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Die Geküssten

1 Die Jahre danach

Als er das erste Mal von William Thompson hörte, lebte Albert Einstein schon lange nicht mehr in München. Er hatte sich von der autoritären Schule, an der er dem Lehrer durch bloße Anwesenheit den Respekt verdarb, verabschiedet, nicht ohne ein ärztliches Attest auf »die Nerven« in der Tasche: neurasthenische Erschöpfung.

Unangemeldet bei den Eltern in Mailand aufgetaucht, verbummelte er ein Jahr, bevor er die Aufnahmeprüfung am Polytechnikum in Zürich machte und wegen seines schlechten Wortgedächtnisses in Fächern wie Französisch und Botanik durchfiel. Dann wurde er Untermieter bei der Familie Winteler in Aarau, um an der dortigen Schule den Abschluss nachzuholen. Unentwegt flirtete er mit Marie, der Tochter des Hauses, unentwegt und nebenbei. Hauptsächlich war er auf der Suche nach der Lösung seines Kinderrätsels vom schnurgeraden Lichtstrahl und der Kugelwelle. Er wusste längst, wer Michael Faraday war und dass ein Spalt im Fensterladen sehr groß war im Vergleich zur Wellenlänge des Lichtes. Er hatte gesehen, dass schnelle, kurze Wasserwellen kaum um ein Hindernis herumliefen, wenn es groß genug war, und dass sie sehr wohl um die Ecke kamen, wenn das Hindernis klein war.

Ein Haar besaß so wenig einen geometrischen Schatten wie ein Spalt, der so schmal war wie ein Haar breit. Beide erzeugten Muster. Um wie viel schöner das Licht wurde, je mehr man sich mit ihm beschäftigte! Der gerade Schatten war erst der Anfang dessen, was die Welle konnte.

William Thompson hieß zu diesem Zeitpunkt für alle Lord Kelvin, nach dem Fluss Glasgows, aber das tat nichts zur Sache. Noch als William Thompson hatte er einen Brief von dem jungen, exzentrischen, schottischen Mathematiker James Clerk Maxwell erhalten, den seine Klassenkameraden in Edinburgh »den Doofen« genannt hatten und der fand, »dass nichts heilig und mit rigidem Glauben belegt sein darf, ob positiv oder negativ«.

Maxwell war jetzt Student in Cambridge und bat Thompson um eine Liste unvoreingenommener Darstellungen der elektrischen Wissenschaft: »Möglichst Arbeiten ohne Fixierung auf diese alten Traditionen von Kräften, die in der Distanz wirken.«

Seit Faraday mit Sarah in der Küche gesessen und fertig zu sein geglaubt hatte, waren zehn Jahre vergangen, keine leisen, vergessenen Jahre. Begonnen hatten sie damit, dass »die Iren mal wieder mit dem Verhungern angefangen haben«, wie auf dem Piccadilly ein Mann meinte, an dem Sarah mit einigen Einkäufen am Morgen nach der Entdeckung des Faraday-Effektes vorbeiging. Das war nichts Ungewöhnliches. Im Verlauf des Winters stellte sich aber ein neues, ungekanntes Maß an Hunger ein, das die Braunfäule schaffte: ein Pilz, der offenbar aus dem Nichts gekommen war. Unter den Kartoffeln, von denen eine seit Jahrhundertbeginn auf acht Millionen verdoppelte Bevölkerung fast ausschließlich lebte, fühlte er sich besonders wohl. Der Pilz breitete sich schneller als die Nachrichten über ihn aus, um vom Wissen um seine bevorzugten Kartoffelsorten in der von ihm bevorzugten kalten Witterung zu schweigen. Vier lange Jahre sah kaum jemand eine nicht in Matsch verwandelte Knolle.

Bald lagen die Toten, so las und hörte man in London, in den Häusern, auf den Feldern, in den Straßen und Straßengräben und wo immer sich einer mit seiner letzten Kraft hingelegt hatte, bevor das Licht hinter seinen Augäpfeln kein Bild mehr von der Welt zustande brachte. Anderthalb Millionen waren es am Ende.

Zwei Millionen wanderten nach Amerika aus, wo George Washington, der den Pocken getrotzt und in ungezählten Schlachten auf seinem Pferd gesessen hatte, um wie von geisterhafter Hand beschützt aus indianischen, französischen und englischen Gewehren keine einzige Kugel zu fangen. Er hatte die habgierigen Engländer besiegt und sich anschließend geweigert, König von Amerika zu werden. In Amerika war alles größer, besser und schlimmer als in Europa, in dem der Pilz zwischen Sizilien und Schottland überall Nahrung fand und teure Güter noch lange nicht sinnvoll verteilt wurden: Ob Kartoffeln, Daunen, Messing oder Pelze.

Unter den zurückgebliebenen Iren gingen viele in die englischen Industriestädte, wo sie sich mit jenen, die nichts hatten, zusammentaten gegen jene, die etwas hatten und glaubten, das sei rein ihr Verdienst. Auch die taten sich zusammen. Friedrich Engels hatte es ja gewusst. Er errang viel Achtung bei den einen, die ihm ab jetzt glaubten, egal was, und folgen wollten, egal wohin. Das war im Moment das Einfachste. Bei den anderen errang er aus demselben Grund viel Missgunst, und bei beidem sollte es bleiben, auch wenn es auf Dauer das Beschwerlichere war.

Während Faraday sich im Schwindel befand, während sich sein Hirn auf widerliche Weise anfühlte, als drehe eine Hand es sehr langsam im Uhrzeigersinn, von oben gesehen, konnten vierzehntausend Opfer der Choleraepidemie 1848 und 1849 nicht sagen, auf welchem Wege sie sich angesteckt hatten.

Die Revolution hielt Faraday für eine schwarze Leidenschaft, für eine hochtrabende Phrase, für die Regierung eines wertlosen Motivs. Mit Sarah fuhr er nach Brighton und kam immer nach ein paar Tagen oder Wochen zurück. Er schrieb und experimentierte, er gab Vorlesungen und ließ wissen, sein Gedächtnis könne nichts mehr sicher aufheben. Sarah beobachtete, wie er sich in einer immer kleineren Welt einrichtete, als würde er immer jünger. Er träumte von Materie und ihren Kräften und fand es nicht weise, darüber zu reden, denn vielleicht war alles falsch.

Dann flüchtete Charles Wheatstone eines freitags aus der Institution, fünf Minuten bevor er die Vorlesung halten sollte.

Der selbsternannte Mathematiker, Zahnarzt und Dichter Hank Adrift Twigged, ein in seinen Einfällen genauso blitzschneller wie ungebildeter Diskutant, hatte sich als Newton verkleidet und mit einem schön anzusehenden Modell der Sonne in der einen Hand, einem ebenso schönen des Mondes in der anderen in die erste Reihe gesetzt. Die Sonne hielt er mit ausgestrecktem Arm von sich weg und fixierte sie, während er den Mond um seinen Kopf kreisen ließ, so gut es mit einer Hand ging.

Twigged, als ob ihn nicht ohnehin alle anstarrten, hatte den als scheu bekannten Wheatstone beim Betreten des Saales sofort angebrüllt: »Guten Abend, Herr Doktor!« Und auf den erschrockenen Blick des Angesprochenen: »Haben Sie Ihre Ätherwellen dabei?« Die meisten lachten, ohne zu wissen worüber.

Eine halbe Stunde wartete Faraday, bis er die Hoffnung auf eine Rückkehr des Freundes aufgab. Dann trat er mit ineinandergefalteten Händen und fröhlich vor die Wartenden, entschuldigte sich, begrüßte Twigged, der die Sonne dafür auf den Boden legen musste, weil seine Nachbarn sich weigerten, sie anzufassen. Sie war aus Papier und bekam eine Delle, was Twigged nicht bemerkte oder bemerken wollte, er war sichtlich aufgeregt, Faraday zu berühren. Lange schüttelte Twigged Faradays zitternde Hand.

Dann begrüßte Faraday die Freunde John Tyndall, George Bidell Airy, Angela Georgina Burdett Coutts und Mary Fox ebenfalls mit Handschlag. Auf dem Rückweg entdeckte er auf der anderen Seite des Raums Isambard Kingdom Brunel, den Sohn vom Konstrukteur des Themsetunnels.

Brunel junior baute die schönsten Eisenbahnbrücken der Welt, um die Überwindung von Raum und Zeit restlos in Eleganz zu verwandeln. Kürzlich war er allerdings in den Schiffsbau gewechselt, vielleicht war ihm langweilig geworden.

Faraday ging auf ihn zu und begrüßte ihn herzlich. Anschließend begab er sich hinter den großen Tisch mit der Ausbuchtung und improvisierte eine gute Stunde lang. In einfachen Worten erklärte er, was er über den Stand der Wissenschaft dachte: Man brauche für die Wellentheorie keinen Äther. Twigged zuckte, sagte aber nichts, denn selbst er spürte, was alle anderen auch spürten: dass Faraday wusste, wovon er redete.

»Kraftlinien«, sagte er ohne jede Überheblichkeit und falsche Zurückhaltung, »genügen.«

Schließlich waren die Eisenspäne im Magnetfeld selbst zu kleinen Magneten geworden, die aufeinander wirkten, wenn sie sich in Linien legten. Sie zeigten so das Feld im Raum an. Und wenn eine elektrische Ladung sich auf- und abbewegte, so meinte er, ohne zu stutzen, zu schnell oder zu leise zu reden oder ein Äh zu benötigen, dann würde sich die dazugehörige Kraftlinie ebenfalls bewegen, wie ein Springseil, in das man mit der Hand eine Welle schlug, die dann am Seil entlangrollte. Oder wie die Wasseroberfläche in einer schmalen, langen Wanne, in die man an einem Ende einen Tropfen Wasser fallen ließe, dessen Welle dann die Länge der Wanne entlangliefe.

