II
Strom und Leben
1 Frankenstein
»Meine sehr liebe Mutter«, begann Faraday am 16. April 1815 in zügiger Handschrift, »mit nicht kleiner Freude schreibe ich dir meinen letzten Brief aus einem fremden Land, und ich hoffe, du hörst mit gleicher Freude, dass ich nur drei Tage von England entfernt bin.«
Englischen Boden würde er betreten, noch bevor sie den Brief zu lesen bekäme. Noch musste er zwar vorsichtig sein, er glaubte es selbst nicht wirklich, bis er das Schiff bestieg, denn so schnell sich die Reisepläne zuletzt geändert hatten, so schnell konnten sie es wieder tun. »Ich weiß nicht einmal genau«, schrieb er für diesen Fall nach Hause, »weshalb wir so plötzlich heimkehren, dennoch bin ich froh, morgen nach Ostende zu fahren, um ein Boot nach Deal zu nehmen und dann, da sei ganz sicher, nicht kriechend in die Weymouth Street zu kommen, um folgen zu lassen, was ich mir tausendmal ausgemalt habe, oder, um genau zu sein, erfolglos versucht habe, mir auszumalen: wie es ist, dich wiederzusehen.« Es war der »kürzeste und süßeste Brief«, den er ihr je geschrieben hatte.
Mehr als sie hielt, hatte er sich von der Reise versprochen. Schon im November, als er noch von mehreren bevorstehenden Reisejahren ausging, hatte er Abbott aus Rom wissen lassen, dass es wohl töricht gewesen sei, jene zu verlassen, die er liebte und die auch ihn liebten, für diese Zeit, die zwar unbestimmt war, aber doch lang. Und sich jederzeit in die Ewigkeit ausdehnen konnte. »Und was sind schon«, beschwerte er sich, »die prahlerischen Gründe dieser Reise gewesen?«
Wissen natürlich.
»Aber welches Wissen? Wissen der Welt, der Menschen, der Lebensarten, der Bücher und Sprachen. Alles Dinge, die an sich nicht zu überschätzen sind und mir doch nur jeden Tag zeigen, dass sie nur für die niedrigsten Absichten verwendet werden. Wie degradierend ist es, zu lernen, und dann doch nur auf einer Stufe zu stehen mit Schurken und Halunken? Wie abstoßend, zu verstehen, dass nur Schliche und Täuschung um einen herum sind?«
Die Kenntnis der Welt, meinte er, öffne einem nur die Augen für die Korruptheit und dafür, wie gemein die Leidenschaften der Menschen seien. Er fühlte sich nicht weiser als zuvor, im Gegenteil. Ernüchtert war er, und das tägliche Gerenne zum Postamt, auf dem monatelang kein Brief auf ihn wartete, brachte ihn um den Verstand. Vierzig Tage brauchte jede Post, ob frankiert bis Florenz oder Calais. Er hoffte, dass seine Briefe ihre Ziele erreichten. Die Chancen stiegen seines Wissens nach, wenn ein Teil des Portos vom Empfänger beglichen wurde, was Abbott, so fügte er gleich hinzu, hoffentlich nichts ausmachte. Die Schulden hatte er immer gehofft, bald tilgen zu können.
Jetzt dachte er über die Überquerung des Kanals hinaus nur noch bis zur Ankunft. Undeutlich stellte er sich vor, wieder Buchbinder zu sein, und fand das so gut oder schlecht wie alles beliebige andere, das sich ihm bieten würde. Er war sich ja keineswegs sicher, die frühere Stelle in der Institution wieder zu bekommen. Er wusste auch nicht, ob er sich darum bemühen sollte.
Jeder sah seinem Mantel an, welche Mengen an Wind, Regen und Sonne er hinter sich hatte, Faradays Gesicht war gebräunt wie nie zuvor und nie wieder danach. So fiel er seiner Mutter in die Arme, die bloß »mein Michael« sagte und ihn lange festhielt. Er sagte gar nichts, einfach, weil er lange keine Luft bekam.
Nachdem dann am Küchentisch alles erzählt war, was er zu greifen bekam, nachdem er ein paar Tage später alles auch mit Abbott besprochen hatte, machte ihm die Institution das Angebot, in seine Position und die beiden Zimmer unterm Dach zurückzukehren.
»Soll ich annehmen?«, fragte er die Mutter, die nicht extra antworten musste, sondern ihm nur einen entschiedenen, liebevollen Blick zurückgab. Wie »im Krieg« gab Faraday sich gar im Streit um die Räume, die besetzt waren und erst geräumt werden mussten.
Da saß er also nach anderthalb Jahren frischer Luft wieder in der Albemarle Street. Auf der Reise war er schon »bei exzellenter Gesundheit« gewesen. So gut wie nie zuvor war sie, und nie wieder in seinem Leben würde sie so sein. Mit weniger Illusionen als das erste Mal saß er da, mit der Ansicht, dass man über negative Dinge mit etwas Abstand milder urteilt als im Moment der Erfahrung, mit der Überzeugung, dass Menschen einen Weg nur gehen, wenn er mit Blumen bestreut ist. Er hatte die Gewissheit, dass die Möglichkeiten, im Leben etwas auszurichten, äußerst begrenzt waren. Vorsichtig entwickelte er auch ein Gefühl dafür, wie leicht es möglich war, im Leben nichts von dem zu erreichen, was man angestrebt und sich ausgemalt hatte, bevor man gezwungen wurde, zurückzusehen. Sein Glück war der Alltag. Dass die Zeit stetig weiterlief. Dass er arbeitete.
Wellington war jetzt Herzog.
Marschall Blücher, ein Mann mit ausladender Stirn und der Neigung zu agieren, bevor es nötig war, hatte sich den Zunamen »Vorwärts« eingehandelt, der im preußischen Heer wie in der englischen Führung mit mehr Furcht als Ehrfurcht ausgesprochen wurde und mit einer Menge von dem, was in der Truppe unabdingbar war: Galgenhumor der ganz trockenen Sorte.
Aus verschiedenen Richtungen bewegten sich Herzog Wellington und Marschall »Vorwärts« Blücher mit ihren Armeen dem noch unverändert kleinen und giftigen und längst mit einem Kugelbauch versehenen Buonaparte durch den Matsch Europas entgegen, während die Davys in italienischer Wesensart vollkommen aufgegangen zu sein schienen. Sie lebten ihre Emotionen vor so vielen Leuten aus, dass in allen Kreisen der Gesellschaft Einzelheiten debattiert wurden. Jane Davys Cousin zufolge verhielten sie sich wie Katze und Hund, und Faraday dachte: Wie Lichtteilchen und Lichtwelle. Auch da war keine Harmonie in Sicht. Jane Davy sagte man nach, Vorbild für die auf neue Art selbstbewusste Heldin Corinne gewesen zu sein, eines beliebten, in Italien spielenden Romans der Madame de Staël. Viele glaubten das, viele nicht. Davys Bruder meinte in einem Brief an einen Freund, es wäre für beide besser gewesen, sie hätten sich nie getroffen.
Im Nirgendwo der Wiesen und Wälder und wenigen Hügel, wie sie östlich von Paris unter den immer gleichen Regenwolken immer gleich aussahen, campierte Wellington, nahe dem nie gehörten Dorf Waterloo. Er wartete. Dann kamen die Franzosen und sondierten das Gelände. Es regnete viel in der Nacht, und die Franzosen warteten auch, zum Glück aller anderen. Die Wiese sollte noch ein wenig abtrocknen, bevor man sich ans Sterben machte und an die Wette, wer unterlag. Als die Schlacht, in deren Mitte ein Pachthof mit der Gastwirtschaft Belle Alliance lag, schon eine Weile lief, schlecht lief für England, wünschte Wellington, »es werde Nacht oder die Preußen kämen«.
Prompt kamen sie.
Während Wellington unablässig hin- und herpreschte und seine Leute motivierte, sortierte und dirigierte, schaute Buonaparte im Sattel seines Schimmels von einer Anhöhe aus zu. Er hielt die Zeit für das große Element zwischen Masse und Kraft, und Wellington glaubte, »dass Buonaparte etwas sieht, das ich nicht sehe«.
Dann ritt der Franzose zum letzten Mal einen Hügel hinunter in eine Schlacht, und alle hielten den Atem an: Mit seinem Pferd bildete er eine so galante Einheit, dass er zur Verblüffung der anderen das Fernrohr am Auge behalten konnte.
Vier Tage später erfuhr London von seiner letzten Niederlage. Am 22. Juni wurden um zehn Uhr morgens die Kanonen des Towers gefeuert. Die Menschen strömten in die Parks und feierten, Börsenkurse stiegen, obwohl kaum jemand im Saal blieb. Öffentlich und privat wurden Feuerwerke gezündet, sie erhellten die Nacht. Stimmen, die in Buonaparte noch einmal auch etwas Besonderes sehen wollten, eine Begabung für Höheres, einen, der Europa vorangebracht hätte, gingen unter. Davy wollte sofort zurück nach Rom und Neapel und bot Faraday an, mitzukommen. Faraday hätte auch abgelehnt, wenn Lady Jane Davy nicht dabei gewesen wäre.
Er zog sich in das Labor im Keller zurück. Er wurde die rechte Hand von Professor Brande, der nicht so flamboyant und eloquent war wie Davy und dessen Experimente niemals fehlschlugen.
Davy reiste. Mal war er in Schottland, dann in der Toskana. Er sandte Steine, Gase und Flüssigkeiten zur Analyse. Er ließ Faraday Briefe zukommen, die er kopieren und versenden, Artikel, die er prüfen, ausformulieren, illustrieren und einreichen und korrigieren musste. Davy beauftragte ihn mit Besorgungen in der Stadt, die von der Beschaffung toter Fliegen zum Angeln über Tee bis zur Bestellung von anzufertigenden Geräten reichten, die Davy zum Experimentieren benötigte.
Offiziell war Faraday Assistent und Kommissar der Apparate und der Mineralogischen Sammlung. In den Publikationen erhielt er regelmäßig Danksagungen für seine »sehr fähige Assistenz«. Er führte das Laborbuch, betreute das Journal der Institution und nahm kommerzielle Aufträge für chemische Analysen an. Davy, der schon am Tag nach ihrer Rückkehr die Berufung zu einem der Manager der Royal Institution ohne unnötiges Zieren angenommen hatte, ließ erfreut als Gerücht herumgehen, was Faraday in Paris noch entgangen war: Buonaparte habe sich schon sehr enttäuscht gezeigt, welch schlechte Meinung von den französischen Kollegen Davy zur Schau gestellt habe. Im Keller versuchte Faraday, seine Ideale am Leben zu halten, während es im Parterre darüber viel Gelächter gab und noch mehr Zufriedenheit.
Abends ging Faraday in diesem ersten einer Reihe sehr kalter Sommer manchmal an die Themse, wenn er Zeit dazu fand. Oft war das nicht. Beim Blick auf das langsam fließende Wasser träumte er, wie er auf der Reise beim Blick von der Kutsche in die Landschaft geträumt hatte. Immerhin hatte er eine Arbeit, die nicht schlecht war, die jeder andere gern gehabt und gemacht und beherrscht hätte. Aber was, wenn das alles war?
Doch das war es nicht: Im Herbst 1815 rauschte Davy ins Labor, mit einem Stapel Papiere unter dem Arm und dem Befehl, sofort alles beiseite zu legen. Auf dem großen Tisch in der Mitte des Raumes breitete Davy eine Zeichnung aus. In Sheriff Hill hatte es, das ließ er Faraday dabei wissen, eine weitere Explosion in einer Kohlenmine gegeben. Zwar gab es »nur elf Tote«, aber oben auf dem großen Papier standen in Davys Handschrift noch andere Namen: »Newbottle siebenundfünfzig« zum Beispiel. Seafield, Hebburn und Percy Main waren ohne Zahl. In Brandling Main hatten zweiundneunzig Männer und Jungen ihr Leben verloren.
Unter Tage trugen die Arbeiter beim Abstieg in den Stollen einen Singvogel im Käfig vor sich her, an einem langen Stab, oder sie schoben ihn beim Kriechen voran. Bei Sauerstoffknappheit starb er zwar schneller als ein Mensch, aber den Umschlagpunkt, an dem das Gemisch aus Methan und dem, was man dort unten Luft nannte, so viel Brennbares enthielt, dass die Kerzen es zünden konnten, zeigte der Vogel nicht an.
»Wir müssen diese Leben retten.«
Mehr sagte Davy nicht, als er diverse verschlossene Glasröhrchen aus der Tasche holte, Luftproben aus Stollen, die er selbst genommen hatte oder die ihm zugesandt worden waren.
Sie machten sich sofort an die Arbeit. Für zwei Wochen vergaßen sie, wie man Hunger oder Schlaf buchstabierte. Brande musste seine Vorlesungen alleine vorbereiten. Davy und Faraday fanden heraus, bei welchen Temperaturen welche Gemische von Methan und Sauerstoff sich entzündeten, wie andere Anteile der staubigen Luft dies beschleunigten oder bremsten und mit welcher Geschwindigkeit sich die Flamme in welchen Gefäßen ausbreitete: die Abhängigkeit von Radius und Länge und Luftzug.
Irgendwann kam Davy auf die Idee, statt einer Kerze das aus der Kohle entweichende Methan selbst zur Beleuchtung zu nehmen. Sein großer Gönner habe auf dem Vesuv vielleicht zu viel Zeit in der Sonne zugebracht, dachte Faraday, oder, noch wahrscheinlicher, er hatte wieder angefangen, Lachgas zu inhalieren. Er sagte natürlich nichts, und am Ende war er der Überraschte, denn eine Hülle aus Metallgaze kühlte alle Verbrennungsprodukte so ab, dass eine Flamme im Innern »sich nicht nach außen kommunizierte«. Mit etwas Übung konnte man an der Flamme den Grad der Gefahr ablesen.
Man habe das Monster besiegt, sagte der Ingenieur John Buddle bei der Vorstellung der Davy-Lampe in den Minenfeldern von Newcastle, das heißt, nicht genau in der Mine selbst, sondern beim Empfang im Queen’s Hotel der Stadt. Davy, als er sich bedankte, führte aus, wie er mittels Analogie und Experiment, die »seit je Wissenschaft machten, wo zuvor Mysterien gewesen« seien, die Lösung fand. Behauptungen, Davy habe die Idee gestohlen, kamen schnell auf. Noch schneller wurden sie abgewehrt.
Zwei kleine Arbeiten zu Details der Lampe publizierte Faraday unter seinem Namen. Zuvor war ein Papier über toskanischen Ätzkalk, den Davy ihm nach London bringen ließ, als seine erste eigene Arbeit erschienen. Aber das war nicht halb so wichtig wie die Tatsache, dass er wieder an etwas glaubte.
Mit unheimlicher Energie stürzte er sich nun in sein Londoner Leben, das die City Philosophical Society war. Sie hatte sich um John Tatum und die Vorträge in der Dorset Street herum gebildet. Faraday hielt Vorträge, wurde Mitglied. Mit Professor Brande zusammen fand er heraus, dass Quecksilber in Chlor brennt, und in seinem Notizbuch machte er nach dem System des deutschen Mönchs Feinaigle Gedächtnisübungen mit Symbolen in Quadraten: Hocker, Fahne, Haus. Sonne, Kanone, Ähre, Schubkarre. Zinne, drei Nüsse, Hacke. Dazwischen Krone, Brunnen, Harfe. Alle Quadrate hatten Nummern und waren in geometrische Anordnungen eingeteilt, die ein System bildeten. Isaac Watts hatte in der Verbesserung des Geistes dargelegt, dass besonders schöpferische Menschen sich oft schlecht erinnerten.
Im März 1816 schrieb er Abbott: »Ich hämmerte mit der Frage, ob du den letzten Brief geschrieben hast oder ich, tagelang auf mein Gehirn ein.« Er konnte weder die eine noch die andere Möglichkeit bestätigen. Als er sich entschlossen hatte, selbst zuletzt geschrieben zu haben und demnach nicht an der Reihe zu sein, machte ihn das lange Schweigen des Freundes doch wieder unsicher, sodass er sich zu einem Brief hinsetzte: »Ich habe auch ein Kästchen verlegt«, schrieb er, »oder verloren, ich suche es nun.« Es sei nicht besonders groß und eher für wertvolle Dinge gemacht als für sinnloses Zeug. Obwohl ein unachtsamer Beobachter es nicht weiter bemerken würde, ein aufmerksamer würde doch wohl seinen Wert erkennen. Es sei handwerklich schön gemacht, man habe eher Wert auf die feinen Ausschmückungen gelegt als auf eine bunte und gleich auffallende Form. Die genaue Natur des Materials sei kaum jemandem bekannt, aber die Eigenschaften seien schon bemerkenswert, denn die prinzipiell feste, opake Form sei teils auch transparent oder gar flüssig, die Gravitation kleiner als die von Wasser, es sei nicht kristallisierbar, durch Hitze löse es sich in brennbare Gase, Öl, Wasser, Kohle, Erden und Salze auf. Im natürlichen Zustand verbreite es einen angenehmen Geruch, der alle einschließe, die ihm nahe kämen, und im Innern sei, wie in einem gut gefüllten Laborbuch, alles, was eigenartig und wertvoll genug dafür war. Dem Finder wolle er gern eine Belohnung zahlen ...
