2 New York,
Montag, 17. September 1956


E

in des Kalten Krieges müder E. Winstrom Ebbitt II. kehrte nach neunzehn Monaten wieder in die Vereinigten Staaten zurück zu seinem ersten Heimaturlaub. Unter der Woche schilderte er den schlauen Köpfen der Company die nach Chruschtschows Rede immer angespanntere Lage in den Satellitenstaaten; an den Wochenenden fuhr er nach Manhattan, um seinen Sohn Manny zu sehen, einen schmalen Jungen mit ernsten Augen, der kürzlich neun Jahre alt geworden war. Ebbys Exfrau Eleonora war inzwischen mit einem erfolgreichen Scheidungsanwalt verheiratet und lebte in einer Luxuswohnung an der Fifth Avenue. Sie machte deutlich, dass ein abwesender Vater ihr lieber war als derjenige, der samstags und sonntags an ihrer Tür klingelte, um Immanuel abzuholen. Manny wiederum begrüßte seinen Vater mit schüchterner Neugier, doch allmählich taute er auf. Auf Anraten geschiedener Kollegen, von denen es in der Company viele gab, schraubte Ebby die Erwartungen nicht allzu hoch, wenn er mit seinem Sohn zusammen war. Einmal besuchte er mit Manny ein Baseball-Spiel, ein anderes Mal nahmen sie die U-Bahn nach Coney Island (was an sich schon ein Abenteuer war, denn Manny wurde im Wagen zu seiner Privatschule gebracht) und fuhren Riesenrad und Achterbahn.

 

Frank Wisner leerte seine Bloody Mary und signalisierte einem Kellner, zwei neue zu bringen. Ebby und Wisner hatten sich zum Lunch im Cloud Club oben im Chrysler Building getroffen. Als die beiden frischen Gläser auf dem Tisch standen, hob Wisner, der angespannter und sorgenvoller aussah, als Ebby ihn in Erinnerung hatte, seinen Drink und prostete Ebby zu. »Auf Sie und Ihre Familie. Wie verkraften Sie es, wieder auf heimatlichem Boden zu sein, Eb?«

»Ganz gut.« Ebby schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin auf einem anderen Planeten. Neulich abends war ich mit drei Anwälten aus meiner alten Kanzlei essen. Sie sind reich geworden und weich – große Wohnung in Manhattan, Wochenendhaus in Connecticut, Country Club in Westchester. Einer ist inzwischen Juniorpartner. Er verdient in einem Monat mehr als ich in einem Jahr.«

»Bereuen Sie Ihre Entscheidung?«

»Nein, absolut nicht, Frank. Wir sind in einer Art Kriegszustand. Die Leute hier scheinen sich da bloß keine Gedanken drüber zu machen. Die Energie, die sie aufbringen, um über Aktienkäufe und Übernahmen nachzudenken! Verdammt, und ich muss immer wieder an die jungen Albaner denken, die in Tirana hingerichtet wurden.«

»Hört sich ganz so an, als wären Sie bereit, wieder an die Arbeit zu gehen«, sagte Wisner. »Und damit wären wir beim Anlass unseres Treffens. Ich biete Ihnen einen neuen Auftrag an, Eb.«

»Anbieten heißt doch, dass ich ablehnen kann.«

»Sie müssten sich freiwillig melden. Die Sache ist gefährlich. Wenn Sie am Köder knabbern, erzähle ich Ihnen mehr.«

Ebby beugte sich vor. »Ich knabbere, Frank.«

»Hab ich mir doch gedacht. Der Auftrag ist wie für Sie gemacht. Ich möchte, dass Sie Ihre müden Knochen nach Budapest bewegen, Eb.«

Ebby stieß einen leisen Pfiff aus. »Budapest! Haben wir da nicht schon Leute – in der Botschaft?«

Wisner wandte den Blick ab. »All unsere Botschaftsleute werden beschattet, ihre Büros und Wohnungen abgehört. Vor zehn Tagen dachte der Dienststellenleiter, er hätte seine Beschatter abgeschüttelt, und warf einen Brief an einen der Dissidenten, der uns mit Informationen versorgt hatte, in einen öffentlichen Briefkasten. Die müssen den Kasten geleert und sämtliche Briefe geöffnet haben und sind so auf den Dissidenten gekommen. Der arme Teufel wurde noch am Abend verhaftet und landete an einem Fleischerhaken im Kühlraum eines Gefängnisses.« Wisner fixierte Ebby. »Im Klartext: Wir brauchen dringend ein neues Gesicht in Budapest, Eb. – Aus Sicherheitserwägungen und weil es die Dringlichkeit der überbrachten Nachricht unterstreicht, wenn jemand von außen sie überbringt.«