»So eine Welle«, erklärte er langsam, »benötigt eines, um sich im Raum fortzupflanzen: Zeit.« Und weil es ganz ruhig war im Raum, fügte er an: »Genau wie übrigens auch das Licht.«

Und was passiere, fragte er selbst ins Publikum, wenn die Welle am anderen Ende auf eine Ladung träfe?

»Dann bewegt sie diese Ladung. Wie ein Springseil sich am losen Ende bewegt, der Tropfen Wasser, der sich am anderen Ende des langen, schmalen Beckens befindet, sich hebt und wieder senkt.«

Diese Ladung konnte, zum Beispiel, auf dem Sehnerv sein: »Denn Nerven sind elektrisch.«

Woraus denn diese Linien oder Seile oder Saiten gemacht wären, wollte Airy wissen.

Natürlich wusste er das nicht.

»Die Linien selbst sind ganz abstrakt«, gab er zu. »Sie bilden Felder und stellen die Kräfte dar.«

Er wusste auch nicht, wie viel Zeit die Welle benötigte, und er wusste nicht, wie richtig das alles sei. Es handle sich nur um seine Vorstellung von der Welt.

Airy war ein freundlich aussehender Herr mit Nickelbrille, weißem Backenbart und von sich aus lächelndem Mund. Nachdem Faraday seine Ideen aufgeschrieben und veröffentlicht hatte, widerlegte Airy sie. Ihre Freundschaft störte das gar nicht, im Gegenteil.

Auguste de la Rive schrieb aus Genf, er sei froh, nicht mehr in Paris zu sein, wo sie am einen Ende der Stadt tanzten und wo am anderen Ende der Holzkarren durch die Straßen gezogen wurde, der die Toten der Cholera einsammelte.

Bei Newton fand Faraday eine Erklärung über Gravitation im Vakuum, die sich in seinem Sinne auslegen ließ. Es war nämlich gar nicht Newton, der die Fernwirkung erfunden hatte, sondern seine Jünger. Newton konnte sich auch nicht vorstellen, dass die Gravitation den Apfel durch ein Vakuum erreichte, ohne dass sie kommuniziert werden musste.

»Ja, ja«, sagten alle und dachten: Ja, ja.

Nur die Mathematiker lächelten freundlich und empfahlen ebenso freundlich, die Mathematik den Mathematikern zu überlassen: Ob das nicht ein ganz guter und gut gemeinter Rat sei? Still trauerte Faraday der in seinem Leben verpassten einen großen Liebe nach: der Mathematik. Was hätte er mit ihr jetzt alles anstellen können!

Im Keller suchte er weiter, nach dem Einfluss der Gravitation auf Licht, nach einem Beweis für die endliche Geschwindigkeit seiner geliebten elektromagnetischen Welle, und spürte doch nur die Zellen im Kopf, in denen er sich noch bewegen konnte, langsam und stetig kleiner werden. Wie aus der Ferne hörte er von einem Buch, das in Deutschland herausgekommen war und von Lichtbildarchiven im Universum erzählte und von Gottes Auge.

»Von wem?«, wollte Faraday wissen.

»Der Autor«, sagte Anderson, »hat ein Pseudonym gewählt.«

»Welches denn?«

»F. Y.«, sagte Anderson, »er sagt, die Zeit sei im Raum aufgehoben.«

»Hm«, machte Faraday.

Dann vergaß er es.

Oft war Brunel junior in der Zeitung. Er wollte das größte Schiff der Welt bauen, sein Great Babe: sechshundertneunzig Fuß lang, zweihundertelf Meter, mit zwei Dampfschaufeln rechts und links und einer Schraube am Heck für über zehn Knoten Tempo, welche die viertausend Passagiere nach Amerika oder jedenfalls weit weg bringen sollten.

»Gerne«, meinte der eine oder andere staunend, am Kai die schiere Größe abmessend, »auch Iren.«

Den zusätzlich zu den mechanischen Antrieben vorhandenen sechs Masten gab man die Namen Montag vom ersten Fockmast bis Samstag, dem letzten Besanmast. Niemand wusste, wie man ein solches Schiff zu Wasser ließ.

Aus Amerika sickerten Gerüchte, man habe ein Mittel zur Narkose gefunden. »Narkose?«, fragten viele Londoner entsetzt, weil sie das Wort noch nie gehört hatten und eine neue Munitionsart befürchteten, bevor sie hörten, es sei »zur Betäubung«. Das Mittel hieß Äther, was nur selten zu Verwechslungen führte. Lachgas hatte bei einem Zahnarzt in Amerika angeblich versagt, es führte sein Leben auf den Jahrmärkten der Welt.

John Snow, Sohn eines zu Eigentum gekommenen Bergarbeiters, ehemaliger Apothekerlehrling und jetzt Arzt, entwickelte rasch verbesserte Verfahren zur Dosierung des Äthers, die bei Operationen und Zahnärzten Anwendung fanden. Snow vermutete auch, die Wasserspülungen hingen mit der Cholera zusammen, aber genauso gut hätte er von Wellen mit oder ohne Äther reden können, ob nun als Betäubung oder als Träger des Lichts, von Linien, sozusagen schwingenden Fäden, die man nicht sah, die man nicht anfassen konnte, die nichts wogen, die aber doch alles zusammenhielten, was man sehen und anfassen konnte: die Erde, die Königin, London und den Mond. Einfach alles.

Faraday saß im Keller und hatte den Kopf aufgestützt. Er wusste nicht, wie spät es war, als die Tür aufflog, und hätte man ihn nach dem Jahr gefragt, er hätte überlegen müssen und warten, bis sich zufällig etwas regte in seinem Kopf. Er erschreckte sich jedenfalls zu Tode, wenn er sich nicht irrte.

Anderson stand vor ihm und schnappte schweißüberströmt nach Luft, als ob er von der Akademie in Woolwich herübergespurtet wäre. Begrenzt amüsiert fragte Faraday: »Was denn?«

»Ein Franzose«, gab Anderson zurück und holte ein Papier aus der quer über seiner Brust hängenden Tasche, um sich zwischen den Atemzügen zu wiederholen: »Ein Franzose.«

Das Jahr war 1850, so viel wusste Faraday plötzlich, eine zu glatte Zahl für Entscheidungen, fand er, als es angebrochen war: Man war gleichermaßen nicht bei 1800 wie nicht bei 1900. Er streckte die Hand aus, und Anderson reichte ihm die Arbeit.

»Hat die Lichtgeschwindigkeit in Wasser gemessen.«

Faraday hörte gut zu, während er den Namen Foucault las, Jean Bernard Léon Foucault, und nicht vermeiden konnte zu denken: Diese Franzosen immer mit ihren Vornamen.

Er sah Anderson erwartungsvoll an, der endlich etwas sagen sollte, zum Teufel. Er sollte nicht so großspurig tun.

Endlich sagte er: »Langsamer.«

Und als Faraday nichts entgegnete: »Ich hab es aus der Royal Society

Newtons Lichtteilchen war tot.

»Mehr bedeutet es nicht«, sagte sich Faraday am Abend am Fenster stehend und das Glas Sherry genießend, das seinem Drehwurm und der Konfusion die Absolution erteilte. »Es ist tot, aber wir werden nie fertig werden.«

2 Das Wunder

Alle, die es wissen mussten, meinten, die Cholera würde von den Dünsten übertragen, die man sich nicht erst kompliziert vorstellen musste, wie so vieles in letzter Zeit. Jeder Londoner atmete sie Tag und Nacht. Die Cholera schlief nur manchmal, und manchmal eben nicht. 1853 und im Jahr darauf zum Beispiel schlief sie nicht, ihr Appetit war vorzüglich. Zehntausend Opfer.

Als innerhalb von drei Tagen in der Broad Street, anderthalb Meilen von der Institution entfernt, hundertsiebenundzwanzig Menschen starben, davon der größte Teil innerhalb weniger Stunden, verfolgte John Snow den Weg des Trinkwassers. Er konzentrierte sich dabei vor allem auf einzelne Tote in anderen Vierteln. Bei der Verstorbenen Mrs. Eley in Hampstead konnte er nachweisen, dass sie sich Wasser aus dem Brunnen Broad Ecke Cambridge Street hatte bringen lassen. Das war Nostalgie, denn sie hatte früher dort gewohnt. Wegen der vielen Schlachthäuser, Kuhställe, Talgschmelzer und Hauthändler war sie nach dem Tod ihres Mannes weggezogen, wollte aber die Erinnerung an die gemeinsame Zeit nicht ganz aufgeben: Das Wasser aus ihrem alten Brunnen schmeckte ihr besonders gut.

Der Vikar von St Luke’s in der nahen Berwick Street, Reverend Henry Whitehead, wusste das noch nicht, als er selbstsicher meinte: »Es ist nicht das Trinkwasser.« Was denn, fragte man ihn ängstlich und bekam in äußerst klarer Aussprache zur Antwort: »Es ist die Intervention Gottes.«

Angesteckt und infrage gestellt vom Geist der Zeit machte sich Whitehead daran, dies zu beweisen. Sein Herrgott half ihm dabei und ließ ihn das Gerücht vom Brunnen aufschnappen. In Broad Street 40, fand der Pastor heraus, hatte eine Mutter das Waschwasser der Windeln ihres kranken Kindes dorthin geschüttet, wohin es gehörte: in die Sickergrube des Hauses. Das Kind war gestorben. Die Sickergrube lief nur bei starkem Regen über, und den gab es im Moment nicht. Aber sie befand sich auch nur drei Fuß vom fraglichen Brunnen entfernt, und wann sie gemauert worden war, wusste niemand. Schnell hatte man ausgemessen, dass der Brunnen das tiefere Loch war. Nach der genauen Sünde, die in dieser Tat der Mutter verborgen lag, noch suchend, erzählte Whitehead überall davon.