In das Notizbuch, das unter den Mitgliedern der City Philosophical Society herumging, schrieb er zwischen eine Tabelle der spezifischen Gewichte von Platin bis Chrom und eine dreiseitige Umrechnungstabelle der englischen und französischen Einheiten von Länge, Fläche, Kapazität und Gewichte ein Gedicht. Wie immer war das Thema am Rande der Seite senkrecht angegeben. Es handelte sich um Liebe:
Welch Pest und Plage befällt den menschlichen Leib?
Und welchen Fluch bringt meistens ein Weib?
– Die Liebe
Welch Kraft stört des Mannes klaren Verstand?
Und was enttäuscht den eignen süßen Tand?
Was kommt daher in trügerischem Kleid,
Und macht zum Narr, wer eben noch war gescheit?
– Die Liebe
Was lässt den besten Freund bald Gegner sein?
Wessen Versprechen treten niemals ein?
Was fasst kein Kopf, sei er noch so intelligent,
auch wenn es selbst der dümmste kennt?
– Die Liebe
Was treibt des Irren heißes Verlangen an,
dem jeder Esel leicht widerstehen kann?
Was scheut der Kluge jetzt und immerdar,
auch wenn es ewig in der Welt schon war?
Auch unter der letzten Zeile fand sich die Antwort. Durch einen waagerechten Strich war das nächste Thema abgegrenzt, das er wieder senkrecht an den Rand schrieb: Wunder. Das Wunder sei eine Pause im Argumentieren, ein plötzliches Innehalten des mentalen Fortschritts, das nur so lange anhalte, wie das Verständnis sich auf eine einzelne fixe Idee konzentriere. Das Wunder sei zu Ende, wenn das Verständnis genug Kraft habe, das Objekt in seine Teile zu zerlegen und von der ersten Erscheinung bis zur letzten Konsequenz zu bezeichnen.
Davy machte ihn mit Abia Colburn bekannt, dem Vater eines mathematischen Wunderkindes: Zerah. Der Junge verfügte über ein Gedächtnis wie kein zweiter. Vater Colburn und sein dreizehnjähriger, rothaariger, Französisch, Deutsch und Latein sprechender Sohn waren Amerikaner. Sie tingelten durch England. Der Sohn gab seine Rechenkünste vor Publikum zum Besten, und nach einem Gespräch und einer Vorführung war Faraday, um es vorsichtig zu sagen, beeindruckt. Sie multiplizierten 642 mit 539, nahmen 2731 zur dritten Potenz und zerlegten 7 6426 in Faktoren. Ohne selbst richtig erklären zu können, welche Tabellen und Methoden er benutzte, war Colburn immer Größenordnungen schneller. Faraday fühlte sich wie ein Gehbehinderter, dem der größte lebende Bergsteiger wohlwollend zeigt, wie man besonders elegant auf den Gipfel kommt: Niemals selbst beherrschen zu können, was ihm demonstriert wurde, war etwas vollkommen Neues. Präzise und extrem langsam entfaltete dieses Erlebnis seine Wirkung. Es sollte sehr fruchtbar sein.
Einen Monat verbrachte Faraday mit John Huxtable, einem Freund aus wissenschaftlichen Diskussionen, in Devon. Seiner Mutter schrieb Faraday von da, es gehe ihm an der Luft viel besser, er habe viel mehr Kraft, und die in London in letzter Zeit schlecht verheilenden Narben seien nun kaum noch zu sehen.
Das Landleben gefiel ihm, die Leute waren freundlich. Einmal begleitete ihn ein Mädchen auf einer Wanderung, um mit ihren Ortskenntnissen zu dienen. Sie sprach nur Walisisch, und doch hatte sich auf der gemeinsamen Wanderung zu einem Wasserfall ein Einverständnis eingestellt, das er bislang nicht gekannt hatte: Sie immer voran, plappernd, er hinter ihr her, zwischen Zweigen, Büschen, Ästen und auf sehr interessante Weise an Blättern abperlenden und dann in sich schwingenden, auf diversen Parabeln fallenden Wassertropfen. Sie zersprangen kein bisschen weniger interessant auf verschiedenen Oberflächen in verschiedener Weise zu wiederum kleineren Tropfen auf ihren Flugbahnen.
Ohne weiter Parabeln analysieren zu müssen, sah Faraday den kleinen Körper seiner Führerin interessant gehen und zum Teil, ja, ansatzweise wippen, um Biegungen des Weges verschwinden und zum Glück wieder auftauchen, wenn er folgte. Manchmal hielt sie an, sie war barfuß und zeigte ihm, der keineswegs barfuß war, wo er hintreten konnte und wo nicht, und dann ging sie schon wieder weiter, ein Bündel aus Beweglichkeit und aufgeregtem Frohsinn. Gezogen wurde Faraday von etwas Unbekanntem, er wurde nicht einfach geführt, wie er bald feststellte, sondern gezogen von einer Kraft, gegen welche die Gravitation ein Witz blöder Jungs war.
Am Ziel war »das Mädchen« hinter dem Wasserfall verschwunden, der über einen Vorsprung der Felswand fiel und unter sich einen trockenen Platz bot. Sie hatte Faraday gerufen, dass er auch kommen solle. Dann war sie gleich weggelaufen, kaum dass er unter dem rauschenden Wasser stand und abzuschätzen versuchte, wie hoch der Fall war. Durch den glatten Wasserfilm konnte Faraday jedes Blatt der Bäume auf der anderen Seite gut erkennen. Dann war sie wiedergekommen, Erdbeeren in der flachen Hand. Bei der Übergabe musste er seine Hand aufhalten, sie hielt sein Handgelenk fest. Das gefiel ihm. Es regte ihn auf.
Sie watete in den Fluss und zeigte ihm, wo er, der wenig größer war, mit einem Schritt trockenen Fußes hinkam, um einen Blick stromabwärts zu werfen. Dass er genau das gerade gewollt hatte: Das hatte sie gespürt! Zurück am Wasserfall gab er ihr einen Schilling für »das Vergnügen«. Beide freuten sich. Sie bedankte sich mit einem Knicks.
Auf dem Rückweg sammelte sie weiter Erdbeeren und achtete darauf, ihm die Zweige der Brombeersträucher aus dem Weg zu räumen. Im Dorf wünschten sie sich eine gute Nacht: War er nicht, dachte er, mit der Natur im Einklang, wenn er ihre Impulse spürte und genoss? War er nicht dann ein Mann, sagte er sich, von der Natur selbst geformt, mit höchster Würde und Perfektion seiner Rasse, wenn auch nicht im gleichen Moment ganz höchste Kultiviertheit der Kunst? Nie hatte er sich ehrbarer gesehen als im Zusammensein mit diesem unverstellten Mädchen, das seine Gefühle so einfach gezeigt hatte.
Sie hinterließ eine Leerstelle.
»Aber ich soll doch«, schrieb er seiner Mutter, »ganz bestimmt nur in der Stadt leben.«
Und genau das tat er. In der Dorset Street gab er jetzt ganze Vorlesungen. Er sprach über Materie, Gravitation, Elektrizität. Im Ganzen siebzehn Vorträge von 1816 bis 1819. Er ging zur Vorlesung der Rhetorik von Benjamin Smart in der Institution und fasste sie auf hundertdreiunddreißig Seiten akkurat zusammen. Er beschäftigte sich nach der Belüftung jetzt mit Aussprache, Gestik, Vokabular, Beleuchtung und jeder Kleinigkeit, die mit dem Vortrag und der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnis in Zusammenhang stand, wenn auch in noch so kleinem. Vor Augen hatte er den Saal der Albemarle Street mit seinen steilen Rängen. Er galt als bester Vortragender in der Dorset Street, die nach Erlass des Gesetzes gegen umstürzlerische Versammlungen geschlossen und wegen Harmlosigkeit bald wieder geöffnet wurde.
Sein Buch der Allgemeinplätze wuchs wie bei anderen die Familie. Zum Beispiel notierte er Anagramme:
Telegraph – Great Help
No more stars – Astronomers
Democratical – comical trade
Revolution – to love ruin
Old England – golden land
Radical reform – rare mad frolic
Universal suffrage – guess a fearful ruin
Monarch – march on
Predestinarians – rats in deep rains
Andere ließ er probiert:
Buonaparte – bear not up
Mathematics – he sticts mama
Misanthrope – spare him out
Enthusiastically – Saint Lucy heals it
Was Liebe sei? Eine Privatangelegenheit, die außer den Betroffenen jeder öffentlich machen möchte. Unter dem Stichwort Amüsement fragt er: Wann bist du am Erträglichsten? Antwort: Wenn ich ad infinitum nachsinne.
Er genoss seinen langsam steigenden Ruf. Er war Humphry Davys Assistent, war mit ihm in Europa gewesen. Er hatte Buonaparte persönlich gesehen, der mittlerweile auf St. Helena von Hundertschaften bewacht wurde und behauptete, langsam vergiftet zu werden. Das interessierte Faraday nicht.
Er notierte: »Körper agieren nicht dort, wo sie nicht sind. Frage: Ist es nicht genau umgekehrt? Agieren nicht alle Körper, wo sie nicht sind, und agiert einer, wo er ist?« Auf wütende und zarte Weise wollte er alles selbst denken, inklusive Newton und Apfel und Erde. Zärtlichkeit und Wut in Einklang zu bringen, war notwendig, aber nicht leicht.
Er unterhielt sich mit dem Landschaftsmaler Robert Cocking, der mit Fallschirmen experimentierte und eines Tages aus einem Ballonkorb springen wollte, weil er glaubte, die Luft sei träge genug, ihn so zu bremsen, dass er sanft auf der Erde aufsetzte. Manche lachten oder schüttelten, wenn Cocking wegsah, den Kopf. Faraday wendete die Idee lange, wollte das Gewicht der Luft unter einem Fallschirm abschätzen und ihre Eigenschaften beim Strömen, die Abwesenheit jeglicher Mathematik in seinem Kopf verfluchte er. Er schlug dem Maler vor, entsprechende Versuche von einer Anhöhe oder einem Turm zu machen, dabei warnte er seinen Freund auch vor der Höhe eines Ballonfluges, die man nicht simulieren könne.
Er las Ossian und Byron und Shakespeare. Er schrieb mit sich überschlagendem Spaß seitenlange Alliterationen und einsilbige Prosa. Er bewies, dass zwei gleich vier war, quod erat demonstrandum, und unterschrieb mit Straw, Beries and Crime. Indem er nichts durch nichts teilte, bewies er, dass eins gleich zwei war. Mit Abbott diskutierte er über einen deutschen Adligen, der von einem Chemiker sein eigenes Blut und das eines Arbeiters hatte untersuchen lassen, in der Hoffnung, einen Unterschied zu sehen. Das Resultat: negativ.
Cocking sprang vor aller Freund und Feind Augen aus einem Ballon, nachdem er Faraday und anderen versichert hatte, nach Versuchen und Berechnungen sei seine maximale Geschwindigkeit die eines freien Falls aus zwei Fuß Höhe. Auf Faradays Bedenken nach der Stabilität und Sicherheit antwortete Cocking überzeugt, für alles sei vorgesorgt, und Faraday wollte ihn nicht weiter in seiner Konzentration stören. Beim Sprung öffnete sich der Fallschirm nicht richtig, er verhakte sich vielleicht beim Absprung kurz am Ballonkorb oder war in sich verdreht und verhaspelt gewesen, so wurde hinterher in der Zeitung spekuliert, nachdem seine Beobachter Cocking ungebremst auf dem Boden hatten aufschlagen sehen. Faraday verwahrte sich gegen eine Mitschuld. Cockings Frau bekam vom Königshaus Geld.
Es gab immer mehr Stimmen, die glaubten, alles Leben sei Elektrizität. Der Chemiker Andrew Ure hatte die Versuche Aldinis wieder aufgenommen, diesmal mit zweihundertsiebzig Platten und dem Mörder Clydesdale in Glasgow, den man an die Batterie anschloss, nachdem er eine Stunde am Galgen gehangen hatte. Strom, vom Rückenmark zum Ischias geschickt, kontrahierte in dem Mann alle Muskeln und erzeugte ein gewaltiges Schaudern wie bei Kälte. Nach einigem Probieren fand Ure schließlich die richtigen Stellen, um eine vollständige Atmung in Gang zu setzen: Das Zwerchfell und sein Nerv. Der Brustkasten hob und senkte sich mit der Bewegung des Zwerchfells, und die Bauchdecke tat dasselbe gegenläufig. Es gab Applaus unter den Herrschaften. Hüte wurden gelüftet und geschwenkt.
»Da viele wissenschaftliche Herren anwesend waren«, soll Ure später gesagt haben, gelte es »als das vielleicht bemerkenswerteste Ergebnis, das je mit einem philosophischen Apparat erzielt worden ist«.
Allerdings verließen die meisten Herren den Ort schnellstens, als Ure den Strom vom Augennerv zur Ferse schickte und der Körper sich in Gebärden und Mimik wand, die niemand je gesehen, die kein Theaterregisseur je ersonnen hatte. Bei einem Zeugen führten sie zur Ohmacht, bei den übrigen noch Verbliebenen zu Erbrechen. Das war 1818, und schon zwei Jahre zuvor hatte die einundzwanzigjährige Mary Shelley mit ihrem Mann Percey und Lord Byron den total verregneten Sommer am Genfer See verbracht. Byron, gerade noch in den Salons vergöttert, war aus London geflohen, wo die Liebe zu seiner Schwester bekannt geworden war. Eine für die Welt übliche Kettenreaktion hatte den Poeten zu einer Person gemacht, von deren Vorzügen plötzlich niemand mehr Notiz nahm, von deren Abgründen nun jeder gern sprach. Keine Gesellschaft mehr, in der es nicht umso schicker gewesen wäre, sich von ihm abzuwenden und dabei angewidert zu tun, je ergebener man ihm vorher zu Füßen gelegen hatte. Seine gerade zur Welt gekommene Tochter Ada, die später den Nachnamen Lovelace bekommen sollte, hatte er nur einmal zu sehen bekommen, und dabei sollte es auch bleiben.
Während die geliebte Schwester sich zu Hause mit seiner Frau anfreundete, tauschte Byron mit den Shelleys in der Schweiz Gespenstergeschichten aus, und schließlich schrieb Mary ungestört von den wichtigen Dichtern ein Buch mit dem Untertitel Der moderne Prometheus. Auf dem Weg zur Mahnung vor dem menschlichen Übermut, Gott spielen zu wollen, in dem man selbst Leben stiftete, ließ es keinen denkbaren Schrecken aus und berücksichtigte auch jeden undenkbaren. Unter dem Haupttitel Frankenstein wurde es jetzt veröffentlicht: Anonym. Der zarten jungen Frau hätte sowieso niemand zugetraut und noch weniger zutrauen wollen, so plastisch über die Gefühle eines gottlosen Monsters schreiben zu können.
Nicht nur Abbott behauptete, Viktor Frankenstein sei nach dem Bild Davys geschaffen.
2 Trägheit und Bewegung
Dass die Hoffnung auf eine Veränderung so schnell in Angst vor ihr umschlagen konnte, wunderte Faraday. Er glaubte, dass es sich nur um den Überraschungseffekt des neuen Gedankens handelte, der das Buch interessant machte. Er würde verpuffen, und Innehalten dieser Art oder die Forderung danach oder Angst an sich beschäftigten ihn gar nicht. Im Gegenteil. Ihm ging nach wie vor alles zu langsam, viel zu langsam. Angst hatte er nur vor dem Stillstand, den er nicht für Gottes Wille hielt. Gott selbst war doch sowieso nichts Erreichbares.
Deshalb hielt Faraday lieber einen Vortrag über die Trägheit nicht nur der Materie, sondern über die Trägheit des Geistes, des Herzens, des Verstandes und der Seele: über die »mentale Apathie!« Sie alle, die Philosophen der Dorset Street, gehe die an. Der Mensch sei, so trug er vor, »ein besseres Tier, das von Natur aus fortschrittlich« und »im Übergang« sei, aber dennoch in der großen Mehrheit passiv. Er fragte: »Warum?« Er sagte, der Schöpfer habe dem Menschen das Beste mitgegeben, sein Ziel sei die Perfektion. »Wie ein Punkt am Horizont« sei sie nur zu weit weg: »Wir nähern uns, aber die Entfernung ist viel größer als unsere Vorstellung von ihr.«
Dass der Mensch auf dem Weg zur Perfektion Wissen und noch mehr Wissen benötigte, brauchte er vor den Freunden nicht erst zu sagen. Aber dass »der Philosoph ein Mann sein sollte«, führte er aus, »der jedem Vorschlag gut zuhört und immer selbst urteilt«. Dass er »sich nicht von Äußerem beeindrucken lassen, keine Lieblingshypothese haben, keiner Schule angehören und in der Lehre keinem Meister folgen soll.«
Dass er nicht Personen respektieren solle, sondern Fakten. Dass die Wahrheit sein Ziel sei. Dass er, wenn sich zu diesen Qualitäten der Fleiß geselle, tatsächlich hoffen möge, »Eintritt in den Tempel der Natur zu bekommen«.
