5 Budapest,
Dienstag, 23. Oktober 1956
E
bby hing an einem Fleischerhaken, der in die Wand des Kühlraums eingelassen war, die Gliedmaßen taub vor Kälte, und war froh, als die Tür sich mit einem Quietschen öffnete. Bei den Verhören konnte er sich wenigstens zwischen den Schlägen im Licht der grellen Lampen aufwärmen. Ein Wachmann packte ihn um die Taille und hob ihn leicht an, während der andere sich auf eine Kiste stellte und Ebbys Jacke und Hemd vom Haken löste. Als seine nackten Füße die eisigen Bodenfliesen berührten, hob Ebby die Ellbogen, so dass sie ihm unter die Arme greifen und ihn leichter wegschleifen konnten. Seltsamerweise behandelten die beiden Wachmänner ihn ungewohnt sanft, und Ebby ahnte, dass irgendetwas passiert sein musste. Sie führten ihn in gemäßigtem Tempo aus dem eiskalten Raum, einen Gang hinunter und zu einem Fahrstuhl, der sie in ein höher gelegenes Stockwerk trug. Dort wurde er über einen mit Teppich ausgelegten Flur in ein geheiztes Zimmer gebracht, in dem ein Holzbett mit Laken, Kissen und Decke stand. Noch erstaunlicher war die kleine Tischlampe, die vermutlich sogar ausgeschaltet werden konnte. Außerdem sah er in einer Ecke eine Toilette und eine kleine Badewanne, und es gab ein Fenster mit Lamellenläden, durch die Verkehrsgeräusche drangen.
Das Hupen eines Autos irgendwo auf der Straße klang wie Musik in seinen Ohren.
Eine kleine matronenhafte Frau mit grauem Haar, um deren Hals ein Stethoskop baumelte, klopfte an die Tür und trat ein. Sie lächelte Ebby kurz an und untersuchte ihn dann. Sie horchte sein Herz ab, schob ihm ein Thermometer unter die Zunge und überprüfte, ob er Rippenbrüche davongetragen hatte. Dann massierte sie ihm Arme und Beine, um den Blutkreislauf wieder in Gang zu bringen. Bevor sie ging, desinfizierte sie die Striemen auf seiner Brust, rieb das zugeschwollene Auge mit einer Salbe ein und legte ihm zwei Tabletten hin, die er vor dem Schlafengehen einnehmen sollte. Eine andere Frau brachte ihm frische Kleidung und ein Tablett mit Essen – eine Schale klare Fleischbrühe, eine Scheibe Brot, ein Teller mit Gulasch und sogar eine in Zellophanpapier eingewickelte Süßigkeit. Ebby trank die Fleischbrühe, die seinem schmerzenden Hals wohl tat, und nahm ein paar Bissen von dem Gulasch. Dann humpelte er zum Fenster und starrte durch die Lamellen auf die Straße hinunter. Dem Licht nach zu schließen, musste es später Nachmittag sein. Es waren nicht viele Autos zu sehen, aber die Straße war voller junger Leute, die alle laut rufend in eine Richtung liefen. Ein Lastwagen mit Studenten auf der Ladefläche, die ungarische Fahnen schwenkten und irgendwelche Parolen skandierten, fuhr ebenfalls in diese Richtung.
Ebby ging zurück zum Bett, schaltete das Licht aus, zog sich komplett aus und ließ seine schmutzigen Sachen einfach auf den Boden fallen. Er stieg ins Bett, streckte seinen schmerzenden Körper langsam unter der Decke aus und begann erneut, Fragen zu formulieren.
Wieso fing der AVH auf einmal an, ihn mit Glacéhandschuhen zu behandeln?
Hatte der KGB den bekanntermaßen höchst brutalen AVH zurückgepfiffen?
Sollte er gegen einen KGB-Offizier, der in amerikanische Hände gefallen war, ausgetauscht werden?
Und was war mit diesen jungen Leuten draußen auf der Straße? Wollten sie zu einem Fußballspiel oder zu einer Parteiveranstaltung? Wohl kaum, denn ihm war aufgefallen, dass Hammer und Sichel aus den Fahnen herausgeschnitten worden waren, die die Studenten auf dem Lastwagen geschwenkt hatten.
