IV

Die Löschung des Himmels

1 Hermann und Jakob Einstein

Eine verpuffte Revolution und vierundvierzig Jahre später besaß der Amerikaner Thomas Alva Edison bereits sein Patent auf einen Kohlefaden im Vakuum. Leitete man Strom durch den Faden, so wurde er glühend heiß und beleuchtete seine Umgebung heller als jede Kerze oder Öllampe, ohne Brandgefahr und ohne Luft zu verbrauchen.

Während Edison an der Elektrifizierung New Yorks arbeitete, schickte sich Schwabing an, die erste elektrisch beleuchtete Stadt der Welt zu werden. Die Brüder Hermann und Jakob Einstein hatten dazu eine oberirdisch verkabelte Anlage gebaut. Sie bestand aus drei Dynamomaschinen, die Gleichstrom für hundertzweiundsiebzig Glühlampen und acht Bogenlampen lieferten. Die Glühlampen sollten eine Leuchtkraft von je sechzehn Normalkerzen haben, die Bogenlampen kamen auf je tausend. Manche Schwabinger behaupteten, ihre Stadt sei bald aus dem Weltraum zu sehen. Andere widersprachen und hielten sich, um Geisteskrankheit anzudeuten, den Zeigefinger an die Schläfe.

Zur Eröffnungsfeier am 26. Februar 1889 reisten Reporter aus England an. Deshalb erklärte Jakob morgens seinem Neffen, der neun war und sich für viele Dinge interessierte, dass rund um den Globus die Tageszeiten geeicht waren.

»Das musste man wegen der Eisenbahn machen.«

Albert nickte.

»Weil sich immer alle verpassten, als noch in jeder kleinen Ortschaft eine andere Zeit galt. Die Eisenbahn war zu schnell.«

Albert nickte, und Jakob erklärte, dass sich laut Beschluss der 1884 in Washington abgehaltenen Internationalen Meridiankonferenz die Tageszeiten am Sonnenstand über dem Fadenkreuz eines Teleskops orientierten, das auf einem Hügel des Londoner Greenwich Parks stand. Albert fand das lustig.

»Die Engländer«, erklärte der Onkel, »beherrschen den Seehandel und haben sich einfach geweigert, Paris als Mittelpunkt auch nur in Erwägung zu ziehen.«

Albert nickte.

»Die Engländer«, erklärte Jakob daher weiter, »haben Zonen mit auf zirka fünfzehn Längengraden konstanter Zeit über den Globus verteilt.«

Zentrum und Nullpunkt war London.

»Wenn es dort fünf Uhr ist«, so der Onkel, »dann schlagen die Kirchenglocken bei uns eine Stunde mehr, nach der Vereinbarung ist es genau sechs Uhr.«

»Ach so«, sagte Albert, der wusste, dass München eine Reisewoche von London entfernt war.

»Und fährt man von England mit einem Boot auf den Kontinent, dann springt beim Überqueren des Kanals die Zeit jetzt um eine Stunde nach vorne.«

Albert freute sich. Für so etwas Widersinniges hatte er eine Schwäche, wie sie in der Familie gern sagten und damit kleinredeten, was an eigene Grenzen stieß.

Welche Uhrzeit jetzt gerade am Nordpol ist oder am Südpol, wollte er nämlich gleich wissen: »da, wo die Längengrade sich treffen und nach der Vereinbarung alle Zeiten zugleich gelten«.

Jakob Einstein fand das einfach nicht wichtig. Hermann stimmte ihm zu. Sie erklärten schnell, dass sie sich nur unkompliziert mit den englischen Journalisten für heute Abend hatten verabreden wollen.

»Und zwar nicht an einem Pol«, so Alberts Vater Hermann.

»Sondern hier in München«, so Jakob, »um sechs.«

»Obwohl es am Pol«, sagte Alberts Mutter Pauline mit Blick zum Fenster, »auch nicht viel kälter sein kann.«

Im Hof des kleinen Hinterhauses der Familie in Sendling wartete am frühen Abend dieses Tages eine gemietete Berline. Für ihren Landauer war es zu kalt.

Es war ein Dienstag, und Albert trug seinen Sonntagsanzug. Er drehte sich von den anderen weg und hockte sich neben dem Tisch auf den Boden. Den Hintern auf den Fersen baute er an seinem Kartenhaus weiter. Neben sich hatte er noch acht Kartensätze, von denen er sich blind bediente. Sein Rekord stand bei vierzehn Stockwerken, und an die Bestürzung, die sein großer, eckiger Kopf bei der Geburt ausgelöst hatte, erinnerte sich jetzt kaum noch jemand. Auch nicht an die Sprachhemmung, seine Unfähigkeit oder Weigerung zu reden, wegen der er als Dreijähriger zu einem ratlosen Arzt transportiert worden war, von dem seine Mutter noch ratloser wieder nach Hause zurückkehrte. Oder an die Unart der damaligen Haushälterin, Albert »den Depperten« zu nennen.

Hermann Einstein drehte an einem Knopf seiner Weste. Das hatte Albert bislang nur bei Jakob gesehen, am Tag seiner Hochzeit. Pauline fummelte am Kragen ihres Mannes.

Vom Giebelfenster sah Jakob in den Hof hinunter, wo Höchtl gerade das Sattelpferd heranführte. Er war ihr Mann fürs Grobe, und seine Atemwolke vermischte sich mit der des Pferdes, zumindest sah es von oben so aus. Jakob hatte von Benz einen Motorwagen ausleihen wollen, aber keinen bekommen.

Pauline Einstein beobachtete, wie er die Krempe des Zylinders durch seine schlanken, sehnigen Finger laufen ließ. Langsam und gleichmäßig, fast ohne zu hüpfen, drehte sich der Hut wie eine alles mit sich ziehende Uhr.

Schon gestern, als die Berline gebracht worden war und Höchtl mit denselben Atemwolken vor dem Mund, derselben russischen Mütze wie jetzt auf dem Kopf mürrisch den Empfang quittiert hatte, ohne die dicken, fellgefütterten Handschuhe auszuziehen, hatte Jakob ihm vom selben Fenster aus zugesehen.

»In London testen sie die ersten elektrischen Motorwagen auf unterirdischen Strecken«, hatte er gesagt, »während München den Ausbau der Pferdebahn diskutiert!«

Albert hatte sich über seinen Onkel gewundert. Seine Mutter nannte Jakob später »verächtlich noch gegen sich selbst«.

»Nicht mal geantwortet hat er«, fing Jakob jetzt wieder von Benz an. Minutenlang entgegnete keiner der anderen etwas, und nicht nur für Albert war es ein zunehmend angespanntes Schweigen. Pauline war die Erste, die es nicht mehr aushielt. Sie brach die Stille, indem sie freundlich vorschlug, er könne noch immer Höchtl losschicken.

Aber keine Regung bei Jakob.

»Der kann doch bei den Leuten von Benz vorsprechen!«

Jakob brummte kurz.

»Obwohl die Zeit langsam knapp wird.«

»So weit kommt es noch«, sagte Jakob, der Wert darauf legte, mit seinen Patentanträgen nicht weniger erfolgreich zu sein als Benz.

»Du bist sicher, dass die Anfrage Benz erreicht hat?«, fragte Pauline, ohne eine Antwort zu bekommen.

Jakob stand noch immer am Fenster und gab sich dem hin, was seit einer Woche seine Lieblingsbeschäftigung war: sich im Detail vorzustellen, wie sie in jetzt nur noch einer knappen Stunde vor dem Schwabinger Bürgermeister Alois Ansprenger, vor dem Direktor der elektrotechnischen Versuchsstation Friedrich Uppenborn, vor der nationalen und internationalen Presse und vor allem vor den Münchner Bürgermeistern Wilhelm Georg von Borscht und Dr. Johannes von Widenmayer vorfahren mussten, als wären sie gemeine Geschäftsleute.

»Wer in einer Kutsche kommt«, hatte Jakob gestern gesagt, »kann auch mit Eierkohlen handeln oder mit Ackergäulen.« Nicht in der Zukunft zu sein, betrachtete er als glatte Zurücksetzung.

Hermann nestelte an seinem Hemdkragen weiter, den Pauline aufgegeben hatte, und wiederholte seine Meinung jetzt auch: Bescheidenheit wirke gut, und »Protzerei legen sie eh nur wieder gegen uns aus«.

Er war ganz anders als sein jüngerer Bruder, der, noch immer auf Höchtl hinunterblickend, die Zungenspitze an den Gaumen legte und Luft über die Schneidezähne zischen ließ.

»Wieso Protzerei? Benz hat man zugejubelt.«

Pauline meinte, das könne man nicht vergleichen und laut Hermann sollte man es zumindest nicht. Beide hatten Stimme und Blick gesenkt, als redeten sie über eine aus eigenem Verschulden in die Familie gekommene Krankheit, die für andere eine Zumutung war.

Das kannte Albert auch aus der Schule: Erst ließ der Lehrer eine ironische Bemerkung fallen, dann wurde sie von einem dummen Schüler grinsend wiederholt und musste ignoriert werden. Auf Dauer kratzte sie aber an der Seele, wie ein sich durch die Schuhsohle arbeitender Nagel einem, wie schief man auch lief, Zeh oder Ferse doch blutig machte, bevor man zu Hause war.

Eine direkte Frage, wovon sie redeten, hätten seine Eltern oder sein Onkel mit einer abwinkenden Geste beantwortet. Da war Albert sicher.

Über Jakobs Zähne zischte wieder Luft. Er hatte für Ängstlichkeit nichts übrig. Unter den Überredungskünstlern galt er als Genie, aber vielleicht hatte das Glück ihn zu Beginn dieses Jahres ja tatsächlich verlassen, wie es Hermanns erklärte Meinung war.

Albert sah vom Kartenhaus auf und beobachtete, wie sein Vater die Uhr in die Westentasche gleiten ließ, Jakob in den Blick nahm und die Uhr an der Kette wieder herauszog. Mit der Federschraube zwischen Daumen und Zeigefinger machte er nur anderthalb kurze Bewegungen, bis die Feder am Anschlag war. Die andere Hand in die Hüfte gestützt, den Hut zwischen Daumen und Zeigefinger, verglich er die Taschenuhr mit der Standuhr neben dem Fenster. Welche nun genauer war, konnte er nicht wissen, und es war auch nicht wichtig. Er vergaß die Differenz deshalb, noch bevor er die Uhr wieder in die Tasche gleiten ließ. Es war vielleicht eine Dreiviertelsekunde vergangen.

Dann durchsuchte er die auf dem Tisch liegenden Zeitungen erneut. Er hatte das schon zweimal gemacht, konnte aber noch immer nicht glauben, dass nichts berichtet wurde. Er dachte im Ernst, er könne die ersten beiden Male zu hektisch geblättert und so den großen Bericht übersehen haben. Albert hörte die Zeitung knittern, deren Seiten beim Blättern die Zimmerluft umrührten. Tatsächlich schrieben sie, so beschwerte sein Vater sich jetzt erneut: »Nichts.« Kein Wort über das Einweihungsfest. Nur die Route des Umzuges war gestern veröffentlicht worden, und nur in der Schwabinger Gemeindezeitung.

Im Lokalteil der Münchner Neuesten Nachrichten war, wie auch am Vortag schon: »Nichts.«

Ein paar Minuten starrte er auf die Anagramme unten auf der Seite, ohne eines zu lösen. In der Allgemeinen Zeitung Münchens war kurz darauf ebenfalls immer noch: »Nichts.«

Albert hatte sich wieder dem Kartenhaus zugewandt. Interessanter fand er sowieso, was sein Vater am Mittagstisch von einem Bericht erzählt hatte: Zwei Schiffe hätten sich drahtlos Nachrichten zusenden können. Die Espoir war von Singapur nach Hongkong gedampft, während die Orion im Hafen blieb. In einer Entfernung von sechzig Seemeilen habe die Espoir dann eine Nachricht erhalten, welche die Orion als lange und kurze Lichtsignale auf die Wolken geworfen hatte und die auf der Espoir gut zu beobachten gewesen sei. Trotz der Wetterabhängigkeit sei es doch erstaunlich, über solch weite Entfernung drahtlos kommunizieren zu können! Man müsse nur noch ein Alphabet von Lichtsignalen entwerfen, genau wie beim Morsetelegraphen.

»Was für Lampen sie verwendet haben«, hatte Hermann beim Essen angemerkt, »wissen die gar nicht.«

Zwei weitere Spielkarten aneinanderlehnend hatte Albert die Wolke vor Augen, vom Licht erhellt und wieder erloschen, während in seinem Rücken »auch im Reichsanzeiger nichts« war. Es fiel allen schwer, das nicht persönlich zu nehmen oder zumindest doch als ungünstiges Omen.

Hermann legte alle Zeitungen zum Feuerholz an den Kamin. Dann redete er eine Weile vor sich hin, denn keiner der anderen reagierte, als er erklärte, wie froh er sei, dass Paulines Vater nicht zum Fest »mit seinem Pomp und den Lobhudeleien« hatte kommen können. Mit ihm über Geld zu reden hätte sich »bei aller Liebe« nämlich nicht vermeiden lassen, während sich das Lob schließlich Menschen singen würden, die sich vorher mit aller Energie bekämpft und behindert hatten »und das auch ab spätestens morgen früh wieder tun werden«.