Ohne den Hauch eines Zweifels und eher mit dem Luftholen desjenigen, der noch viel zu sagen hat, sodass die Freunde, auch Tatum, unbewusst tiefer in die Stühle rutschten, sagte er: »Der Mensch liebt seine eigene Meinung so sehr, dass er sie eher auf unfestem Grunde baut, als im Zweifel zu verharren.« Die Notwendigkeit, auf bestimmte und individuelle Beispiele zu verweisen, um die eigene Meinung zu illustrieren, führe zu Gewohnheiten des Geistes, die immer partielle, verzerrte Ergebnisse produzierten. Diese Gewohnheiten seien es, die unterschiedliche Meinungen zu jedem Thema erzeugten, obwohl die moralische und die natürliche Welt sich immer und allen gleich und ganz zeigten: »Wir können halt nicht immer alle Eigenschaften, Eigenarten und Relationen ganz und zugleich überblicken, stattdessen sind wir selbst in verschiedenen Zuständen und bringen verschiedene Temperamente mit und wollen schnell eine Meinung bilden: Deshalb unterscheidet sich eine Beurteilung nicht nur von der anderen, sondern oft auch von der Wahrheit!«
Skeptizismus und allmähliche Verallgemeinerung allein seien hilfreich, weil die Kraft des menschlichen Geistes auf das Erkennen der Details beschränkt sei, und das einzig Sichere, das Einzige, dem man vertrauen könne, die Fakten seien. In der Naturphilosophie gebe es jedoch eine Größe von fundamentaler Bedeutung, die so unauffällig sei, dass man Jahrhunderte nichts von ihr geahnt habe: »Die Trägheit.«
Dieses Wort traf im Raum jeden. Die Trägheit, von Newton entdeckt, formuliert, vertreten, in die Welt gebracht, hatte die Auffassung aller Mechanik restlos verändert. Von Faraday unbemerkt setzten sich jetzt einige wieder auf.
»Jedes und alles«, erinnerte er noch einmal an das Konzept der Trägheit, »will bleiben, wie es ist. Jeder Körper bleibt in Ruhe oder bleibt in Bewegung, solange keine neue Kraft auf ihn wirkt, auch der Apfel, der die Hand des Werfers verlassen hat, fliegt weiter, solange ihn keine neue Kraft bremst. Und das«, so seine Schlussfolgerung, die er nicht kühn, sondern schlicht sonnenklar fand: »gilt nicht nur für die Materie, sondern auch für den Geist!«
Alle beobachteten ihn, gespannt, was als Nächstes käme. Er fuhr durch seinen Bart, ging schnell hin und her, Blick nach unten gerichtet.
»Denn was«, rief er dann, »sind denn Gewohnheiten?«
Die, die er ansah, sahen stumm zurück.
»Und was«, fragte er laut, »ist ein Vorurteil?«
Er ließ einer etwaigen, wenn auch unwahrscheinlichen und sowieso unerwünschten Antwort genug Zeit, bevor er »Nichts als Trägheit!« rief. »Sie hält jeden neuen Einfluss auf und stärkt jeden alten!«
Diese Übereinstimmung von Newtons Naturgesetz der Materie und dem Geist sei, gab er lakonisch zu, »komisch«. Aber sie stimme offenbar, sofern, ja, wenn ein in Bewegung geratener Geist tatsächlich auch in Bewegung bleibe.
Er fragte seine Zuhörer, ob er das beweisen solle, und sagte, diesmal bevor jemand hätte antworten können, für ihn nämlich sei das offensichtlich so: »Denn war der Dummkopf je gewillt, sich in Bewegung zu setzen? War der Tölpel je bereit, seine Dummheit aufzugeben, um die Welt zu verstehen?« Wie der Schäfer Magnus sitze er doch lieber auf seinem kargen Stein, sein Versuch, sich fortzubewegen, sei mühsam und fruchtlos, er werde von einer Kraft festgehalten, auf die er keinen Einfluss ausübe.
»Und der aktive Geist?«, fragte er, seine Zuhörer einen nach dem anderen fixierend, als seien sie die Tölpel: »Welches intellektuelle Wesen lässt sich denn aufhalten? Jeder neue Gedanke, jede Einsicht ist genug Lohn für die Anstrengung des Weges, und die Zukunft«, er hielt die Stimme kurz an, und als er in der Stille bemerkte, dass er fast geschrien hatte, ging er etwas herunter mit dem Ton, er wirkte jetzt erschöpft, wenngleich auch zufrieden, als er schloss: »ist pures Glück.«
Jeder spürte, dass nur die Vorrede zu Ende war. Faraday fuhr ruhiger fort, manchmal breche zwar Müdigkeit und Chaos ins Denken. Aber dann gehe es wieder mit doppelter Energie weiter: »Eitelkeit, Ambitionen, Stolz helfen Grenzen zu überwinden.« Er wolle nicht die Mathematik bemühen, wie sie bei Körpern in Ruhe und in Bewegung angewandt werde, ihm reichten Worte: Der Geist in Ruhe heiße Apathie, der in Bewegung hingegen Streben.
»Warum nur«, fragte er die stillen Freunde, wo sie sich doch zusammengetan hätten, um vorwärtszukommen, »warum nur«, und hier hielt er keineswegs inne, »sind wir so hilflos in der Sache und so arm an Bedeutung?« Es müsse wohl »die Apathie ihre Flügel über uns ausgebreitet haben, dieser Agent der Ignoranz, der uns in Schmerzlosigkeit taucht!« Seine Macht stehe allen ihren Anstrengungen gegenüber und, unterstützt durch ihre eigene Bequemlichkeit, triumphiere er über ihren Verstand, gieße gar Hohn über jedes Bemühen: »Wie kann es sein«, wollte er wissen, »dass ein so begabtes Wesen wie der Mensch, ausgewählt für so große Dinge, ruhig zusieht, wie sein Anliegen verkümmert und seine Kraft versiegt?« Ob es denn sein könne, dass Zersetzung und Bewusstsein in einer Brust wohnten: »Oder hat die Selbstgefälligkeit längst gewonnen und nimmt allen Platz ein?«
Sie, wie sie hier zusammen seien, hätten jedenfalls alles, um Großes zu leisten. Punkt.
Sie täten es jedoch nicht.
Komma.
Fleiß und Eifer und Streben seien der Grundzustand des Menschen, der ihn vom Tier unterscheide und vorwärtsbringe in jeder Generation. Er sei sicher, jeder seiner Zuhörer habe schon gedacht, was er nun ausführlich und vielleicht zu lang vorgetragen habe, aber wenn es Kritik gebe, so wolle er sie hören.
Es kam keine.
Er regte abschließend an, die Frage zu beantworten, warum es so viel mehr Trägheit als Bewegung in der intellektuellen Welt gebe, wo es in der materiellen doch umgekehrt sei, und dies war der einzige Vortrag in der Geschichte der Dorset Street, der je ohne jeden Applaus und ohne dass eine Frage gestellt worden wäre zu Ende ging.
Faraday nahm das als Zeichen des Respekts. Kein Zweifel plagte ihn neben der Wut. Abbott saß erschöpft und perplex auf seinem Platz und überlegte, ob er zustimmen oder ähnlich aggressiv dagegenhalten oder sich einfach aus seiner Trägheit erheben und sich einen neuen Freund suchen sollte. Faraday aber sprühte noch einige Stunden vor Enthusiasmus, als sei auch der bloße Elektrizität. Jedenfalls lud er Abbott schnell wieder auf, und alles blieb erst mal beim Alten.
3 Sarah Barnard
Die Sonntage verbrachte Faraday mit seiner Mutter in der Gemeinde. Das waren die Stunden, in denen das Denken endete und das Herz in einer düsteren Stimmung aufgehoben wurde. Mit der Apathie hatte die Religion nichts zu tun, denn Religion und Philosophie waren unabhängig: Die Religion war nicht, so hatte er vor seiner Gesellschaft gesagt, wie die Philosophie kritisierbar. Sonntags spürte Faraday die Wut über seine Ohnmacht umso stärker, und wie sie ein Ziel suchte.
Tagsüber analysierte er Stahllegierungen, es war einer der häufigen Aufträge der Royal Society. Er beschäftigte ihn drei Jahre lang. Als Sohn eines Schmieds fand er das angemessen, und noch angemessener fanden es Brande und Davy. Das Labor organisierte er auf die praktischste Ausrichtung hin, alles war gut und übersichtlich sortiert, die wichtigsten Utensilien in greifbarer Reichweite vom Tisch. Er bemerkte, dass Quecksilber bei Zimmertemperatur verdampfte und eine Goldfolie amalgamierte. Immer war ein Geruch im Raum, der vom letzten Experiment stammte. Es roch nach Chlor oder Eisen oder Schwefel oder Öl und Benzin und Petroleum. Der schwere Geruch ging erst weg, wenn ein neues Experiment gemacht wurde und neue Gerüche sich über die alten legten.
Sonntags sah einmal die Schwester seines Freundes Edward Barnard, der Mitglied der City Philosophical Society war, Faraday in die Augen und erblickte offenbar etwas darin. Er erschrak. Er fühlte sich erkannt, neu erkannt: fremd.
Halbwegs vergaß er es wieder, versuchte das zumindest, aber in der Woche darauf wiederholte es sich. Ein Blick, als kennte sie ihn aus einem anderen, sträflicherweise vergessenen Leben.
Konnte das sein?
Konnte er erkannt werden, wie seine Mutter ihn oder er selbst sich nicht kannte? Er wagte nicht den Versuch, alle Regungen, die dieser Blick in ihm auslöste, zu benennen, und wischte die Sache in seinem Kopf so gut weg, wie er konnte.
Er konnte es gut.
Plötzlich starb Abbotts Mutter. Faraday hatte sie alle bei guter Gesundheit gewähnt, fragten sie einander doch in jedem Brief danach. Obwohl Abbott genug Trost in sich hatte und auf die Gefahr hin, nur Gefühle aufzurühren, bot Faraday ihm seine Trauer und sein Beileid an: Beim Gedanken an seine eigene schwache Konstitution, die schon vergangene Zeit und das wahrscheinliche nahe Ende aller irdischen Dinge spüre er keine wirkliche Unruhe: »Man ist nur in einem anderen Land.« Und solange das Philosophieren und Moralisieren die Dinge nicht ändere, würde die Welt über das Gerede und alles andere halt auch nur lachen. Meinte er.
Davy wollte, dass Faraday ein paar reife Trauben einer Eberesche aus dem Kensington Garden holte und analysierte. Der irische Chemiker Michael Donovan behauptete, Sorbinsäure aus ihnen gewonnen zu haben. Dabei müsse es, so Davy, Apfelsäure sein: Faraday sei ein besserer Chemiker als Mister Donovan. Er fand Apfelsäure.
Er begann schlecht zu schlafen, wachte nach zwei Stunden auf, lag mal eine, mal zwei, mal drei Stunden wach, schlief erst im Morgengrauen wieder ein, musste dann zerschlagen ins Labor. Das kam, variierte in der Stärke, blieb da.
Am Sonntag traf er die komplette Familie Barnard vor dem Gottesdienst. Sarah stand an der Seite ihres Bruders vor dem Haus, in dem die Gemeinde einen Raum hatte, in der Sonne, ihre Eltern mit dem kleineren Bruder George einen Schritt dahinter. Sie lächelte, nickte ihm freundlich zu.
Guten Tag, Frau Barnard. Guten Tag, Herr Barnard. Guten Tag, Frau Faraday.
»Guten Tag«, sagte Sarah.
»Guten Tag«, stellte er sich vor, »Michael.«
»Ich weiß.«
Sie lächelte vorsichtig, aber das war es nicht. Edward nahm ihn kumpelhaft in den Arm. Alle gingen hinein, setzten sich, schlugen die Blicke nieder. Sarah tat das nicht, ohne sich nach ihm umgeschaut und schnell wieder abgewendet zu haben, nachdem ihr Blick den seinen getroffen hatte, der nichts sagte, gar nichts. Das Reden und Rascheln, die Geräusche von zweihundert Menschen, die sich zurechtsetzten und ihre Bibeln an der vom Ältesten genannten Stelle aufschlugen, ließen nach. Alle warteten auf den Vortrag, der, sobald es ganz still war, klagend begann. Eine halbe Stunde später bewegte er sich auf eine Steigerung zu. Die Gemeinde ergab sich in den Mahlstrom der Traurigkeit und bedingungslosen Hingabe, die hier im Saal Einigkeit schufen. Keinen aus der Gemeinde störte die kühle, feuchte Luft der schmucklosen Halle.
Margaret Faraday bemerkte mehr als ihr Sohn selbst, dass er abgelenkt und unruhig war. Sie freute das. Elizabeth, die ältere der Töchter, hatte in der Gemeinde geheiratet, Robert ebenfalls. So sollte es sein. Zusammen sangen sie Psalmen, wie sie es auf ewig tun würden. Dann folgten die Ermahnungen, die der Älteste ausgearbeitet hatte. Bei der Fußwaschung vermieden Sarah Barnard und Michael Faraday direkten Kontakt.
Nach drei Stunden fanden sich alle Gemeindemitglieder im Nebenraum zum gemeinsamen Essen ein. Edward Barnard tauchte neben Faraday auf, legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sie tauschten einen brüderlichen, kaum von ihnen selbst wahrgenommenen Blick, setzten sich gemeinsam und aßen erst ganz wortlos, dann tauchten sie wortkarg Brot in die Suppe, ohne dass Faraday sich später genau hätte erinnern können, was sie gesprochen hatten. Die gerade gehörten Ermahnungen und Appelle lagen wie eine Decke auf ihnen. Gegenständliches wie Frankreich, Gesundheit, Krankheit oder Wetter, schlecht gehende Geschäfte oder Armut existierten hier nicht. Hier waren sie nur, was strengste Forderung Robert Sandemans war: eins.
Keine Meinungsverschiedenheit würde jemals die Gemeinde belasten.
Als nach dem Essen Sarah neben ihm auftauchte, versagte Faraday die Stimme. Keinem blieb das verborgen. Dabei hatte sie in ihrer auffallenden Freundlichkeit nur vorschlagen wollen, den Nachtisch zu holen. Dass es ihn gab, war eine Ausnahme.
Erbost über sich selbst ging Faraday nach draußen, um vor der Nachmittagspredigt noch an der Luft zu sein, die er wieder nötiger hatte in letzter Zeit. Seine Mutter gesellte sich zu ihm, als er überlegte, wieso ihm Sarah nicht vorher aufgefallen war. Sie hatte doch immer schon hier gewesen sein müssen. Auf der Straße stritten sich zwei Jungen um einen Ball, versöhnten sich, stritten wieder und beachteten die beiden Sandemanier nicht.
Es hatte zu regnen angefangen. Ein schmutziger, magerer Hund streunte vorüber, wollte sich Faradays Fuß nähern und wurde mit einer raschen Bewegung verscheucht. Mit eingezogenem Kopf und Schwanz trottete er, aufmerksam um sich schauend und mit federndem Rumpf, weiter. Nach einigen Minuten sagte Margaret: »Gehen wir rein.«
Faraday hatte gerade das zuvor angewinkelt an der Wand stehende rechte Bein wieder auf den Boden gesetzt und den Oberkörper von der Wand abgestoßen, als er möglichst lässig fragte: »Kennst du Sarah Barnard schon länger?«
»Sie hat das Glaubenbekenntnis abgelegt«, sagte Margaret. Das war etwas, das sie sich selbst bislang nicht zugetraut hatte, und auch Faraday hatte es bislang nicht getan. Kurz bevor beide sich umwandten, um zurück ins Haus zu gehen, trafen sich ihre Blicke.
Die Barnards hatten sich schon gesetzt, als sie in den Gemeinderaum kamen, um weitere drei Stunden Predigt und Gesang zu zelebrieren, nach der Kollekte das Abendmahl einzunehmen und einander den heiligen Kuss zu geben, der die Einigkeit aller im Herrn und die Vergebung der Sünden bestätigte. Sarah Barnards Aufregung funkelte in ihren Augen und sprang unruhig dem Moment entgegen, den Kuss mit Michael Faraday auszutauschen. Sie war neugierig auf diesen rätselhaften Mann, der verschlossen wirkte, dessen Blick aber heller strahlte als andere.
Mit der Neugier ging es ihm nicht anders, sonst schon. Das Unkalkulierbare verunsicherte ihn. Der Versuch, sich nichts anmerken zu lassen, forderte ihn ganz, und wie deutlich Sarah und Margaret dies spürten, nahm er nicht wahr. Schnell verabschiedete er sich, um vom Gemeindehaus direkt zu Abbott zu gehen und über Metalle und Gase zu sprechen, über Reaktionen, Farben, Gerüche und die Moral.
Als er spät die Tür in der Albemarle Street aufschloss, um durch das große stille Haus in die Zimmer unterm Dach zu steigen, war etwas mit ihm, das er nicht kannte. Nicht so jedenfalls. Das walisische Mädchen hatte einen Platz vorbereitet, den Sarah Barnard ungefragt einnahm. Er schlief nicht besser.
Am nächsten Tag kamen die Freunde in der Dorset Street zusammen. Edward bestellte ihm einen Gruß seiner Schwester, und das ganz zwanglos, in einem günstigen Moment, so nebenbei. Faraday tat, als gebe das zu keiner großen Regung Anlass, er ließ einfach und ebenso freundlich zurückgrüßen.
Er korrespondierte mit Davy, schrieb einen Artikel über die Phonetik einer Flamme in einer Röhre, der in der Literarischen Gazette herauskam, er korrespondierte mit dem französischen Wissenschaftler Charles-Gaspard de la Rive, der dies bei seinem Besuch in London gewünscht hatte. Auf dem Dach der Institution installierte Faraday einen Blitzableiter, den er durch den Kamin führte, ohne die Wand dabei zu berühren, und im Keller an eine Leidener Batterie anschloss. Nächtelang saß er dort unten, bis endlich ein Blitz einschlug und die Batterie auflud.