In den frühen Morgenstunden klopfte es leise an der Tür. Einen Moment später ging die Lampe an. Ebby setzte sich schwerfällig auf und zog die Decke unters Kinn. Ein zwergenhafter Mann – Ebby schätzte ihn auf kaum einen Meter fünfzig – mit Spitz- und Schnurrbart und dunkel geränderter Brille in dem runden Gesicht schob sich einen Stuhl heran. Als er sich setzte, berührten seine Füße kaum den Boden. Er bot Ebby eine Zigarette an. Als der ablehnte, nahm der Besucher selbst eine und steckte sie sich zwischen die auffällig dicken Lippen. Er zündete sie an, inhalierte tief und wandte den Kopf ab, um den Rauch auszustoßen. »Nennen Sie mich Wassili«, sagte er mit russischem Akzent. »Zunächst möchte ich mein Bedauern aussprechen über den – wie soll ich sagen? – den Eifer, mit dem meine ungarischen Kollegen Sie vernommen haben. Trotzdem, man muss sie verstehen. Im ganzen Land gärt der Aufruhr. Da ist es doch nachvollziehbar, dass meine nervösen ungarischen Kollegen möglichst schnell in Erfahrung bringen wollten, welche Anweisungen Sie dem Aufrührer Á. Zelk überbracht haben. Ich muss sagen, Sie haben sich achtbar gehalten, Mr. Ebbitt. Wir sind zwar Gegner, aber ich kann Ihnen meinen Respekt nicht versagen.« Der Russe räusperte sich verlegen. »Die Engländerin, die in derselben Nacht verhaftet wurde wie Sie, konnte sich den überzeugenden Vernehmungstechniken des AVH nicht widersetzen. Wir kennen also jetzt den Inhalt der Botschaft.«
»Ich habe die überzeugenden Vernehmungstechniken des AVH durch ein Fenster mit angesehen«, bemerkte Ebby schneidend.
»Mr. Ebbitt, Sie sind ein erfahrener Nachrichtenoffizier. Sie werden doch nicht über Vernehmungsmethoden streiten wollen.«
»Lebt die Frau noch?«
Der Russe zog nachdenklich an seiner Zigarette. »Sie lebt und wird noch immer verhört«, sagte er schließlich. »Meine ungarischen Kollegen hoffen, mit ihrer Hilfe Á. Zelk dingfest machen zu können, bevor –«
Von draußen war Gewehrfeuer zu hören; es klang wie Feuerwerkskörper zu Silvester. Der Russe lachte bitter auf. »… bevor es zum Ausbruch offener Kampfhandlungen kommt. Ich kann Ihnen sagen, dass in der Stadt Unruhe herrscht. Á. Zelk soll heute angeblich vor einer Studentenmenge unter der Statue des ungarischen Dichters Petöfi revolutionäre Gedichte vorgelesen haben. Vielleicht haben Sie ja die Studenten gesehen, die Richtung Erzsébet-Brücke und Petöfi-Denkmal unterwegs waren –«
Von einer Straßenkreuzung in der Nähe ertönte eine Salve aus einer Automatikwaffe.
»Unruhe ist wohl kaum der passende Ausdruck, Wassili. Da draußen bricht gerade ein Aufstand los«, sagte Ebby.
Ein junger Ungar mit einer zerknitterten AVH-Uniform kam in den Raum gestürzt und machte atemlos auf Russisch Meldung. Wassili trat seine Zigarette aus, ging zum Fenster und blickte hinaus. Offenbar war er alles andere als begeistert von dem, was er da sah.