Friedrich Uppenborn etwa, der als technischer Leiter der Versuchsstation die Abnahme zu verantworten hatte, sprach laut Hermann bereits offen davon, dass eine Verzögerung der Prüfungen das beste Mittel sei, um »missliebige Fabrikanten willfährig« zu machen. Seine Strategie, auf die Rechnung über knapp vierundvierzigtausend Mark zu reagieren, welche die Brüder am 2. März zustellen lassen würden, sei mehr als absehbar. Dabei wussten alle, dass der Auftrag in Schwabing knapp genug kalkuliert war, um sich nur mit einem Anschlussauftrag zu rechnen: der Straßenbeleuchtung für München.

Albert wusste zwar, was rechnen hieß, hatte sich aber immer gefragt, was es bedeutete, wenn sich etwas »nicht rechnete« oder man »mit etwas nicht rechnen« konnte. Dann musste es unfassbar sein. Es musste etwas ganz Unbekanntes sein, unbekannter noch als der Mond, der am Himmel stand, wenn der Kalender ihn ankündigte, der aber schon abends im Bett, wenn er nicht zufällig im Fenster zu sehen war, zu einer reinen Idee wurde. Wie kalt war es da oben wohl, oder musste man nachts womöglich sagen: da unten? Ob man auf ihm stehen konnte?

Auf jeden Fall musste, was sich nicht rechnen ließ, etwas Unsichtbares sein. Der Anschlussauftrag zum Beispiel war tatsächlich unsichtbar, und die Probleme in Schwabing hatten mit der Verteuerung durch die zwar sichtbar, aber laut seinem Vater trotzdem »unfassbar« sprunghaft gestiegenen Kupferpreise zu tun. Deren Weitergabe hatte der Schwabinger Magistrat nachträglich akzeptiert, aber das war lange nicht klar und am Ende auch überraschend gewesen.

»Siehst du«, hatte Jakob damals gesagt.

»Wenn Kupfer weiter so steigt«, meinte Hermann jetzt, »wird es eh nichts mit der ganzen Elektrifizierung. Sie frisst sich selbst.«

»Wegen München mach dir keine Sorgen«, entgegnete Jakob in seiner Mischung aus Gelassenheit und Überdruss, »das kriegen wir.«

Vielleicht behielt er ja einfach wie so oft recht, dachte sich Albert. Aber um welchen Preis? Man würde, so weit kannte er die ausgetretenen Gedanken seines Vaters schon, ihnen wieder jeden Gewinn weghandeln mit Verweis auf den danach kommenden nächsten und wirklich großen Auftrag. Egal wie der lauten mochte.

»Ein Kraftwerk für Bayern«, meinte Hermann jetzt unvermittelt, als läse er die Gedanken seines Sohnes, und antwortete grell auflachend selbst: »Das bauen Siemens und Halske.«

Siemens hatte einen Bonus, angeblich weil er sich im Krieg gegen Dänemark als Held bewiesen habe. Anschließend hatte er »die halbe Welt in Telegraphenkabel gewickelt«. Zur Elektrizitätsausstellung im Münchner Glaspalast war er nicht mal gekommen, beinahe hätte man sie deshalb absagen müssen.

»Du übertreibst«, sagte Jakob.

»Siemens hat Büros in Moskau und London.«

Keiner antwortete.

»Er würde keine Sekunde vor einem Flug zum Mond zurückschrecken«, behauptete Hermann, »sobald jemand bezahlt.«

Albert lächelte, wie ein Kind es kann. Er dachte, dass alles, was Wirklichkeit war oder sein könnte, sich auch rechnen oder ausrechnen ließe. Das genügte ihm erst mal. Nur schade, dass seinem Vater nichts genügte, dass er glaubte, auf Dauer gegen Fabrikanten wie Siemens nicht ankommen zu können, und das Geld seines Schwiegervaters für verspekuliert hielt.

»Ich bin ein Idiot, zu dem mein kleiner Bruder mich gemacht hat«, hatte Albert ihn einmal sagen hören, als seine Eltern ihn mit den Spielkarten in seiner Ecke vergessen hatten.

Dass sie das Bettfederngeschäft in Ulm nie hätten aufgeben dürfen, davon war Hermann überzeugt: »Ohne elektrisches Licht lässt sich so gut leben wie bisher«, meinte er immer häufiger, als würde das helfen, »ohne Bettfedern noch lange nicht.«

Zu gerne hätte er das Leben ein paar Jahre zurückgedreht, um alle Entscheidungen noch einmal zu fällen, andersherum. Dann wäre er wieder in Ulm, oder noch immer. Denn »die Zeit«, sagte er gerne seufzend, und Albert wusste nicht, warum immer er dabei angesehen werden musste, »sie läuft unentwegt, und sie läuft immer nur in eine Richtung«.

Genau das wollte Albert am liebsten ändern, um das schwere, seiner Meinung nach nutzlose Seufzen seines Vaters in ein leichtfüßiges Staunen zu verwandeln. Aber das war nur so ein Gedanke. Er sah zu seinem Onkel, der noch immer aus dem Fenster in den Hof blickte.

2 Aloys Höchtl, der Strom, die Frauen und das Oktoberfest

Im Hof redete Höchtl auf das dampfende Sattelpferd ein, das mit den Ohren nach der Kälte zu schlagen schien und mit dem rechten Vorderlauf immer wieder das Eisen über das Pflaster kratzte. Den Kutscher zu geben, fiel Höchtl offensichtlich nicht leicht. Es gab aber nur diese Möglichkeit, zusammen mit den Einsteins nach Schwabing zu fahren, und zum Glück wurde »seine Sturheit«, so glaubte Jakob zu wissen, »nur noch von seiner Eitelkeit übertroffen«. Mit seinem ängstlichen Bruder im Rücken beobachtete Jakob ausgesprochen gerne, wie Höchtl jetzt da unten im Frost mit den Pferden hantierte.

»Was lachst du?«, wollte Hermann wissen.

»Nichts«, sagte Jakob, der sich daran erinnerte, wie Höchtl vor ein paar Jahren in der Mittagspause von Krauss herübergelaufen kam und neue Arbeit suchte, weil ihn wegen seiner Haare jemand eine »rote Kratzbürste« genannt hatte. Er verstand damals gar nichts von Elektrizität, musste in der Wickelei als Handlanger arbeiten und war jeden Sonntag erneut auf Arbeitssuche gegangen. Jakob hatte erst befürchtet, Höchtl verrate Tricks über Wicklungen und Isolationen. Aber er wollte nur wieder an eine Drehbank. Drehbank und Werkbank, hatte Höchtl damals überall gesagt, das sei Arbeit. Eine Dynamomaschine und überhaupt der ganze Strom, der einem die Arbeit abnehme, das sei doch was für Frauen.

»Dein Zynismus wird dich noch ruinieren«, meinte Hermann.

»Und dich mit«, gab Jakob ruhig zurück und wies mit dem Kopf Richtung Hof, »aber Höchtl hat bis zum Oktoberfest auch nicht an uns geglaubt.«

Jakob war es, der auf dem Stachus oder in den Biergärten immer häufiger von Wildfremden gegrüßt wurde, als vor vier Jahren seine Pläne für die Beleuchtung der Festwiese bekannt geworden waren: »Ja, der Herr Einstein!«

In den Rathauszimmern hatte er sich mit einer geschickten Mischung aus Lautstärke, Anspruchsdenken und einem Selbstbewusstsein durchgesetzt, das er mit kalkulierten Pausen, in denen er immer mal wieder dem Bürgermeister oder seinen Leuten keine Antworten auf ihre Fragen zukommen ließ, untermauerte. Er habe, entgegnete er entschuldigend am nagelneuen, ebenfalls von Edison erfundenen Telefon, »mit der Elektrifizierung zu tun und zu tun«.

Nicht ohne Zucker in der Stimme bedauerte Jakob den Zeitmangel, während er, kaum dass er eingehängt hatte, gern vor dem nervösen Rest der Familie dozierte, man müsse jeden Menschen, von dem man respektiert werden wolle, gelegentlich mal von oben herab behandeln.

Höchtl hatte jedenfalls aufgehört, sich zu bewerben. Er hatte wie entzündet zu arbeiten begonnen und sogar eine Schmiertechnik verbessert. Und als sie 1886 die Theresienwiese dann elektrisch beleuchteten, hatte Werkmeister Kornprobst ihn zum Betriebsleiter für die Festwoche gemacht, die aus Dampf, Rotoren, Nachtschichten und Übermut bestand, aus besoffenem Gegröle, wie es seit Jahrhunderten üblich war und sich trotz Technik, Medizin und Informationsfluss nie ändern würde, aus Katzenjammer oder Protzerei ausgewachsener Männer, aus Kabelgewirr, das von der Fabrik zum Festplatz gespannt wurde und laut Höchtl aussah »wie eine Nabelschnur«.

»Er hat halt«, so Jakob damals grinsend, »noch nie eine gesehen.«

Wichtig war: Die Presse schrieb. Sie verfiel sogar ins Dichten: »Die Bogenlampen gießen ein märchenhaftes Licht über den von Tausenden belebten Festplatz aus und gewähren im Gegensatz zu den rot flackernden Pechlaternen und matten Petroleumlichtern jenen eigenartigen Reiz, den der Silberschimmer des Mondes erzeugt, wenn er sich in der grünen Isar badet.«

Höchtl hatte stolz zu drei eigens aus London angereisten Journalisten gesagt: »Hier spielt die Musik, die Musik des Fortschritts!«

Alle drei Journalisten hatten zufrieden genickt, als ihr ebenso eigens aus Berlin angereister Übersetzer den Satz auf Englisch wiederholt hatte, denn besser hätten sie es auch nicht erklären können. Albert stand damals daneben, als sie Höchtl versprachen, er würde in der Times zitiert, von der man ihm sagte, sie erscheine in London. Das Versprechen wurde gehalten, ohne dass sein umständlicher Name hätte genannt werden müssen.

3 Ludwig Petuel

Seitdem fuhr Aloys Höchtl zu jeder Stunde klaglos raus, um ausgelaufene Lager, zerfetzte Wicklungen und durchgeschmorte Isolationen zu reparieren. Egal wo, egal was das Wetter aufführte.

Die Kunden, die eine Hochzeit oder Trauerfeier in ihrer Wirtschaft auszurichten hatten, gaben sich ebenso erdig und waren ebenso luftig wie Höchtl selbst. Sie nahmen ihn gerne bei sich auf. Zum Beispiel in Traunstein, wo es beim Gastwirt einen Totalschaden gab, die Lampen nach drei Tagen ohne Schlaf aber wieder leuchteten und glühten. Höchtl war von der geretteten Hochzeitsgesellschaft gefeiert worden, als hätte er im Alleingang die Ehe gestiftet, und war dabei in einen Zustand geraten, der ihn das selbst auch glauben ließ. Man erzählte sich, wie er Braut und Bräutigam im Licht geküsst hatte, die Braut durchaus etwas länger und intensiver als den Bräutigam, der steif danebenstand und pausenlos auf Höchtl einredete.

Ohne so einen, wusste Jakob mit dem Blick in den eisigen Hof, läuft kein Betrieb. Umso besser war es, wenn das neue Zeitalter eben auch diesen ehrlich arbeitenden, einfachen Mann hervorbrachte, der es als seine Stärke ansah, sich um Kälte und Uhrzeit nicht zu scheren. Filigran sollten andere Maschinen, unzuverlässig andere Firmen wirken, und oft hatte Jakob während der Verzögerungen in Schwabing den wortkargen Höchtl mit Erklärungen vorgeschickt. Ohne nachzudenken, nahm jeder von ihm an, er würde vor keiner möglichen Heldentat zurückschrecken und die unmögliche noch in Erwägung ziehen. Genau das war auch immer wieder nötig gewesen.

Seit Jahresbeginn schon hatten alle auf milde Tage oder gar Fön gewartet, um pünktlich fertig werden zu können. Aber vergebens. Jeden Morgen hatte derselbe Frost sie angestarrt, und an den Bau der Fundamente war nicht zu denken. Der Termin war zwei Mal verschoben worden, natürlich nicht ohne lange und unangenehme Diskussionen im Magistrat, der sich noch zu gut an die gestiegenen Kupferpreise erinnerte.

Ludwig Petuel hatte sich von den Einsteins eine elektrische Anlage in seinen Brauereikeller bauen lassen, den seitdem sogar Münchner besuchten. Petuel war im Vorfeld auch der größte Fürsprecher der Elektrifizierung Schwabings gewesen. Als Magistratsrat hatte er gegen die Straßenbeleuchtung der Gasgesellschaft geredet, die zwar geringere laufende Kosten anbot, aber auf einer Vertragslaufzeit von fantastischen neunundneunzig Jahren bestanden hatte.