Schon Galvani hatte Blitze durch Froschschenkel in seinen Brunnen geleitet: Große Sache, wenn man Blitze einfinge und statt Muskeln von toten Fröschen künstliche Muskeln bauen könnte, die Arbeit verrichteten, zum Beispiel in den Bergwerken. Die Arbeiter könnten dann Vorträge hören über den Fortgang der Naturphilosophie, wie es ursprünglich, zur Zeit Buonapartes, das Ziel der Institution gewesen war.
»Eine interessante Sache«, schrieb er mit flatterndem Herzen dem Chirurgen William Flexman nach Devon, der ihn auf die Idee mit der Leidener Flasche gebracht und gefragt hatte, ob es gefährlich sei. »Es funktioniert und sollte weiter beobachtet werden. Nur fackeln Sie Ihr Haus nicht ab, und bringen Sie sich nicht selbst um dabei.«
Wenn er jetzt am Fenster stand in seiner kleinen Wohnung der Institution, waren die Dächer seines London kleiner geworden. Als sähe er sie aus einem Wagen im Wegfahren noch einmal an. Oder als führen sie von ihm weg und ließen ihn zurück und riefen ihm noch zu, er solle sich beeilen. Er verwandelte sich, etwas verwandelte ihn, und er konnte Fehler begehen, das Leben würde dann ohne ihn weitergehen. Zeit anhalten, das wäre eine Lösung gewesen. Wenn er hinunterging ins Labor, war Sarahs helle Stimme in seinem Ohr, im Kopf, im Herz und in den Knien. Ihr Bild war vor seinen Augen, ohne dass er, der Meister im analytischen Beschreiben, sie oder ihre Stimme hätte einem Freund darstellen können in ihren Eigenarten: Weich und entschieden? Die Stimme einer Neunzehnjährigen. Ihre Locken. Zum Glück musste er nicht darüber reden, und erst nach einer Stunde Labor vergaß er sie, wenn er eine Messreihe notierend glücklich war. Er vergaß Sarah Barnard dann ganz und gar.
Abends, die beiden ungeheizten Zimmer unterm Dach betretend, die auf ihn gewartet hatten, deren Dielen knarrten, weil den ganzen Tag niemand auf ihnen gelaufen war, war Sarah wieder da. Sie war da, wenn er allein über seinen Kartoffeln saß, wenn er noch las, wenn er zu Abbott auf dem Weg war und wenn er von Abbott zurückkam. Selbst in den Vorträgen der City Philosophical Society war sie da. Einmal wurde er von Abbott angesprochen und musste feststellen, die Gesellschaft um sich herum vergessen zu haben, so vergessen zu haben, wie er damals als Laufbursche die Welt um sich vergessen hatte, als er auf der Mauer sitzend in der Zeitung von Davy und der Wissenschaft erfuhr.
Gehen lassen war für Faraday keine Option. Arbeit war jetzt gut für ihn. Vor dem Sonntag fürchtete er sich, und er sehnte ihn herbei.
Am Sonntag fand er es mehr als gut, seine Mutter neben sich zu haben und die Geschwister. Er lächelte alle an, nickte im Kreis herum, vielleicht würde sie ihn kaum beachten, nicht mehr als andere, wahrscheinlich hatte er sich ja nur eingebildet, sie habe ihn anders angesehen als andere. Vermutlich sah sie alle so an, mit schlichter Freundlichkeit und mit diesen grünen Augen, die anders waren, anderes sahen als er. Sie gaben ihm das Gefühl, dass er eigentlich nichts sah. Das ärgerte ihn.
Faradays trafen vor den Barnards ein. Sarah saß trotzdem einige Reihen weiter vorne, ihre Haare zusammengenommen, ihr Ohr frei. Wie sie ihren Hals beugte, um in die Bibel zu sehen, wie ihr die zusammengebundenen Haare in den Nacken fielen, wie sie aufstand und sang. Beim Einatmen hoben sich ihre Schultern, Silbe um Silbe, Zeile um Zeile senkten sie sich langsam. Und wie sie betete, eins mit sich und mit allem.
Er war ratlos. Als die Familien sich in der Pause begrüßten, redete er wie in eine Halle hinein, deren Größe er nicht überblicken konnte, aus der kein Geräusch zurückkam, er sah angestrengt um sich. Auf Sarah wirkte er, gestand sie am Abend ihrer Mutter, kühl. Wenn nicht, ehrlich gesagt, hochmütig. Es musste sich doch, meinte sie, an irgendeiner Stelle ein Irrtum eingeschlichen haben.
Bei Faraday hinterließ der Irrtum, den er sofort bemerkt hatte, einen Schmerz, der nicht nur beim Blick über die Dächer, wenn er die Bildung der Wolken und der Rauchsäulen studierte, spürbar war. Sarah war von der Leerstelle aufgestanden und gegangen und hatte sie kälter und leerer zurückgelassen, als vorstellbar war. Und ihn. Ein kalter, dunkler, gut gefüllter Brunnen war übrig, in den er seinen Kopf hätte tauchen mögen. Dabei war der Wunsch zu verschwinden, in ihr, doch seltsam, wenn nicht beschämend.
Sollte es das sein, was er wollte? Er fragte Abbott um seine Meinung, der gern und lebhaft in manches Detail ging, und Faraday wusste, er würde nicht noch einmal in seinem Leben darüber reden. Er schlief noch später ein und wachte noch früher auf und schlief nicht mehr ein. Nicht nur er selbst nahm seine Reizbarkeit wahr.
In der Institution bekam er den Auftrag, Wasser zu untersuchen. Er sollte Papier analysieren und Farbstoffe, Rost und Wein. Für den Sohn eines Schmieds waren das ehrenvolle Aufgaben, wie er fand, und wie Brande und Davy erst recht meinten. Er stürzte sich derart in die Arbeit, versenkte sich und verschwand im Labor, dass es sogar an ihm selbst gemessen wie Übereifer aussah. Es unterliefen ihm untypische Fehler. Er verschüttete Säuren, ließ Gläser fallen und vergaß Termine. Er vergaß zu essen und Briefe zu schreiben. Klein und schmächtig, wie er schon war, magerte er ab. Manchmal, wenn Brande ihn ansprach, war er so abwesend, dass er nicht reagierte oder um Verzeihung bat, der Professor möge sich bitte wiederholen. Davy, als er ausnahmsweise einmal da war, grinste.
Faraday entschied, das Problem halte ihn nur auf, solange es ungelöst war. Er beschloss sich von Gott führen zu lassen, er sei es, der entscheiden würde, was geschehen sollte, schon am folgenden Sonntag.
Gut vorbereitet traf er auf Sarah Barnard und schaffte es, beim Essen ein wenig mit ihr zu reden. Er stotterte nicht, konnte aber auch nicht verhindern, immer auf ihre Handgelenke zu starren, auf die Adern und Sehnen, wie sie in die Handflächen liefen, die er am liebsten geküsst und an seine Schläfen gedrückt hätte, auf ihre Schlüsselbeine, auf ihre Knöchel und die Füße, wie sie in den Schuhen steckten, während sie mit ihm redete. Er maß die Proportionen ihrer Arme und Beine zu ihrem Rumpf, fand das Verhältnis der Oberarme zu den Unterarmen heraus. Es war, wie es aussah, nicht besser denkbar. Er sah, wie Sarah aufstand, mit der einen Hand den Rock dabei glatt strich und die andere vor den Unterleib hielt, während sie sich auf der Suche nach ihrer Mutter umsah, eine Hand jetzt in der Luft, dann vor dem Mund, als müsse sie sich zusammenreißen, nicht einfach nach ihr zu rufen.
Skandalös, wie ihn jede kleine Geste gefangen nahm. Er schämte sich dafür, ihr so nahe sein zu wollen. Was für eine Zumutung er war, und welche Zumutung, wie er auf das Spiel ihrer Kaumuskeln achtete, auf die Art, wie sich der Mund spitzte, auf den Lauf ihrer Nase von vorne, von der Seite und im Halbprofil, wieder auf ihre Schlüsselbeine, die er zwar eben schon beobachtet, doch offensichtlich nicht richtig und vollständig begriffen hatte. Wie die Sehnen und Adern in ihre Handgelenke liefen, sie hatte sich wieder gesetzt, die Hände lagen ineinander auf ihrem Schoß. Er wollte sie nicht berühren. Ansehen genügte. Jahrelang ansehen. Mehr brauchte er zum Leben gar nicht. Wieso hatte er das nicht gewusst, wie konnte das überhaupt sein? Er atmete aus.
Er sah, als sie den Kopf wieder zum ihm gewendet hatte, auf den Kragen ihrer Bluse, die Blässe ihrer Haut, wie sie jetzt unsicher lächelte und aufstand und wegging und dabei die Bewegung durch ihren kleinen Körper floss. Dazu ihre sanft reibende Stimme in seinem Ohr: Alles an ihr war reine Selbstverständlichkeit. Er fand sie perfekt und rätselhaft. Sie brachte ihn aus der Fassung. Der letzte gegenständliche, animalische Gedanke war eine Beschmutzung. Er versagte ihn sich.
Das machte nichts besser. Abends schlief er nach Stunden erst ein. Er begann Alkohol zu trinken, was ihm nicht zuträglich war. Morgens um vier kam er ruckhaft zu sich: Sarah. Dann beobachtete er lange die Sterne im Fenster und hörte wieder der bald erwachenden Stadt zu, wie er es auch in der Weymouth Street immer getan hatte, wenn er nicht schlief und wusste, er konnte nichts ändern.
Dass er nicht aß, schwächte ihn.
Oft ging er seufzend um fünf ins Labor und begann das Tagwerk, weil nur das ihm Ruhe gab. Ganz werden, die Zerrissenheit loswerden, die ihn wohl seit dem Tod seines Vaters bestimmt hatte, das ging nur mit ihr. Er wusste das treppauf, treppab. Wenn es gehen würde. Würde es gehen? Er gewöhnte sich Mittagspausen an, in denen er im Haus nach oben stieg, sich entkleidete, ins Bett legte, und mit einem Tuch über den Augen zehn Minuten Schlaf bekam. Wenn er richtiges Glück hatte, schaffte er eine halbe Stunde. Danach waren die Nerven für kurze Zeit besser, vor allem die Augennerven schienen dauerhaft gereizt, als habe jemand Sand hinter die Augäpfel gerieben, immer öfter kniff er sie zusammen oder legte die Hand auf, um sie für einen Moment zu verschatten und das Hirn vom Strom der Bilder zu entlasten.
Oft fasste er sich auf Höhe des Atlas an den Hinterkopf, auch da in den Nervenbahnen, zwischen Bandscheiben und Halswirbeln, in den Arterien und Venen: Sand. In den Hirnhäuten hatte Unkraut Wurzeln geschlagen, er bemerkte es nicht. Die Gedanken verloren an Tiefe, brachen gern ab, setzten woanders neu an, sprangen wieder zurück. Er bemerkte es nicht. Womit auch? Er stemmte sich automatisch dagegen, natürlich, feuerte sich an, sagte sich: Jetzt reiß dich zusammen. Brande ermunterte ihn zu Pausen, die er nicht machte.
Die Sonntage kamen und gingen, einmal saß er mit Sarah sogar allein am Tisch und wusste nicht, welches Signal er senden sollte. Eingesperrte Vögel flatterten durch den Kopf, konnten ihre Flügel nicht ausbreiten, protestierten jeder für sich: ein Geschrei. In der Woche darauf kam er mit einem Plan, er wollte einen Ausflug nach Greenwich machen. Sarah fehlte erkältet. Jeden Tag sandte er nun einen Burschen zur Familie Barnard, der Erkundigungen einzog und Genesungswünsche ausrichtete. Er ließ Zitronen bringen und lag auf seinem Bett, als wäre er der Kranke. Die Pocken waren es nicht, berichtete der Bursche, eine Lungenentzündung wurde es auch nicht, es blieb offensichtlich bei einer Erkältung.
Flexman schrieb zurück, auch er habe den Blitz in der Leidener Flasche einfangen können, ohne sein Haus dabei niederzubrennen. Faraday nahm es wie von Ferne wahr.
Sarah überlebte. Jemand wollte Licht aus Strom gemacht haben, Faraday vergaß, wer es war. Er schrieb De la Rive, das Experiment mit Quecksilber wiederholt zu haben. Er sei aber nicht sicher, ob ihm das korrekt gelungen sei, und fürchte außerdem, kein wirkliches Recht zu besitzen, die Zeit des sehr geschätzten Kollegen mit einem Brief zu verschwenden. Zumal er selbst neben einem zufällig gefundenen Verfahren zur Herstellung von Plumbago nichts Neues zu bieten habe. Er beschrieb das Verfahren.
Nach Sarahs Genesung schlug Edward einen Ausflug nach Greenwich für den kommenden Samstag vor. Endlich brauchte niemand mehr etwas zu verheimlichen.
Faraday ließ sich von seiner Freude einschüchtern. Er lief Gefahr, dachte er, die Freude kindisch zu zeigen. Aber die Möglichkeit gab Sarah ihm nicht: Sie war mehr als kühl. Sie benahm sich, als sei der Ausflug eine lästige Pflichtveranstaltung.
Vielleicht, dachte er, war sie noch geschwächt? Zu viert, auch die jüngere Schwester Mary Reid war dabei, wanderten sie über die Brücke auf die Südseite der Themse und die Anhöhe hinauf, von der sie auf London sahen.
Faraday bekam Auskunft: »Nein, mir geht es wieder gut.« Dazu sah sie in die Ferne und legte kein Gefühl in die Stimme, sondern war froh, den Satz beendet zu haben.
Er musste wohl doch nur fantasiert haben, als er glaubte, ihre Zuneigung zu besitzen. Wie war er bloß darauf gekommen? Weshalb lief sie mit ihm auf den Hügel? Er war schon bereit, alles aufzugeben, sich zu entschuldigen. Seine Fantasie, sagte er sich, hatte beschlossen, sich über ihn lustig zu machen. Sie bleckte ihm die Zähne entgegen, sagte jetzt: Du! Du bist zu viel.
Gleich würde Sarah es ihm selbst sagen. Sie würde meinen, dass sein Ort das Labor im Keller war und dass es ihm doch genügen sollte. Wie kam er darauf, dass jemand und ausgerechnet Sarah Barnard dieses Leben oder überhaupt eines mit ihm teilen wollte? Und ein anderes gab es sowieso nicht.
Sie hatten den höchsten Punkt des Hügels erreicht, drehten sich um und sahen auf das rauchende London. Oder musste er einfach die richtigen Worte jetzt finden oder nie? Vor den anderen? Sein Hirn war in der Lage, ihn keinen klaren Gedanken fassen und seine Hände dazu zittern zu lassen. Dass die anderen überhaupt dabei waren, natürlich bemerkte er es jetzt erst, war das Zeichen von Sarahs Ablehnung. Sie würde ihn gleich bitten, auf seine Werbung in Zukunft zu verzichten: Genau dafür war sie hier, und dafür waren die anderen dabei.
Plötzlich zog sie eine Abschrift aus der Manteltasche: »Damit ich es nicht vorlesen muss.«
In einer fremden Handschrift las er: Welch Pest und Plage befällt den menschlichen Leib? / Und welchen Fluch bringt meistens ein Weib?
Er schwieg.
»Das ist deines, oder?«
Das stimmte.
Er nickte.
Und nichts stimmte mehr.
Edward meldete sich: »Ich bin meiner Schwester diese Wahrheit schuldig. Und du bist sie ihr auch schuldig.«
Faraday nickte erneut und wusste nun, was Scham war.
Er hatte das Gedicht vergessen gehabt. Er hatte es geschrieben, und er hatte es so ernst gemeint wie alles, was er je gemacht hatte. Immer meinte er alles ernst. Das musste niemand sagen.
Er müsse darüber nachdenken, sagte er leise und mit kratzender Stimme: »Nichts, was ich jetzt sofort entgegne, macht es besser.«
Sie gab ihm die Hand, bevor er sich umdrehte, allein den Hügel hinunterlief, Richtung Themse, die träge und unbeeindruckt ihr Wasser um die Kurven führte, als sei genau das ihr Spaß.
Sarahs Blick im Rücken drehte er sich nicht noch einmal um. Das Wissen um ihren Blick war bitterer, beißender, dunkler, aushöhlender als der Zettel von Banks, den der Pförtner der Royal Society ihm in die Hand gedrückt hatte. Wie damals war jetzt die Bewerbung unverschämt, hochmütig gewesen, aber dieses Mal lag der Grund für die Ablehnung auf berechtigte Weise ganz in seiner Person. Und noch hatte er ihren Blick im Rücken. Falls sie Mitleid empfand, half ihm das nicht, aber das war nicht einmal wahrscheinlich. Leise begann es zu regnen. Die Haare klebten ihm auf der Stirn. Es gab nichts mehr zu sagen. An Sarahs Stelle hätte er genauso gehandelt, und die Nacht war die erste ganz ohne Schlaf.
Am folgenden Tag schrieb er:
Du zitiertest gestern den Reim, den einmal
Ich eitel und stolz zu Papier gebracht,
Mit kalter Brust, das Herz voller Qual,
Gegen der Liebe freundliche Macht.
Klag an, und ich beuge mich deinem Gericht:
Auch wenn mein Geständnis mir Strafe auflegt.
Seh ich meine Tat doch in düsterem Licht.
Glaub mir, dass sich längst anderer Geist in mir regt.
Und selbst unsre Gesetze verweigern galant
dass der Täter sich selbst zu beschuldigen hat
seinem Fehltritt zum Trotz reichen sie ihm die Hand
und erlauben ihm Reue für seine Tat.