Dr. Snow fiel zur selben Zeit Folgendes auf: Unter den fünfhundert Bewohnern des Arbeitshauses, das um die Ecke in der Poland Street lag, gab es nur fünf Erkrankungen. Das Haus hatte seinen eigenen Brunnen. Mit bloßem Auge sah Snow im Wasser des einen Brunnens weiße Flocken, in dem des anderen nicht. Er brachte die Proben zum Mikroskopiker Dr. Arthur Hill Hassall, der zwar viel organisches Material in den Tropfen entdeckte, aber nichts Ungewöhnliches dabei fand.

Blieb nur die Statistik, die an der Unübersichtlichkeit der Wasserleitungen genauso krankte wie an der Unmöglichkeit, nachzuvollziehen, wer wo einen Schluck genommen hatte.

»Es ist das Miasma«, sagten alle, denn das klang besser als »Dünste« und ließ die Debatte wieder bei Null starten. Dr. Snow setzte beim Gesundheitsdirektorium nach. Schließlich durfte er den Brunnen probehalber schließen lassen, denn, ach Gott, wieso nicht? Beleidigt zog sich die Cholera zurück, was Reverend Henry Whitehead als »Wille des Herrn« verstand. Er ließ sich dafür am Sonntag persönlich feiern.

»Beten wir«, meinte er mit selbstsicher erhobenen Händen und selbstverständlich getragenem Ton, »dass unsere Sünden Vergebung erfahren und dass auch beim nächsten Mal wieder jene gestraft werden, die Gott dazu bestimmt hat.« Bei dieser Gelegenheit empfahl er den Bewohnern des Arbeitshauses, sie mögen doch öfters den Weg zu ihm finden, noch einmal würden, da sei er ganz sicher, gewiss nicht ausgerechnet sie verschont werden. Seine aufkommenden Zweifel an den eigenen Worten rang er nieder, indem er sich wieder und wieder sagte, dass es das Wichtigste sei, nicht an der Güte des Herrn zu zweifeln. Wie immer. Nur jetzt erst recht nicht. Bei dieser Cholera.

Ganz wurde der aus Ramsgate stammende Mann die Unsicherheit, die ihn beschlichen hatte, aber nicht mehr los. Er unterstützte Snow und sammelte weiter Fakten. Das Gesundheitsdirektorium war der Auffassung, die Cholera sei gestoppt worden, weil nur eine Woche nach Ausbruch drei Viertel aller Anwohner geflüchtet waren. Man glaubte an das Miasma.

»Mrs. Eley kann leicht durch vom Miasma verseuchtes Wasser, vom Miasma verseuchte Kleidung oder«, meinte man hochoffiziell, »durch das Drücken einer vom Miasma verseuchten Hand umgebracht worden sein.« Das Miasma war ja um die Broad Street herum besonders stark.

Schließlich ließ man in einer überdimensionalen Aktion alle Sickergruben schließen und alle offenen Rinnen und Kanäle spülen, damit sämtliche Abwässer der größten und großartigsten Stadt, der ersten Metropole der Welt, Heimstatt von mittlerweile wer wusste schon wie vielen Millionen, in die Themse flossen. Dankbar färbte der Fluss sich schwarz. Faraday protestierte aus seinem Drehschwindel heraus mit einem offenen Brief. Und als der Sommer 1858 kam, war es ein sehr warmer, kraftvoller Sommer, der die Farbe in die Luft steigen ließ. Wer atmete, musste kotzen, Todesangst hin oder her, und wer konnte, floh aufs Land. Wer nicht konnte, der blieb hinter seinen geschlossenen Fenstern sitzen und hielt die Luft so gut an, wie es möglich war und darüber hinaus. Den Rest der Zeit atmete man flach und wartete auf die ersten Symptome, von denen an man beten konnte und die Stunden gegen die verlorenen Pfunde aufrechnete. Dann erzählte man sich die Fälle aus der Nachbarschaft, die es trotz schlechter Zahlen überlebt hatten.

Im Unterhaus tränkte man die Vorhänge in Chlorid, hoffend, eine Sitzung abhalten zu können. Sir Joseph William Bazalgette, wie Brunel junior ein Held der Eisenbahn, hatte bis dahin einen sieben Jahre langen Kampf um Gelder für ein Kanalsystem geführt, das die Fäkalien an der Themse entlang und so weit hinunter gen Nordsee führen sollte, dass die Ebbe sie zweimal am Tag mitnehmen würde. Er bemerkte mit zugehaltener Nase, die Cholera verschlafe im Moment wohl das große Miasma. Er bekam das Geld binnen sieben Tagen und baute mit einigen Millionen Backsteinen die größten Kanäle, von denen man annehmen konnte, dass London sie brauchte: »Wir machen dies hier«, sagte er, »nur ein Mal.«

In den Sechzigerjahren wurde er damit fertig, und die letzten Cholerafälle traten auf, bevor man die letzten Lecks gefunden hatte, die es den Abwässern erlaubten, ins Frischwasser zu gelangen. Man filterte es nun in Sandfallen. Dann war nach der Angst vor dem Atmen auch mit der vor dem Trinken Schluss. Selbstsicher und mit dem Blick nach oben, wo er sich noch immer wohler fühlte als hier unten, predigte Whitehead: »Ein Wunder ist geschehen.« Das Geniale an ihm war: Er benannte das Wunder nicht weiter, und so behielt er mal wieder Recht.

Statt der Bakterien rasten die ersten Untergrundzüge in ebenfalls ausgehobenen, konisch gemauerten und wieder zugeschütteten Röhren durch die Stadt, oder musste man sagen: unter der Stadt hindurch?

Um darin eine Sünde zu erkennen, fehlte Whitehead die alte Forschheit. Er zögerte, bis es zu spät war.

3 Wege und Abwege

William Thompson hatte James Clerk Maxwell die gewünschte Liste zukommen lassen, und der Student hielt Faradays Einsichten und seine Intuition für so vollkommen und unerreichbar, wie ihn die mangelnde Ausarbeitung, Verallgemeinerung und Schlussfolgerung wunderte. Seine erste Arbeit über die Kraftlinien schrieb er 1857.

Faraday lebte noch. Er hatte seine Zeit im Keller, an verschiedenen Ortschaften der Küste und sehr viel im Bett zugebracht. Bei grundsätzlich frohem Ton nahmen seine Klagen ernsthafteren Charakter an. Gute Luft, stellte er fest, half nicht mehr gegen Drehschwindel und Vergesslichkeit. Seine Ärzte verordneten ihm, wie alle Ärzte aller Zeiten es gern taten, nichts als Ruhe, denn sie sahen nichts als Erschöpfung, obwohl völlig unbekannt war, dass man sich von bloßer Erschöpfung nicht erholen können sollte.

Erkenntnisse hielten sich nicht mehr von einem Tag zum anderen, täglich fing Faraday wieder von Neuem an. Notizen halfen nicht.

»Arbeiten und denken zu dürfen«, so verstand es Faraday, »dieses Privileg ist mir verboten worden.« Sie wollten ihn auch zum Wegzug aus London bewegen, was niemals infrage kam: Weg vom Laborgeruch! Freunde, Gedanken, Erlebnisse entglitten ihm. »Ramsgate?«, konnte er fragen, unsicher, in welchem Leben er dort gewesen war. Erst dann fiel es ihm wieder ein, oder er nahm zumindest an, den Ort zu kennen, wie man glaubt, eine Erinnerung aus der Kindheit zu haben, obwohl es doch nur eine an die oft wiederholte Erzählung der Eltern ist oder eine schnell selbstkonstruierte Fiktion. Nichts war mehr unterscheidbar.

Jede Arbeit, die er schrieb, hielt er für die letzte, und dankbar für die Gesundheit, die Kraft und das Glück, das er erlebt hatte, hoffte er doch auf die eine oder andere kleine oder vorübergehende Besserung. Er benannte, was ihn ausmachte: Konfusion, Dummheit, Scham.

Dr. Latham hatte gegen den entzündeten Hals und die Schwäche nichts Wirksames anzubieten. Von Briefen, ob er Adressat war oder Absender, wusste Faradays nichts, und im nächsten Moment begeisterte er sich für die atmosphärische Elektrizität, die Lambert-Adolphe-Jacques Quetelet in Belgien untersucht hatte. Besonders, dass der Kollege nur Fakten nannte, ohne eine Meinung zu äußern, machte ihn glücklich, denn Fakten seien für die Ewigkeit, Meinungen dagegen änderten sich wie Wolkenformationen am Himmel von London. Ob Quetelet übrigens die isolierende Wirkung eines metallenen Käfigs kenne?

Als ob er sich daran gewöhnen könnte wie an sein ewiges Zahnfleischbluten, lebte er seit Jahren mit Zahnschmerz. In einer Sitzung ließ er sich fünf Zähne auf einmal ziehen, wobei ein Stück vom Kiefer abgebrochen sein musste, denn es tat »sehr weh«. Er fror ständig. Erkältungen blieben wochenlang, ohne jede Besserung. Sein Kopf war »recht instabil«. Er hatte versucht, die Zähne noch durch die Vorlesungen halten zu können, aber jetzt war Artikulation nicht mehr leicht, und noch drei weitere Zähne mussten raus. Die Hände blieben nicht mehr still. Ein Freund vermutete irritierte Nerven im Genick. Wenn Faraday, als Junge noch Meister im Schnellreden, in normale Konversationen geriet, in denen Themen wechselten oder die Gesprächspartner, war das übermäßig anstrengend. Ihm wurde davon schwindlig, Konfusion breitete sich aus und erzeugte Unsicherheit.

Während der Aufenthalte an der See, wenn er allein war und nichts tat, vergaß er das und glaubte sich wieder gesund, aber nach jeder Rückkehr fing es sofort wieder an. Er nahm an Kongressen nicht mehr teil. Viel Zeit verbrachte er »depressiv im Bett«, unfähig auch nur zu einem inhaltslosen Gespräch mit Sarah: »Glaube nicht eine Sekunde«, schrieb er De la Rive nach Paris, »ich sei unglücklich.«

Kollegen hielten ihn für gesund, »angesichts seiner Publikationen«, die er selbst vergaß und vor jedem Vortrag lesen musste wie ein Fremder.