Nur wollte Schwabing etwas ganz anderes: den Münchnern voraus sein. Elektrisches Licht war das Geschenk des Himmels, und als Petuel damals glücklich aus der Sitzung kommend zu den im Bierkeller wartenden Brüdern geeilt war, konnten Einsteins feiern. Sogar Hermann hatte an diesem Abend mitgemacht.

Beim Bau weiteten sich die Verzögerungen allerdings dauernd aus. Zweimal schon war die Abnahme verschoben worden, und Hermann sah sich in seiner laut Jakob vermutlich angeborenen Schwarzmalerei bestätigt. Die Brüder und Petuel gerieten schwerer in die Defensive als je auf dem holprigen Weg zu den Straßenlampen. Nicht wenige im Magistrat hatten dem Licht von Anfang an noch weniger vertraut als den Einsteins selbst.

Alois Ansprenger verlangte einen Ausgleich. Er wollte Geld.

»Wenn auch«, wie er Petuel wissen ließ, »nur aus Prinzip.«

Und Jakob und Hermann hatten nächtelang neben ihren Frauen wach gelegen. Als schließlich sogar Albert morgens lustlos bemerkte, sie sähen müde aus, hatten sie sich Petuel offenbart: Bei einer Nachforderung wären sie pleite und könnten nicht zu Ende bauen. Sie würden München dann verlassen.

Petuel warf sich auf der nächsten Sitzung des Magistrats wieder für sie ins Zeug: »Sogar die Hoheit dieses Hauses und die Klarheit seiner Vertragsangelegenheiten«, rief er in den gekalkten, kalten, von Pechlaternen flackernd beleuchteten und von verbrauchter Luft und nassen Mänteln säuerlich riechenden Saal: »helfen wenig gegen den gemeinen Frost.«

Das war Mitte Januar gewesen, vor vier Wochen. Jakob und Hermann hatten als Gäste hinten gesessen. Hermann hoffte, nicht selbst sprechen zu müssen. Selbst sprechen zu dürfen, hoffte Jakob. Er gab wichtige Dinge nicht gern aus der Hand.

Die Versammlung begegnete Petuel stumm und erwartungsvoll, was Petuel irritierte. Er hatte mit Gemecker und Nörgelei gerechnet, wie es vorher auf dem Gang zu vernehmen gewesen war. Auch auf eine scharfe Polemik war er vorbereitet, er hätte sie zur Abstimmung gestellt wie eine Gewissensfrage und seinen Rücktritt angeboten. Er hätte beleidigt getan. Das konnte er sich leisten. Aber nichts kam. Die Versammlung schwieg.

Das war gefährlich, dachte Petuel, der seine Schwabinger in den ersten Reihen zu gut kannte, um sich auf sie zu verlassen. Aus den Reihen lugten links und rechts mit Lehm beschmierte Stiefel, und Petuel sah die ordentlichen Jackenärmel auf den Tischen darüber liegen. Er wartete auf einen Zwischenruf. Vergeblich. Nur Husten. Einer zog Rotz hoch, Petuel konnte nicht ausmachen, von wem es kam, wusste nicht, ob es eine Meinungsäußerung war.

»Gerade den Unbilden der Natur«, sagte er deshalb in den bis auf die Nebengeräusche ungewohnt stillen Raum hinein, und seine Stimme kratzte und klang in seinem eigenen Ohr eigenartig hoch, als er fortfuhr: »gerade dem Frost wollen wir mit der elektrischen Anlage, die niemals einfrieren kann, die niemals vom Sturm ausgepustet werden kann, die nie in Brand gerät, mit der«, er musste unpassend Luft holen und glaubte, dass jeder das merkte, bevor er schloss: »mit der wollen wir dem elenden Wetter doch begegnen!«

Schweigen.

Plötzlich rief er: »Männer!«

Er machte eine Pause, sah in die stumme Runde.

Langsam holte er neue Luft, seinen Groll über die Gleichgültigkeit unterdrückend, bevor doch die Wut kam.

»Um den letzten Schritt handelt es sich jetzt«, erklärte er, »um unseren gemeinsam zu gehenden letzten Schritt, dem sich Frost und Winter in gewohntem Starrsinn entgegenstemmen, wie sich die Natur immer gegen den Menschen gestemmt hat, als sei es ihre einzige Aufgabe! Wollen wir uns wirklich aufhalten lassen? Wenn wir uns wegen ein paar Tagen Verzögerung untereinander verstreiten, wenn wir der Firma Einstein schon wieder mit dem Bankrott drohen, statt gemeinsam die erste elektrisch beleuchtete Stadt der Welt zu werden«, er blickte dem einen oder anderen Saufkumpan in die Augen und fuhr dann energisch fort: »Die Münchner werden sich schön freuen!«

Das Wort Bankrott hatte Jakob getroffen wie ein Faustschlag. Er stellte sich schon vor, wie es wäre, in Italien neu anzufangen, wo man bestimmt nicht so über ihn reden würde. Hermann freute das Wort, er hatte es seinem Bruder ja immer gesagt. Seit er hier war, hatte er es ihm immer gesagt.

Von der Mühsal, sein Temperament zu zügeln, war Petuel erschöpft, und aus Ärger über seine schon fast akzeptierte Niederlage hob er die Faust. Er bremste die Bewegung noch ab, so gut es ging, denn so einer war er.

Der eine oder andere im Magistrat missverstand das aber offenbar als symbolisches Heben eines imaginären Bierkruges, vielleicht als Prost auf Schwabing. Einer nach dem anderen hatte daraufhin ebenfalls symbolisch einen Krug gehoben oder die Faust in die verbrauchte Luft gehalten, was immer nun gemeint war.

»Wenn eine andere Firma zu Ende bauen muss«, sagte Petuel irritiert, aber froh, dass sie nicht über ihn herfielen, »dann wird es noch länger dauern, wir werden gar nicht wissen, wann die Anlage fertig würde, und die Kosten sind auch nicht auszurechnen.«

Es folgte ausgelassenes Gemurmel.

Alois Ansprenger, in manchem Wirtshaus auch »Bürgermeister Anstrengend« genannt, ließ von seiner Forderung auf Minderung ab. Nach der Sitzung beachtete er die Einsteins einfach nicht und kam Petuel gegenüber nicht mehr auf das Thema zurück: »Du«, hatte er nur gesagt, als er ihn am Ärmel fasste, als wäre nichts gewesen: »Wir müssen mal über die Armenkasse reden.«

Und nach einer Pause: »Morgen.« Und als ob nicht der Bürgermeister die Termine setzte, fragte er: »Wann hast du Zeit?«

Wortlos waren die Brüder nach Hause geschlichen, Hermann erleichtert, Jakob erbost darüber, dass es »überhaupt so eine Sitzung geben musste«.

4 Die Abnahme

Seitdem hatten sie sich ruhig verhalten und gearbeitet, so gut sie es bloß vermochten. Bis zwei Tage vor dem Probelauf blieb trotzdem unklar, ob die Anlage diesmal fertig würde, zum dritten Termin, und Petuel hatte Jakob schon vorsorglich gesagt, er könne jetzt nichts mehr für ihn tun.

Nach einer weiteren, für Schlafstörungen leicht ausreichenden Menge kleinerer Probleme mit den Freileitungen und Isolatoren, dauernden Beschwerden der beiden für das Verdrahten zuständigen Arbeiter über ihre blau gefrorenen Finger, Gegenbeschwerden über ihren Bierkonsum auf und unter den Leitern, einem Dutzend von Höchtls seltenen Flüchen, die er leise und allein in die Kälte vor sich hinsagte, als spräche er ganz im Vertrauen mit seiner Mutter, war die Anlage dann aber angeschaltet worden.

Drei unvergleichlich lange Stunden lief Jakob mit Höchtl, Ansprenger, Uppenborn und Petuel die ganze Runde ab. Hermann saß die gesamte Zeit nervös neben den Generatoren und wartete auf kratzende Geräusche, auf ein aufflackerndes blaues Licht und den Geruch verschmorten Gummis. Um sich zu beruhigen, machte er seinen Lieblingsfehler: Er las die Zeitungen.

In der wissenschaftlichen Rundschau berichteten die Münchner Neuesten Nachrichten über das Elektrizitätswerk an den Niagarafällen und deren ungeheure Kraft von geschätzten fünfzehn Millionen Maschinenpferden. Fünfzehn Millionen Pferde waren nicht vorstellbar. Hunderttausend auch nicht, aber hunderttausend davon, so die Ausgabe unten auf Seite eins, hatte man kanalisiert und auf Wasserkraftmaschinen geleitet. Vorläufig wurden fünfzehntausend Einheiten zum Betrieb von Dynamomaschinen verwendet, deren Strom im zweiunddreißig Kilometer entfernten Buffalo hauptsächlich zur Beleuchtung eingesetzt wurde, aber auch für Maschinen und Ventilatoren und für Aufzüge, die in diesem endlos weiten und leeren Land der Gleichheit, in dem angeblich alles größer, schlimmer und besser war als woanders, die Flucht nach oben ermöglichten. Eine Pferdekraft kostete pro Jahr, so die Meldung weiter, nur sechzig Mark!

Der Witz, der Hermann entging, war der jüngst möglich gewordene Transport der Elektrizität über weite Distanzen. Als wäre es eine versteckte Bosheit, kam das Zauberwort Wechselstrom nirgends vor. Vielmehr legte der Bericht, als wäre er eine offene Bosheit, Wert darauf, wie preiswert zum Beispiel auch die Berliner Elektrizitätswerke seien, »vorbildlich« seien die Preise. Und bei der nächsten Nachricht sank Hermann noch mehr in sich zusammen, als er bereits von Natur aus schon zusammengesunken war: In Deptford entstand ein Werk, das London beleuchten würde, mit zwei Millionen Lampen. Hermann verging jeder Rest eines ohnehin bestenfalls imaginären Glaubens, sich ohne biblisches Wunder über Wasser halten zu können. In London war er noch nicht gewesen, er kannte London nicht. Er konnte sich London auch nicht vorstellen, und er konnte es immer weniger, je mehr er es jetzt versuchte.

Näher und begreiflicher war ihm eine ganz andere Meldung, und obwohl sie die bedrohliche für ihn war, hielt er sich lieber bei ihr auf: Auf Seite drei meldete die Allgemeine Zeitung Münchens schmucklos, dass die »Kommanditgesellschaft Schuckert für Elektricität sich in Nürnberg definitiv constituirt« habe. Die erste »Einzahlung auf das Capital« war zum 1. April zu leisten. Hermann hielt seine Gedanken an, denn statt Friedrich Uppenborn war es zuerst Sigmund Schuckert gewesen, der als Leiter der Versuchsanstalt vorgesehen war. Schuckert hatte auch Interesse gezeigt, es aber wieder verloren, als die Beleuchtung des Marienplatzes am Widerstand der Gasbeleuchtungsgesellschaft scheiterte. Sie hatte auf laufende Verträge hingewiesen. Ob er für die Einsteins besser gewesen wäre als Uppenborn, fragte sich Hermann, kannte aber die Antwort: vermutlich nicht. Statt bis zu den Abnahmestreitereien vorzudringen, wären sie dann wahrscheinlich gar nicht erst an Aufträge gekommen.

Ohne Schuckert waren es schließlich die Brüder Einstein gewesen, die den Marienplatz elektrisch beleuchteten, wenn auch nur vorübergehend, zur Probe und natürlich ohne Gewinn. Es hatte sogar Geld gekostet. Jakob sah das allerdings in engem Zusammenhang mit dem Schwabinger Auftrag, der in engem Zusammenhang mit dem Münchner Auftrag stand und über den hinaus er »erst mal nicht planen« wollte.

Auf die Rückkehr seines Bruders wartend, oder auf einen Unfall, war Hermann fähig, diese Meldung ohne große Regung aufzunehmen. Er sortierte sie gar nicht ein. Noch halb bis drei viertel betäubt von den Londoner Lampen, blätterte er ziellos durch den Rest der Zeitungen, was ihn entspannte: Es hatte zwei Morde in München gegeben, ein Kind und ein Armenhäusler waren die Opfer. Die Diebstahlrate war gestiegen, seit der vermehrte Zuzug von Fremden die Gelegenheitstat begünstigte. Razzien und Inhaftierungen waren nicht nur speziell gegen unsolide Frauenzimmer durchgeführt worden, sondern hauptsächlich wegen Kuppelei. In Leoni am Starnberger See hatten der Postadjunct Landgraf und seine neunzehnjährige Geliebte, Tochter des Rentbeamten Graf von München, mit einem Revolver einen Doppelselbstmord versucht. Landgraf war seiner Verwundung erlegen, während das Fräulein Graf an dem Schuss in die Brust schwer verwundet daniederlag. Und schließlich hatte Professor Voit als Vorsitzender der elektrotechnischen Versuchsstation »die Güte gehabt«, vor dem Polytechnischen Verein zu sprechen.