Ein nobles Prinzip! Drum nicht lange verhehlt:
Ich wünsch es für mich. Und vom Advokat
dich zum Freund. Wo ich einmal gefehlt,
führe mich hilfreich auf besseren Pfad.
M.F.
Er gab es ihr am Sonntag, das erste Gedicht, das für sie geschrieben wurde. Eine Woche wartete er, eine Woche, die kein Ende nehmen wollte. Am folgenden Sonntag ging sie wieder zaghaft freundlich mit ihm um.
»Danke«, sagte sie, lächelte geschmeichelt und selbstsicher.
Er war jetzt noch vorsichtiger und unsicherer als zuvor. Wochenlang. Ausharren konnte er. Das sagte er sich.
Treppab und treppauf in der Albemarle Street, wochen-, monatelang. Tage im Keller, Nächte unterm Dach. Er schrieb einen Artikel über das Verbrennen von Edelsteinen, einen über das Auflösen von Silber in Ammoniak. Davy versuchte ihn nach Neapel zu locken, wo eine Anstellung auf Faraday warte.
Vergeblich.
Die Korrespondenz mit Abbott, in dessen Familie niemand wirklich gesund war und wo fast nur noch von Krankheiten gesprochen wurde, kam fast zum Erliegen. Von Dritten musste Faraday hören, Abbott beschwere sich: Der alte Freund ziehe neue Freundschaften vor. Faraday wehrte sich offensiv. Das Arbeitspensum sei zu hoch.
Eine Versicherung engagierte ihn in einer Brandsache als Gutachter vor Gericht. Die Gegner engagierten Davy und Brande. Faraday arbeitete präzise und ausführlich und ließ auch den Einfluss von Quecksilber während des Kochens von Öl bei sechshundert Grad Celsius nicht außer Acht. Er hatte mehr Material beigebracht als nötig, seine Partei gewann unabhängig von dem Gutachten aus formalen Gründen.
In Spanien, hörte Faraday, war die Revolution ausgebrochen. Entweder fünfzehn- oder dreiundzwanzigtausend Mann waren beteiligt. Die Gerüchte stellten sich als wahr heraus. In Cadiz hatte es sieben Tote gegeben, nicht viel für eine Revolution.
Der Ire Edward Bransfield, der mit achtzehn Jahren zwangsweise in die Royal Navy eingezogen worden war, hatte als Kommandant einer Brigg vom chilenischen Valparaíso aus eine Insel vor dem Neuland erreicht, das kurz zuvor von einem Esten in russischen Diensten erstmals gesichtet worden war und dem man den vorläufigen Namen Antarktis gegeben hatte. Faraday hörte, dass Bransfield die von einem Gletscher bedeckte und von Robben und Pinguinen bewohnte Insel im Namen von Georg dem Dritten in Besitz genommen hatte. Der König war aber am Tag zuvor gestorben. Endlich erhielt der Prinzregent, der schon seit fast zehn Jahren kommissarisch im Amt war, die Krone als Georg der Vierte.
Faraday hörte, dass Bransfield als Erster das neue Festland erkundete, und er las, dass der amerikanische Senat mit einem Verhältnis von beinahe zwei zu einer Stimme entschied, der Kongress der Vereinigten Staaten habe kein Recht, Missouri für die Zulassung zur Union die Sklaverei zu verbieten. Er hörte noch, aber registrierte nicht mehr, dass das Repräsentantenhaus weiterdiskutierte, und es wurde Juli, bis er es endlich nicht mehr aushielt und sein Herz in Sarah Barnards Hände legte.
»Du kennst mich«, schrieb er, »so gut wie ich mich selbst oder besser. Du kennst meine Vorurteile von früher, meine Gedanken von heute. Du kennst meine Schwächen, meine Eitelkeit, mein Wesen im Ganzen. Du hast mich von einem falschen Weg geholt, lass mich hoffen, dass Du auch andere Fehler noch korrigierst. Wieder und wieder versuche ich, was ich fühle, zu sagen, aber das kann ich nicht. Lass mich aber wenigstens behaupten, dass ich nicht der Selbstbezogene bin, der Deine Zuneigung nur zum eigenen Vorteil erwerben möchte. Wie auch immer ich zu Deinem Glück beitragen kann, sei es durch Fleiß oder Abwesenheit, es soll geschehen. Aber strafe mich nicht für den Wunsch, mehr als ein Freund zu sein, indem Du mich zu weniger als dem machst. Kannst Du mich nicht zu mehr machen, so lass mir, was ich habe, und hör mich an.«
Sarah zeigte diesen Brief ihrem Vater, der wie sein Sohn und sein Vater Edward hieß und der nur lachte und der Auffassung war, dass »die Liebe selbst aus Philosophen noch Dummköpfe macht«.
Sarah amüsierte das für einen Moment. Wenn sie allein war, half es aber nicht weiter bei der Frage, ob sie sich binden wollte an einen Mann, der jede Achtung verdiente und den sie sehr mochte, dessen Temperament sie fürchtete und dessen Leidenschaft sie, wie sie ihrer Schwester Mary Reid sagte, ganz bestimmt nicht erwidern könne.
Faraday als nervös zu bezeichnen wäre stark untertrieben gewesen. Sarahs Bruder ließ sich als Freund in der Albemarle Street sehen. Er berichtete im Dachzimmer, Faraday hörte sich seine lange, langsame und Pointen strikt vermeidende Erzählung der Vorgänge im Haus Barnard an. Sie hätte nach der komplizierten Erklärung einer doch eigentlich einfachen Situation mit einem guten, schönen, richtigen letzten Satz beendet werden müssen, der alle Zweifel beseitigen würde.
Edward sagte aber abschließend gepresst: »Vater hat die Mädchen für ein paar Wochen nach Ramsgate geschickt.«
Faraday hätte aufstehen können, um festzustellen: Ramsgate. Er stand aber wortlos auf, ging ein bisschen im Zimmer herum. Dann stellte er trocken fest: »Für ein paar Wochen.«
»Das ist sicher gut«, meinte Edward mit oder ohne Bedacht, »wenn sie in ein paar Wochen weiß«, er stockte instinktiv, fügte noch auslaufend an: »ob sie ...«
Weiter kam er nicht, und er musste es auch nicht. Obwohl es für Faraday sicher gut gewesen wäre, wenn das Wort »heiraten« noch gefallen wäre, zumal hier in seinen Wohnräumen. Es blieb Edward aber auf der Zunge liegen. Faraday wollte es nicht hören, sei es aus ungenauem Aberglauben oder weil er dessen Gewicht scheute. Für einen Liebeskranken, der kaum über den Tag kommt, ohne irgendeine Neuigkeit von seiner Geliebten, genügten die Ausführungen und Erklärungen des Bruders in all ihren Windungen und Komplikationen als Last.
Aber einem, der seit Monaten selbst vom täglichen Beweis, dass noch nicht alles ganz verloren ist, nur träumen kann und der sich mit heißen, zitternden, direkt am Herznerven hängenden Händen und Knien von Sonntag zu Sonntag log, ohne genau zu wissen, wie lange er noch so in sich würde hausen können, gaben die »paar Wochen« den Rest.
Faradays Welt bestand zwar auch sonst in Detailreichtum und möglichst filigranen Denkfiguren, aber umso besser wusste er, dass es am Ende immer nur eine zu respektierende Wahrheit gab und nichts zu diskutieren. Ein Weg voller Bedenken war selten ein gutes Zeichen.
»Ein paar Wochen lang«, stellte Faraday noch einmal fest.
»Das stehst du durch«, war Edward beim Gehen fest überzeugt, als Faraday ihn wortlos durch die Halle begleitete und die Tür aufschloss, ihm zunickte und fragte, wann sie denn führen.
»Heute morgen sind sie gefahren«, konnte Edward nur sagen, und Faraday nickte, ehe er wieder abschloss und die steile Treppe um alle ihre Kurven hochstieg, in sein Zimmer ging und ans Fenster.
Er musste sich nicht anstrengen für die Vorstellung, wie sie in den »paar Wochen« mit ihrer Schwester auf das Meer sah und an der Promenade auf- und abging. Wie sie hier einen Blick einfing und dort zwei. Faraday war nie in Ramsgate gewesen, er kannte die Strände aus Frankreich und Italien. Alle machten Urlaub an solchen Orten, alle waren fröhlicher als in der Stadt, freundlicher, atmeten gute Luft, ließen die Sonne auf die Augenlider, Wangen, Stirn und Unterarme wirken und legten sich insgesamt einen ausgeschlafenen, unangestrengten Gesichtsausdruck zu. Sie sahen gesund aus. Im Sand streiften sie die Schuhe ab, setzten sich, streckten die Beine aus, schlossen die Augen und lächelten und träumten. Die Herren rauchten imposante Zigarren und redeten einfaches, lässiges, gefälliges Zeug. Am Horizont zogen herrliche Segelschiffe vorbei. Die französische Küste war manchmal zu sehen und schürte die Reiselust. Beim Dinner saßen alle in der Pension und hatten sich viel Lustiges und Lauschiges und Gescheites zu erzählen, über Erosion zum Beispiel, die Versandung des Kanals und ob die Kreidefelsen standhalten oder weggewaschen würden wie die Küste oberhalb der Themsemündung.
Nichts fehlte in Ramsgate in den paar Wochen, in denen die Schwestern nicht in die Kirche kommen würden.
»Ein paar Wochen«, sagte er ein weiteres Mal.
Er fühlte sich wie frisch amputiert.
Nach dieser schlaflosen Nacht zog er sich an, packte ein paar Sachen und ging hinunter zum Botolph-Kai, direkt hinter der Brücke. Es war Sonntag. Die Stadt schlief unter den freundlichen ersten Sonnenstrahlen, der Qualm war nicht so dicht wie sonst, Faraday kniff die Augen zusammen. Er hatte Glück, denn das nächste Dampfboot ging um neun.
Obwohl die Maschine noch gar nicht lief, ließ der Kapitän ihn gleich an Bord. In einer windgeschützten, sonnigen Ecke an Deck legte Faraday sich auf eine Bank und schaffte es nicht, seine Gedanken lange in eine Richtung zu lenken. Es war in einem Sinne jetzt alles egal, denn er fuhr als Angeklagter, der um ein vorgezogenes Urteil bittet und den negativen Ausgang des Verfahrens für die Abkürzung in Kauf nimmt. Hauptsache, nicht untätig sein. Das Wiedersehen mit seiner Richterin konnte er sich nicht ausmalen. Falls er sich in ihren Augen unmöglich benahm, hatte sie recht. Er würde nichts entgegnen können. Er wusste nicht einmal, wo sie logierte.
Das Schiff legte ab, und noch bevor sie die West India Docks passierten, war er eingeschlafen. Schon im Sommer zuvor war ihm aufgefallen, dass er an der frischen Luft besser schlief. Als er wieder zu sich kam, hatten sie die halbe Strecke hinter sich, die Luft war hier sauber. Eine alte Dame forderte ihn mit gespielter Empörung auf, Platz für andere auf der Bank zu machen.
Er ging auf dem Deck zweimal im Kreis, sie fuhren die Themse gegen die hereinkommende Flut hinunter. Möwen setzten sich auf Reling und Aufbau. Tumult und Erschöpfung in Faradays Kopf ließen nach, sie machten einer zielgerichteten Spannung Platz, von der er nicht wusste, wie lange sie auszuhalten war. Diese Fahrt hätte er schon unternehmen sollen, als sein Leben noch intakt war und es niemanden in Ramsgate gab, der ihn kannte. Er hätte Sarah und Edward zum Beispiel einen Ausflug dorthin vorschlagen können – hätte!
Jetzt brauchte er einen Plan. Er sollte, bevor sie um Thanet herum waren, einen Entschluss gefasst haben, was er sagen würde. Schließlich war es nicht unmöglich, schon am Kai aufeinanderzutreffen. Lord Byron zu zitieren kam nicht in Frage, seit dem Skandal nicht und schon gar nicht mehr seit den Versen über die Gouvernante seiner Frau. Faraday hätte jetzt sowieso nichts richtig auswendig gewusst, wie er verwundert feststellte. Ein Byron war er ja auch nicht, und Sarah Barnard war sicher auch auf keinen Byron aus. Alles, was er noch hatte, waren ein bisschen Zeit bis zur Ankunft, sein Glaube und seine Ehrlichkeit: Wenn das Leben nichts als eine große, andauernde und andauernd verlängerte Niederlage sein sollte, dann war es bestimmt nicht ausgerechnet seine Aufgabe und sein Vermögen, dies zu ändern. Er müsste es ertragen.
Das Boot nahm während der Fahrt nur so viele neue Gäste auf, wie zuvor von Bord gegangen waren. Faraday hatte noch nie über die Gabe des Weghörens verfügt und hatte jetzt keine Kraft, das erneut zu bedauern.
Zwei Handlungsreisende besprachen die Auktionen in der Pall Mall. »Ich habe bei den chinesischen Vasen aus Bronze eine glückliche Hand gehabt«, ließ der eine wissen. Der andere hatte in Stühle aus Ebenholz und Elfenbein, Porzellan und eine Serie von zwölf Miniatur-Porträts der Stuarts, die aus den Händen der Olivers stammten, investiert. Ein dritter kam hinzu und begann über Höfe und Anliegen im Norden zu reden, bei denen sich die Investition seiner Meinung nach lohnte, da die landwirtschaftlichen Erträge künftig weit höhere Steigerungen erführen, als allgemein bekannt sei. Das Wissen, meinte er, explodiere geradezu: »Lange dauert das nicht mehr.« Ein Ehepaar redete über ein Buch, das die Geschichte Grönlands behandelte, es war aus dem Deutschen übersetzt worden und jetzt erschienen.
Den sandigen Teil der Themse hatten sie fast hinter sich, das Wasser war etwas klarer geworden, aber immer noch als dreckig anzusehen. Schon lange atmeten sie Meerluft. Schließlich erreichten sie die Mündung, und man musste sich festhalten. Sie drehten südwärts. Die französische Küste kam in Sicht, dann steuerbords die Häuserfront von Ramsgate.
Lange blieb er sitzen und sah auf die Promenade, bevor er an Land ging. Ein Junge nahm ihm die Tasche ab und bot ein Zimmer an. Faraday ließ sich in eine kleine Wirtschaft bringen, die nur ein paar Straßen vom Wasser entfernt war. Auf die Frage, wie lange er bleibe, sagte er, ohne zu überlegen: »Eine Woche.«
Er hatte Brande einen Zettel auf den großen Tisch des Labors gelegt, wegen seiner Kopfschmerzen benötige er dringend ein wenig Erholung und hoffe, sich die Abwesenheit von maximal sieben Tagen erlauben zu können. Gelogen war das nicht. Brande war sicher froh, dass sein Helfer vernünftig wurde.
Nach einigen Vorbereitungen, die er bei einem Tee verbrachte, konnte er das Zimmer ansehen, das er akzeptierte, obwohl es feucht war. Den Jungen schickte er los, im Ort zu erkunden, wo Mrs. Barnard und Mrs. Reid logierten. Nach einer Stunde kam er mit dem Ergebnis zurück. Er hatte es geschickt angestellt, die Damen wussten nichts von der Erkundung. So konnte er gleich wieder losgehen, in der Hand eine Nachricht vom Naturphilosophen Michael Faraday, den hier kein Mensch kannte, denn Philosophen gab es hier nicht, an Sarah Barnard: »Verehrte, liebe Sarah, sieh es mir nach, dass ich auch gekommen bin. Wenn es Dir möglich ist, so lasse mich wissen, wo ich Dich morgen treffen kann. Dein bescheidener Diener, Michael.«
Der Junge war bald mit der nur mündlich übermittelten Nachricht zurück, sie werde ihn morgen wissen lassen, ob sie Zeit habe. Natürlich fragte Faraday den Jungen nicht, ob sie erfreut gewesen sei oder empört oder bloß schockiert und ratlos. Je unhaltbarer seine Situation wurde, desto einfacher war sie zu ertragen. Er fand sogar zwei oder drei Stunden Schlaf.
Sarah Barnard hatte Zeit. Das erfuhr er beim Frühstück. Sie freue sich, ihn um zehn Uhr auf der Promenade zu sehen, am Eingang zum Ausleger. Das hieß noch gar nichts.
Das Licht war auch in der Nebenstraße schon hell, wie immer an der See, und es schmerzte nicht ganz so sehr wie am Tag zuvor noch die Sonne in London. Die Luft war warm und voller Salz und Fischgeruch und Vogelkreischen.
Sarah freute sich, ihn zu sehen.
»Du bist mir nachgereist.« Sie war fröhlich und sehr zufrieden.
Er lächelte vorsichtig und befürchtete, blöde zu wirken.
»Du meinst es wirklich ernst.«
Zum ersten Mal standen sie sich mit nichts anderem als der einen Frage gegenüber. Sie waren endlich einmal allein. Würde sie mit dem Blick auf das Wasser entscheiden, jetzt den Schritt in ihr Leben zu tun? Mit ihm Jahrzehnte zu wohnen, falls sie Jahrzehnte leben sollte. Ihn an die Stelle ihrer vertrauten Schwester zu setzen, ihn im Schlaf atmen zu hören, auf seine Regungen und Gerüche, Krankheiten und Launen einzugehen, seinen Bart wachsen zu sehen, sich an ihn zu schmiegen, ob sie sich das vorstellen konnte: Das fragte er sich.
Kinder zu bekommen: Das fragte sie sich.
Alt zu werden versuchen, gemeinsam.