»Ziehen Sie sich bitte rasch an«, befahl er. »Der Mob will das Gebäude stürmen. Wir verlassen es durch den Hinterausgang.«
Ebby zog die frischen Sachen an und folgte dem Russen steifbeinig vier Treppen hinunter bis in eine Tiefgarage. Der Ungar, der Wassili vorhin die Meldung gebracht hatte, ein knochiger junger Mann mit einem nervös zuckenden Augenlid, saß schon am Steuer einer glänzenden schwarzen Zil-Limousine. Ein massiger AVH-Offizier, eine Maschinenpistole unter einem Arm, schob sich auf den Beifahrersitz. Wassili winkte Ebby auf die Rückbank und setzte sich dann neben ihn. Der Fahrer fuhr los und steuerte den Zil eine Rampe hinauf bis zu einem Metalltor, das sich langsam hob. Als die Öffnung groß genug war, trat der junge Mann das Gaspedal durch, und der Zil schoss hinaus auf eine dunkle, menschenleere Straße. An der ersten Kreuzung schlingerte der Wagen auf zwei Rädern um die Ecke. Die Scheinwerfer beleuchteten einen großen Trupp junger Leute, die mit wehenden Fahnen und erhobenen Transparenten auf sie zumarschiert kamen. Wassili schnauzte einen Befehl. Der Fahrer machte eine Vollbremsung und legte krachend den Rückwärtsgang ein. Ebby sah, wie ein junger Mann mit einem Gewehr sich hinkniete, anlegte und schoss. Der rechte Vorderreifen des Wagens platzte, und der Zil schleuderte unkontrolliert gegen einen Laternenpfahl. Sofort sprang der AVH-Offizier aus dem Wagen, ging dahinter in Deckung und feuerte ein ganzes Magazin in die Menschenmenge, die auf sie zugestürmt kam. Einige Gestalten stürzten zu Boden. Die Studenten brüllten vor Wut, als sie den Zil umzingelten. Der AVH-Mann versuchte verzweifelt ein neues Magazin in die Maschinenpistole zu schieben, wurde jedoch von zwei Gewehrschüssen niedergestreckt. Hände rissen die Türen auf und zerrten die Insassen auf die Straße. Der Fahrer, Wassili und Ebby wurden an eine Backsteinwand gepresst. Hinter sich hörte Ebby, wie Gewehre durchgeladen wurden. Er hob beide Hände vor die Augen, um sie vor den Gewehrkugeln zu schützen, und schrie in die Nacht hinein: »Ich bin Amerikaner! Ich war ihr Gefangener!«
Eine Stimme rief etwas auf Ungarisch. Im schwachen Licht der Straßenlampen sah Ebby, dass die Menge sich teilte, um jemanden durchzulassen.
Und dann trat Árpád Zelk aus der Dunkelheit. Er trug eine schwarze Lederjacke, ein schwarzes Barett und eine enge schwarze Hose. In der Hand hielt er ein Gewehr. Er erkannte Ebby und rief einen Befehl. Ein Student zog Ebby beiseite. Hinter ihm sank der junge AVH-Fahrer auf die Knie und flehte um sein Leben. Mit einem ironischen Lächeln zog der zwergenhafte Wassili ruhig sein Zigarettenetui aus der Jackentasche und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Er riss ein Streichholz an, hielt die Flamme an die Zigarette, lebte aber nicht mehr lange genug, um sie anzuzünden.
Eine Gruppe Studenten, die sich spontan zu einem Erschießungskommando aufgestellt hatte, streckte die beiden Männer mit einer Gewehrsalve nieder.
Árpád trat auf Ebby zu. »Elizabet – wissen Sie, wo sie ist?«, fragte er. Die Frage klang wie ein Gebet.
Ebby sagte, er habe sie im Gefängnis gesehen. Er erklärte, dass es hinter dem Gefängnis einen Eingang in eine Tiefgarage gebe. Árpád schwang sein Gewehr und rief den Studenten zu, ihnen zu folgen. Er packte Ebby am Arm und stürmte los. Als sie vor dem Garagentor ankamen, trat einer der Studenten mit der erbeuteten Maschinenpistole des AVH-Offiziers vor und zerschoss das Schloss. Eifrige Hände zerrten an dem Tor und schoben es hoch. Aus dem Innern der Garage drangen Pistolenschüsse. Die Studenten stürmten die Rampe hinunter in die undurchdringliche Finsternis. Schüsse hallten durch die Garage. Ein Molotow-Cocktail detonierte unter einem Wagen, der Tank fing Feuer und explodierte. Flammen züngelten bis zur Decke hinauf. In dem zuckenden Lichtschein sah Ebby, wie einige Studenten ein halbes Dutzend Männer in zerfetzten AVH-Uniformen gegen eine Wand drängten. Die Studenten traten zurück, bildeten eine unregelmäßige Linie, und Árpád schrie ein Kommando. Gewehrschüsse prasselten, und die AVH-Männer, die sich aneinander gedrängt hatten, sanken in einem Haufen zu Boden.