Hermann überfiel plötzlich das Verlangen, die Zeitung wegzulegen. Im Lärm der Maschinen fror er. Sein Bruder hätte längst mit den anderen zurück sein müssen. Hermann nahm deshalb an, es habe Schwierigkeiten, da sie schon im Maschinenhaus ausgeblieben waren, natürlich auf der Strecke gegeben. Der Strom floss zwar gleichmäßig ab, wie er an den Geräten sehen konnte. Die einfachste Erklärung war, dass er auch durch die Lampen floss und alle brannten. Aber die einfachste Erklärung war nie Hermanns liebste gewesen, und wenn es auch unwahrscheinlich war, dass der Strom an einem feuchten Mast herunter in den Erdboden floss wie ein Blitz, vollkommen undenkbar war es nicht. Dann suchten die fünf jetzt den schadhaften Isolator.

Als Hermann schon nicht mehr damit gerechnet hatte, kamen sie alle gemeinsam in das Masschinenhaus: Petuel, Ansprenger, Jakob, Höchtl, Uppenborn. Hermann erhob sich sofort und stand gespannt vor ihnen.

Ohne Notiz von ihm zu nehmen, sagte Petuel wörtlich, was Hermann vor ein paar Minuten erst in der Zeitung gelesen hatte: »Es gibt für Samoa gar keinen Neutralitätsvertrag zwischen Amerika, Deutschland und England.«

Ansprenger nickte.

»Wir haben vorletztes Jahr nur einen Vertrag mit Samoa gemacht, der uns die Kohlenstation im Hafen von Pago Pago zugesteht.«

Ansprenger nickte noch einmal uninteressiert.

»Deshalb«, schloss Petuel seinen Satz ab.

Hermann stutzte.

In den Lärm der Rotoren sagte Ansprenger dann, indem er Jakob ansah, nur: »Gut.«

Dazu nickte er ein weiteres Mal, und erst auf dem Rückweg bekam Hermann erzählt, wie Petuel Ansprenger abzulenken versucht hatte, indem er ihn in ein Gespräch über die »gefährlich blamable Einmischung von Uncle Sam in deutsche Interessen auf Samoa« verwickelte.

Hermann nickte ungeduldig, er wollte hören, wovon Ansprenger hatte abgelenkt werden müssen.

Nervtötend langsam erzählte Jakob: Es hatte in der Herzogstraße einen Zwischenfall gegeben, und weil Hermann die Augen aufriss, sagte Jakob lässig: »Keinen technischen.«

Aus sicherer Entfernung hatte ein Mann die Abordnung beschimpft, sie wollten die Schwabinger aus Schwabing vertreiben. Die fünf waren daraufhin stehen geblieben.

»Der hat an einer Hausecke gestanden«, meinte Jakob, »Hände in den Hosentaschen, eine Wollmütze auf dem Kopf und rote Frostflecken im Gesicht, und hat geschimpft, erst würde man die Steuern erhöhen, um neues Licht zu bauen, und dann die Mieten, um neue Leute zu holen, die eine höhere Miete zahlten und noch mehr Steuern. Dabei hat er Petuel im Blick gehabt, der Ansprenger dann erklärt hat, wer das war.«

»Und? Wer?«

»Ein Arbeitsloser, Max Siewig. Letztes oder vorletztes Jahr haben sie ihm das Armutszeugnis ausgestellt. Aber Ansprenger war nicht überzeugt. Siewig stand noch Lohn zu, sagt Petuel, und den hat er vor Gericht auch bekommen. Petuel hat ihn gegrüßt.«

Auf den Gruß hin war Siewig um die Hausecke verschwunden, ohne geantwortet zu haben, und die fünf Männer hatten sich wieder in Bewegung gesetzt.

»Petuel hat noch gesagt, dass Siewig bei ihm im Wirtskeller anschreiben lässt, aber Ansprengers Laune – du weißt ja, wie er ist.« Jakob äffte ihn nach: »›Die Armenkasse‹, hat er im Weitergehen zu Petuel gesagt, ›128 in 88! Wenn wir das nicht drücken.‹ Und ein paar Häuser später: ›Das drücken wir.‹«

Petuel hatte dazu mit seinem großen kantigen Kopf genickt und gesagt, dass Siewig »die Nerven« hatte, seit Frau und Sohn gestorben waren.

»Was war noch?«, wollte Hermann wissen.

»In der Siegesstraße haben Ansprenger und Petuel mit dem Uhrmacher ein paar gut gelaunte Worte gewechselt, wie heißt der noch?«

»Der Goldschmied?«

Den meinte er.

»Johann Berndl.«

Er war begeistert aus seinem Laden gekommen, um Hände zu schütteln.

»Und das war’s?«

»Hat ja niemand gewusst, dass wir sie anstellen«, erklärte Jakob seinem Bruder, als ob dem nicht mal das klar wäre: »Und vor dem weißen Himmel siehst du sie kaum.« Jakob wies nach oben. Ansprenger hatte schon bei der ersten Lampe gesagt, dass er doch hoffen würde, im Dunkeln auch wirklich etwas sehen zu können damit.

»Und Uppenborn?«

»Der hat schon in der Maffeistraße auf eine durchgebrannte Birne hingewiesen, die er als Erster gesehen hatte, aber Höchtl ist gleich rauf, oben am Laternenpfahl.«

Jakob lachte. Höchtl habe einen Handschuh im Mund gehabt dabei und »Rotz und Dreck« geflucht.

Hermann stellte sich vor, wie die anderen vier ihm zugesehen hatten mit gestreckten, nach hinten gelehnten Oberkörpern, deren Gewicht sie mit ausgestreckten Armen ausglichen, sodass ihre Fäuste sich in den Manteltaschen abzeichneten.

»Ansprenger hat auf jeden nicht ganz gerade sitzenden Porzellanisolator gezeigt, und Höchtl hat immer schön notiert. Als würden die gerichtet.«

Insgesamt sei Ansprenger aber schweigsam gewesen, was die anderen unter Druck gesetzt und Petuel zu unausgesetztem Reden veranlasst hatte, als müsse er »die Girlande« noch immer an die Männer bringen.

»Muss er nicht mehr«, nahm Hermann die Rede endlich auf und beendete sie, als hätte er den größten und schwierigsten Teil der Arbeit geleistet.

Nachdem Ansprenger im Maschinenhaus mit seinem »gut« die Abnahme bewerkstelligt und Jakob den aus einem großen Hebel bestehenden Lichtschalter umgelegt hatte, wurden die Straßen, in die der Schnee mittlerweile so lautlos und geduldig rieselte wie all die Jahrhunderte zuvor, noch einmal ihrer Vergangenheit überlassen.

»In Schwabing« war aber, so formulierte es Petuel am Abend in seinem Bierkeller, eine Hand unter dem Hosenträger, die andere mit Zigarre auf dem Tisch und einen Bierkrug mit offen stehendem Deckel vor sich, »der Strom.«

5 Das Bild des Pferdes

Zwölf Tage war das her. Albert hatte sie einzeln gezählt, weil die unangenehme Spannung im Haus, statt sich zu legen, weiter gestiegen war. Er konnte nur hoffen, dass sie sich heute wieder löste. Egal wie. So ernst wie die Erwachsenen ihre nahm Albert seine Spielzeuge nie, aber alles, wusste er, hing jetzt davon ab, wie gut die Anlage heute Abend lief, wie das Wetter war und dass nirgends Funken sprühten.

Das Wetter war schon mal gut.

Seine Mutter, das wusste er auch, betete.

»Albert«, sagte sie, als sie mit einem neuen Paar Wollsocken ankam. An ihrer Stimme hörte man, dass sie nicht annahm, sich durchsetzen zu können.

Durch eine entschiedene, nach hinten in ihre Richtung gestreckte linke Hand hieß Albert sie ruhig zu sein, während er mit der rechten das dritte Stockwerk des Kartenhauses vollendete, dann das erste Kartenpaar des vierten aufstellte, zur Verwunderung der Mutter in der Mitte des Baus. Gebannt sah sie ihm zu, eine Hand dabei in einer Wollsocke.

Hermann zog erneut die Uhr aus der Westentasche, als Jakob das Fenster öffnete, um »Höchtl!« zu rufen, dessen Ohren vier, höchstens viereinhalb Meter entfernt waren. Selbst wenn es sechs Meter gewesen sein sollten, mussten sie deshalb nach weniger als zwei Hundertstelsekunden vom Schall erreicht worden sein, dachte Albert.

Aber Höchtl regte sich nicht. Er regte sich weder, bevor das Kartenhaus vom viel langsameren Luftzug berührt zusammenfiel, noch nachdem Pauline jetzt viel fester ihren Schwager ermahnte, als sie es zuvor mit Albert getan hatte: »Jakob!«

Der starrte unverwandt auf Höchtl, wünschte diese primitive Art, miteinander in Kontakt zu treten, zum Teufel oder gleich nach Frankreich und sagte laut zu sich selbst: »Stur wie Holz!«

»Wer denn?«, fragte Hermann ungehalten.

»Herr Höchtl«, wiederholte Jakob jetzt in ganz normaler Zimmerlautstärke und mit einem Minimum an Freundlichkeit, das schon das Maximum seiner erreichbaren Selbstdisziplin erforderte. Seine rechte Hand hielt weiter den Fensterflügel fest.

Höchtl sah gemächlich auf und fragte mit einer nicht unpassenden Kopfbewegung, was es gebe.

»Seien Sie doch bitte so gut und bürsten den Gäulen noch schnell über die Flanken!«

Höchtl nahm den Blick vom Fabrikanten und sah auf den Pferdearsch, der ihm am nächsten war.

Er dachte: »Noch schnell!«

In einem nur in der Imagination möglichen Tempo rekapitulierte er, wie er bei Krauss das Wettdrehen gewonnen hatte und Geselle geworden war, wie er vorher monatelang im Dreck der Schmirgelbank ausgehalten hatte und wie ihn noch früher der Graf Holstein nicht als Hofstaller genommen hatte wegen der roten Haare, denen »seine Sommersprossen«, so der Graf in merkwürdiger Verdrehung der Tatsachen, »noch die Krone aufsetzten«.

In weniger als einem Augenaufschlag dachte Höchtl an den harten Winter neunundsiebzig. Er dachte an seine Scharlacherkrankung und daran, dass Unkraut nicht vergeht. Er dachte an die Zeit als Ministrant, in der er für sechs Pfennige um vier Uhr aufgestanden war, und er dachte an die ungezählten Spanischen Rohre in den Händen seiner Lehrer, von denen niemand wusste, wieso die Spanier an ihnen schuld sein sollten.

Er dachte an seinen Vater, der für seinen Humor bekannt war und der im Jahr achtzig bei Regen auf einen Zug springen wollte wie immer. An den Fuß seines Vaters, der vom nassen Trittbrett abrutschte wie noch nie, bevor seine Hand den Halt am nassen Haltegriff verlor und sein Kopf unter das nächste rollende Rad geriet.

»Noch schnell«, dachte Höchtl, den kondensierenden Atem des Pferdes inhalierend, mit den Augen dem Lauf der braunen Haare im Fell der Flanke folgend, als wäre es der Lauf seines Schicksals. Er hatte seine Mutter vor Augen, die zwei Jahre nach dem Unfall des humorvollen Vaters mit zweiundvierzig »ihrem Siechtum erlegen« war, wie alle es nannten.

Er beschloss, morgen seine Schwester bei den Pflegeeltern zu besuchen. Sie war das einzige von elf Geschwistern, das noch lebte, denn alle anderen waren »gekommen« und ohne genug Zeit, einen eigenen Willen zu entwickeln, »wieder gegangen«.

Dem Fenster mit Jakob Einstein drehte er jetzt vollends den Rücken zu.

Dass Jakob lächelte, bemerkte niemand. Er schloss den Fensterflügel und sagte wie im Selbstgespräch, die Gäule sähen aus wie vom Sendlinger Bauernhof.

In den verstreuten Spielkarten, die eben noch Teile eines Kunstwerkes gewesen waren, las Pauline Einstein ihre Unschuld und lebenslange Zurücksetzung.

Albert stand ruhig auf und sagte mehr, als dass er fragte: »Gehn wir?«

Er war zu Jakob ans Fenster getreten und beobachtete von der Seite seinen Onkel, der durch das wellige Fensterglas sah, wie das Sattelpferd den Schwanz hob. Das Bild von dem, was dampfend folgte, breitete sich mit einer in einem Keller in Potsdam gerade frisch vermessenen und nach Alberts Meinung zwar erst mal wahnwitzig klingenden, am Ende aber doch einfach auch nur sehr hohen Geschwindigkeit nach allen Seiten aus. Es durchdrang Jakobs Augäpfel und traf, auf dem Kopf stehend, seine Netzhäute. Von da raste es vergleichsweise langsam über seine zweiten Hirnnerven zum Chiasma opticum, wo rechte und linke Seiten der beiden Abbilder des Skandals für beide Gehirnhälften neu sortiert wurden, um sich, ohne nach Erlaubnis gefragt oder zu viel kostbare Zeit verloren zu haben, ins visuelle Gedächtnis weit hinten im Großhirn des Fabrikanten zu bohren.

Dass niemand das ahnte, machte gar nichts.

