Lillian und Helmut kommen zueinander

Mai 1942

 

Lillian Berthung und Helmut Crott haben sich für den späten Nachmittag an einer kleinen Bucht unterhalb des Trondenesveien verabredet. Den Eltern hat Lillian gesagt, dass sie den Nachmittag bei ihrer Freundin Blanche verbringen wird. Es ist nicht schön, wenn man lügen muss. Aber Lillian kann nicht anders. In ihrem Kopf bewegt sich vieles. Zu vieles, wie sie findet. Am besten, sie setzt sich auf ihr Rad und fährt einfach mal los. Gleich wird sie also Helmut treffen. Helmut. Ja, so heißt er längst in ihren Gedanken. Und man wird zum ersten Mal alleine sein. Ohne Vater, ohne Mutter, ohne Pus.

Natürlich war es überhaupt nicht richtig, dass sie dieser Einladung sofort gefolgt ist. Der Einladung eines deutschen Soldaten! Lillian weiß noch nicht sehr viel über die Liebe und diese Dinge, aber sie weiß, dass aus solchen Verabredungen sehr wohl etwas folgen kann. Am Ende verliebt sie sich noch in diesen Mann. Das fehlte noch. Sie ist fest entschlossen, vernünftig zu sein.

Da ist sie schon, die Bucht. Helmut ist bereits da. »Schön, dass Sie gekommen sind, Lillian.« Das klingt ziemlich förmlich. Lillian ist erleichtert. Oder enttäuscht. Das weiß sie nicht. Sie steigt vom Rad. »Es ist nicht so leicht, mich mit Ihnen zu treffen.«

»Ich weiß, Lillian, umso mehr freue ich mich, dass Sie gekommen sind. Ich wollte so gerne einmal alleine mit Ihnen sein!«

Sie kommen an eine Stelle, wo ein großer Stein am Ufer liegt. »Wollen wir uns einen Moment dahin setzen?« Bevor sie antworten kann, hat ihr Helmut schon das Rad abgenommen und gegen einen Baum gelehnt. Sie sitzen eine Weile schweigend nebeneinander und blicken auf den Vågsfjord. Helmut nimmt einen flachen Kiesel und lässt ihn über die Wasseroberfläche tanzen.

»Es ist so unwirklich für mich, hier zu sein«, sagt er leise. »Hier an diesem Meer, dreitausend Kilometer weg von zu Hause. Und ganz allein mit Ihnen.«

»Es ist nicht nur unwirklich, es ist nicht richtig, dass ein deutscher Soldat hier sitzt.« Lillian schaut Helmut an. Irgendetwas in seinen Augen sagt ihr, dass ihm diese Bemerkung wehgetan hat.

»Warum bist du dann gekommen?« Jetzt hat er sie geduzt. Dann tut sie das auch. »Es geht mir eben wie meinem Vater, du bist mir sympathisch.«

»Nur sympathisch oder vielleicht ein kleines bisschen mehr?« Jetzt nimmt er auf einmal ihre Hand. »Bei mir ist es nämlich mehr als nur Sympathie.« Es dauert einen Moment, bis Lillian ihre Hand wieder wegzieht. Keiner sagt etwas. Dann steht Lillian auf. Helmut nimmt wieder ihr Rad und sie gehen ein Stück weiter den Weg entlang.

»Lillian«, sagt Helmut nach einer Weile. »Lillian, ich habe mich in dich verliebt. Es ist so, ich kann nichts dagegen tun. Und ich habe das im Übrigen auch gar nicht vor.«

Lillians Kopf glüht. Ihr Herz auch. »Ich glaube, ich habe mich auch in dich verliebt, Helmut, aber ich weiß nicht … alt er så vanskelig … alles ist so schwer …«

Helmut lässt das Rad fallen. Er nimmt Lillians Gesicht in beide Hände und dann küsst er sie. Auf einmal ist alles ganz einfach.