Ebby hielt sich dicht hinter Árpád, als die Studenten die Treppe hinaufstürmten, sich im Gebäude verteilten und alle AVH-Leute niederstreckten, die sie entdeckten, Zellen öffneten und Gefangene befreiten. In einer Toilette fanden sie drei AVH-Frauen, darunter auch diejenige, die wie ein Sumo-Ringer aussah; sie zerrten sie heraus und töteten sie mit Genickschüssen. Ebby zog Árpád mit sich, bis sie auf einen Korridor gelangten, der ihm bekannt vorkam, und fing an, Riegel zurückzuschieben und Türen aufzureißen. Hinter einer Tür erkannte er seine eigene Zelle wieder, mit dem Holzbrett als Bett und dem Fenster hoch oben in der Wand. Dann kam er an eine besonders dicke Tür, deren Verriegelung mit einem Chromrad geschlossen wurde, und als er sie öffnete, wehte ihm die Eiseskälte des Kühlraums entgegen.
Elizabet hing an einem Fleischerhaken, der durch den Kragen ihrer zerfetzten Bluse gebohrt war. Ihre nackten Beine zuckten wie in einem grotesken Tanz. Sie hatte den Mund geöffnet, und ihre Lippen formten Worte, aber die rasselnden Laute, die aus ihrer Kehle kamen, hatten nichts Menschliches an sich. Árpád und Ebby hoben sie von dem Haken, trugen sie aus dem Kühlraum und legten sie behutsam auf den Boden. In einer Ecke des Gangs fand Árpád eine schmutzige Decke und warf sie über sie, um ihre Nacktheit zu bedecken.
Zwei junge Männer – in dem einen erkannte Ebby den zornigen Studenten Mátyás wieder – kamen den Gang herunter und stießen die grauhaarige Ärztin und einen älteren Mann vor sich her. Er trug die Uniform eines AVH-Obersten. Ein Arm hing ihm schlaff herab, und er blutete aus der Nase. Ebby sagte zu Árpád: »Die Frau ist Ärztin.«
Árpád sprang auf und signalisierte der Frau, sich um Elizabet zu kümmern. Überglücklich, dass ihr das Schicksal der anderen AVH-Leute im Gebäude erspart blieb, sank sie auf die Knie und tastete nach Elizabets Puls. Árpád zog eine Pistole aus seinem Gürtel und winkte Mátyás, den Gefangenen näher heranzubringen. Der AVH-Offizier starrte Ebby an und sagte auf Englisch:
»Um Gottes willen, halten Sie ihn auf. Ich habe Informationen, die für Ihre CIA von großer Wichtigkeit sein könnten.«
Ebby erkannte die Stimme – sie hatte aus der Dunkelheit in dem Vernehmungsraum zu ihm gesagt: »Nennen Sie Ihren vollen Namen, bitte.«
»Er heißt Száblakó«, sagte Árpád zu Ebby, die Pupillen in seinen Augen zu hasserfüllten Stecknadelköpfen geschrumpft. »Er ist der Kommandant dieses Gefängnisses und allen von uns, die schon einmal vom AVH verhaftet wurden, nur allzu gut bekannt.«
Ebby trat näher an den Mann heran. »Woher haben Sie gewusst, dass ich bei der CIA bin? Woher wussten Sie, dass ich für Wisner arbeite? Woher wussten Sie, dass ich mal in Frankfurt gearbeitet habe?«
Száblakó klammerte sich an den Strohhalm, der ihm das Leben retten konnte. »Nehmen Sie mich in Gewahrsam. Retten Sie mich vor diesen Leuten, und ich sage Ihnen alles.«
Ebby wandte sich an Árpád. »Überlasst ihn mir – seine Informationen können sehr wichtig für uns sein.«
Árpád zögerte, blickte von Elizabet zu Száblakó und dann zu Mátyás, der aufgebracht den Kopf schüttelte. »Gib ihn mir«, flüsterte Ebby, aber die Muskeln um die Augen des Dichters zogen sich zusammen, verwandelten sein Gesicht in eine einzige Maske des Hasses. Plötzlich nickte Árpád Richtung Kühlraum. Mátyás verstand ihn auf Anhieb. Ebby wollte sich ihnen in den Weg stellen, doch Árpád stieß ihn rasend vor Wut beiseite. Száblakó begann heftig zu zittern. »Die Zentrale hat es uns mitgeteilt«, rief er, als Árpád und Mátyás ihn in den Kühlraum zerrten. Ein Entsetzensschrei hallte durch den Gang, gefolgt von einem kläglichen Wimmern. Und dieses Wimmern hielt an, bis Árpád und Mátyás aus dem Kühlraum kamen und die schwere Tür schlossen. Sie drehten das Chromrad, bis die Verriegelung einrastete.