Am Minenspiel seines Onkels las der mit »unmenschlich viel Intuition« beschenkte Albert ab, wie das mittlerweile wieder auf den Füßen stehende Bild das Geruchszentrum seines Onkels stimulierte: Jakob rümpfte trotz geschlossenem Fenster die Nase. Einen Motorwagen brauchte Jakob Einstein, weil der nicht stank.

»Mein Gott«, murmelte er resigniert oder wütend, und Albert ergänzte im Stillen für sich: »ist überall.«

Das behaupteten die Lehrer seiner Schule.

»Eine Minute«, sagte Hermann auf die schon beinahe vergessene Frage, ob man losführe, in Alberts Richtung. »Geh schon mal runter.«

Und Pauline ergänzte, nachdem sie dem Jungen offenbar auch mit Lichtgeschwindigkeit, nämlich ohne dass die Männer es gemerkt hätten, die Socken gewechselt und Schuhe angezogen hatte, die Anordnung mit einem Befehl, in dem »Mantel« und »Schal« vorkamen.

6 Albert Einstein

Mit beidem ausgestattet hüpfte Albert die schmale, schon zwei Jahre nach ihrem Bau in der Mitte ausgetretene Treppe hinunter, indem er immer eine Stufe ausließ, die nächste mit dem linken Fuß nahm und den rechten kaum zeitlich versetzt auf die übernächste setzte: ta-tam, ta-tam. Er würde sich »eines Tages die Haxen brechen«, behauptete seine Mutter immer. Sie ahnte nicht, wie leicht er war, auch nicht, wie sehr er die Genauigkeit liebte und wie leicht sie ihm fiel. Nie würde er sein wie seine Mutter.

Draußen atmete er froh die kalte Luft ein. Das Sonnenlicht war fast weg, die an der Hauswand befestigte Bogenlampe brannte, vom Dynamo im Haupthaus gespeist, mit ihrem knisternden Geräusch. Albert tippte mit der rechten Fußspitze immer auf die Mitte eines Kopfsteins, mit dem linken Fuß trat er immer so auf zwei, dass die Rille seinen Fuß genau in vordere und hintere Hälfte teilte und er dabei auf keinen weiteren Stein trat.

»Hast dich verletzt?«, fragte Höchtl wegen des asymmetrischen Gangs. Albert schüttelte den Kopf und wies fragend auf die Berline.

»Bitte«, sagte Höchtl und wandte sich wieder der Flanke des Braunen zu.

Albert blieb aber noch bei ihm stehen. Er mochte Höchtl. An den Nachmittagen ging Albert oft in die Halle, um ihm bei der Arbeit zuzusehen. Höchtl sagte Sachen wie gestern, als er meinte, dass er den Strom noch immer nicht möge. Da hatte er gerade einen gewischt bekommen, eine elektrostatische Entladung, ungefährlich, aber unangenehm.

»Der Strom mag uns auch nicht recht«, hatte er wie zur Entschuldigung angefügt, »sonst würde er sich öfters zeigen.« Und nach einer Weile, in der er mit Fett am Ringschmierlager hantiert hatte: »Was ich nicht sehen kann, ist mir halt nicht geheuer.«

Seitdem hatte Albert überlegt, was man alles nicht sehen konnte. Das Magnetfeld natürlich, das den Kompass bewegte. Die Luft konnte man nicht sehen, es sei denn, sie flimmerte wie im Sommer. Man atmete sie trotzdem einfach so ein.

Es gab noch viel mehr Unsichtbares: Wasser. Im Prinzip unsichtbar wie Luft, alle tranken Unmengen und laut dem Apothekenblatt, das in der Küche herumlag, doch immer zu wenig. Für Albert waren auch England und Frankreich, von denen die Erwachsenen immer sprachen, unsichtbar. Sein Onkel war aber schon mal auf der Elektrizitätsausstellung in Paris gewesen, was seinem Lehrer nach für Frankreich dasselbe war wie München für Bayern. Albert sprach es gern vor sich hin: Elektrizitätsausstellung. Er wiederholte das Wort stumm, eine Lautmalerei im Kinderkopf mit allen Variationen der Betonung: Mal zog er das E am Anfang lang, mal das u am Ende, mal ein i, bis das Wort von allein und ohne Bedeutung durch seinen Kopf hallte.

Dann brachte er sich bei, es rückwärts auszusprechen: Gnulletssuas-Tätizirtkele. Er wiederholte es, bis er es flüssig sagen konn-te, Gnulletssuastä-Tizirtkele, wiederholte es weiter, um das Tempo zu steigern, und war schon sehr schnell, dann probierte er alle Betonungsmöglichkeiten, und dann hatte auch dieses Ungetüm von Laut jeden Sinn verloren und bot statt Erholung seinem unterbeschäftigten Geist nur Langeweile. Albert versuchte, es wieder loszuwerden, indem er über etwas anderes nachdachte. Unsichtbare Sachen, fand er, waren interessanter als sichtbare. Paris war nicht so interessant wie das Magnetische.

Einige Gottesfragen im Zusammenhang mit dem Magnetfeld hatten Albert den Nachmittag über beschäftigt. Sicher konnte Gott es sehen. Sonst hätte alles keinen Sinn. Welche Farbe es wohl hatte? Eine Farbe musste es haben, auch wenn sie blass oder durchsichtig war oder wie man das sagen sollte. Nur hatte die Farbe natürlich keinen Namen, denn Menschen, die die Namen erfanden, konnten es ja nicht sehen. Wieso nahmen die Erwachsenen es hin, Gott nicht fragen zu können? Sie gaben immer gleich auf. Dabei war das Magnetfeld mit dem Kompass seines Vaters und den Eisenspänen seines Lehrers gar nicht so unsichtbar, wie man erst dachte. Beim Einschlafen wünschte sich Albert, am Morgen magnetisch zu sein wie die Nadel im Kompass und das Magnetfeld zu spüren.

Aufgewacht war er mit dem Licht. Durch die schmalen Spalte der Läden schoss es ins Zimmer. Er hielt sich die Decke über den Kopf und war bereit, sich schlafend zu stellen, sollte die Tür aufgehen. Mal lugte er mit dem einen, dann mit dem anderen Auge, dann mit beiden ins Zimmer, das vom Licht durchquert wurde. Minutenlang beobachtete er, wie die im hellen Ausschnitt leuchtenden Staubteilchen langsam tanzten und strömten. Ohne sie war der Lichtstrahl nicht sichtbar. Oder es waren mehrere Lichtstrahlen, ein einzelner konnte es ja, breit wie das Fenster, kaum sein. Wie dick war ein Lichtstrahl? Der Lichtstrahl war nicht genau dasselbe wie das Licht, und erst wenn es auf einen Gegenstand fiel, der es ins Auge lenkte, sah man es.

Den Strom sah man auch erst, wenn er in der Maschine oder der Lampe ankam und etwas machte. Dass man das Magnetfeld und den Lichtstrahl nicht sehen konnte, störte Höchtl aber nicht wie die Unsichtbarkeit des Stroms.

»Steig ein«, sagte er ruhig, weil er glaubte, dass Albert vor der Kutsche zu versteinern drohte oder gleich eine seiner Fragen stellte, »verkühlst dich sonst noch.«

Wie Jakob hatte auch Albert das Gefühl, dass nichts wirklich schiefgehen und in Not geraten konnte, solange Höchtl da war. Und er war immer da. Wenn er einmal nicht da war, sagte man Albert schon automatisch: »Höchtl ist in Augsburg« oder nur: »Ist in Landsberg.« Letzte Woche hieß es am Montag, als Albert in der Halle nach ihm sah, »der Aloys, der ist in Italien«.

Er war nie richtig weg, etwas von ihm blieb auch an seinem Platz, wenn er unterwegs war. Er war auch dann immer noch da. War Höchtl etwa Gott? Womöglich sah er das Magnetfeld und den Lichtstrahl, nur den Strom nicht, der ja im Kabel war. Mit seinen Eltern würde Albert darüber nicht reden können. Wahrscheinlich würde nicht einmal Jakob darüber reden wollen, obwohl der ihm das Buch über die Sterne, Gott und die Ewigkeit gegeben hatte, in dem vorgerechnet wurde, dass das Licht von der Erde über eine Sekunde zum Mond brauchte, acht Minuten zur Sonne und Jahre oder Jahrhunderte zu manchem leuchtenden Punkt dort oben.

Das Buch erklärte, wie mit den Lichtstrahlen alle Bilder von ihm und den anderen auf ewig durch den Weltraum flogen. Was für ihn und die anderen ein Zeitpunkt war, kam im Weltraum einem Ort gleich. Gott konnte jederzeit an jedem beliebigen Punkt sein. Deshalb sah er alles, auch die ganze Vergangenheit.

Allein in der Berline sitzend und mit einem Fischmund Atemwolken zu Kugeln formend, beobachtete Albert im Zwielicht der Bogenlampe und der Dämmerung Höchtls Mütze, wie sie beim Bürsten des Pferdes aus dem Fensterausschnitt verschwand und gleich wieder auftauchte.

Die Erwachsenen kamen aus dem Treppenhaus, um nacheinander zu ihm in die Kutsche zu steigen, die sich bei jedem Tritt auf die Stufe weit zur Seite neigte, aber mit jedem neuen Passagier weniger weit. Auch Ida war jetzt dabei, Jakobs Frau.

»Träumst?«, fragte Alberts Mutter ihn, als Höchtl die Bürste weggebracht und den Dynamo abgestellt hatte, im Halbdunkel auf den Bock gestiegen war und wendete. Unter dem Klappern der Pferdehufe und Rattern der Räder holperten sie, nicht grundsätzlich schlecht gelaunt oder pessimistisch gestimmt, wie sich später alle übereinstimmend erinnerten, aus der Einfahrt.

Mit großen Augen sah er seine Mutter an, bevor er verneinte. Sie band ihm den Schal neu, verlegte das lange Ende sorgfältig in das Innere des Mantels und schloss den obersten Knopf. Jakob rauchte eine Zigarre. Der Qualm gefiel Albert erst, dann legte er sich ihm störend auf die Brust.

Nach zehn oder fünfzehn Minuten wortloser Fahrt, auf der Albert sich nicht darum kümmerte, wo entlang sie fuhren, hielten sie plötzlich. Er stand auf, um aus den Fenstern sehen zu können: Sie waren an der Versuchsstation. Ausgerechnet hier, wo die Lampen probiert worden waren, traf man sich also mit Uppenborn, dessen Name in Alberts Ohren schon lange Alarm auslöste und jetzt doppelt laut schepperte. Hier wurden die Berichte geschrieben, die über Aufträge und Abnahmen entschieden und um die es täglich Streit gab.

Sie waren die Ersten. Jakob stieg aus. Albert konnte sehen, wie sein Onkel in die Luft paffte und immer wieder zum Eingang der Versuchsstation sah. Sie war verschlossen, die Scheiben waren innen vereist, niemand war im Haus. Vor ein paar Wochen erst hatte Albert hier an den Instrumenten gesehen, dass die Lichtstärke im doppelten Abstand nur noch ein Viertel betrug, »weil«, so Jakob damals vor den anderen zu Albert, »Licht sich im Äther wie eine Kugelwelle ausbreitet, genauso wie die Wellen im Walchensee, wenn du einen Stein hineinwirfst«.

»Eher wie der Schall«, hatte Albert gesagt, »die Wasseroberfläche ist ja ganz flach.«

»In drei Richtungen, stimmt«, hatte Jakob nur gesagt, »aber ansonsten gerade nicht wie der Schall.«

Albert war klar, dass er in dem Moment nicht weiter fragen konnte.

Dass jedenfalls die Oberfläche einer Kugel mit doppeltem Durchmesser, hatte Jakob dann zu erklären angefangen, was sein Neffe schneller als er beendete: »viermal so groß« sei.

Die anderen waren von der Konkurrenz amüsiert, besonders Uppenborn.

»Die Lichtstärke muss sich auf der Kugel gleichmäßig verteilen«, blieb Jakob noch zu sagen.

Nichts Neues für Albert.

Aber was, fragte er sich jetzt still in der Kälte wartend, hat eine Kugelwelle im Äther mit einem Strahl zu tun, der morgens gerade wie nichts anderes in der Welt durch die Ritzen der Läden ins Zimmer schießt? Nie wussten die Erwachsenen, wovon sie redeten, und auch das wussten sie nicht.

Albert betrachtete seinen jetzt stumm paffenden Onkel aus der Berline heraus, vielleicht würde ja etwas auffallen an ihm. Aber da war nichts. Jakob Einstein wartete nur.

Die beiden Frauen sagten und taten ebenso wenig wie Hermann. Nur ein mattes »kalt« gab Ida von sich. Dazu hauchte sie sich in die Handmuscheln. Hermann nickte entschlossen. Die Frauen hielten ihre auf den Schößen stehenden Taschen fest und sahen einfach geradeaus, bis Jakob plötzlich aufhörte zu atmen. Alle bemerkten das sofort und sahen zu ihm herüber, der wie eine Wachsfigur mit der Zigarre vor dem Mund stillstand, dann sahen sie in die Richtung, in die er blickte. Von dort näherte sich ein für Albert unbekanntes, in sich wiederkehrendes Geräusch. Eine kaputte Felge war das nicht, dafür wiederholte es sich viel zu oft, und auch kein trockenes oder schon berstendes Radlager. Es war eher etwas mit Dampf oder einem kaputten Blasebalg oder etwas schnell Drehendes und dabei Schlagendes. Beim Näherkommen blieb es fast vollkommen gleich.