Sarah wurde ebenfalls krank, Rheumatismus oder mangelnde Energie in den Nerven, und worauf die wissenschaftliche Gemeinde in tausend Jahren nicht käme, leitete die Gemeinde der Sandemanier in diesem Moment ein: seinen zweiten Ausschluss. Die Auslegung eines Verses in den Korintherbriefen wurde ihm vorgeworfen. Sie stimme nicht, sagten genug seiner Glaubensbrüder, und der zweite Ausschluss war nach der Regel der letzte. Regeln der Sandemanier waren nicht zum Brechen da, so schrieb Sarah nachts flehende Briefe an Freunde in der Gemeinde. Hätte sie mit einem Ausgeschlossenen noch leben können, ohne selbst ausgeschlossen zu werden? Faraday schlief nicht, wollte kein Heuchler sein, flehte in eigenen Briefen und Treffen, legte seinen Stolz vor der Gemeinde ab, flehte hündisch und wurde verschont.

Er traf Lady Lovelace. Sie war durch Arbeiten zur Differenzmaschine von Babbage bekannt. Öffentliche Aufmerksamkeit hatte sie nie verloren, obwohl diese sie nur behinderte. Thema waren ihre vielen, angeblichen Affären und die Liebe zu Pferdewetten. Sie arbeitete, erzählte man sich, an der perfekten Wette.

»Wie immer machen Sie mit mir, was Sie wollen«, schrieb Faraday ihr. Er bedauerte, sie krank zu wissen, wünschte ihre Genesung, von der er ausging, während seine Defekte im Wachstum seien und nur mit dem Leben beendet würden. Als die Gräfin sechsunddreißigjährig starb, ohne je zu Bibliotheken zugelassen worden zu sein, hatte sie über Mathematik nur lesen können, was dank ihres Mannes in der Royal Society für sie abgeschrieben worden war.

James Clerk Maxwell hatte mehr Glück. Dem Jungen mit der komischen Kleidung, dem merkwürdigen Humor, der Angewohnheit, dritter Klasse zu reisen, weil die harten Bänke so angenehm seien, und der Neigung, nachts um zwei in den Gängen des Studentenheimes Dauerlauf zu trainieren, eilte der Ruf der totalen Unfähigkeit voraus, sich in physikalischen Dingen zu irren. Von den Experimentellen Erforschungen der Elektrizität war er mittlerweile – elektrisiert.

Maxwell hatte einen Sprachfehler. Er machte lange, irritierende Pausen, zwischen denen er redete, als sei in seinem Hirn die Instanz, die Inhalte vor dem Aussprechen überprüfte, kaputt. Um dies zu mildern, hatte er geübt, Teile seiner Sätze imaginativ auf Wände zu projizieren, von denen er sie dann langsamer ablas. Jetzt war es sein abwesender Blick, der jeden störte, bis man das gutmütige Wesen des Jungen kennengelernt hatte und ihn dann und wann freundlich ins Gespräch zurücklenkte. Briefe an seinen auf dem Gut Glenlair bei Edinburgh allein zurückgeblieben Vater zeichnete er gerne mit Jas Alex McMerkwell und adressierte sie an J. C. Maxwell, Postyknowswhere, Dumfries.

Den Schnitt im Bauch seiner Mutter hatte er nie gesehen. Er hatte aber das Gespräch des Arztes mit seinem Vater mitgehört, hatte die beiden sprechenden Gesichter gesehen, aus denen das Unheil hing. Tag und Nacht hatte er sie vor Augen. Er hatte die kraftvolle Stimme seiner Mutter vor der Operation Tag und Nacht im Ohr und ihre dünne, gebrochene Stimme danach auch Tag und Nacht. Er träumte von ihr. Sein Wunsch, diese Welt als harmonisches Ganzes zu sehen, war nicht zu befriedigen.

In Glenlair musste er als Kind herausfinden, welches Seil welche Klingel betätigte, und dann den Weg jedes Seils durch das verwinkelte Gebäude lückenlos nachverfolgen. Als Schüler in Edinburgh musste er die Konstruktion eines Würfels vom sechsseitigen über alle Stufen bis zu dem mit zwanzig Seiten nachvollziehen, in Cambridge musste er jede Diskussion über Religion und Wissenschaft bis zum vorläufigen Ende führen, egal wie spät es war und wie viele seiner Kommilitonen auf ihren Stühlen schon eingeschlafen waren. Kreise, Kurven und Geraden musste er im Geist so lange aufeinander abrollen, bis keine neue Figur mehr zu entdecken war. Manchmal kam am Ende wieder eine Gerade heraus.

Faraday war nicht sicher, ob er von Maxwells Farbtheorie schon gehört hatte.

Maxwell hatte als Kind einmal einen blauen Stein in der Hand gehalten und wissen wollen, wie das Blau zustande kam. Von Thomas Young stammte die These, dass im Auge drei Rezeptoren existierten, denn die Grundfarben der Künstler waren Rot, Blau und Gelb, und Maxwell baute zur Überprüfung einen Augenspiegel. Weil sich kaum jemand gern ins Auge schauen ließ, probierte er es bei Hunden aus. Tiere ließen ihn gern alles mit sich machen.

»Was er sah«, erklärte Anderson langsam, »war faszinierend, brachte ihn aber nicht weiter. Er hat dann farbige Lichtstrahlen gemischt und dasselbe mit Pigmenten getan, die Ergebnisse unterschieden sich.«

Es hieß, Maxwell habe eine schlüssige Farbtheorie aufgestellt, Pigmente seien subtraktiv, weil absorbierend, Lichtstrahlen additiv. Die Grundfarben waren nicht dieselben und zogen an Faraday vorbei wie eine Landschaft am Zug.

Als Anderson ihm die Arbeit über die Linien in den Keller hinunterbrachte, sah Faraday ihn fragend an.

»Das ist der Mann«, erklärte Anderson.

Welcher Mann?

»Der mit der Farbtheorie.«

Farbtheorie? Was für Farben?

Anderson gab ihm Zeit. Aber das half nicht.

Farben.

Und?

»Dessen Großonkel angeblich die Schlachtordnung von Trafalgar in einem Buch beschrieben hat.«

Faraday hatte nichts dergleichen je gehört.

»Eine Landratte«, sagte Anderson, der ihm das erst vor ein paar Tagen erzählt hatte: »lange vor Trafalgar.«

Faraday murrte.

»Nelson hatte das Buch dabei.«

Faraday murrte noch einmal, weil sich das lange nicht mehr aufgerufene Bild Nelsons herstellte, sein Abschied als kerngesunder, vor Kraft strotzender Mann, der jedem gesagt hatte, man sehe sich nicht mehr, und die Verachtung damit auf die Spitze getrieben hatte: was für ein schaler Triumph.

Die Arbeit brachte Faraday nach oben, in die Wohnung, wo er sie auf den Tisch legte, die Überschrift erneut las: »Zu den Faradayschen Kraftlinien.« Dann zog er die Vorhänge im Schlafzimmer zu und legte sich ins Bett. Er hatte keine Chance, etwas zu verstehen. Schlafen konnte er nicht, aber das Liegen im stillen Dunkel war schön.

Anderson kam nach einer Stunde und fragte, ob alles in Ordnung sei. Das war es: Nichts lag mehr in Faradays Hand. Nicht einmal gegen die Tischerücker war er angekommen. Je mehr er erklärte, welcher Unsinn es war, Elektrizität, Magnetismus, eine bislang nicht gekannte neue physikalische Kraft oder die Rotation der Erde dafür verantwortlich zu machen, dass Tische sich drehten oder gar vom Boden abhoben, wenn man die Hände auflegte oder nur darüberhielt, desto mehr wurde er zitiert. Zu viele hatten schwebende Tische gesehen, noch mehr mindestens sich drehende Tische. Die Sache war im Begriff gewesen, Pferdewetten den Rang abzulaufen.

Wieso dachte er ausgerechnet jetzt daran?

Man hatte ihn an die eigenen Berichte der Feldlinien des Zitteraales erinnert, an die Rotation des Drahtes um das unsichtbare Erdmagnetfeld und die Mutmaßung der Königin, es könne sich nur um Magnetismus oder Elektrizität handeln. Ob denn die Königin, Verzeihung, gar nichts davon verstehe?

Als die Erklärungen abgenützt waren, hatte man diabolische und übernatürliche Kräfte dazugenommen, und gegen den Humbug, wie ihn die Times bezeichnete, die gleichzeitig gern Anzeigen der Tischerücker druckte, sie nannten sich nun Mesmeristen, gab es kein Mittel. Es waren schließlich in der Tat diabolische und vor allem übernatürliche, überirdische oder außerirdische Kräfte, fand Faraday: »Ausgerechnet hier. Auf der Erde.«

Er hatte aber einen Versuch gemacht. Er hatte eine aufwendige Apparatur gebaut, die zeigte, ob der Tisch schob oder die Hände drückten: Es waren die Hände, die Fingerkuppen, die, taub nach langem Halten, Auflegen und perfekt senkrechtem Drücken, in die erwünschte Drehrichtung gedrückt hatten. Das Ergebnis war eindeutig.

»Offenbar«, hatte Faraday freundlich gesagt, »unbewusst.«

»Na eben«, sagten die Mesmeristen: »Das ist ja das Übernatürliche.«

»Ich bin müde«, hatte Faraday da gesagt und die nachsichtige Antwort bekommen, das sei ganz normal, wenn man mit den Außerirdischen kommuniziere.

Das hatte er nicht gewusst.

»Eine Form der Hypnose«, sagten die Mesmeristen und lächelten ihn freundlich an: »Auch wenn die flüssige Magnetkraft eine entscheidende Rolle spielt.« Die flüssige Magnetkraft war dem Einfluss nämlich auch unterworfen.