»Warum gerade ich?«

»Gute Frage. Erstens, Sie haben während des Kriegs hinter den deutschen Linien operiert, und in unserem Geschäft ist Erfahrung durch nichts zu ersetzen. Zweitens, Sie sind Anwalt, was bedeutet, dass wir für Sie eine wasserdichte Tarnung ausarbeiten können, eine plausible Geschichte, warum Sie in Budapest sind. Wir haben uns Folgendes überlegt: Mitte Oktober fährt eine Abordnung des Außenministeriums nach Ungarn, um über die Entschädigung für ungarische Vermögenswerte zu verhandeln, die in Amerika eingefroren wurden, als sich Ungarn im Zweiten Weltkrieg auf die Seite Deutschlands schlug. Ihre alte Kanzlei vertritt Ansprüche von Amerikanern ungarischer Abstammung, die Vermögenswerte verloren haben, als Ungarn nach dem Krieg kommunistisch wurde – es geht da um Fabriken, Geschäfte, große Ländereien, Kunstsammlungen, Wohnungen und dergleichen. Ihr alter Boss, Bill Donovan, hat ein Büro und eine Sekretärin zur Verfügung gestellt – auf dem Schreibtisch dort stapeln sich die Akten dieser Amerikaner ungarischer Herkunft. Wir haben uns gedacht, Sie verkriechen sich da für ein paar Wochen und machen sich mit der Sachlage vertraut. Anschließend reisen Sie mit der Delegation vom Außenministerium nach Ungarn und machen sich dort für die Interessen Ihrer Mandanten stark. Falls irgendwer Sie überprüfen will, halten Donovans Leute Ihnen den Rücken frei – Sie arbeiten dort schon seit Adams Zeiten, das wird Ihre Sekretärin jedem erzählen, der danach fragt.«

»Sie haben mir noch nicht erklärt, was meine eigentliche Mission sein soll«, stellte Ebby fest.

Wisner warf einen Blick auf seine Uhr; Ebby bemerkte ein leichtes Zucken in einem seiner Augenwinkel. »Der DCI hat ausdrücklich gesagt, dass er Ihnen das selbst erläutern will.«

»Dulles?«

»Allerdings. Ab sofort halten Sie sich von unserem Gebäude in Washington fern. Dulles erwartet uns übermorgen um sechs Uhr auf einen Drink im Alibi Club.«

Ebby kaute auf einem Stückchen Eis aus seinem Glas. »Sie waren verdammt sicher, dass ich anbeiße.«

Wisner grinste. »Ja, ich denke, das kann man so sagen.«

 

Die Männer, die sich an der Bar des exklusiven Alibi Club um DCI Allen Welsh Dulles drängten, unterhielten sich prächtig. »Es war gleich nach dem Ersten Weltkrieg in der Schweiz«, erzählte er gerade. »Ich erhielt die Nachricht, dass jemand mich in meinem Büro aufsuchen wollte, aber ich dachte mir, der kann mich mal, und ging lieber Tennis spielen. Und so verpasste ich eine Begegnung mit Wladimir Iljitsch Uljanow, der den anwesenden Gentlemen besser unter dem Namen Lenin bekannt sein dürfte.«

Als er Wisner und Ebby an der Tür erblickte, schob Dulles sich durch die Menge und dirigierte die beiden in ein winziges Büro gleich neben der Garderobe, das er häufig für vertrauliche Besprechungen benutzte. Wisner stellte Ebby vor und hielt sich von da an im Hintergrund, wusste er doch, dass Dulles die operative Seite der CIA-Arbeit am meisten genoss.

»Sie sind also Ebbitt«, sagte Dulles, bedeutete seinem Gast, Platz zu nehmen, und setzte sich ihm so dicht gegenüber, dass ihre Knie sich berührten. Er paffte seine Pfeife, musterte Ebby und sagte dann unvermittelt: »Wisner hat mir erzählt, dass Sie sich bereit erklärt haben, die Mission in Budapest zu übernehmen. Haben Sie eine Ahnung, warum wir Sie dahin schicken?«

»Nicht so ganz.«

»Was meinen Sie denn?«

»Ich hab mir so meine Gedanken gemacht«, gab Ebby zu. »Chruschtschows geheime Rede hat den Stalinisten in den Satellitenstaaten den Boden unter den Füßen weggezogen. In Polen brodelt es. Ungarn scheint ein Pulverfass kurz vor der Explosion zu sein – ein totalitärer Staat, an dessen Spitze ein unpopulärer Stalinist mit Hilfe von vierzigtausend Geheimpolizisten und anderthalb Millionen Spitzeln herrscht. Ich vermute, ich soll Kontakt zu den ungarischen Widerständlern aufnehmen und die Lunte anzünden.«