Und wenn nicht mit ihm, mit wem dann? Ein Sandemanier würde diese Entscheidung niemals wieder neu überdenken, zwei würden es schon gar nicht tun. Das sprach für ihn. Es war so leicht, jetzt einfach in die Sommerluft hinein Ja zu sagen, sie spürte, wie die Rädchen ineinanderfallen wollten, um ein Getriebe zu bilden und endlich die Welt wieder rotieren zu lassen: Vielleicht!
Sie badete in seinem Antrag. Lange beobachtete sie zwei Möwen, die im Wind spielten, dann die Fischer, die ihren Fang auf dem Sand sortierten und von einem Volk mordlustiger Vögel umgeben waren, die sich auf jede weggeworfene Innerei stürzten, als sei es die letzte. Auch Faraday spürte, wie nah das Ja jetzt war. Er beobachtete sie unbefangener als zuvor. Vielleicht war alles eine Einbildung, die sich auflösen konnte? Wer würde das entscheiden? Feuchtigkeit legte sich auf ihr Gesicht, sie schloss die Augen und drehte sich in den Wind, wie es jeder an der See macht, und sie war niemandem und nichts, was er gekannt hätte, ähnlich.
»Ich werde mit meiner Schwester einen Spaziergang machen«, sagte sie und strich in ihrem Verehrer damit eine angerissene Saite an. Entsetzen huschte über seine Züge, seine Hände zitterten. Auch seine Stimme stand nicht fest, obwohl er einfach »Ja« sagte.
Schnell und unbeabsichtigt barsch fragte sie: »Wir treffen uns hier nach dem Tee?«
Er nickte und verabschiedete sich, ging mit den Händen in den Jackentaschen unbeabsichtigt rasch nach Norden die Promenade hoch. Sie drehte nach Süden, von da war sie gekommen. Sie hatte ein bisschen Mitleid mit ihm, barsch hatte sie nicht sein wollen. Aber dass er so ängstlich war, konnte sie nicht wissen. Das Mitleid lenkte sie von sich selbst ab. Es nahm ihr die Angst.
Als sie um die Biegung der Promenade herum und sicher war, dass er sie nicht mehr sehen konnte, sollte er sich umdrehen, stieg Respekt in ihr auf: »Er spielt wirklich ich oder nichts.« In den paar Minuten unter dem Thanetschen Himmel, den der berühmte Maler Turner als den lieblichsten in ganz Europa bezeichnet hatte, war Faraday ihr vertrauter geworden, nein: überhaupt ein klein wenig vertraut.
Faraday wusste in seinem oberen Teil von Ramsgate nicht so genau, ob er sich noch kannte. Er fragte es sich auch nicht. Trotz der Sonne und obwohl er noch zwei Tassen Tee trank, bevor er den Ort zu besichtigen begann, fröstelte er. Das ihm unbekannte Ramsgate war der Ort seines Schicksals geworden. Es enttäuschte ihn. Die ärmlichen Behausungen der Fischer mit ihrer Lieblosigkeit, der ganze Ort, fand er, bestand aus zerissenen Netzen, aus löchrigen und verfaulten, auf der Seite vor Häusern liegenden Ruderbooten und Fisch, der in alte Zeitungen eingerollt war, auf deren Datum niemand etwas gab. Von der Pest auf Mallorca und der Revolution der Neapolitaner, die in London mit den Zeitungen in Händen diskutiert wurden, erfuhr hier niemand mit Absicht. Ohne es zu wissen, konnten sich die Leute aus Ramsgate andere Orte nicht vorstellen und genauso wenig eine andere Zeit. Sie kamen gar nicht auf die Idee.
Er entschloss sich zu einem langen Spaziergang am Wasser. Zeit vergeuden. Nachdem er aufgehört hatte, in jeder zweiten Gestalt, die ihm mit Begleitung entgegenkam, Sarah und ihre Schwester zu vermuten und, wenn sie näher kamen, enttäuscht zu werden, begann er sich für die Wellen zu interessieren, die auf den flachen Strand schlugen. Dass sie Rillen in den Sand warfen, wunderte ihn nicht. Dass aber diese Rillen in sehr engem Abstand zueinander lagen, während die Wellen auf ihnen wie mit langem Arm über den Strand leckten, passte, fand er, nicht dazu. Der Strand war hier sehr flach, das Wasser stand manchmal fast.
Er zog die Schuhe aus, strich den Sand auf einer Fläche von der Größe eines Handtuchs mit dem Fuß glatt und wartete. Es dauerte, aber dann fand er die Rillen erneut genauso eng in den Sand gezeichnet. Diese langen Wasserwellen machten diese engen Sandrillen. Lange sah er in den Himmel. Schließlich schlich er zurück. Die Luft tat ihm gut, das merkte er, aber umso klarer wurde ihm, wie viel Kraft ihm fehlte. Hunger hatte er nicht. Er trug der Wirtin zu ihrer Verwunderung auf, ihn zum Tee zu wecken, aber Schlaf gab es keinen für ihn.
Sarah kam gut gelaunt. Auch Mary habe »ihre Freude an dem Verehrer, der Aufregung in die Reise brachte«, wie Sarah ihm ausrichten sollte. Die Schwestern hatten ihren Spaziergang zur St. Lawrence Church im hinteren Teil Ramsgates gemacht, und, was Faraday nicht wissen sollte, beim Gang über den Friedhof waren sie schon zu dem Schluss gekommen, dass es schlechtere Lose gab als die Albemarle Street mit ihren Vorträgen, den andauernden Neuigkeiten, Leuten wie Davy und den vielen Freunden des Hauses, unter denen auch Ärzte waren. Dass Michael als die personifizierte Zuverlässigkeit galt, war auch unter Beachtung seines angestrengten Perfektionstriebes noch ein Pluspunkt. Sarah mochte ihn, darauf kam sie immer wieder zurück. Sie war noch immer neugierig darauf, was ihn wirklich ausmachte und wie er wäre, wenn man ihn besser kannte.
»Eigentlich«, hatte ihre Schwester schließlich ausgesprochen, was beide dachten, »gibt es so viel nicht zu überlegen.«
Sarah hatte nicht geantwortet, und nichts davon sagte sie jetzt. Nicht ahnend, wie ausgehöhlt der Mann ihretwegen war und wie wenig Gewalt er über sich selbst hatte, blieb sie vor ihm stehen und sah ihn nur an.
»Gehen wir ein wenig ...«
Sie nickte.
»Hast du Ramsgate schon gesehen?« Sie lachte vorsichtig in den Wind und noch mehr in sein Herzklopfen, das sich nicht bremsen ließ.
»Ja, ein bisschen«, hörte er sich sagen, »aber das reicht auch.«
Es gefiel ihm nicht? Sarah war nur verwundert.
»Ärmlich«, sagte Faraday, »ganz arm. Hier ist gar nichts in Bewegung.«
Sie schlug die Richtung vor, in die er schon am Vormittag gegangen war, vom Ort weg. Er nickte. Hände in den Taschen und mit dem Blick auf den Boden setzte er sich in Bewegung. Er starrte wieder auf die Rillen im Sand.
So schlimm finde sie es nicht – Sarah sagte das nach ein paar Minuten, die sie still gegangen waren und in denen das schon am Morgen aufgekommene Mitgefühl für ihn die aufgeregte Freude, die sie eben noch in sich hatte, wieder in den Hintergrund gedrängt hatte. Sie wollte hier doch ein paar Wochen verbringen und sich das nicht schlechtreden lassen.
»Was?«
»Ramsgate.«
Das Wort tat ihm im Ohr weh, »Rams-gate«. Es klang wie »nicht sein« oder »weg sein« oder »nicht ich«.
Er nickte nur.
»Ich mag das hier.«
Und nach einer halben Minute: »Die einfachen Leute.«
»Ich weiß gar nicht«, meinte er, den Blick weiter auf den Boden, meist auf die Schuhspitzen und manchmal auf den Saum des Wassers gerichtet, »wie an einem solchen Ort sich jemals etwas verändern soll.«
Am Rand jeder Wasserzunge, die erst den Sand hoch-, dann zurück ins Meer lief und eine dünne Wasserschicht zurückließ, die sehr schnell und gleichmäßig in den Sand sickerte wie in einen Schwamm, bildete sich eine kleine Schaumlippe.
Sarah schwieg, nicht verärgert, nur irritiert.
»Hier denkt niemand daran«, sagte er barsch, »sich zu verbessern.«
Und weil sie stumm blieb: »Abends noch am Leben zu sein, reicht den Leuten schon.«
Wie jeder in der Gemeinde wusste auch Sarah Barnard um die Armut, aus der die Familie Faraday gekommen war. Margaret hatte sonntags manchmal davon erzählt, allerdings mit einer Fröhlichkeit, als ob sie von einem Säugling sprach, den sie gegen alle Prognosen durchgebracht hatte und der gerade heiratete.
Was sollen sie auch sonst machen, dachte Sarah vorwurfslos, versuchte ihn aber abzulenken: »Von der Klippe da oben sieht man weit. Wenn das Wetter günstig ist, haben sie mir gesagt, kann man sogar die Kirchtürme der Franzosen sehen.«
Er dachte nur kurz an seinen Kollegen De la Rive, genauer: an die Korrespondenz mit ihm, denn Faraday berichtigte, die Klippen seien ja ausgesprochen klein und die Sicht hänge gewiss nicht von der kleinen Anhöhe ab: »Von hier unten ist es bei guter Sicht nicht anders als von solch einer kleinen Klippe.«
Vor Augen hatte er den Vesuv und die Alpen und überlegte, wie er sie mit den Klippen vergleichen sollte, als er bemerkte, dass Sarah sich gegen etwas sperrte. Intuitiv hielt er inne.
Sie waren jetzt eine Dreiviertelstunde unterwegs. Der Sand war von Kieselsteinen und Geröll abgelöst worden, die Wellen brachen und zerlegten sich in viele kleine Spritzer. Vor ihnen lag die Pegwell Bucht, ein Rand aus abbrechender Kreide, zwei andere Schichten darüber, oben wenig grüner Bewuchs.
»Da ist Cliff’s End«, hätte Sarah sagen und geradeaus auf ein paar Häuser zeigen können, die sie bereits am Vortag von hier aus gesehen hatte. Sie hielt aber nur ihren Hut fest, der Wind hatte zugenommen, während sie zügig über die Steine ging und jede Synchronisation mit seinem Gang verweigerte.
Auch er schwieg jetzt.
Er schwieg von den toskanischen Hügeln und der toskanischen Vegetation, vom Schnee auf dem Tenda-Pass und vom Lavastrom in der Campagna und der Kuppel von St. Peter.
Bevor sie Cliff’s End erreichten, waren sie auf den größer werdenden Steinen voreinander hergeklettert und gerutscht und gestolpert. Er war froh um die Beschäftigung gewesen. Als sie wieder Sand unter den Füßen hatten, liefen sie lose nebeneinander her, genau wie die Fremden, die sie einander waren. Mal beschleunigte Sarah den Schritt, um mit dem Fuß einen im Sand liegenden Gegenstand wegzukicken, ein anderes Mal verlangsamte sie ihn und beugte sich nach einer Muschel, damit er sie überholte und sie ihn anschauen konnte. Sie mochte die Art, wie er ging, hätte gerne gewusst, was er sich fragte.
Ob er der Situation gewachsen war, ob er glaubte, das Herz gewinnen zu können, das er umwarb? Oder ob er nur den Beweis suchte, er könne es nicht?
Vor dem Nachbarort holte sie ihn ein, drehte sich plötzlich zu ihm, sie hatten lange nichts gesprochen, und fragte, was er vorhabe.
Er zuckte, die Hände in den Manteltaschen, mit den Schultern, was nicht auf Liebe stieß bei ihr, sagte dann schnell: »Magst du den Ort ansehen?«
Sie stimmte zu, ohne dass er besondere Ab- oder Zuneigung hätte ausmachen können. Dass sie ihn einfach jetzt umarmte: Wieso konnte er das wünschen?
»Vermisst du deine Arbeit?«
»Das wäre töricht.« Er versuchte freundlich zu wirken. Er begann von Freunden zu sprechen, zu deren engsten auf jeden Fall ihr Bruder zähle, wie wichtig sie für ihn bei all der Arbeit im Labor seien, und von seinem Zuhause, seiner Mutter, seinem Bruder, den Schwestern, die er in der Institution vermisse.
Sie lächelte einmal, und wenn er wollte, konnte er daraus die belustigte Frage lesen, ob sie sich vielleicht doch nicht irrte und die normale Person in ihm entdeckt hatte, die er so sehr zu zeigen verweigerte. Er wollte. Aber vielleicht belächelte sie ihn auch bloß, wie man ein Kind belächelt, das etwas Lustiges, Banales, Naives gesagt hat.
Er, der sich doch nie im Leben hatte zurückhalten lassen, nicht von Joseph Banks, nicht von seinem Sprachfehler, der fehlenden Schulbildung und Mathematik und nicht von Jane Davy, er traute sich nicht, ihre Hand zu nehmen? Ihr Bruder hatte Faraday als stürmischen Menschen beschrieben. Das musste auf alle Fälle ein Irrtum sein. Nur sein Brief ... lieber Gott!
Bei Einbruch der Dunkelheit erst erreichten sie Ramsgate, ohne noch mal unten am Wasser gelaufen zu sein.
»Ich melde mich morgen«, sagte sie zu ihm. Und zu Mary, die vor Neugier platzte: »Ich bin müde, lass uns schlafen.«
Weder Faraday noch Sarahs Schwester fanden leicht in den Schlaf.
Zum Frühstück kam der Junge gelaufen, ob Faraday morgen Zeit habe für Mrs. Barnard.
»Morgen?«
»Das lässt die Dame fragen.« Er wurde rot.
»Sage ihr, dass ich selbstverständlich und sehr gerne morgen für sie Zeit habe.«
Das Liegen auf dem Bett, gleiches Gehen am gleichen Strand, allein. Zeit – die hatte er zuletzt vor der Lehre gehabt, als Laufbursche, oder als Schüler an den Nachmittagen. Zu viel Zeit, das war neu. Wie brachte man einen Tag herum? Ein Buch hatte er nicht dabei, und er hätte sich auch schlecht auf eines konzentrieren können. Die Schaumlippen am Strand, Größe der Bläschen in Abhängigkeit von der Höhe der Welle oder von ihrer Geschwindigkeit. Das Rillenstudium. Mit welcher Frequenz leckten die Wellen den Strand? Er machte Notizen.
Allein essen. Auf morgen warten. Und dann? Endlich wurde es dunkel. In dem kleinen Zimmer konnte er vor sich selbst so tun, als schlafe er. Dass neben dem Sauerstoff eine große Mahlzeit geholfen hätte, seinem Körper mehr Energie zu geben, konnte er nicht wissen. Er hätte sie sich hineinquälen müssen.
Dass er weiter Gewicht verlor, das fiel auch ihr am nächsten Tag auf und machte sie vorsichtig. Er hatte eine Mühle entdeckt und angenommen, Sarah könnte sich dafür interessieren. Sie ging mit, aber das Beobachten der Mühlräder, wie sie im Beisein des glücklichen Müllers Körner zerrieben und alles einstaubten, lockerte die Stimmung nicht. Am Abend ließ Faraday sich in seinem Zimmer in den Sessel fallen, die Glieder schlaff.
»Ich wünschte«, notierte er später, »dass Erinnerung und Gefühl mich verließen und ich ins Nichts hinübergleiten könnte.«
Aufstehen, um unten zum Abendessen zu erscheinen, kostete Überwindung. Aber dann überkamen ihn der Stolz und die Gewissheit, dass er noch seinen Glauben hatte, der ihn nie verlassen würde. Sarah hatte abermals gesagt, er könne sie übermorgen wieder treffen. Danach würde er abreisen müssen. Immerhin hatte sie warm dazu gelächelt, und der freie Tag verging mit der Analyse dieses Lächelns. Wieder und wieder rief er es auf, um sich daran festzuhalten. Er bemühte jede kleine Regung vor und nach dem Lächeln, an die er sich zu erinnern meinte, stellte sie in Frage, war es nur eine Art Höflichkeit gewesen oder gar Erleichterung, dass die Zeit um war, oder war es ernst, nein, sie hatte doch in dem Moment gelächelt, in dem sie vom nächsten Treffen auf der Promenade sprach. Aber warum dann erst übermorgen?
Er fing wieder von vorne an, bis sich alles auflöste, auch das Lächeln, weil er nicht mehr zwischen der Erinnerung und der Erinnerung an die vielen Erinnerungen unterscheiden konnte, und alles eine Einbildung geworden und das Lächeln verschwunden war.
Sie fuhren nach Dover. Sarah gab sich gelöster, vielleicht weil er am Tag darauf Ramsgate verließ? Auch Faraday war lockerer, die Anspannung würde bald vorbei sein, Freude oder Trauer würden ihn nach Hause begleiten. Unbemerkt hatte die viele frische Luft ihm gutgetan, zu seiner Überraschung hatte er auch nicht schlecht geschlafen. Dass sie sich schon lang entschieden hatte, wusste er nicht und zuckte, als sie einmal lachte, zusammen.