Dass Faraday mittlerweile schlecht hörte, es war jetzt kein Problem mehr. Er wandte sich von dem Spektakel, aus Wissenschaft wieder Mysterien zu machen, ab, bis die hartnäckige Behauptung auftauchte, er habe sein Experiment widerrufen. Faraday dementierte.

»Nur Bildung«, ließ er vom Bett aus wissen, »kann helfen.«

Er musste sich berichten lassen, die Kollegen von Reverend Whitehead hätten die Kraft endlich genauer und jeden Zweifel ausräumend bezeichnen können: Sie war satanischen Ursprungs. Ein Einfluss unnützer Personen. Beweis: Jede Erklärung sei immer nur zum Wohle des Erklärenden und diene seinen Interessen.

Wie kam er jetzt darauf?

Ach ja: Maxwell stellte sich die Feldlinien als flüssigkeitsgefüllte Röhren vor und bekam ein Gesetz heraus, das elektrische und magnetische Kräfte zwischen zwei Körpern quadratisch mit dem Abstand abnehmen ließ: Im doppelten Abstand betrug sie nur noch ein Viertel.

Für eine Theorie hielt Maxwell das zum Glück aber noch lange nicht: »Nicht mal für einen Schatten davon«, hatte er geschrieben. Der Mann war doch wirklich sympathisch. Der verstand was, und wäre Faraday nicht am Tage genau so müde gewesen wie nachts, er hätte vielleicht im Labor einen Beweis gefunden oder etwas anderes, was sie vorwärtsgebracht hätte. Er war der Natur aber, nahm er an, zu alt, denn sie wollte sich ihm nicht mehr zeigen. Und die Unfähigkeit, etwas zu sehen, ekelte ihn fast so sehr wie seine Unentschlossenheit. Er war froh, in einem Keller zu sitzen und nicht in einem Turm oder einem Hochhaus, wie man sie in Amerika jetzt baute. Er hatte Angst vor den Impulsen, die ihn überkamen und die zu kontrollieren oft genug alle Kraft erforderte. Wann würde sie nicht mehr ausreichen?

Man bot ihm die Präsidentschaft der Royal Society an. Er lehnte ab: »Am Ende«, meinte er, »muss ich doch immer der einfache Michael sein.«

4 Celeritas

Maxwell lebte in Aberdeen, als Charles Robert Darwin sich endlich traute zu sagen, was er vor zwanzig Jahren zwischen den Orgien seiner Seekrankheit auf der Beagle herausgefunden hatte. Es wurde bald verkürzt als seine Behauptung kolportiert, er und wir alle stammten von Affen ab, was bei Henry Whitehead neue Kopfschmerzen verursachte.

»Wie«, fragten die Londoner, »abstammen?«

»Wir sind eine Weiterentwicklung«, sagten die Informierten.

»Verbesserte Affen?«, fragten entsetzt die anderen.

»Leicht verbessert«, die grinsende Antwort: »Nicht sehr.«

Viele in Whiteheads Kapelle lächelten ebenfalls, statt lauthals gegen diesen Materialismus zu protestieren, wie es der Reverend von ihnen erwartete. Sie hatten das schließlich schon immer gewusst, dafür brauchten sie wirklich nicht seekrank um die Welt zu fahren, zwanzig Jahre zu grübeln und dann ein Buch zu schreiben. Sie hatten sich schließlich schon immer so benommen und fühlten sich nun frei, es weiter und bis in alle Ewigkeit so zu handhaben. »Wo«, sagte vor der Kapelle einer mit Zigarre und Daumen unter den Hosenträgern, »ist das Problem?«

Kurz darauf wurde Maxwell an das King’s College in London berufen. Seine große Liebe Lizzy hatte er nicht heiraten dürfen, sie war seine Cousine, und alle in der Familie befürchteten für die Kinder das Schlimmste. Seine Frau Katherine freute der Umzug nach London. Sie nahm ihr Pony, mit dem sie im Hyde Park und in den Kensington Gardens ausreiten würde, im Zug mit.

Niemand sagte: »So weit ist es jetzt schon.«

Keiner fragte: »Wie weit?«

Und niemand antwortete: »Dass Pferde Zug fahren.«

Faraday lebte noch immer, und endlich trafen sich die beiden Freunde der Linien. Sie tauschten mit dem Altersunterschied von über vierzig Jahren heftige Funken, Wellen und Augenblicke aus und dazu noch ein paar Meinungen, Ansichten und Ideen. Maxwell gab eine Freitagsvorlesung, in der er mittels dreier Filter das erste Farbfoto der Welt herstellte. Es zeigte ein Ordensband mit schottischen Karos.

Danach setzte sich James Clerk Maxwell zu Hause hin und baute aus Papier, vielen Bleistiften, grauen Zellen, Zucker, Tee, Fantasie, einiger Zeit und reichlich Zuversicht und Eigensinn sowie einer Wagenladung Intuition ein theoretisches Modell beweglicher elektrischer Ladungen und drehbarer magnetischer Räder. Um den von Faraday beobachteten Eigenschaften des Feldes näher zu kommen, um alles, was Ampère und Coulomb je gesehen und gemessen hatten, zu integrieren, erlaubte er bald hier und da elastische Effekte an den Rädern, dann Auslenkungen ihrer Achsen aus der Ruhelage. Er erlaubte Stöße. Zur Verfügung hatte er nur, was er kannte. Bald redete er in seinen Selbstgesprächen, die Katherine belustigten, nicht mehr von Dingen, die es in der Natur bislang schon gegeben hatte oder von denen er leicht hätte sagen können, wie man sie sich vorstellen sollte. Darum ging es nicht.

Er fuhr nach Glenlair in den Urlaub, ohne das Modell fertiggestellt zu haben, ohne Bücher, ohne Aufzeichnungen. Er wollte Urlaub machen. Er wollte die frische Luft genießen und seinem verstorbenen Vater nahe sein, den er lange nach den Vorgaben von Florence Nightingale gepflegt hatte. Doch ließ das Modell ihn nicht in Ruhe, und wieso sollte es das auch?

Papier und Bleistifte gab es reichlich auf Glenlair. Frühmorgens, dann auch spätnachts saß er, bis die elektromagnetischen Kräfte sich als transversale Wellen ausbreiteten. Alle ihm bekannten Effekte konnte er berechnen, dazu gehörte auch die Geschwindigkeit der Wellen. Die Formel, die er dafür erhalten hatte, war dem langen Weg der Herleitung zum Trotze denkbar einfach, und schon deshalb konnte er sich kaum vorstellen, dass sie falsch war. Lange sah er sie an. Er benötigte einige Messergebnisse über elektrostatische und elektrodynamische Größen und hatte auch eines nicht bei der Hand: die Lichtgeschwindigkeit. Diese Zahlen lagen in London.

Er ging angeln, reiten und wandern. Er reparierte das Haus, schlief mit Katherine, er rannte mit den Hunden bei starkem, vom Wind schiefem Regen über Wiesen. Er sprang über Bachläufe und baute einen Zaun, er gab Anweisungen und unterschrieb Schecks und rauchte Zigarren, trank Whiskey.

Dann fuhren James und Katherine nach London, wo er sich ohne Umweg an seinem Büro absetzen ließ, Katherine noch einmal küsste, den Portier grüßte, ohne es zu merken, und in sein Büro stürmte, wo er das Fenster öffnete, London ein Halleluja gönnte, die Schublade mit den Zahlen aufzog, den Bleistift spitzte, die Zahlen einsetzte, während er im Kopf die Dimensionen überprüfte, um keine Fehler zu machen, denn das passierte leicht, und man lag um tausend oder hunderttausend oder um einen Faktor zehn daneben. Wieso war das eigentlich so schwer, die Dimensionen richtig zu haben, wieso machte er immer da seine Fehler?

Nach dreifachem Prüfen erhielt er für die Geschwindigkeit der Fortpflanzung seiner elektromagnetischen Undulationen im Raum bis auf ein einzelnes Prozent genau jene Zahl, die Foucault, dieser alte französische Fuchs, nach der neuesten Methode als die Geschwindigkeit des Lichtes gemessen hatte: 310740 Kilometer. Pro Sekunde.

Das fand er wirklich schnell.

James Clerk Maxwell setzte sich erst jetzt und atmete aus, bevor er einen Zettel nahm, alles noch einmal durchging, obwohl es nicht falsch sein konnte, denn ein Fehler produziert nie Übereinstimmung. 310740 Kilometer pro Sekunde. Er sah auf das Porträt seiner Mutter, das auf dem Boden in einem Rahmen stand, in vielleicht zwanzig, zweiundzwanzig Grad Neigung zur Senkrechten. Es sollte bald aufgehängt werden. Er nahm einen zweiten Zettel, schrieb den Namen Faradays darauf und blieb, was sich für einen wie ihn gehörte: vorsichtig.

»Ob nun meine Theorie richtig ist oder nicht«, meinte er, »wir haben guten Grund anzunehmen, dass das elektromagnetische und das lichterzeugende Medium eins sind.«

Zwei Jahre später hatte Maxwell das Modell von magnetischen Rädern oder rotierenden, elastischen Zellen befreit. Nun waren die Wellen einfache Eigenschaften des Raumes und der Zeit, elektromagnetische. Sie zeigten an, was mit einer Ladung passierte, die sich, um nur ein Beispiel zu nennen, auf einem Sehnerv befinden konnte: Sie konnte von einer anderen Ladung, die weit entfernt war und sich bewegte, erregt werden, als sei ein Seil zwischen ihnen, auf dem eine Welle liefe, obwohl es nur eine Feldlinie war.

Der Sehnerv musste nicht einem Physiker gehören.