Als er wieder auf dem Flur stand, warf Árpád einen raschen Blick auf Elizabet, die ausgestreckt auf dem Boden lag. Einen kurzen Moment lang schien er unschlüssig, ob er bei ihr bleiben oder weiterstürmen sollte, um die Revolution zu führen. Die Revolution trug den Sieg davon; Árpád packte sein Gewehr und ging hastig mit Mátyás davon. Die Gefängnisärztin desinfizierte Elizabets Wunden und zog ihr mit Ebbys Hilfe ein Flanellhemd und eine Männerhose an, die sie mit einem Stück Kordel festbanden. Elizabets Augen öffneten sich flatternd, und sie starrte Ebby ausdruckslos ins Gesicht, schien ihn zunächst nicht zu erkennen. Dann presste sie die rechte Hand auf ihre linke Brust, und ihre Lippen formten seinen Namen.
»Elliott?«
»Da sind Sie ja wieder, Elizabet«, flüsterte Ebby.
»Die haben mir wehgetan …«
Ebby konnte nur nicken.
»Es war so kalt da drin.«
»Jetzt sind Sie in Sicherheit.«
»Ich glaube, ich habe denen gesagt, wer Sie sind –«
»Das ist egal.«
»– und warum Sie nach Budapest gekommen sind.«
Ebby riss ein Stück Stoff aus dem Flanellhemd, ging zu einem verdreckten Waschbecken am Ende des Ganges und benetzte den Fetzen. Dann wischte er ihr damit das getrocknete Blut von den Lippen.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie matt.
»Der Aufstand hat begonnen!«, sagte Ebby.
»Wo ist Árpád?«
Ebby gelang sogar ein müdes Grinsen. »Er versucht gerade, die Revolution einzuholen, damit er sie anführen kann.«
Als das erste graue Morgenlicht den östlichen Himmel erhellte, kamen Gerüchte auf, dass russische Panzer die Stadt erreicht hatten. Ebby entdeckte den ersten T-34-Panzer, als er und Elizabet in einem kleinen Lieferwagen zum Corvin-Kino gebracht wurden. Eine magere junge Frau namens Margit saß am Steuer, Ebby neben ihr. Elizabet lag hinten auf einer Matratze. Am Kalvin-Platz hatten sich fünf russische Panzer ringförmig aufgestellt, die Geschütze nach außen, und aus den geöffneten Luken beobachteten ihre Kommandanten die umliegenden Straßen mit Ferngläsern.
Ebby schrieb die Adresse auf, die er in Washington auswendig gelernt hatte. Es war die Anschrift des ungarischen Kontaktmanns, der mit Funkgerät und Chiffriercodes ausgestattet war, und es gelang Margit, sie auf Umwegen unbehelligt dorthin zu bringen. Wie sich herausstellte, war die Kontaktperson ein unbeschwerter junger Zigeuner namens Zoltán, mit sichelförmigen Koteletten und zwei Stahlzähnen, die aufblitzten, wenn er lächelte. Ebby hatte keinerlei Schwierigkeiten, Zoltán davon zu überzeugen, dass er mitkommen müsse. Er nahm bloß einen Rucksack mit, in dem sich ein Funkgerät befand, ein langes gebogenes Messer, das dem Vater seines Vaters bei Auseinandersetzungen mit den Türken gute Dienste geleistet hatte, und eine Geige in einer selbst gemachten Leinenhülle.