Im Rückblick schrieb der Held: »Die Szenerie war sehr schön, viel schöner als alles, was ich bis dahin entlang der Kreideküste gesehen habe. Die Klippen stiegen wie Berge zu immensen Höhen vor uns auf, nicht exakt rechwinklig, mit der flachen, kargen Oberfläche um Thanet, dafür mit steilen und hervorragenden Abhängen, Gipfel und Grate ragten in die Luft, die Seiten wunderschön gebrochen, roh und erhaben und vielfältig, mit luxuriöser Vegetation, sogar Bäume hielten sich in den Falten und Spalten. Am Fuße der glitzernde Ozean, vom frischen, erfrischenden Wind zum Leben erweckt, vom Licht der Sonne entflammt. Auf seiner Oberfläche tanzten Boote aller Art in den weißen Wellen, bahnten sich gegen den scheinbaren Widerstand des Wassers ihren Weg.
Links lag Dover mit dem Hafen und Schiffen, gleichzeitig beschützt und bedroht von den Hügeln ringsum, auf der anderen Seite deutete sich das weiße Kliff Frankreichs hinter Dunst und Schatten an. Das Ganze war überwältigend, der Geist erlag einem Gedanken nach dem anderen und wurde beinahe heilig, wenn das Auge den Bogen der Klippe entlangwanderte, wo man Shakespeares Geist direkt am Abgrund sitzen zu sehen meinte, absorbiert von der Größe des Bildes. Die Imagination flüsterte, dass all dies, Borke, Stein und Boje, der große Jux, den wir Sterbliche erwecken, nur wieder in Sterblichkeit enden kann.«
Mitten hinein, als er mit der rechten Hand etwas in der Ferne zeigte und in den Wind rief, hatte Sarah seine linke Hand genommen und in seine Begeisterung genickt, ohne ihn genau verstehen zu können, und nach einem Aussetzer, begleitet von einem wilden, überirdischen Gesichtsausdruck, hatte sein Herz wieder zu schlagen begonnen: in sein neues Leben hinein.
Hoffnung hatte er keine gehabt, obwohl er den Tag über dann doch voller Energie, mit dreimal so viel Energie wie sonst gewesen war. Als sie gegen Abend zu versiegen drohte und er fürchtete, nie wieder so glücklich sein zu können, rettete Sarah Barnard ihren Verehrer mit dem Ja, nachdem er beim Tee endlich die Frage mit einer Träne in einem Auge über die Lippen gebracht hatte. Aufrichtig schilderte sie ihm ihre Ängste. Und doch würde sie ihn tatsächlich ertragen wollen.
»Wie sehr«, jubelte er, »hatten doch die Stärke und der Ernst der Anziehung meine Urteilskraft angegriffen!«
Er verlängerte noch um einen Tag, den sie gemeinsam in Manston und im Glück verbrachten. Dann nahm Faraday ein frühes Boot zurück nach London, das ihm noch imposanter erschien und dabei noch vertrauter als sonst: die Häusermassen, die Werften auf beiden Seiten, als sie Woolwich passiert hatten, die sich immer dichter an den Ufern drängenden Schiffe, Tausende mussten es sein, die nur einen schmalen Korridor frei ließen, in dem die Dampfer aneinander vorbeirauschten. Was hatte er doch ein Glück von Gott zugewiesen bekommen, hier leben zu dürfen.
Er eilte in die Paternoster Road, um der Familie Barnard Briefe der Schwestern und Neuigkeiten zu überbringen und sich zu empfehlen.
»Seit ich die Woche mit Dir verbracht habe«, schrieb er seiner zukünftigen Frau, »beweist mir jeder Moment aufs Neue, welche Macht Du über mich hast. Einst konnte ich mir nicht vorstellen, dass ein Mann von solch ungeteilten, intensiven Gefühlen geleitet wird; nun glaube ich, dass noch nie ein Mann so gefühlt haben kann oder fühlt, wie ich es tue.« Sie möge es ihm bitte sagen, sobald ihre Ängste zurückkehrten, dann suche er nach dem Gegenmittel. Er war sicher, es finden zu können. Sie möge auch seine Briefe lesen oder umschreiben, sie möge alles tun, um ihre Ängste zu vertreiben. Und Mary Reid werde er niemals zurückgeben können, was sie an Hilfe geleistet und an Zuneigung gezeigt habe. Er werde versuchen, es ihrer Schwester, es Sarah zu geben.
Jetzt würde er sich wieder ganz seiner Arbeit zuwenden können.
Er arbeitete wie früher. Brande war froh, ihn so zu sehen. Er erzählte, dass man in Paris einen Preis für die beste Übersicht über die Optik an einen Wellentheoretiker vergeben hatte: »Poisson hat der Jury vorgesessen und sich lustig gemacht über die Abhandlung, wie er sich immer über den Äther lustig gemacht hat. Er meinte, wenn sie richtig wäre, dann würde in der Mitte des Schattens einer runden Scheibe ein heller Fleck sein.«
»Und?«
»Arago war auch in der Jury. Er hat nachgesehen. Erst in der Bibliothek, der Fleck war schon früher bekannt gewesen, dann hat er es selbst geprüft: Es war nicht nur der Fleck da, wenn man die richtigen Dimensionen nimmt bei der Lichtquelle und der Scheibe, sondern noch viele schöne runde Kreise um ihn herum.« Brande überschlug sich vor Freude: »Er heißt jetzt Poisson’scher Fleck.«
Alle Grundlagen der Wellenüberlagerungen stammten von Davys Freund Thomas Young, den seit zwanzig Jahren kaum jemand beachtet hatte. Er hatte auch eine gute Erklärung für den doppelt brechenden Calcit, den Davy damals gezeigt hatte, als Faraday das erste Mal zuhören durfte: Young hatte erkannt, dass Lichtwellen anders als Schallwellen waren. Schall stauchte sein Medium, die Luft, in der Richtung seiner Ausbreitung: longitudinal. Licht dagegen war wie Wellen auf der Wasseroberfläche oder die Schwingung auf einer Saite, auf der die Auslenkung quer zur Ausbreitungsrichtung war: transversal. Wenn diese Querbewegung nur in einer Ebene stattfand, die Saite also nicht rundherum schwang, sondern nur auf und nieder, sprach man von Polarisation. Der Calcit nun brach zwei senkrecht aufeinander stehende Polarisationen unterschiedlich stark und zerlegte so einen Lichtstrahl in zwei. Daher das doppelte Bild.
»Gar keine kleine Leistung von Young«, sagte Brande, »gar nicht.«
Für Newton, dachte Faraday, wurde es eng, auch wenn er bislang tatsächlich immer noch eine Erklärung geliefert hatte, wenn man ihn nur so genau las wie die Sandemanier am Sonntag ihre Bibel.
»Helligkeit im Schatten kann man mit Anziehungskräften für das Lichtteilchen an den Rändern des Objekts vielleicht noch erklären«, meinte Brande auch, »beim Haar mag das angehen, aber den größten Fleck in der Mitte hinter einer Scheibe und die Ringe bekommt man nur bei Wellen, wo sich laut Young zwei Wellenberge addieren und ein Berg und ein Tal auslöschen. Komisch nur, dass die Franzosen uns auf unsere eigene englische Theorie bringen müssen.«
»Ja«, entgegnete Faraday nachdenklich und dachte: »Komisch.« Jetzt würde es sich an der Brechung beweisen müssen: Newton brauchte das Licht in dichteren Medien wie Glas und Wasser schneller als in Luft, Young brauchte es langsamer.
Davy schickte Grüße und allerhand Anweisungen aus Rokeby, Newcastle, Howick und Harwood House. Aus Market Harborough schrieb er, dass die zukünftige Ehefrau seines ehemaligen Reisedieners wahrscheinlich einziehen dürfe in die Institution. Faraday schrieb ihr einen Katalog von Fragen, die sich um Übertreibungen und Liebesbeweise drehten, die er erbringen wollte: »Kann ich oder kann die Wahrheit mehr sagen, als dass für diese Welt ich Dein bin?«
Einen Monat später meinte er, es sei erstaunlich, wie sehr die Verfassung des Körpers die Kräfte des Geistes beeinflusse: »Ich habe den ganzen Morgen an den vergnügten und interessanten Brief gedacht, den ich Dir heute Abend schicken wollte, und nun bin ich so müde und habe noch so viel zu tun, dass meine Gedanken taumeln und um das Bild von Dir laufen, ohne eigene Kraft zu haben, anzuhalten und das Bild zu bewundern. Ich möchte Dir tausend schöne und, glaube mir, innige Dinge sagen, aber ich bin kein Meister der Worte für diese Dinge, und wo ich grüble und an Dich denke, schwimmen Chloride, Verfahren, Öl, Davy, Stahl, Miszellaneen, Quecksilber und fünfzig andere berufliche Fantastereien durch meine Sinne und treiben mich tiefer und tiefer in meine verlegene Dummheit.«
Sarah Barnard und Michael Faraday heirateten kurz nach dem plötzlichen Tod von Benjamin Abbotts Bruder Robert ohne jede Großartigkeit im Juni 1821. Einen Monat später gab Faraday überraschend sein Glaubenbekenntnis ab. Es war, meinte er, eine Sache »nur zwischen meinem Gott und mir«.
4 Die erste Erfüllung
Davy, mittlerweile Baronet Sir Humphry und Träger der Rumford-Medaille, war im Herbst vor der Hochzeit gerade aus Europa zurück, als eine Entdeckung des Latein schreibenden Dänen Hans Christian Ørsted die Runde machte, nachdem sein Artikel ins Englische übersetzt worden war. Ørsted hatte bei einer Demonstration entdeckt, dass die Kompassnadel auf elektrischen Strom reagiert.
Er hatte wie nachfolgend alle anderen versucht, mögliche Störungen auszuschalten, die diesen allgemein als widersinnig, von ihm aber als nicht unplausibel empfundenen Effekt hervorgerufen haben konnten. Das schulte nur, wie der Effekt am besten zu zeigen war, und in dem niedrigen Tempo, in dem sich die Kenntnis von ihm durch Europa schlich, verfestigte sich die Gewissheit um ihn. Laut Ampère hatten alle halt dem viel zu einflussreichen Charles Coulomb geglaubt, Elektrizität und Magnetismus seien zwei verschiedene Flüssigkeiten, die sich nicht durchdrangen.
»Falsch geglaubt«, kommentierte Davy.
Coulomb kannte fließende Elektrizität nicht gut genug, dachte Faraday, sagte es aber nicht.
Zusammen bauten sie die Anordnung nach Ørsteds Skizze auf, während Davy von Joseph Banks’ Beerdigung erzählte und dass Banks über vierzig Jahre Präsident der Royal Society gewesen war. Als ob Faraday das nicht wüsste.
Er nickte, behielt die Bewerbung und den Zettel, den Banks ihm geschrieben hatte, auch jetzt für sich, verband die Kabel mit der Batterie. Die Magnetnadel stellte sich im rechten Winkel zum Draht. Wiederholt kabelten sie den Strom an und ab, positionierten die Nadel rechts vom Kabel, dann links, hielten den Kompass an verschiedene Stellen auf einem imaginären Kreis, der um die Achse des Kabels verlief, nach oben und unten, mit immer demselben Ergebnis. Sie polten den Strom um, die Nadel drehte sich nun andersherum senkrecht zum Draht. Sie stellten den Strom ab, die Nadel schmiegte sich wieder ins Magnetfeld der Erde. Jetzt erst grinsten die beiden Männer.
Davy fand »lustig«, was sie sahen.
Faraday nickte und wunderte sich, dass nie jemand vorher auf diese Idee gekommen war. Ørsted hatte, was man sah, den Konflikt der Elektrizität mit dem Magnetismus genannt und glaubte, dass auch Hitze und Licht aus solchen Konflikten stammten. Darüber konnte man später noch reden oder nachdenken. Elektrizität und Magnetismus waren erst mal wesentlich weniger als zwei völlig verschiedene Dinge und wesentlich mehr als zwei nichts voneinander Wissende. Man konnte den Versuch jederzeit an jedem Ort wiederholen. Er war eine Revolution.
»Sie wollen Dr. Wollaston zum Präsidenten machen«, meinte Davy dazu, den Faraday reden ließ.
»Banks hat das so gewollt, weil Wollaston ernst genug wäre.«
Kurzer Blick des Lehrlings zum Meister.
Dr. William Hyde Wollaston, dachte Faraday.
»Ich war ihm zu lebhaft«, plauderte Davy. Er lachte und sah Faraday über die Schulter, der eine Skizze ins Laborbuch malte.
»Angeblich.«
Faraday überlegte, was er sagen konnte.
»Nur, dass Wollaston gar nicht will«, kam Davy ihm zuvor.
Faraday schrieb die Ergebnisse neben die Skizze: Geometrie der Nadel, Länge des Drahtes, Abstand zwischen Draht und Nadel, Stromstärke, Größe der Batterie, die Uhrzeit, das Datum. Dann schrieb er: Bewölkt.
»Er selbst findet sich zu langsam.«
Davy redete zum ersten Mal so mit Faraday, als frage er ihn nach seiner Meinung, mit Unsicherheit und dem Wunsch nach Zustimmung. Im nächsten Moment würde er ihn wieder wie einen Diener behandeln, obwohl die französischen Kollegen längst auf Augenhöhe mit Faraday kommunizierten. Das eine wie das andere hatte Davy nicht bemerkt, und Faraday war nicht so, dass er sich an Gesprächen über Karrieren beteiligt hätte.
»Jetzt redet man laut darüber, dass kaum noch Arbeiten aus Oxford und Cambridge kommen und jede kleine Gesellschaft ihre eigene Publikation herausgibt.«
Faraday schlug das Laborbuch zu und sah seinen Gönner so freundlich an, wie es ihm möglich war.
»Wollaston will sich doch langsam zur Ruhe setzen«, führte Davy die Debatte zu ihrem einseitigen Ende, und Faraday, der davon nichts wusste, begann den Tisch aufzuräumen. Anschließend gingen sie auseinander, ohne noch einmal über das Experiment geredet zu haben.
Faraday war immer froh, wenn er sich nach einem Stück Arbeit erholen konnte. Er legte sich gern hin und verschattete die Augen.
Sarahs Anwesenheit half ihm. Er hörte sie in der Küche, wenn sie mit Töpfen hantierte und den Tisch deckte. Er roch das Essen, das er nicht mehr allein zubereiten musste, das machte sie jetzt. Beide liebten Fleisch und Wein, und manchmal gönnten sie sich etwas. Sie wussten, wie es in den Arbeitervierteln aussah und zuging, zumindest ahnten sie es. Sarah hatte sich angewöhnt, beim Einschlafen mit der Hand den Bund seiner Hose zu greifen, als wollte sie sicher sein, ihn in der Nacht nicht zu verlieren, die sie durchschwammen wie Treibholz einen Fluss. Sie war es jetzt, die in ihm verschwunden war, und niemand wäre je auf die Idee gekommen, das anders zu denken: Ihr genügte seine Schlaflosigkeit, die sie seiner Arbeit zuordnete, und sie sah es als ausreichend an, das »Kissen seines Geistes zu sein«.
Samstags brachte er sie zu ihrer Familie, in der er ein »vollständiges Mitglied« zu werden sich bemühte. Dass die Magnetnadel, ließ er nicht ab zu denken, sich ausgerechnet rechtwinklig stellte: kurios. So kurios, dass man hätte platzen können. Wo war der Trick, der zeigte, dass nichts Ungewöhnliches daran war, sondern nur Folgerichtiges? Man musste es anders denken als bis jetzt, wenn man es komisch fand, dass sie sich rechtwinklig stellte und nicht parallel. Etwas daran musste man anders denken. Rechtwinklig war ja richtig, das hatte Gott so gewählt.
Monatelang widmeten sich Davy und Wollaston dem Konflikt. In Berlin zerschlug sich Humboldt den Kopf daran oder versuchte es. Aus Leipzig sandte Ludwig Wilhelm Gilbert die Annalen der Physik, die voller Erkenntnisse zum Magnetismus der Elektrizität seien, welche die Engländer, so Gilbert mit mittelmäßig verhohlenem Unwillen, leider konsequent ignorierten. Faraday bedankte sich und gelobte Besserung. Zum Deutschlernen sei er leider zu alt.
Als Bestätigung der Weltlogik, wie er sie seit dem Lesen der Rede Davys in der Times kannte, nahm er den Tod Buonapartes in englischer Gefangenschaft zur Kenntnis: »Er war seit Mitte März krank gewesen, zwei Wochen ernstlich, Anfang Mai ist er gestorben«, erzählte Wollaston am 4. Juli mit dem Finger in der Westentasche eingehakt morgens im Flur vor dem Vortragssaal, wo er, als Faraday zur ersten Pause aus dem Keller kam, mit Davy zusammenstand.
»Das Fett auf seinem Bauch hatte eine Stärke von eineinviertel Inch«, wusste Davy amüsiert, »auf seinen Lippen hat ein Lächeln gelegen, das sich der wachhabende Offizier schöner nicht vorstellen konnte.«
Der Magen, schrieben die Zeitungen, sei vom Krebs fast vollständig zerstört gewesen und die Leber so groß und nah am Magen, dass man sie bei der Obduktion habe wegschneiden müssen. Mehrfach habe Buonaparte seine große Zufriedenheit über den Aufenthaltsort und seine Behandlung zum Ausdruck gebracht, hieß es, während andere von einem abgemagerten ehemaligen Eroberer berichteten, der den Tod habe kommen spüren, wie er ihn schon bei seinem Vater hatte mit ansehen müssen.
Er hatte sich die Uniform des Feldmarschalls anlegen lassen, Stiefel und Sporen hatten nicht gefehlt, um auf dem letzten Bett die Passion noch einmal zur Schau zu tragen, bevor er erstarrte.