 

In den folgenden Wochen trifft sich Lillian immer wieder mit Helmut. Natürlich heimlich. Sie unternehmen lange Spaziergänge, am liebsten auf einsamen Wegen, wo sie sicher sind, von niemandem gesehen zu werden. Helmut sieht auf diesen Spaziergängen Lillian oft einfach nur an. Ihre grünen Augen, ihre hübsche Nase, ihren schön geschwungenen Mund, ihre feinen braunen Haare, die sich in weichen Wellen um ihr Gesicht legen. Wie er es mag, wenn sie Deutsch spricht. Ihr »z« ist ein weiches »s«. Sauberflöte von Mosart oder Sar und Simmermann von Lorsing. Wunderschön.

Aber auch er legt sich mächtig ins Zeug, um Norwegisch zu lernen. Bald kann er schon einige Sätze, die über »jeg elsker deg« hinausgehen.

Lillian gefällt das sehr. Vor allem aber mag sie Helmuts Humor und sein Lachen. Dann vergisst sie sogar seine Uniform.

Aber die Dinge sind schwierig. Und sie werden schwierig bleiben. Sie weiß, wie über die Mädchen in Harstad gesprochen wird, die sich mit den Deutschen eingelassen haben. Und was werden ihre Eltern sagen, was ihre Freunde, die Nachbarn und die Lehrer an der Handelsschule, wenn sie von ihr und Helmut erfahren.

Auch Tore gegenüber hat sie ein schlechtes Gewissen. Sie schreiben sich immer noch. Sie mag Tore, gewiss, aber sie spürt, dass ihr Gefühl für Helmut ein völlig anderes ist. Eines, das sie bisher nicht gekannt hat. Und außerdem ist Helmut so viel erwachsener, reifer und ernster als ihre norwegischen Freunde.

 

»Vielleicht müssen wir bald weg von hier, Lillian.« Sie sitzen in der Nähe der Trondenes-Kirche und schauen hinaus aufs Meer. Die Kirche ist die nördlichste mittelalterliche Steinkirche Norwegens und liegt oberhalb des Vågsfjordes, ein wenig außerhalb der Stadt. Lillian mag diese Stelle sehr. Sie ist in dieser Kirche getauft worden. Aber die beiden sind nicht nur deshalb so oft hier. Es gibt nicht viele Orte rund um Harstad, wo sich ein norwegisches Mädchen und ein deutscher Soldat treffen können, ohne erkannt zu werden. Und Lillian will auf jeden Fall vermeiden, dass ihre Eltern von diesen heimlichen Treffen erfahren. Ach, wenn alles doch nicht so belastend wäre.

Und dennoch ist das, was Helmut gerade über den Abmarsch seiner Truppe gesagt hat, alles andere als eine Lösung für Lillian. Sie bemüht sich um einen sachlichen Ton. »Wo müsst ihr denn hin?«

»Das wissen wir nicht, aber es wird wahrscheinlich für mehrere Wochen sein, weil eine größere militärische Übung stattfinden soll.«

Lillian hat plötzlich große Angst, dass ihm etwas passieren könnte, dass er nie wieder zurückkommen wird. Sie drückt sich fest an ihn. Helmut scheint sofort zu verstehen, was sie damit sagen will. »Für mich ist es auch schwer, wenn ich mich jetzt von dir trennen soll. Und selbst wenn es nur ein paar Wochen sind. Du bedeutest mir viel. Ich habe schon meinen Eltern geschrieben, dass ich hier oben im Norden ein Mädchen getroffen habe, eines, von dem ich immer geträumt habe, und dass sie ein Herz aus Gold hat.«

Jetzt muss Lillian doch lachen. »Aber Helmut, das ist zu viel Gutes über mich!« Er küsst sie. »Meine Eltern wissen natürlich, dass du Lillian heißt, aber für sie bist du nur Hun, weil ich ihnen geschrieben hab, dass »sie« auf Norwegisch Hun heißt.«

»Ja, aber deine Eltern werden doch sicher denken, dass sich ein norwegisches Mädchen besser nicht mit einem deutschen Soldaten treffen soll.« Im selben Augenblick bereut sie diese Frage und setzt schnell hinzu: »Sie werden denken, es kommt auf den Menschen an.«