Die unterdrückte Aufregung von Jakob, der jetzt die Hand mit der Zigarre sinken ließ, übertrug sich auf die gegen die Fahrtrichtung sitzenden Frauen. Sie konnten ohne Weiteres aus dem Rückfenster sehen und fassten ihre Taschen neu, als könnten sie herunterfallen. Albert sah den Mund seiner Mutter offen stehen.

Das Geräusch kam ganz nah und verstummte gerade metallisch klappernd, als Albert mit den Knien auf die Bank geklettert war, um wie die anderen nach hinten zu sehen.

Friedrich Uppenborn stieg aus einem noch im fahlen Licht an mehreren Stellen aufblitzenden Wagen, der vorne nur ein Rad hatte und vor dem keine Pferde waren. Nicht mal eines.

»Was ist das«, fragte Albert, und seine Mutter sagte: »Ein Motorwagen.«

Mit einer Leichtigkeit, die Albert imponierte, sprang Uppenborn auf die Straße.

»Herr Einstein!«, rief er aus einem Abstand von so wenigen Metern, dass seine Lautstärke durch nichts, was Albert gekannt hätte, gerechtfertigt war.

7 Der Kuss

»Fabelhaft«, rief Uppenborn immer noch viel zu laut, als er schon neben Jakob auf dem Gehweg stand und auf den Wagen deutete, aus dem jetzt zwei weitere Männer kletterten: »Was?«

Der erste der beiden Männer hatte einen Schreibblock in der Hand, der andere eine Kamera dabei. Albert beobachtete, wie Uppenborn seinen Onkel erwartungsvoll ansah, der langsam fragte: »Von Benz?«

»Erraten!«

»Gratuliere.«

»Dafür nicht«, fand Uppenborn, und fünf Jahre später sagte Alberts Mutter, Uppenborn habe schon das sehr überheblich gesagt. Er fragte: »Darf ich Ihnen die Herren der Münchner Neuesten Nachrichten ...«

Jakob gab zuerst dem Schreibblock, dann der Kamera die Hand, und zwar, wie man Totengräbern die Hand gibt: »Einstein.«

»Neumayr«, antwortete der erste mit einem harten Blick. Er drückte grob zu. Der zweite sah Jakob freundlich in die Augen und sagte sanft: »Bauer.«

»Ein paar Minuten haben wir wohl noch«, schätzte Uppenborn richtig, »bis die Kollegen aus London da sind. Hoffe bloß, die haben ihre Uhren richtig gestellt.«

Was er zur Krise der Elektrotechnik meine, fragte Neumayr schon und notierte Jakobs unverzögerte Antwort: »Herbeigeredet.« Neumayr hauchte sich in die Handfläche und wartete auf eine Erklärung.

Der Fortschritt, so Jakob erst zögerlich und dann mit wachsendem Nachdruck, lasse sich ganz sicher nicht aufhalten. Der Witz bestehe ja schließlich darin, dass er ausgesprochen billig sei, mehr noch als billig: »Wir bekommen den Fortschritt geschenkt, wissen Sie, ein Riesengeschenk, das da kommt. Das ist alles geschenkt. Kaum zu glauben eigentlich.«

»Der Fortschritt.«

Nicht nur Albert fiel auf, dass Jakob wiederholte: »Der Fortschritt.«

Hermann stieg jetzt auch aus, Bauer hatte schon zwei Fotos von Jakob gemacht. Aus der Kutsche heraus sah Albert, wie der Rauch des Blitzlichtes auch beim zweiten Mal in der Luft ein Stück aufstieg, sich nach außen stülpte und dort wieder herabsank, wie ein Pilz stehen blieb und ganz langsam in Richtung des Eingangs der Versuchsstation schwebte, bevor er sich auflöste. Nach dem dritten Foto von Jakob zerstörte Bauer den neuen Rauchpilz mit der Hand, als wäre es eine Einbildung, und Hermann sagte: »Ja.«

»Die Arbeiterklasse in England ...«, begann Neumayr, kam aber nicht weiter, denn Jakob schnitt ihm das Wort ab: »Sogar deren Lage hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verbessert.« Zum Glück bestehe die Welt aber nicht bloß aus Engländern und England, wo offenbar schon immer jeder gegen jeden Krieg geführt habe. »Aber selbst England«, meinte Jakob, »und gerade England hilft der Fortschritt doch am meisten.« Später behauptete er, dem Satz absichtlich Zeit gelassen zu haben, damit er seine Wirkung entfalten konnte. Dann fügte er an: »Kaum ein Land, das den Fortschritt nötiger hatte, besser gebrauchen konnte und dem er besser bekommt als ausgerechnet England.«

Alle sahen ihn an.

»Die haben halt keinen Bismarck, der ...«

»Was halten Sie vom Wechselstrom?«, wollte Neumayr wissen, ohne dabei zu warten oder aufschauen und das Kritzeln auf dem Block unterbrechen zu müssen.

»Kurzlebig«, sagte Jakob trocken und richtete sich auf, »keine Perspektive.«

Neumayr blickte nun vom Block hoch, wartete gespannt und steckte Albert damit an, obwohl der sich dagegen wehren wollte. Er mochte den Journalisten nicht.

Jakob war laut Aussage beider Frauen ungeduldig, wenn nicht ungehalten: »Wegen der Probleme mit der Isolation. Das hat Edison mit seinen Vorführungen doch gezeigt. Wie gefährlich der Wechselstrom von Westinghouse und Tesla ist. Sie kennen das?«

Weil das Gespräch ihn nicht interessierte und er wusste, dass er sich das nicht anmerken lassen durfte, sah Albert durch das Heckfenster in den Abendhimmel. Die ersten Sterne funkelten gerade durch das dünner werdende Zelt des Tageslichts. Der eine oder andere Stern, der sich zeigte, war längst erloschen, nur seine Lichtstrahlen waren noch unterwegs, aber wenn jemand irgendwo dort oben war, dann sah er die Strahlen von der Erde genauso verspätet und konnte beobachten, was Albert und die anderen gestern gemacht hatten, oder vorgestern oder letztes Jahr. Oder wie alles aussah, bevor er auf die Welt gekommen war.

Albert sah zu Höchtl hinüber, der einsam und traurig auf dem Bock saß und den Pferden etwas zuflüsterte. Beide bewegten die Ohren aufmerksam, vielleicht belustigt, wenn er zischende und schnalzende Geräusche machte. Pauline sah Albert lächeln.

»Er hat einen Elefanten getötet«, sagte Neumayr aber unbeeindruckt und versetzte Albert damit einen dumpfen Schlag auf die Brust und gleichzeitig einen Stich ins Herz. Die Ewigkeit des Himmels war auf diesen einen Moment an der Kutsche zusammengeschnurrt. Lagen Seele und Herz so nah beieinander?

Ja, denn Jakob führte in überlegen tuendem Ton aus, dass Edison »einen elektrischen Stuhl für die Exekution von Mördern bauen« werde, was Albert wie ein zweiter Schlag traf, wie ein Schlag in sein Kindergesicht, stark genug, einen Riesenkerl umzuwerfen. Was er nicht war.

Die Männer sahen sich gegenseitig an, stark verlangsamt.

»Edison wird«, so der geliebte Onkel, der sich Alberts Achtung doch immer hatte sicher sein können: »den Galgen ersetzen.«

»Es wird ein sauberes Töten«, hörte Albert seinen Onkel wie durch Rauschen von Wasser in seinen Ohren sagen, während er selbst versuchte, nach Luft zu schnappen und nicht nach Luft zu schnappen: Da habe man die Anwendung des Wechselstroms!

Dass dann für kurze Zeit, und egal für wie kurze Zeit, niemand etwas sagte, war schön. Die Empfindung für die Kälte war verschwunden. Aus der Kutsche steigen und weggehen und immer weiter gehen, in die Berge zum Beispiel, irgendwohin, wo niemand mehr war, wollte Albert. Hunger und Einsamkeit hätte er gerne ertragen. Aber jetzt durfte er sich erst recht nichts anmerken lassen. Als er ausstieg, was für Pauline ohne Grund geschah, setzte er den Fuß auf den Gehweg, ohne den Abstand von der Stufe der Kutsche einschätzen zu können. Es fühlte sich an, als ob er unter Wasser auf einen Stein steigen wollte, und er sah die Erwachsenen aus großer Ferne, als kleine hilflose Punkte, die mit den Armen ruderten, ohne zu wissen, wo sie waren oder wohin sie wollten. In der Mitte er selbst.

Neumayr widersprach. Tesla behaupte das Gegenteil: »Er ist in New York durch ein Feld mit künstlichen Blitzen gelaufen.«

Jakob wusste das offenbar: »Das kann ich Ihnen mit Gleichstrom sofort wiederholen«, meinte er, und Neumayr sah ihn interessiert an. »Das hat allein mit der Stromstärke zu tun. Bei geringer Stromstärke ist jede Elektrizität ungefährlich. Aber – sehen Sie, bei Leistungen, wie sie die Maschinen brauchen, die uns von der Plackerei befreien, Maschinen, die tausendmal mehr leisten als ein Mensch, hundertmal mehr als ein Pferd, empfehle ich das Herrn Tesla nicht. Da bekommen Sie nie eine so geringe Stromstärke hin, dass Sie noch anfassen wollen. Sie müssten mit einer unglaublichen Hochspannung arbeiten, aber dann schlagen Ihnen die Funken durch jede Isolation.«

Neumayr war abgehängt, und das schien Jakobs einziges Ziel.

»Wir wollen aber doch Kohle aus Schächten holen«, dröhnte er schon fast, »in die niemand mehr steigen muss. Wir wollen unterirdische, sichere und saubere Bahnen betreiben, die uns von einem Ende Münchens ans andere bringen und die man nicht füttern, striegeln und von einem eingebildeten Tierarzt versorgen lassen muss, der überzogene Vorstellungen vom Wert seiner Arbeit hat. Kein Theater brennt mehr ab! Körperlich anstrengen, ganz ehrlich, das werden wir uns nur noch zu unserem Vergnügen.«

Neumayr schrieb erstaunlich schnell, und Jakob war fast fertig: »Wir wollen nicht nur Theater und Wirtshäuser, Wohnräume und Festplätze gefahrlos beleuchten. Wir«, und dieser Satz sollte am nächsten Morgen in der Zeitung auftauchen, »wollen die Städte der Nacht entreißen.«

»Er behauptet aber gerade das.«

»Was?«

»Dass Wechselstrom das kann, weil die Verluste beim Transport über weite Distanzen ...«

»Tesla?«

Neumayr nickte nicht mal: »Geht es nicht darum, die besten Energiequellen nutzen zu können, wie zum Beispiel die Wasserkraft?«

»Seit einundachtzig wird davon geredet, Oskar von Miller hat damals schon ...«

»Jetzt ist es eben so weit«, sagte Neumayr. »Mit dem Wechselstrom.«

»Herr Tesla behauptet auch, er könne den Erdball spalten, haben Sie davon gehört?«

Entweder hatte Neumayr nicht davon gehört, oder er wollte es, dachte Albert, nicht verraten. Jedenfalls regte sich kein Gesichtszug, oder nicht so, dass Albert es hätte sehen können.

»Er meint«, hörte er Jakob sagen, »der Erdball würde vibrieren, in sich schwingen und eiern. Ganz wie man sich einen im Wind treibenden, kleinen und leichten Ballon vorstellen muss. Und er meint, er kann die Vibration mit ein paar Explosionen so aufschaukeln, dass er platzt.«

Neumayr hatte davon offenbar wirklich nicht gehört: »Unser Planet?«

»Ist das«, fragte Jakob ihn, »Größenwahn?«

Neumayr sah ihn an.

»Frage ich Sie«, sagte Jakob mit ehrlicher, aber fehlgeleiteter Aggression und redete gleich weiter: »Wissen Sie, warum man ihn einen Magier nennt?« Er lachte grässlich: »Um den Schaden zu begrenzen, den er anrichtet.«

Neumayr hatte keine Sympathie für Jakob Einstein, sonst hätte er hier sicher etwas gesagt, irgendetwas. Jakob musste das Gespräch beenden.