»Das Funkgerät und das Messer leuchten mir ja noch ein«, sagte Ebby zu ihm, als sie sich auf den Vordersitz des Lieferwagens quetschten. »Aber was willst du mit der Geige?«
»Ohne Geige kann man nicht in den Krieg ziehen«, erwiderte Zoltán ernst. »Zigeunergeigen haben die Magyáren in die Schlacht gegen die gottverdammten Mongolen geführt, ja, deshalb ist es eine verdammt gute Sache, wenn ich als Zigeunergeiger die Ungarn in die Schlacht gegen die gottverdammten Russen führe.« Er bekreuzigte sich und wiederholte für Margit auf Ungarisch, was er gesagt hatte; sie musste so heftig lachen, dass ihr die Tränen kamen.
In der Rákóczi-Straße wurde der Wagen plötzlich von Studenten umzingelt, die mehrere Straßenbahnwagen umgekippt hatten, so dass die Autos nur im Zickzack durch die Sperre fahren konnten. Die Oberleitungen baumelten von den Masten. Die Studenten trugen Armbinden mit den ungarischen Nationalfarben und schwenkten große Marinepistolen, veraltete deutsche Gewehre aus dem Ersten Weltkrieg, und einer von ihnen trug ein Kavallerieschwert. Sie hatten Margit offenbar erkannt, denn sie winkten den Wagen durch. Eine alte Frau auf dem Bürgersteig hob salutierend ihren Gehstock. »Eljen!«, rief sie. »Ein langes Leben!« An der nächsten Ecke tauchten aus einem Warenhaus weitere Studenten auf; sie hatten die Arme voller Anzüge und häuften sie auf dem Bürgersteig auf. Eine junge Frau in der grauen Uniform eines Straßenbahnschaffners, die lederne Fahrscheintasche prall voll mit Handgranaten, rief einer Gruppe vorbeikommender Studenten zu, dass jeder, der sich ihnen anschließen würde, einen Anzug und fünf Molotow-Cocktails bekäme. Ein halbes Dutzend Studenten nahm das Angebot an.
Sie erreichten das Corvin-Kino, ein rundes blockhausähnliches Gebäude, das in eine Festung und Kommandozentrale des hastig zusammengestellten »Corvin-Bataillons« umgewandelt worden war. Im Keller fabrizierten junge Frauen mit Benzin von einer nahe gelegenen Tankstelle Molotow-Cocktails. Der eigentliche Kinosaal war von einer Art Volksversammlung mit Beschlag belegt worden. Delegierte aus Schulen und Fabriken und der ungarischen Armee kamen und gingen, und während sie da waren, beteiligten sie sich per Handzeichen an irgendwelchen Abstimmungen. Immer wieder beteuerten Sprecher der Versammlung, dass das Ziel des Aufstands das Ende der sowjetischen Besatzung und die Befreiung des Landes vom Kommunismus sei; die Menschen, die sich im Corvin-Kino zusammenfanden, wollten sich nicht mit einer bloßen Reform der bestehenden kommunistischen Regierung abspeisen lassen.
Studenten, die Armbinden des Roten Kreuzes trugen, brachten Elizabet auf einer Trage in die improvisierte Krankenstation im dritten Stock des Gebäudes. Ebby und sein Zigeuner bauten das Funkgerät in einem Büro im obersten Stockwerk auf. Zoltán brachte die Kurzwellenantenne auf dem Dach an einem Schornstein an und verschlüsselte dann Ebbys erste Meldung an den Lauschposten der Company in Wien. Darin berichtete er kurz von seiner Verhaftung, von dem KGB-Offizier, der ihn hatte wegbringen wollen, aber dann von den Aufständischen erschossen wurde, die das Gebäude der Geheimpolizei gestürmt hatten. Weiter meldete er, dass russische Panzer in Budapest eingerückt seien, diese aber nicht, soweit er das beurteilen konnte, von Bodentruppen begleitet wurden, was bedeutete, dass die Russen nicht in der Lage sein würden, den Aufstand ohne Hilfe der ungarischen Armee und der regulären Polizeikräfte niederzuschlagen. Zu Beginn des zweiten Tages der Volkserhebung, so berichtete er, waren die ungarische Armee und die Budapester Polizei entweder auf die Seite der, wie Ebby sie nannte, Freiheitskämpfer übergelaufen (ein Ausdruck, den die Presse aufgreifen würde) oder hatten sich für neutral erklärt.