Maxwell zeigte Faraday, der immer noch lebte und auf Vorschlag von Prinz Albert und Königin Victoria mit Sarah zusammen ein Haus im Hampton Court Green bezogen hatte, die Formeln. Faraday hatte danach gefragt.

»Ach so«, sagte er und rieb sich das Kinn. Dann griff er sich in die schneeweißen Haare.

Maxwell strahlte: »Sie sind kohärent.«

»Ach so«, sagte Faraday und zog den Kopf ein, weil er nicht wusste, ob das etwas Gutes war. Zweimal stand da auch, wenn er das richtig sah, dass etwas gleich Null war.

Maxwell erklärte: »Im Vakuum.«

Sein Freund, Kollege und Bewunderer nickte ihm unsicher zu. Viele Jahre war es her, dass Faraday volle sechs Wochen im Keller experimentiert hatte, ohne Ergebnisse zu erzielen, um dann anhand seiner Aufzeichnungen festzustellen, dieselbe Messreihe im Frühjahr schon einmal gemacht zu haben. Auch ohne Ergebnis. Wie viele Jahre? Er wusste es nicht mehr. Er hatte am Casselli-Instrument gearbeitet, schöne Messreihe eigentlich, oder war es Gravitation gewesen, etwas mit Gravitation, das Laborbuch wusste von einem Pfund Quecksilber. Temperaturen. Ja, ja, Anderson. War er nicht gestorben? Maxwell kannte ihn ja nicht. Aber Anderson war doch gestorben, oder?

Sarah lächelte, brachte Tee.

Auf dem Tisch lag ein angefangener Brief, er vergaß geschriebene Satzteile, bevor er damit fertig war, und musste vor und zurück, er konnte Sätze nicht zu Ende konstruieren, was sie ungelenk machte, und schlimmer noch, unsinnig und blöd. Im Notizbuch stand seine Persönliche Erklärung:

I. Jahre des Glücks hier, aber Zeit aufzuhören. Gedächtnisverlust und Lebensdauer des Gehirns erzeugen Zögerlichkeit und Unsicherheit der Überzeugungen, die der Sprecher zu vertreten hat.

II. Unfähigkeit, den Geist auf die Schätze des Wissens zu stützen, über die er früher verfügte.

III. Düsterkeit und Vergesslichkeit der eigenen Standards bezüglich Recht, Würde und Selbstrespekt.

IV. Strenge Pflicht, anderen gerecht zu werden, aber Unfähigkeit dazu. Rückzug.

Die Erklärung war nicht von jetzt. War er das? »Ich beschwere mich nicht«, hatte er vor Kurzem krakelig geschrieben, »ich erkläre nur und habe tausend Gründe, zufrieden zu sein.« War das vor Kurzem gewesen? Was hieß das, vor Kurzem, und was der junge Maxwell da, wenn man das rechnen nennen konnte, ob das jemals von, wer sollte, diese Theorie war diese Theorie, wo ist er ...

Abbott? Welcher Abbott?

»Wellen?«, hörte er jemanden sagen.

Natürlich.

Er nahm den Brief vom Tisch und knüllte ihn zusammen, bevor das Papier ins Feuer flog. Dann blickte er zum Fenster, wegen der Frischluft. Das Fenster war zu. Was denn? Er hätte gerne seinen Bruder noch einmal gesehen, Wowert, immer meinte Sarah, er habe einen Unfall gehabt, 1846, er sei von der Kutsche gefallen, und sie hätten einen langen Weg vor sich, hörte er sich wie durch Milchglas sagen, das er abwischen wollte mit der Hand, aber es wurde nicht klarer, verdammt, Sarah, nein, er hatte doch dieses Schiffchen aus Papier, schwamm es nicht gerade, und, ich, ja, ich wünschte mich ausruhen zu dürfen. Wo war denn Sarah jetzt hin?

Zum Abschied umarmte ihn Maxwell.

»Der mit dem Bart?«

5 Das Schaltpult

Hermann Einstein erschien nicht zum Frühstück. Erst kurz bevor sich Albert und Pauline in der Küche hinsetzten, war Hermann vom Schwabinger Fest nach Hause gekommen. Albert war schon wach gewesen, er hatte mit angezogenen Beinen in der Kuhle in seinem Bett gelegen und hatte ihn gehört, weil er einen Stuhl umgestoßen hatte, ins Badezimmer gegangen war, wo er rülpste und sich länger aufgehalten hatte, als es üblich war. Für Zeitabläufe hatte Albert ein äußerst gutes Gefühl, obwohl er sie beim Bau von Kartenhäusern oder Lesen von Büchern ohne Weiteres vergessen konnte.

»Nun iss«, sagte Pauline.

Mit aufgestütztem Ellenbogen hatte Albert den Löffel auf Mundhöhe in der Luft gehalten und las in den Münchener Neuesten Nachrichten, die ein Laufbursche eben unten auf die Stufen geworfen hatte. Er hatte die Zeitung hochgeholt, jetzt lag sie neben ihm, die obere Hälfte der ersten Seite nach unten. Auf der unteren las Albert, dass ein Professor H. Herz aus Karlsruhe elektrodynamische Schwingungen, die in einem Kabel stattfanden, auch im Raum um das Kabel herum habe nachweisen können.

»Hast du auch Onkel Jakob nach Hause kommen hören?«, fragte Pauline irgendwann.

Die Schwingungen verhielten sich nicht anders als ganz gewöhnliche Lichtwellen. Es gab geradlinige Ausdehnung, Polarisation, Reflexion und Brechung.

»Nun iss«, wiederholte sich Pauline, die vor zwei Stunden Höchtl geweckt hatte, damit er wenigstens den Generator anstellte. Danach hatte sie sich wieder hingelegt und die Firma sich selbst überlassen.

Albert aß den Haferbrei, der dampfend vor ihm stand, um sich wenige Minuten später in Mantel und mit ordentlich gebundenem Schal zu verabschieden und zur Schule zu laufen oder besser zu hüpfen, wo er den ganzen Tag einen desinteressierten Eindruck machte und mehrfach ermahnt wurde.

Er lernte, dass seit 1870 der Papst immer Recht hatte.

»Aber dich betrifft das nicht«, hatte der Lehrer ihm zugewandt ergänzt, ein Satz, den Albert so langsam wie alles andere wand und drehte, um zu sehen, ob ein Sinn darin steckte. Dass er nicht gleich einen fand, bedeutete gar nichts. Er wusste auch nicht, ob der Lehrer das freundlich gemeint hatte oder unfreundlich. Er wusste nur, dass, hätte es ihn betroffen, er widersprochen hätte. Deshalb hatte der Lehrer wohl gleich gesagt, es betreffe ihn nicht. So einer war er, aber interessanter war sowieso das Kabel und wie die Schwingungen aus ihm herauskamen, die wie Licht waren, nur unsichtbar.

Zehn Jahre später in Aarau hatte er sich, unsportlich wie er war, durch die Formeln von Maxwell geturnt. Mit ein wenig Übung war das sehr viel leichter, als es im ersten Moment aussah. Es gab Quellen und die Änderungen der Feldstärke mit den Raumrichtungen oder der Zeit. Längst wusste er auch, dass Hertz sich mit t schrieb, zum Glück. Das war männlicher. Als Heinrich Hertz hatte Albert den Namen sofort wiedererkannt, als er kurz vor der Flucht aus München von ihm hörte. Heinrich Hertz war ein handfester Name, fand Albert, und, was selten war, je länger man ihn vor sich hindachte, desto handfester wurde er. Heinrich Hertz war sechsunddreißigjährig gestorben. Laut seinem Lehrer Hermann von Helmholtz hatte Heinrich Hertz sich durch seine Entdeckung bleibenden Ruhm in der Wissenschaft gesichert: »Ihm selbst ist es dabei nur um die Wahrheit zu tun gewesen, die er mit äußerstem Ernst und mit aller Anstrengung verfolgte«, hatte Helmholtz gesagt, »nie machte sich die geringste Spur von Ruhmessucht oder persönlichem Interesse bei Heinrich Hertz geltend.«

Heinrich Hertz hatte einen Draht zum Kreis gebogen, mit einem kleinen Spalt an einer Stelle, und Strompulse darauf geleitet, die am Spalt einen Funken erzeugten. Er hatte ihn Rundfunk genannt. Ein zweiter, in einigem Abstand aufgestellter gleichartiger Kreis erzeugte dann ebenfalls Funken, im selben Moment, ohne selbst einen Strompuls zu benötigen. Das war so, als telepathierten sie miteinander. Anders konnte man das nicht bezeichnen. Der Abstand spielte quasi keine Rolle, exakt genau so, wie die Theorie vom längst mit achtundvierzig Jahren verstorbenen Maxwell es vorgab.

Einstein schrieb in sein Aarauer Tagebuch, die Verschmelzung der Optik mit der Elektrodynamik sei eine Offenbarung.

Aus einer Zeitschrift hatte er ein Foto von Michael Faraday geschnitten, es hing nun an der Wand, rechts neben dem Fenster. Der Mann mit dem Backenbart und den müden Augen – nein, es waren nicht die Augen, sondern das Gesicht, das Müdigkeit ausstrahlte, die Augen waren hellwach –, dieser Mann hatte die Motoren erfunden und die Generatoren, seine Induktion war der Witz des Telegraphen, in dessen Kabel Siemens laut Alberts Vater die Welt gewickelt hatte, und das Licht hatte Faraday als Erster in seinem Wesen erkannt. Alles, was in Albert Einsteins Leben war, hatte Faraday berührt. Das große Transatlantikkabel hatte auch nicht Siemens, sondern die Atlantic Telegraph Construction Company mit der Great Eastern gelegt, dem größten Schiff der Welt, einem Riesen, gebaut von Isambard Kingdom Brunel: Ein Freund Faradays. Brunel hatte sie bis zur Jungfernfahrt die Great Babe genannt, was genauso belächelt worden war wie alles andere an dem Schiff. Die Jungfernfahrt selbst hatte Brunel nicht mehr erlebt, zum Glück vielleicht, denn die Great Eastern rechnete sich nie, wie Albert las. Sie war ein Geldgrab.