»Das spart England im Jahr vierhunderttausend«, sagte Davy besonders liebevoll, und an den Straßenecken fielen noch einige Bemerkungen über Buonapartes Charakter, seine Intelligenz und was er mit ihr gemacht habe.
Faraday hatte sein Laborbuch zu führen begonnen. Bis zum Sommer 1821 war er mit chemischen Aufgaben beschäftigt und mit dem Ignorieren des Unkrauts in seinem Kopf, in das sich erste Triebe größerer Pflanzen gemischt hatten. Sie wuchsen, ohne nach Erlaubnis zu fragen. Er empfand es als normal, dauernd seine Gedanken sortieren und Umwege gehen zu müssen und davon erschöpft zu sein. Er kannte ja nichts anderes.
Die Tretpfade von gestern und vorgestern waren heute zugewuchert, gehen konnte man im Garten der Gedanken kaum noch, es war eher ein Klettern. Neue Eindrücke sackten nur langsam, schrittweise in sein Bewusstsein, als müssten sie erst immer wieder an den Gabelungen seines wilden Geistes anstehen, bevor sie weiterdurften. Dass er auch die Treppen in der Institution langsamer ging, im Rhythmus eines zwar instinktiv aber umso penibler Haushaltenden, bemerkte er auch nicht: Alles, was schleichend sich ändert, erscheint stabil. Vor allem, wenn man das wünscht. Und Faraday wünschte. Er wollte ans Ziel.
Im Sommer bat Richard Phillips um einen Bericht über den Elektromagnetismus, wie er mittlerweile genannt wurde. Phillips war ein alter Freund aus der Dorset Street und mittlerweile Herausgeber der Annals of Philosophy, wo er sich einen Überblick über den Stand der Forschung dargestellt wünschte. Ampère hatte Bewegung in die Debatte gebracht, indem er feststellte, dass ein zur Spule gewickelter Draht sich wie ein Magnet verhielt, wenn Strom floss. Das hieß: Die Spule war ein Magnet. Zwei Spulen verhielten sich dementsprechend wie zwei Magnete, und, noch einfacher, auch zwei Drähte taten das. Wollaston meinte deshalb, dass der Strom im geraden Draht sich auf einer Spirale bewegte.
Strom, dachte Faraday, auf einer Spirale.
Hielt man die Ørsted’sche Magnetnadel fest, dann musste der Draht ausweichen, also: sich ausrichten. Alle fragten sich, wie er das wohl tat, wie diese seltsame Kraft aussah. Dazu musste man den Draht parallel zum Magneten stellen. Wollaston hatte, meist allein, manchmal mit Davy, Versuche dazu gemacht. Sie hatten die Kraft auf den Draht wirken gesehen. Sobald Strom floss, hatte er sich, nicht ganz gerade und rund, wie handgemachte Drähte eben waren, gewunden und bewegt, und einmal hatte es ausgesehen, als drehte er sich am liebsten um sich selbst und würde nur von den Zuleitungen der Batterie daran gehindert. Das jedenfalls reimte sich Faraday zusammen, der einmal zufällig ein halbes Gespräch zwischen Davy und Wollaston vor dem Labor mitgehört hatte.
»Das würde«, meinte Wollaston damals, »Sinn ergeben.«
Interessant war das, und die Londoner Buchmacher schlossen Wetten darauf ab, dass Wollaston das Rätsel bald lösen würde.
Aber wenn Faraday, ohne den Draht vor Augen zu haben, darüber nachdachte, dann war eine Rotation um die eigene Achse irgendwo im Raum neben dem Magneten eines: verdammt ungelenk. Wie sollte eine Kraft aussehen, die von einem Stabmagneten senkrecht in den Raum greift wie eine Hand oder wie zwei Finger, die einen Draht um seine eigene Achse drehen? Eine Kraft war immer noch etwas Gerades, Effizientes, Schönes.
Die Eisenspäne fielen schließlich auch in einem symmetrischen Bild auf geraden Linien um den Magneten herum. Was bedeuteten sie? Das Kraftfeld des Magneten griff aus ihm heraus, war keineswegs auf den Körper des Magneten beschränkt.
»Wie soll das Magnetfeld wissen, wo rechts und links vom Draht ist, damit es nach Wollaston richtig herum dreht?«, fragte er Sarah, die lächelte und die Wollaston mochte und sehr, sehr ernst nahm.
»Woher weiß das Magnetfeld, dass es vor oder hinter dem Draht ist?«
Sarah lächelte, wie früher Margaret gelächelt hatte.
»Oder umgekehrt: Woher weiß der Draht, was vor und was hinter dem Draht ist? Woher weiß der Draht, wie herum er die Magnetnadel drehen möchte?«
Sarah tischte auf.
»So was gibt es sonst nirgends.«
Sie aßen.
»Wir wissen wirklich gar nichts darüber.«
Nach dem Essen ging Faraday, was total unüblich war, spazieren. Hände in den Manteltaschen, Fußspitzen abwechselnd in den Kegel gestoßen, den man beim Versuch, möglichst wenig seiner Umgebung beim Laufen wahrzunehmen, nicht zu sehen verhindern kann. Auf der Blackfriars Bridge blieb er stehen, legte die Hände auf das Geländer und sah Richtung Westen, hinter dem Horizont waren Ramsgate und Dover, dann sah er hinunter, unter ihm stand die trübe, dreckige Brühe der Themse, dann drehte er sich um, sah nach Osten und stützte die Ellbogen auf das Geländer hinter sich. Er sah nach oben. Vor dem Himmel mischten sich Rauch und Wolken, die sich wie launisch trennten oder neu ineinanderschoben und sich wieder verbanden, immer so, wie er es gerade nicht erwartete. Er hatte Herzklopfen und konnte die Euphorie in seinem Kopf nicht gutheißen. Es ging nur um die Bewegung des Drahtes, viele Möglichkeiten gab es nicht, und das Herzklopfen war zu nichts gut. Mit Trauer dachte er an seinen Vater, mit Nachsicht an De la Roche, neutral an Sir Humphry und nicht ohne Rachlust an Lady Davy. Das mochte er nicht.
Er wusste, dass es etwas zu verstehen gab, etwas zu sehen, das noch niemand gesehen hatte, obwohl es immer da war, immer schon da gewesen war und immer bleiben würde und vermutlich auch leicht zu sehen war. Er wusste, dass es Lust hatte, sich ihm zu zeigen, ausgerechnet ihm: Er glaubte das. Wäre er bloß nicht so aufgeregt! Er müsste sich würdig erweisen, natürlich wusste gerade er das sehr gut. Er würde in Ruhe schauen müssen, sich dem Neuen hingeben müssen, ganz von sich absehen dabei, sich zur Verfügung stellen, um zu empfangen. Es würde einfach sein, simpel, man würde sich später an den Kopf schlagen wollen, dass man es nicht vorher gesehen hatte. Es würde von einer Simplizität sein, die gefangen nehmen würde. Er war erschöpft, alles im Kopf war Lärm, und er beschloss, erst am nächsten Tag wieder darüber nachzudenken.
Auf dem Weg unten am Fluss entlang, unterhalb der Stadt, fiel ihm noch einmal neu ein, dass es leichter sein würde, dem Draht Bewegungsfreiheit zu geben, als dem Magneten. Ja, das hatte er schon gedacht, aber jetzt war es ein gewohnter Gedanke, der nicht mehr hinterfragt werden musste, sondern auf den nächsten wartete, auf den, der danach kam. Faraday wollte Ørsted vergessen, weil Ørsteds Versuch zu kompliziert war und ihn ablenkte. Man musste eine Apparatur bauen, die dem Draht genau jene Bewegungsfreiheit gab, die Gott ihm zugewiesen hatte, wenn der Strom angestellt wurde. Man musste ihm freie Hand lassen.
»Wie«, fragte er in den Wind, »zieht das Magnetfeld an der Nadel, wenn sie sich schon im rechten Winkel gestellt hat?«
Antwort: »Gar nicht.«
»Und wie am Draht?«
Antwort: »Gar nicht. Es zieht ja nur am Strom im Draht, denn ohne Strom passiert nichts.«
Ein paar Meter weiter blieb er stehen: So weit waren Davy und Wollaston auch schon gewesen, aber es machte nichts, die Schritte noch einmal zu gehen, langsam und achtsam. Er drehte um, ging wieder Richtung Blackfriars Bridge, jetzt dem späten Tageslicht entgegen. Er mochte den Geruch des Flusses trotz des Drecks und mochte auch, wenn der Wind darüberfuhr und die Wasseroberfläche kräuselte. Vor Augen hatte er das Kabel und den Magneten, und er wollte Ordnung in die Welt bringen. Ampères mathematische Betrachtungen drückte er beiseite, er verstand sie nicht. Was geschähe mit einem zum Halbkreis gebogenen Draht, der über dem aufrecht stehenden Magneten positioniert würde? Das wäre immerhin etwas symmetrischer. Seine Gedanken stocherten in der Leere zwischen den wenigen Fakten herum und fanden keinen Halt. Das war vollkommen normal für ihn. Er ging nach Hause, legte sich hin und schlief mit Kabel und Magnet und Sarahs Hand am Hosenbund ein.
Am nächsten Morgen kam Sarahs kleiner Bruder George, der vierzehn war, um mit ihm Zeit im Labor zu verbringen. Einen Halbkreis hatte er wieder verworfen, der Strom flösse ja bezüglich des Magneten in zwei Richtungen. Er hatte überlegt, ob er einen metallischen Hut bauen sollte, den er über den Magneten stülpte und mit Strom versorgte, aber dann könnte ein Querstrom fließen, ohne dass der Hut sich bewegen musste.
»Coulomb hat immer gesagt«, berichtete Faraday seinem jungen Schwager, »dass Magnetismus und Elektrizität sich nicht durchdringen. Jetzt fragen wir uns, wie sie sich durchdringen.«
»Und?«
»Irgendwo muss eine Brücke sein.«
George überlegte, wie so eine Brücke aussehen konnte, sie war sicher nicht so wie eine der Brücken über die Themse, aber andere kannte er nicht. Er wollte nicht stören und atmete flach, als Faraday einen sehr dünnen Draht in die Hand nahm und versuchte, die Drehung zu sehen, die Wollaston annahm. Er hängte den Draht, an dessen Ende er einen Haken mit einem kleinen Hut befestigt hatte, auf eine Spitze, sodass er sich drehen konnte. Die Aufhängung war weit genug vom Magneten weg, um keine Störungen zu erzeugen. Unten ragte er in das Quecksilberbad, das den Stromfluss ermöglichte und in dem der Magnet stand.
Es gab die Drehung jedoch nicht, Faraday sah nur, dass am Draht gezogen wurde. Wie gezogen wurde, sah er nicht gut. Das Hütchen hakte auf der Spitze, oder die Batterieleistung war nicht stabil. Er schmirgelte die Spitze, das Hütchen drehte sich leichter. Aber der Draht war auch nicht gerade genug. Er baute den Draht aus, um ihn erneut glatt zu streichen, was nicht gut genug gelang. Umständlich versuchte er ihn mit einem Gewicht glatt zu ziehen, dann erhitzte er ihn dafür, bevor er zufrieden war und die Apparatur wieder zusammenbaute. Unter Strom sahen sie jetzt kaum noch einen Willen zur Bewegung.
Also andersherum: Nicht gerade, sondern auf kontrollierte Weise ungerade musste der Draht sein, um sein Geheimnis zu verraten. Faraday drückte eine Beule in den Draht, eine Delle. Die könnte ihm anzeigen, in welche Richtung das Magnetfeld zog! Er stellte den Strom an, und statt sich um sich selbst rotieren zu wollen, drehte der Draht in eine Richtung, bis sich die Delle tangential zum Kreis um den Magneten stellte. So blieb er stehen: Er zeigte exakt senkrecht von den Linien weg, welche die Eisenspäne des Magneten bildeten.
Konnte das sein?
George hörte seinen Schwager Laute von sich geben und sah ihn das Vorgehen an verschiedenen Stellen des Magnetfeldes wie-derholen, indem er den Halter mit der oberen drehbaren Aufhängung unten im Quecksilberbad verschob. Immer dasselbe Ergebnis. Natürlich. Der Magnet hatte keine ausgewählten Seiten, die einzige Auswahlrichtung war die Richtung des Stroms, sie legte alles andere fest. Er polte um, die Kraft zeigte in die entgegengesetzte Richtung. Er variierte den Abstand zum Magneten: keine Änderung.
Faraday ließ sich auf dem Hocker nieder und sah den Magneten lange an. »Was wäre, wenn Draht und Magnet sich durchdrängen?«, fragte er seinen Schwager. Der sah ihn erwartungsvoll an.
»Wenn der Magnet im Zentrum des Drahtes wäre?«
George wollte nicht mit den Schultern zucken.
»Ja«, sagte Faraday langsam überlegend. »Ja, ja.«
Er stand auf und ging schnell um den Tisch herum.
»Dann dreht er sich um sich selbst.«
Das hatte in seinen Augen nichts Ungelenkes. Alles wäre zwar noch immer überraschend, aber auch symmetrisch und schön. Aber wie baute man so was? Es war ja wieder das Rohr oder der Hut, in den man den Magneten stellte, wie er schon in Erwägung gezogen und wieder verworfen hatte. Aber man musste den Querstrom verhindern. Nun war es nur noch ein Schritt: Wenn der Draht einen größeren Durchmesser hätte als der Magnet?
»Wir haben es«, sagte Faraday. »Wir nehmen nur einen Teil davon.«
George, der ganz nah bei ihm stand, freute sich einfach mit, und fragte: »Wovon?«
»Vom dicken Draht nur einen äußeren Teil«, erklärte sein Schwager, »als ob wir ein Stück herausgeschnitten hätten.«
Er nahm schon die Schale und schüttete noch mehr Quecksilber hinein. Er stellte einen Magneten aufrecht in die Flüssigkeit und baute aus ein paar herumliegenden Dingen eine Vorrichtung, die es dem Draht erlaubte, unten im Quecksilberbad mit Strom versorgt zu sein und sich um den Magneten herum zu bewegen. Er stellte den Strom an, und der Draht machte genau, was er erwartet hatte: Er rotierte mit gleichmäßiger Geschwindigkeit um den Magneten herum.
Faraday fasste seinen Schwager an den Händen und tanzte mit ihm um den Tisch. Was sie sahen, war mitnichten ein Konflikt.
Dann stellte er den Strom ab, machte eine Skizze der ersten aus elektrischem Strom hergestellten kontinuierlichen mechanischen Bewegung. Eine Skizze des Elektromotors. Es war die Entdeckung des Zusammenhangs zwischen Magnetismus und Elektrizität, im Laborbuch schrieb er darunter: »Sehr zufriedenstellend, aber ein besserer Apparat muss her.«
Er klappte das Buch zu und fragte George, ob er Lust habe, ins Theater zu gehen.
»Astley’s«, sagte George, der kaum wusste, wie ihm geschah.
Eine Stunde später saßen beide in der ersten Reihe und atmeten die Ausdünstungen von nassen Sägespänen und schwitzenden Pferden. Nach ein paar Kunststücken kam Die geheime Mine zur Aufführung, in der ein junger Prinz der Hindus vom persischen Militär entführt wurde. Als er zum Mann herangereift war, drängte sein Volk ihn zur Rückkehr. Sie seien die Gläubigen und besäßen die Höhle der Rubine. Der Prinz wollte jedoch zunächst Zemira, die Tochter des persischen Herrschers für sich gewinnen. Der bot dem Prinzen die höchsten Ehren, wenn er nur die Höhle der Rubine fände. Der Prinz lehnte den Verrat seines Volkes ab, woraufhin der Herrscher nicht zögerte, ihm für das Geheimnis die Hand seiner Tochter anzubieten.
Natürlich gab der Prinz einen falschen Ort für die Mine an, heiratete Zemira, und noch während der Hochzeit flog der Betrug auf. Der Tumult, bei dem nicht mit Schwarzpulver gespart wurde, endete nach der Flucht in einer Schlacht in der Mine, in der die Perser vernichtend geschlagen wurden. Das Paar war glücklich vereint.
Georges Augen leuchteten. Neben der Länge der Bärte, welche die Länge der Schwerter übertraf, und den gefütterten russischen Hosen, die in Persien kaum gebraucht werden dürften, so ein Mann mit Notizblock zu seinen Nachbarn auf beiden Seiten und laut genug, dass er auch in den Reihen vor und hinter ihm noch gehört wurde, waren die Pferde die tollste Sensation. Sie liefen mit und ohne Hindernisse sauber und ohne jeden Fehltritt im Kreis, als seien sie von unsichtbarer Kraft gelenkt.
Auf dem Rückweg kaufte Faraday seinem Schwager ein Eis.
Hitze, Licht, Strom, Magnetismus, dachte Faraday: Heute haben wir den ersten Schritt machen dürfen.
George ging still neben ihm her.
Und wenn man nicht nur Bewegung aus Strom herstellen kann, sondern auch Strom aus Bewegung, dachte er, als sie an einer Kreuzung anhielten und er den Jungen in seinem Glück beobachtete, man könnte Windmühlen oder Wasserräder bauen und Strom ernten. Damit würde man Apparate betreiben, die den Menschen die Plackerei besser abnahmen als jede der von niemandem bezahlbaren Dampfmaschinen.
»Was?«, fragte George.
Offenbar hatte Faraday vor sich hingesprochen.
»Nichts.«
Er brachte George in die Paternoster Road und eilte umgehend nach Hause, wo er dessen Schwester vorfand und sie innig küsste, ohne es, um ein Mindestes zu sagen, dabei zu belassen.