»Uns Fabrikanten wäre es natürlich lieber, man ginge sorgfältiger mit den Fakten um.«

Neumayr nickte und fragte nicht nach dem Kraftwerk am Niagarafall. Albert hatte einen runden Rücken gemacht, die Arme waren ihm schwer geworden, seine Haare klebten ihm an der Stirn, dachte er, obwohl es gar nicht so war. Er fror wieder und wusste nicht, ob ihm schwindlig oder übel oder nichts von beidem oder beides zugleich war. Dabei glaubte er, gesehen zu haben, dass Neumayr sich mit Uppenborn über einen Blick verständigt hatte, als Hermann sich auch noch in das Gespräch einschaltete: »Er behauptet auch, Schiffe aus der Ferne lenken zu können und damit Kriegstote einzusparen.«

»Tesla?«

»Wäre der Mann statt in Amerika noch bei sich zu Hause in Belgrad, eine Handvoll Landsleute würden ihm vielleicht zuhören, höchstens, wenn sich da die Leute überhaupt einmal zuhören. Deshalb ist er ja dorthin gegangen.«

»Nach Amerika?« Neumayr fragte betont unbedarft.

»Er hat für Edison gearbeitet«, wusste Jakob, »am Anfang, sie haben sich zerstritten.«

»Tesla hat sich nicht nur mit Edison zerstritten.« Hermann ergänzte das gelassen und wusste dann zu sagen: »Sie wissen, dass er invertiert ist?« Dabei senkte er seine Stimme auf eine Art, wie Albert es bei seinem Vater nicht kannte oder nur im Zusammenhang mit ihrem Judentum, falls das Wort doch einmal fiel.

Bauer hatte seine Kamera schon wieder zusammengefaltet.

»Edison?« Neumayr gab sich erstaunt, Albert fand aber, dass er etwas Falsches in der Stimme hatte.

»Tesla«, sagte Hermann mit einer Bestimmtheit, die Neumayr nicht zu beruhigen schien und auch Albert erstaunte. Neumayr notierte. In Jakobs Gesichtszügen bemerkte Albert Unwillen, als der erneut an seiner mittlerweile sehr kurzen Zigarre zog.

»Was meinen Sie«, fragte er Uppenborn, »wann kommen die Herren aus London?«

»Hoffe nur, die haben ihre Uhren richtig gestellt!«

»Das hätten sie sicher«, meinte er zu laut, »schon in Paris gemerkt.«

Je klarer die Voreingenommenheit gegen ihn zutage trat, desto selbstsicherer gab sich Jakob, was die Frauen schon am nächsten Morgen als entscheidenden Fehler ansahen. Sie erinnerten ihn fünf Jahre später daran, als die Straßenbeleuchtung für München an Schuckert gegangen war, die Reste der bankrotten Firma Einstein an Siemens verkauft wurden und die Familie den fünfzehnjährigen Albert, querköpfig wie er ihnen schien, bei entfernten Verwandten in München zurückließ, um nach Italien zu ziehen.

Und vielleicht hatten die Frauen recht, denn Uppenborn lächelte wieder zufrieden, als er bemerkte, er hoffe nicht, dass die Engländer ihre Uhren statt vor- aus Versehen zurückgestellt hätten.

Albert war nur froh, dass sie nicht mehr über den Strom redeten, von dem er jetzt wünschte, er wäre ein Hirngespinst, weil das beim Hingucken verschwand.

»So was passiert«, hörte er Neumayr zufrieden sagen, der auf seine Taschenuhr blickte, und Uppenborns Lächeln hatte sich zu einem Grinsen entwickelt, aber im nächsten Moment, als Jakob schon einen neuen Satz angefangen hatte, statt einfach einmal zu schweigen, klapperten Pferdehufe. Eine Kutsche bog um die Ecke und kam hinter dem Motorwagen zum Stehen. Die Pferde bliesen Luft durch die Nüstern und schüttelten ihre Köpfe.

Sie dampften sehr schön, fand Albert.

Der Kutscher grüßte wortlos mit dem Hut, als Jakob noch wie zeitlich irregeleitet ausführte, dass ein Fehler dieser Art »für Engländer in Paris sehr unwahrscheinlich wäre, oder sagen wir ruhig ausgeschlossen«.

Uppenborn grinste unbeeindruckt weiter, und die Männer stiegen nacheinander aus der Kutsche. Es waren zwei Engländer, zwei Holländer, dazu ein Übersetzer, der wieder eigens aus Berlin angereist war, wie beim umständlichen vielfachen Händeschütteln, Zunicken und Vorstellen von Uppenborn bemerkt wurde.

Albert stellte fest, dass das Händeschütteln oft gleichzeitig zwischen jeweils zwei Männerpaaren stattfand, aber nie über Kreuz. Als Jakob und der große Engländer eifrig schüttelten, warteten sein Vater und der kleine Engländer mit angewinkelten rechten Armen und wie lose daran baumelnden Händen, bis die beiden fertig waren, um dann mit den Händen in den freien Zwischenraum zu stoßen wie Fische im Aquarium auf das Futter. Die beiden Engländer waren von der Times. Albert hatte den Eindruck, dass Höchtl sie wiedererkannte.

Die Frauen stiegen nun ebenfalls aus und schüttelten Hände, auch den Holländern, und das Bild davon flog in den Weltraum. Hätte Albert bloß einem der Bilder hinterherfliegen können, er wäre dem Gerede hier entgangen. Er hätte die Missachtung nicht sehen müssen, die Höchtl traf und die ihn schmerzte. Er hätte, dachte Albert, die Zeit sogar ein bisschen eingeholt. Hätte er mit dem Licht fliegen können, mit Lichtgeschwindigkeit, was passierte dann eigentlich? Stünde dann die Zeit still? Er würde sicher nie so schnell fliegen können, und Alberts Vater hatte diese Überlegung deshalb am Nachmittag müßig genannt. Albert fand sie so müßig und spannend wie das Leben selbst, wenn nicht noch spannender.

Was, wenn er zum Beispiel noch schneller als das Licht flöge? Er hätte die Abbilder von sich überholt und hätte anhalten können, um sich selbst später, wenn das Licht ihn einholte, in der Vergangenheit sehen zu können. Aber dann wäre er durch den Flug natürlich schon in der Zukunft gewesen: Das war, fand Albert und sah jetzt plötzlich auf den Boden, zwar noch spannend, ging aber zu weit. In die Zukunft fliegen zu können, hieß schließlich, dass es sie nicht gab, war sie doch, was man aus eigener Anstrengung nicht erreichen konnte. Auf sie und das Ältersein musste man einfach warten. Könnte er in die Zukunft fliegen, weil er das Licht überholte, er würde manche Ereignisse überspringen, manche wiederholen können. Das Band des Lebens, in dem es einen Unterschied machte, was als Nächstes passierte, wäre zerrissen. Gott hätte keinen Einfluss mehr. Man würde seinen Entscheidungen entkommen. Es würde keine Ordnung mehr geben. Alles wäre egal, aber das war es nicht: Irgendwo musste ein Fehler sein.

Vielleicht hatte sein Vater recht damit, dass die Zeit niemals stillstand und immer nur in eine Richtung ging. Dafür musste es, wenn nichts ohne Grund war, dann aber auch einen Grund geben, einen eigenen Grund, etwas, das die Ordnung in die Bilder brachte. Von allen wurde es Zeit genannt. Niemand entrann ihr. Wenn niemand und nichts ihr entrann, dann konnte man schneller als das Licht niemals fliegen: Das ergab Sinn.

Albert sah zu seiner Mutter Pauline und zu seiner Tante Ida, für die die Zeit mittlerweile auch ganz normal weitergegangen war. Sie redeten abwechselnd mit dem Übersetzer, der ihre höflichen Bemerkungen mit ausladenden Gesten beider Hände an die Engländer weitergab, die wiederum eifrig nickten und nichts notierten, obwohl sie ihre Notizblöcke aufgeschlagen hatten. Hier war, ganz anders als in dem Buch über die Ewigkeit, die Gegenwart alles, was zählte. Das Buch war auch unter einem Pseudonym erschienen, gezeichnet nur durch die Buchstaben F.Y., was Albert beim Lesen gestört hatte. Vielleicht hieß das ja nichts Gutes. Vielleicht war es nicht ernst gemeint?

Dass sich der Autor später einmal als Felix Eberty herausstellte, welcher Albert so wenig bekannt war wie Michael Faraday, dass Eberty es bis zum Äußersten ernst meinte und das Buch bereits ein Welterfolg war, spielte so wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass Eberty auch der Biograf des Vaters jener Ada Lovelace war, der Faraday mit einem papiernen Herzen geschrieben hatte, er würde nicht kommen, obwohl auch er nichts als sie sehen wollte. Oder dass Faradays Bild später in jedem von Albert Einsteins Arbeitszimmern hängen würde, die er sich in der Welt, wie sie war, neu einrichtete und einrichten musste.

Jetzt zählte nur, dass Albert berührt worden war.

Die Entdeckung des Fehlers in dem Moment, in dem der größere der beiden Engländer bei Jakob gestanden hatte und hinter ihm auf Zehenspitzen der Übersetzer, war ein Kuss gewesen, das konnte man anders nicht sagen: Die Welt hatte ihn geküsst, als er, der eben noch durch die Erzählungen der Erwachsenen verworfen worden war, entdeckte, dass alles in Ordnung war, solange Licht das Schnellste auf der Welt bliebe. Jeder hier vergangene Moment würde Vergangenheit bleiben. Anderes würde kommen, weil die Zukunft das einzige Sichere war, das Einzige, an das man glauben konnte, auf das man sich verlassen konnte. Sie würde anders sein als alles Vergangene, darin bestand ja ihr Sinn. Albert war unbeobachtet gewesen, allein, und er hatte Glück: Den Kuss hatte er nicht verpasst, wie es anderen bei der ersten Liebe passiert. Er fühlte sich geehrt. Moment und Ewigkeit hatten sich getroffen und ihre Türen geöffnet. Albert durfte eintreten. Er würde dieser Ehrung gerecht werden wollen. Er fühlte sich klein und groß und war, wie sich das für einen Kuss gehört, gleichzeitig erregt und beruhigt. Vom Küssen hatte er sicher nicht genug.

Wie noch immer aus riesigem Abstand, den jedes einzelne gesprochene Wort erst durchqueren musste wie eine Wüste, hörte er den Übersetzer Jakob fragen, was er zur Krise der Elektrotechnik sage. Jakob erklärte dem größeren der beiden Engländer, dass sie herbeigeredet sei, und der Übersetzer übersetzte, während Neumayr mit Uppenborn und Bauer abseits vertraulich sprach.

Als sie mit Reden, Nicken und Notieren fertig waren, der kleinere der beiden Engländer auch Höchtl auf dem Bock freundlich die Hand gegeben hatte, war Uppenborn zu seinem Wagen gegangen, an ihm entlang nach hinten gelaufen, wo er an einem unter dem Sitz befindlichen Teil hantierte. Er zog kräftig an etwas, und das klappernde Geräusch war wieder da. Es beschleunigte sich schnell. Über dem Wagen bildete sich eine weißblaue Wolke.

Jakob verzog das Gesicht. Er hoffte inständig, dass Uppenborn auf der Korsofahrt das Ligroin ausgehen würde. Er stieg ein, betätigte zwei oder noch mehr Hebel, das konnte Albert nicht ganz genau sehen, und der Motorwagen machte einen Satz nach vorne, scherte dann ruckend als erster aus, um voran Richtung Festplatz zu fahren.

Wie die anderen Einsteins, die Engländer, die Holländer und der Übersetzer beeilte sich auch Albert, auf seinen Platz zu kommen. Höchtl ließ die Peitsche über die Flanke des einen Pferdes streifen, der andere Kutscher knallte mit seiner und ruckend rollten die Wagen unter Hufgeklapper, Quietschen und Felgenrattern auf den Katzenköpfen an, die hier verlegt waren. Durch die Fenster der Kutschen waren alle Insassen von den Bürgersteigen aus zu sehen, als sie Uppenborn folgten. Nur Albert fiel nicht ins Auge.

Er beschäftigte sich mit einem neuen Wort, das er aus den Reden der Engländer über eine offenbar neue Messung der Lichtgeschwindigkeit aufgeschnappt hatte, mit der angeblich etwas nicht in Ordnung war: Illecktrodeinammicks. Danach hatte er den Übersetzer nicht verstanden, weil der so leise sprach, aber der Rhythmus des englischen Wortes gefiel ihm. Auch wie feucht die Reporter das I ausgesprochen hatten und wie nass das r und wie sie die letzte Silbe beschleunigten.

In seinem Kopf zog das Wort bereits Kreise und Achten wie ein Drache im Wind, den steigen zu lassen sein Vater keine Zeit mehr gehabt hatte, seit sie aus Ulm weggegangen waren, obwohl er es immer versprach. Richtungsumkehr ging diesmal besonders leicht: Skimma-niedort-kelli. Bis zum Festplatz würde es ihn gut unterhalten, und was keiner wusste oder hätte beurteilen können: Im selben Moment war der Setzer der Münchner Neuesten Nachrichten mit einer Meldung beschäftigt, in der das Wort auf Deutsch vorkam.