Als das Schiff nach ein paar Ozeanüberquerungen mit sehr wenigen Passagieren und vielen Unfällen für ein Zwanzigstel seiner Kosten den Besitzer wechselte und zu einem Kabelleger umgebaut wurde, lebte Faraday noch. Kein anderes Schiff hätte das gesamte Kabel aufnehmen können. Für die Verladung brauchten sie Monate, las Einstein in einem Fachblatt für Ingenieure.

Faraday hatte das nicht mehr wahrgenommen. Er saß meist in seinem Sessel mit Blick nach Westen über den Hampton Court Green und sah bewegungslos hinaus. Wer sich noch im Zimmer befand, vergaß er, kaum dass derjenige aus seinem Blickfeld trat. Schlafen und Wachen unterschieden sich nicht voneinander. Das langsame Zergehen der Kraft und des Lebens genoss er nun, denn wenn es einmal besser ging, dann so wenig, dass er es gar nicht mehr wünschte. Er begrüße das angesichts des Sterbens, das um ihn herum stattfand. An Schönbein, den engsten Freund, hatte er geschrieben: »Ob es noch mal besser wird – die Konfusion – weiß nicht. Ich werde nicht mehr schreiben. My love to you, Faraday.«

Schönbein schrieb nicht mehr zurück.

Einmal kam der Chemiker Henry Roscoe vorbei und fragte nach den Goldfolien, mit denen Faraday Lichtexperimente gemacht hatte. Sarah wollte helfen, indem sie ihn fragte, ob er sich nicht erinnerte an die schönen Experimente.

»Ja«, sagte er glücklich und mit zitternder Stimme, »Gold.«

Und nach einer langen Pause, in der das Zittern auf Roscoe übersprang, glücklich wie ein Kleinkind: »Gold, Gold.«

Wie seine Gedanken benahmen sich auch Hände, Arme und Beine, alles an ihm zitterte und wackelte, Muskeln und Organe waren mit so wenig Energie versorgt, dass reines Sitzen das Beste war, was er tun konnte, bis der Herrgott, der sich in letzter Zeit fast nur noch in der Zukunft aufhielt, an seinem riesigen Schaltpult ein flackerndes Licht entdeckte. Die Diode, an der Michael Faraday stand, kannte er gut. Sie flackerte schon sehr, sehr lange, denn der Herrgott hatte die mit einem Steckkontakt befestigte Diode, weil sie ihm zu hell war, schon vor Jahrzehnten mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig gelockert und ein klein wenig herausgezogen. Er hatte aufgepasst, dass er sie nicht aus Versehen ganz herauszog, wie es ihm zum Beispiel bei Humphry Davy nach ein, zwei Funkenschlägen unterlaufen war, und hatte sie dann locker stecken gelassen.

Sie hatte auch nach dem Eingriff meistens sauber geleuchtet, immer noch heller als andere, und sehr wenig geflackert. Nun leuchtete sie kaum noch, nur ab und zu blinkte sie noch einmal sichtbar auf. Nicht auszuschließen, dass noch ein dünner Ruhestrom ein durchgängiges Glimmen erzeugte, das konnte er in dem dauernd wachsenden Lichtermeer der fünf Millionen Dioden allein für London nicht beurteilen. Wahrscheinlich war der lockere Kontakt langsam oxidiert. An einem der Beinchen der Diode sah er einen weißen, pudrigen Besatz, das sah schon korrodiert aus. Erstaunlich, dachte er, wie sehr der Strom doch von sich aus dadurch wollte, damit das kleine Lämpchen weiterbrannte. Der Herrgott lächelte. Mit dem Daumen konnte er auf das Lichtlein drücken, die dünne Oxidschicht wäre abgerieben worden, der Kontakt hätte wieder volle Spannung bekommen, und das Licht hätte geleuchtet wie am ersten Tag. Aber was soll’s, dachte er, als er die Diode mit Daumen und Zeigefinger herauszog und zu den anderen in den Eimer warf, der neben dem Schaltpult stand, wodurch hinter Faradays Augen das letzte Licht erlosch. Alle Ströme, auch die in den Windungen der Nerven selbstinduzierten Restströme verebbten in zwei, drei, vielleicht vier schwächer werdenden Regungen wie die Wellen eines vorbeigefahrenen leichten Bootes am Strand von Ramsgate. Sein Kopf fiel auf die Seite, die linke Hand rutschte am Sessel hinab, die rechte ließ im Schoß das Buch los, das sie eben noch unwissend gehalten hatte. Die letzten lebendigen Bilder von ihm waren schon eine Million Kilometer entfernt.

Der Herrgott ließ seinen Blick weiter über das Schaltpult wandern, prüfend, ob es noch etwas zu reparieren gab. Sarah, die neben Faraday so auf einem Stuhl gesessen hatte, dass er sie sehen konnte, seufzte. Sie schloss ihm die Augen, setzte ihn gerade, legte seine Hände, die sie so gut kannte, ineinander und nahm das Buch an sich. Sie stand auf, um sich einen Tee aufzusetzen und sich ein Tuch auf die Augen zu drücken.

»Fleiß und Gewissenhaftigkeit, der aufrichtige Wunsch nach einem Leben in Gottesfurcht, höchste Befriedigung durch bewiesene Wahrheit, Demut, Bescheidenheit, Geduld und der hohe Wert bestimmten und zuverlässigen Wissens«, sagte Reverend Samuel Martins, Gemeindepfarrer von Westminster, später, »waren die sieben leuchtenden Punkte in Faradays Charakter.«

Er blickte anschließend sehr wohlmeinend in Sarahs Augen, die sich bedankte. Sie würde sich ihren verbliebenen Sandemaniern zuwenden. Viele waren es nicht mehr. Sie hatten kaum Zulauf und sich im Streit über die richtige Art der Schlachtung gespalten.

Als Sarah aus der Kirche in den Londoner Smog trat, brüllten Zeitungsjungen ihr entgegen, was auf den hochgehaltenen Seiten in fetten Lettern nicht zu übersehen war: »Eine Vierzigstelsekunde! Eine Vierzigstelsekunde!« Das war die Zeit, die ein Signal durch das nach einigen Anläufen von der Great Eastern endlich erfolgreich verlegte Kabel jetzt von London nach New York brauchte.

6 William Kemmler

Sarah lebte, bis Albert Einstein geboren wurde, und wie sie die Vierzigstelsekunde gemessen hatten, fragte der sich sofort, als er davon hörte.

Er war noch in München, und die Messung konnte unmöglich einfach gewesen sein. Ein Signal raste durch die Zeitzonen einer sich während der Hinreise weiter mit dem Signal drehenden Erde, die sich während der Rückreise des Signals entgegen der Richtung des Signals bewegte. Wenn das keine Rolle spielte, wollte er einmal herausfinden, wieso nicht. Aber man sollte überhaupt alle relativen Geschwindigkeiten sorgfältig beachten, damit man nirgends Fehler macht, dachte er. Wenn man auf die Uhr sah, spielte es doch eine Rolle, woher das Licht kam. Alles drehte sich und flog oder ruhte, Erde, Äther, Sonne, auch die Milchstraße bewegte sich womöglich, oder war die wenigstens festgemacht irgendwo?

Die Zeit, die der Lichtstrahl von der Uhr bis ins Auge benötigte, musste ja davon abhängen, mit welcher relativen Geschwindigkeit er zuvor auf die Uhr getroffen war. Wie bei den Ballspielen, die alle anderen in der Klasse so abgöttisch liebten und die er zu beobachten viel spannender fand, jeder Ball nach einem Aufprall davon abhing, woher er vor dem Aufprall wie schnell gekommen war. Wenn man eine Vierzigstelsekunde messen wollte, spielte davon sicher etwas eine Rolle, und man sollte, fand er, erst einmal Ordnung in dieses Chaos von Bewegungen bringen, bevor man einfach von einer Vierzigstelsekunde sprach, die man willkürlich an den Hügel in Greenwich genagelt hatte, auf dem sich Sonntags die Verliebten trafen, wie die Zeitung schrieb.

Die von den beiden englischen Journalisten beim gemeinsamen Frieren vor der Versuchsstation erwähnten Probleme mit der Geschwindigkeit des Lichtes kannte er noch nicht: Den Äther hatten zwei Amerikaner widerlegt, es gab keinen Äther. Dafür hatte man die Vermutung, Licht sei doch noch eigenartiger, als man annahm, denn es verdichteten sich die Hinweise, dass es immer gleich schnell war, egal wie man sich zur Lichtquelle bewegte. Arago hatte das als Erster gemessen, aber nicht verstanden, und Albert sollte später als Erster annehmen, dass, da die Geschwindigkeit nicht war, was alle dachten, Raum und Zeit es noch viel weniger waren.

Aber auch die Zivilisation war es noch nicht. Von ihr hörte Albert im Zusammenhang mit dem elektrischen Stuhl. Er wurde wie angekündigt gebaut.

»Sie mussten gebrauchte Generatoren nehmen«, erzählte Jakob beim Abendessen, »weil Westinghouse ihnen keine verkaufen wollte dafür. Und die haben sie in Brasilien gefunden. Sie haben allen gesagt, dass sie von Westinghouse sind, Wechselstromgeneratoren von Westinghouse nach Teslas Patent.«

Westinghouse hatte dann einen Anwalt angeheuert, den besten, den er kriegen konnte, den teuersten. Sie zogen vor den Supreme Court, weil die Verfassung grausame Bestrafung verbot. Zweimal unterlagen sie. Die Wissenschaft habe, so meinten die Richter, viel in die Forschung investiert und gezeigt, dass es eine saubere Art sei zu töten.