Dulles kniff die Augen zusammen, warf Wisner einen kurzen Blick zu und sah Ebby eindringlich an. »Sie liegen um genau hundertachtzig Grad daneben, Ebbitt. Wir wollen, dass Sie diesen Leuten sagen, sie sollen sich abregen.«

»Radio Freies Europa hat sie zum Aufstand aufgerufen –«, setzte Ebby an.

Dulles fiel ihm ins Wort. »Radio Freies Europa ist kein Organ der Regierung der Vereinigten Staaten. Tatsache ist: Wir wollen nicht, dass die Sache in Ungarn losgeht, bevor wir wirklich bereit sind. Dass wir uns richtig verstehen: Das Zurückdrängen des Kommunismus ist und bleibt unser erklärtes Ziel. Aber wir rechnen damit, dass wir noch anderthalb Jahre brauchen, bis alles vorbereitet ist. General Gehlens Organisation hat eine ungarische Abteilung, aber es dauert nun mal seine Zeit, Waffenlager in Ungarn anzulegen, ungarische Emigranten auszubilden und mit Ausrüstung ins Land zu schmuggeln, so dass ein Aufstand koordiniert werden kann.«

»Sie gehen also davon aus, dass die Widerständler ihre Leute nicht kontrollieren können«, sagte Ebby. »Aber den Hintergrundberichten nach, die ich gelesen habe, ist ein spontaner Aufstand nicht auszuschließen.«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete Dulles. »Eine Straßendemonstration kann spontan sein. Ein Volksaufstand ist etwas völlig anderes.«

»Im Augenblick ist unsere größte Sorge die«, schaltete Wisner sich ein, »dass die Widerständler sich Chancen ausrechnen, die USA würden sich verpflichtet fühlen, ihnen zu Hilfe zu kommen, sobald sie das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Oder dass wir zumindest damit drohen werden, einzumarschieren, um die Russen in Schach zu halten.«

»Das wäre eine gefährliche Fehleinschätzung der Lage«, warnte Dulles. »Weder Präsident Eisenhower noch sein Außenminister, mein Bruder Foster, sind bereit, wegen Ungarn einen Dritten Weltkrieg anzuzetteln. Ihre Aufgabe, Ebbitt, ist es, die Widerständler von dieser traurigen Tatsache zu überzeugen. Sollten sie dennoch einen Aufstand entfachen wollen, kann uns niemand einen Vorwurf machen. Andererseits, falls sie noch eine Weile abwarten können, sagen wir achtzehn Monate –«

»Ein Jahr könnte schon reichen«, warf Wisner ein.

»Ein Jahr, achtzehn Monate, wenn die Ungarn – mit unserer heimlichen Unterstützung – die Infrastruktur für einen Aufstand geschaffen haben, wäre die Lage vielversprechender.«

»Es gibt da noch ein Problem, von dem Sie wissen sollten«, sagte Wisner. »Die Situation im Nahen Osten spitzt sich immer weiter zu. Nasser hat mit seiner Verstaatlichung des Suezkanals und seiner Weigerung, den Kanal zu internationalisieren, die Briten und Franzosen immer mehr in die Ecke gedrängt. Israelische Teams reisen hektisch zwischen Tel Aviv und Paris hin und her. Die hecken was aus, da können Sie Gift drauf nehmen. Der verschlüsselte Nachrichtenverkehr zwischen dem israelischen Oberkommando und dem französischen Generalstab könnte reger nicht sein. Wir meinen, dass die Israelis möglicherweise einen britisch-französischen Angriff gegen Nasser anführen wollen, um den Kanal zu besetzen.«

»Und bei der ganzen Aufregung würde eine Revolution in Ungarn regelrecht untergehen«, sagte Dulles. Er stand auf und streckte eine Hand aus. »Viel Glück, Ebbitt.«

Vor dem Alibi Club ging ein Zeitungsverkäufer zwischen den vor einer Ampel wartenden Autos hindurch und pries die Washington Post an. »Das Neuste von der Börse«, rief er immer wieder. »Dow Jones erreicht mit 521 Punkten neuen Höchststand.«

»Die Reichen werden reicher«, sagte Wisner mit einem sardonischen Grinsen.

»Und die Weichen werden weicher«, fügte Ebby hinzu.