für alle in Hörweite als Warnung diente. Eine Faust hämmerte an ihre Tür. Asalia musste sich rasch etwas anziehen und wurde in einen stickigen Raum in der Lubjanka gebracht, wo sie bis zum Mittag des folgenden Tages zu ihrer Arbeit im Institut vernommen wurde. Ob es stimme, wollte man von ihr wissen, dass sie Daten über Volksfeinde sammle, die während der Dreißiger- und Vierzigerjahre in Gefangenenlagern gestorben waren? Ob es ebenfalls stimme, dass sie sich nach der Möglichkeit erkundigt habe, einen Artikel zu dem Thema zu veröffentlichen? Einer der Männer, die sie verhörten, fragte nach einem kurzen Blick in eine Akte ganz nebenbei, ob sie dieselbe Isanowa, Asalia sei, eine Frau hebräischer Abstammung, die im Jahre 1950 vom KGB nach ihrer Beziehung zu einem gewissen Jewgeni Alexandrowitsch Tsipin befragt worden war? Trotz ihrer großen Angst war Asalia noch klar genug bei Verstand, um möglichst vage zu antworten. Ja, sie habe einmal einen Tsipin gekannt, ihr sei aber gesagt worden, dass es nicht im Interesse des Staates wäre, wenn sie ihn weiter sehen würde; zu dem Zeitpunkt sei die Beziehung zu ihm, wenn es überhaupt eine war, längst beendet gewesen. Die KGB-Leute schienen von ihren Karteikarten (die sie in einem Metallkoffer auf dem Dachboden eines Hauses auf dem Land versteckt hatte) keine Ahnung zu haben. Nach zwölfeinhalb Stunden Verhör ließ man sie mit einer eindringlichen Warnung wieder gehen: Stecken Sie in Zukunft Ihre Nase nicht in Parteiangelegenheiten.

Einer der Männer, mit rundem Gesicht und randloser Brille, brachte Asa über eine breite Treppe hinunter zum Hintereingang der Lubjanka. »Vertrauen Sie uns«, sagte er mit kalter Höflichkeit an der Tür zu ihr, »wenn es an der offiziellen Geschichte der Sowjetunion Korrekturen vorzunehmen gilt, werden das die Historiker der Partei im Interesse der Massen erledigen. Stalin mag ja kleinere Fehler gemacht haben«, fügte er hinzu. »Welchem Politiker passiert so etwas nicht? Aber es darf nicht vergessen werden, dass Stalin an die Macht gekommen ist, als die russischen Felder noch von Ochsen gepflügt wurden; als er starb, war Russland eine Weltmacht mit Atomwaffen und Raketen.«

Asa hatte verstanden; trotz Chruschtschows Rede würde es in Russland erst dann eine echte Reform geben, wenn Geschichte wieder Sache der professionellen Historiker, nicht der parteitreuen, war. Und solange der KGB diesbezüglich ein Wörtchen mitzureden hatte, war vorerst nicht damit zu rechnen. Asa schwor sich, an ihren Karteikarten weiterzuarbeiten. Doch bis sich die Dinge änderten, und zwar radikal, würden sie in dem Metallkoffer versteckt bleiben müssen.