»Die Generatoren«, ließ auch Edison überall wissen, »sind in dieser Hinsicht sicher, sie sind ja von Westinghouse.«

Und so pilgerten Hunderte Menschen zum New Yorker Staatsgefängnis in Auburn, um enttäuscht festzustellen, dass die Exekution in einem geschlossenen Raum stattfand, zu dem nur fünfundzwanzig geladene Gäste Einlass erhielten. Der Konstrukteur Fred Leuchter hatte ausgerechnet, dass fünf Ampere, die mittlerweile gültige Einheit für Stromstärke, bei zweitausendsechshundertvierzig Volt, der Einheit für Spannung, die richtige Leistung war, um William Kemmler, einen eifersuchtskranken Alkoholiker aus Buffalo, elektrisch zu töten. Kemmler war eines Tages bei seinem Nachbarn erschienen und hatte mitgeteilt, seine Freundin Tilly gerade erschlagen zu haben und den Strick zu erwarten.

Zweitausendsechshundertvierzig waren genau richtig. Bei höherer Leistung würde es schneller gehen. Aber Kemmler würde vor den Augen der Zeugen zu Asche verbrennen. Weniger wäre zu langsam.

Der Generator brummte im Nebenraum, als alle Platz genommen hatten, auch Kemmler, dem ein Metallband um den Kopf gelegt wurde. Der Henker befestigte eine Elektrode an der Wirbelsäule. Aufgeregt befeuchtete er beide Kontakte mit einer Salzlösung, wurde von Kemmler zur Gelassenheit gemahnt, ging in den Nachbarraum und legte den Schalter um.

William Kemmlers festgeschnallter Körper wand sich in Krämpfen, er wurde knallrot, und als nach siebzehn Sekunden der Strom abgestellt wurde, sagte Albert Southwick, einer der Verfechter der Exekution, man habe nach zehn Jahren Forschung eine höhere Stufe der Zivilisation erreicht. Kemmler hing vornüber, so weit es die Lederriemen erlaubten. In die Stille hinein hörten erst die Zeugen in den vorderen Reihen, dann auch die im Rückraum sein Atmen und Röcheln, in das sich die Muckser und binnen weniger Sekunden die Schreie der Anwesenden mischten.

Kemmler hob den qualmenden Kopf und sah eine Frau in der ersten Reihe mit einem Auge an. Das andere war verschmort, gelbliche Flüssigkeit lief heraus und tropfte vom Kinn auf den Anzug.

Southwick rannte in den Nebenraum und kam nicht wieder. Der Henker sollte den Strom erneut einschalten, aber der Generator war abgestellt. Während aus den Hosenbeinen von Kemmlers Anzug Urin, Blut, Wasser und flüssiger Kot liefen und eine schlierige Lache auf dem Steinboden bildeten, fiel erst ein Mann in der letzten Reihe, dann einer weiter vorne in Ohnmacht. Mehrere Anwesende erbrachen sich. Die meisten anderen rannten hinaus, während der Generator endlich aufheulte. Sie mussten warten, bis genug Spannung aufgebaut war. Der Delinquent röchelte, hatte das intakte Auge aber geschlossen.

Nach dem Ablauf einer Minute konnte Kemmler mit Strom versorgt werden, der ihn aufrichtete wie ein Ausrufezeichen und sein Röcheln in einen nie gehörten und von den Anwesenden nicht zu vergessenden Laut übergehen ließ, bevor er, stinkenden Qualm absondernd, tot zusammensackte.

Es war eine Frau, die ihrer Empörung Ausdruck verlieh und der Meinung war, dass Töten ohne Töten nicht möglich sei, aber noch verstand man sie nicht. Edison fragte keiner mehr nach seiner Meinung. Albert überlegte, ob er mehr an Gott zweifeln sollte oder an seinen Artgenossen, und ob Affen so etwas auch machten, wären sie intelligent genug.

»Sie haben es vermasselt«, meinte Jakob, aber weder er noch Hermann überdachten ihre Einstellung zum Wechselstrom, denn »damit hatte es ja eh nichts zu tun«.

7 Das Ende der Physik

Bis Einstein Deutschland verließ und auch die Rauchpilze, die er vom Blitz des Fotografen kannte, als seine überdimensionierten, wahr gewordenen Alpträume über Japan fotografiert wiedersehen sollte, weil seine Artgenossen nichts Besseres wussten, als dass die Welt für ihre Widersprüche zu klein war, dauerte es noch. In Aarau ahnte er davon nichts, als er durch Maxwells Theorie turnte.

Er war abgelenkt von dem Geräusch hoher Schuhe auf dem Gehweg vor dem Haus. Eigenartigerweise kamen sie weder näher, noch entfernten sie sich. Er hörte genau hin. Sie hatten keine Richtung. Eine Minute ging das mindestens so: Tack-Tack-Tack-Tack-Tack-Tack-Tack-Tack.

Dass sich Schallwellen so benehmen können wie Geschosse, dachte er, von jedem einzelnen getroffen: Merkwürdig.

Er klappte das Heft zu, dem er die Offenbarung anvertraut hatte, schloss es im Schreibtisch weg, knipste das Licht aus und begab sich in die Küche, wo es nach Kartoffelpüree roch und er Marie Winteler, die dafür sehr empfänglich war, Augen machen konnte. Immer häufiger musste er an den nächsten Sündenfall denken, immer öfter von ihm sprechen, wenn er mit seinen Freunden zusammen war. Als habe er keine Kontrolle über sich.

Bald verließ er das Haus, um in Zürich zu studieren, Physik, und gegen den Willen der Eltern, die ihn gern in der Firma gesehen hätten. Nach einer zweiten Pleite starteten sie gerade den dritten Versuch. Albert Einstein hatte aber im kleinen Finger mehr Eigensinn als seine beiden Eltern zusammen. Deshalb störte ihn auch ein anderer gut gemeinter Rat nicht: »Die Physik«, wurde ihm überall begeistert gesagt, »ist mit Maxwells Theorie der elektromagnetischen Wellen zu Ende. Schöner geht es nicht. Da kommt sicher nichts Neues mehr.«

Er tat es dennoch, denn das Studium der Natur war besser als die ewig wechselnden Wünsche des täglichen Lebens. Er beendete das Studium, brach zwei Doktorarbeiten ab, war arbeitslos, zog nach Bern, wo er Privatgelehrter war und Patentbeamter dritter Klasse. Sein Vater Hermann Einstein erlaubte nach endlosen Querelen auf seinem Sterbebett die Heirat mit der Serbin Mileva Maric´.

Bei einem Freund sah Einstein ein versehentlich nur sehr kurz belichtetes Foto der Berner Berge, das ihn beschäftigte: Es zeigte nicht etwa das ganze Bild sehr blass und schwach, sondern nur einzelne Punkte. Eine Kontur gab es nicht. Er probierte es mit einem Fotoapparat und dem Fotolabor seines Freundes Michele Besso selbst aus und fand, dass die Berge erst bei längerer Belichtungszeit auf dem Foto entstanden, nicht aus einem blassen Bild, das kräftiger wurde, sondern wie bei einem Mosaik, das nach und nach die Punkte zum Bild der Berge sammelte, in vollkommen zufälliger Reihenfolge.

Mit den verehrten Wellen war das nicht zu erklären, und weil ihm außer dem Denken nichts heilig war und sein Gemüt schlicht, musste er plötzlich an ein Lichtteilchen denken, das wie ein Geschoss den Film oder das Fotopapier traf. Und weil es so plötzlich passiert war, ging er danach sehr lange spazieren und dachte, dass wir doch wieder nur die Hälfte von allem gewusst hätten. Das amüsierte den lieben Gott sehr: »Die Hälfte!«

Einstein irritierte das nicht. Er schrieb eine Arbeit über das Lichtteilchen und das Fotopapier und sandte sie an Herrn Professor Max Planck nach Berlin, der die Annalen der Physik herausgab und die Arbeit druckte, weil er sie und den Einstein interessant fand. Planck hatte selbst in der Theorie der Wärmestrahlung so etwas Ähnliches wie ein Teilchen benötigt, obwohl es ihm gar nicht gefiel.

Einstein zog durch Länder und Städte und hielt Vorträge über das Lichtteilchen, für das es, da die Zeit immer nur in eine Richtung ging, immer mehr Indizien gab. Fündig wurde er bei Heinrich Hertz, der seinen eigenen Fotoeffekt entdeckt hatte. Einstein erntete Grinsen und manchmal Gelächter von denen, die es schon lange besser wussten. Professor Planck schlug ihn dennoch zur Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften vor. Er entschuldigte den Kandidaten, manchmal schieße der übers Ziel hinaus. Das habe man ja beim Postulat des Lichtquants gesehen.

Einstein wusste von der Entschuldigung nichts und zog weiter über Land und durch Städte, Salzburg, Prag, Brüssel, und sagte auch sonst immer seine Meinung, bis ihm die Schwedische Akademie einen Preis verlieh für das Teilchen, aus dem das Licht zweifellos gemacht war. Da hatte er mit Mileva schon einen Vertrag abgeschlossen, einen Scheidungsvertrag, und das Preisgeld war ihrs.

Einstein heiratete seine geschiedene Cousine Elsa Löwenthal, geborene Einstein, und ging weiter auf Sündenjagd. Auch deshalb reiste Gott mit seinem Auge am liebsten zu der Stelle zurück, wo Einstein noch gedacht hatte, wir wüssten schon die Hälfte, und lachte immer, allein wie er war, in sein Universum hinein. Wie das aber so ist mit dem Betrachten eines Bildes, je genauer man hinsieht, desto mehr löst es sich auf. So war es auch hier. Und weil alle Lust Ewigkeit will, fuhr Gott mit seinem Auge immer langsamer daran entlang, um immer mehr Einzelheiten auflösen zu können. Bis er eines Tages erkannte, dass Einstein bei dem Gedanken, doch erst die Hälfte gewusst zu haben, ein sehr feines Lächeln zeigte, das Gott entsetzte.