Ein Professor H. Hertz aus Karlsruhe hatte in einer sinnreich erdachten Reihe von Versuchen nachgewiesen, dass elektrodynamische Schwingungen, die in einem Kabel stattfanden, sich von dort in den Raum fortpflanzten und sich dabei nicht anders verhielten als ganz gewöhnliches Licht. Strom und Licht, die Unsichtbaren von gestern, waren nicht weniger als eins und auch nicht mehr. Vielleicht nur aus Versehen, vielleicht, weil er sich sehr darauf konzentriert hatte, »elektrodynamisch« ohne Fehler ins Blatt des nächsten Morgens zu bekommen, vielleicht aber auch aus Begeisterung über die Hochzeit der beiden Naturerscheinungen vergaß der Setzer, der auf Anweisung des Redakteurs Neumayr den Vornamen des Professors, Heinrich, abkürzte, beim Nachnamen einen Buchstaben: das t.

8 Das Fest

Zum Festplatz am Feuerhaus waren die drei Wagen gute zwölf Minuten unterwegs, die im Weltraum 216 Millionen Kilometern entsprachen. Nach Gottes Maßstab mussten in der Zeit ganz schön viele Einzelheiten passieren, von denen einem auf der Erde fast alle entgingen. Erstaunlich fand Albert, dass man mit einer einfachen Kutsche so schnell daran entlangfahren konnte.

Als sie um die Ecke kam, trafen die Bilder vom Platz, dem Feuerhaus zwischen den beiden Schulen, dem davor für die Lobreden aufgebauten Podium, der Tribüne gegenüber und den wartenden Schwabinger Bürgern nur ungefähr eine Hunderttausendstelsekunde, nachdem sie abgesendet worden waren, bei Albert und den anderen ein. Um dieselbe Zeit verzögert erhielten die Schwabinger Bürger vom einbiegenden Motorwagen und dann von den beiden Kutschen Nachricht, denn von wo aus man eine Distanz maß, war egal. Schwabinger und Kutschfahrer wussten also immer gleichzeitig voneinander und mussten über die Verzögerung, die es Gott ermöglichte, zu jeder Zeit nachzusehen, was wann passiert war, nicht nachdenken.

Dass der Schall viel langsamer war als das Licht und ein auf dem Pflaster aufschlagendes Hufeisen dadurch auf der Tribüne in zwei unterschiedliche Erlebnisse zerlegt wurde, merkte ja auch keiner, oder nur so wenig wie den Umstand, dass die Erde eine Kugel war und zudem durch den Weltraum raste.

Die Differenz zwischen dem Moment, in dem eines der beiden Pferde vor der Einsteinschen Kutsche seinen Hals in die Zügel warf, und jenem, in dem Max Siewig, der in der Menge versteckt stand, es sah, schmolz zusammen, als die Vehikel und der Platz sich einander annäherten. Einsteins stiegen aus.

Jakob lief direkt auf das Podium zu. In dem Moment gingen zwei Blitzlichter, sie galten dem ersten Bürgermeister, Dr. von Widenmayer, und dem zweiten, von Borscht, die an der mit Blumen geschmückten Büste seiner königlichen Hoheit des Prinzregenten posierten. Vor dem Podium trafen sich Hände, als sei es selbstverständlich. Worte flogen langsam in Ohren, Bilder von redenden Männern und lächelnden Frauen viel schneller in Augen.

Es war dunkel geworden.

Für alle hier war es neunzehn Uhr. Fanfaren ertönten. Pauline zog Albert an einer Hand neben das Podium, das nun von Jakob und Ida und gleichzeitig vom Ministerialrath von Kahr betreten wurde. Als Vertreter seiner Exzellenz des Staatsministers Freiherr von Feilitzsch waren von Pündter, der Regierungsrath, der Polizeipräsident Freiherr von Müller, der Geheimrath von Destouches und zwei oder drei Männer gekommen, die Pauline nicht kannte und die von den anderen auch kaum beachtet wurden.

Eine sechsköpfige Abordnung stammte aus Neu-Ulm, das eine Tagesfahrt im Westen lag und dennoch dieselbe Tageszeit hatte. Dort wollte man vielleicht ebenfalls das Licht haben, und zwar dann, wenn es hier überzeugte. Jakob stellte sich zu ihnen.

Höchtl ging, nachdem Uppenborn überraschend ein paar Worte mit ihm geredet hatte, zusammen mit Hermann Einstein hinüber ins Maschinenhaus.

Rechts und links der Bühne hatte man bengalische Feuer entzündet. Von Pauline unbeachtet, von Albert aber bemerkt, näherte sich eine kostümierte Frau dem Podium, sprang hinauf, nun sah auch Pauline sie: Therese Nägerl, wie man später erfuhr, lange nachdem sie ein Gedicht aufgesagt hatte, was ihr nach der Meinung des anwesenden Reporters der Gemeindezeitung ausdrucks-und verständnisvoll gelang. Es stammte aus der Feder des Geheimrathes und Schwabinger Ehrenbürgers Ernst von Destouches:

Was soll zur winterlichen Abendstunde,

Da tiefer Schnee bedeckt rings Feld und Hang,

Der Männer ernste, feierliche Runde

Im Fackelschein und bei Fanfarenklang?

So geht ein heimlich’ Flüstern und ein Fragen

Von Haus zu Haus, es geht von Mund zu Mund.

Wohlan, denn! hört! Suapinga will’s euch sagen,

Will eine frohe Mähr euch machen kund:

Mehr denn zwölf Saecula hatt’ schon bestanden,

Als Sied’lung, Dorfgemeinde dieser Ort;

Ob dahin Jahrhunderte entschwanden,

Trug den Charakter unentwegt er fort.

Da, – noch gedenken es die Zeitgenossen, –

Da fing ein Wachsen an mit einem Mal,

Und eh ein paar Dezennien verflossen,

Hat sich verzehnfacht Volks- und Häuserzahl.

Aus schlichter Dorfgemeinde nun erhoben

Zur Stadt, – gab ihre wack’re Bürgerschaft

In wenig Jahren schon die schönsten Proben

Von Opfersinn und froher Schaffenskraft.

In kurzer Frist hat stattlich sie gebauet

Ein Kranken-, Leichen-, Schul- und Pfründehaus.

Und, wer in ihrem Dienste steht, er schauet

Nun sorgenfrei auch nach der Zukunft aus.

Nicht minder hat für Straßenregulirung,

Für Wasserleitung, Canalisation

und was noch sonst mag dienen zur Sanirung

Jed’ Opfer rasch und gern gebracht sie schon,

Um nur zu fördern Wachstum und Gedeihen,

Der jüngsten Stadt des schönen Bayernlands,

Um einen würd’gen Platz ihr zu verleihen

In seiner ältern Städte reichem Kranz.

Doch nicht genug, daß sie in wenig Jahren

So vieles schuf voll Opferfreudigkeit:

Zu dieser Stunde noch sollt ihr’s erfahren,

Daß voll und ganz erfaßt sie ihre Zeit.

Was jetzund als die neueste Erfindung

Exakte Wissenheit der Menschheit beut,

Was gilt als einer neuen Zeit Verkündung,

Noch heut’ soll’s werden hier zur Wirklichkeit.

Ja, eine Fülle Lichts soll sich ergießen

Voll Zauber über diese Stadt jetzt aus.

O wollet freud’gen Herzens es begrüßen,

Und heller Jubel schall’ von Haus zu Haus!

Du aber, Urquell allen Lichts da droben,

Der du jetzt niederblickst aus Sternenschein,

Laß’ diese Feierstunde, lichtumwoben,

Zu Heil und Segen stets Suapinga sein!

Kaum war das letzte Wort der Kindergärtnerin über dem Platz verklungen, als Albert und seine Mutter wie alle anderen von einem Raketenschauer beeindruckt wurden, der vor dem Sternendach und dem Archiv alles jemals Geschehenen viel der beiden ungleichen Partner Lärm und Licht von sich gab, bis ein Kanonenschlag das Ende des Feuerwerks markierte.

In dem Moment legte Hermann mit geschlossenen Augen und kaltem Angstschweiß an Schläfen, Stirn und in der Rinne, die seine Wirbelsäule auf dem Rücken bildete, den Schalter um. Der Platz und die Straßen erstrahlten laut Gemeindezeitung, die vom Stadtmagistrat zur Annahme aller amtlichen Bekanntmachungen bestimmt war und dies im Untertitel seit je voll Stolz angab, in dem Moment »im hellsten Bogen- und Glühlichte«.

Hermann hörte das Gelingen am gemeinsamen Aufatmen aller Schwabinger, das durch die Tür, Fenster und wahrscheinlich auch durch die Wände zu ihm drang: »Aaaaahhh!!!«

Er bemühte sich, Freude zu empfinden.

Höchtl lächelte vornehm. Draußen hatte Neumayr seinen Notizblock in die Manteltasche gleiten lassen. Er zupfte an seinem Schal und bekam Albert in den Blick, der auch am Feuerwerk vorbei nach oben gesehen und fünf Punkte beobachtet hatte, die, zumindest wenn man wollte, ein großes W bildeten wie Warum, und die er für die Kassiopeia hielt. Zum Beweis suchte er gerade den Nordpolarstern, als die künstlichen Lampen angingen und die Kassiopeia zusammen mit dem ganzen Nachthimmel auslöschten. Er sollte also, dachte Albert, nicht mehr leuchten.

Auch Höchtl war ganz in seiner Welt und verschwendete keinen Gedanken daran, nach draußen zu gehen, um das Licht zu sehen. Ob er fest an Einsteins gebunden sei, hatte Uppenborn ihn nämlich gefragt, und dass er doch nicht Gott sein konnte, musste Albert in den kommenden Wochen und Monaten feststellen, in denen der wortkarge, aber immer aufgeschlossene Mann seine Art verwandelte, immer stiller und sogar abweisend wurde. Schließlich kündigte er. Albert reagierte nicht darauf. Er war, dachte er richtig, zu jung. Außerdem hatte er ja auch viel zu viel verlangt, und manchmal überlegte er, ob er schuld war.

Seine Mutter zog jetzt an seiner Hand, denn es war ausgemacht, dass sie den ganzen Weg nach Hause laufen würden, während Höchtl die Maschinen beobachtete und die Lager vorsorglich alle paar Minuten mit Öl übergoss. Rücksichtslos wurde er der Länge nach dabei mit Öl bespritzt. Auf das Fest würde er auch nach Abstellen der Maschinen nicht mehr gehen können.

Jakob hatte bereits gesprochen, die Anlage übergeben, sich bedankt. Ansprenger hatte sie für eröffnet erklärt und eine Ovation auf seine königliche Hoheit den Prinzregenten ausgebracht, als Mutter und Sohn den Rand des Platzes erreichten und das Licht einmal flackerte, dann ein zweites Mal und kurz beinahe ausging. Das Gemurmel und Gerede war zum Verstummen gebracht und setzte auch dann nicht sofort, sondern erst sehr verzögert wieder ein, als das Licht erneut konstant brannte, als sei es anders nie gewesen. Pauline und Albert fuhr ein leichter Wind in die Gesichter. Er war kalt.

In ihrem Rücken bestieg man für die Korsofahrt die siebenundfünfzig Wägen in musterhafter Ordnung, angeführt von Magistratsrath Max Kröninger, mit der Krone der Suapinga, und dem Erfinder der elektrischen Droschkenkontrolluhr Prandstätter, der seinen Wagen mittels eines unterflurigen Accumulators, einer davon gespeisten kleinen Glühbirne auf der Deichsel und einer weiteren im Inneren auf das Prächtigste beleuchtete.

Die größte Sensation war Uppenborns Dreirad, auf dem er sichtbar stolz thronte.

Sie alle durchfuhren die Schulstraße, die Maffei-, die Prinzen-, die Seestraße und anschließend die Schlossstraße. Dann die Sieges-, die Nikolai- und die Schwabinger Landstraße, die Ungerer-, die Band- und noch mal die Schwabinger Landstraße. Bevor sie ein drittes Mal in die Schwabinger Landstraße bogen, besuchten sie die Herzogstraße, die Wilhelm- und die Hermannstraße. Überall gab viel Musik und Feuerwerk der Festfreude angemessenen Ausdruck. Besonders effektvoll kam die Beleuchtung durch das in uneigennützigster Weise vom Kunstgärtner Hörmann herrlich dekorierte Magistratsgebäude zur Geltung.

Der Korso fand hier sein Ende. Die Bürgermeister von Widenmayer und von Borscht mussten sich aus Zeitgründen leider verabschieden. Alle anderen füllten die Festsäle der Salvatorbrauerei Ludwig Petuels, wo der in ganz Schwabing als tanzender Hund verschriene Unternehmer und Werbetexter Caspar Ostermaier auf die Gesellschaft toastirte, das Fräulein Nägerl den Weihegruß auf Verlangen wiederholte und dafür ausgiebig beklatscht wurde, noch einige Reden in die Luft gingen und alle zusammen bis in den Morgen feierten, an dem Albert früh erwachte.

Zuverlässig und souverän war die Zeit vergangen.

Es dauerte bis zum 14. Oktober, bis in Schwabing das Steigenlassen von Papierdrachen und Ballons auf Straßen und Plätzen, an denen Drahtleitungen der elektrischen Beleuchtung standen, untersagt wurde. Im Juli erinnerte die Gemeindezeitung unter Betonung der Strafeinschreitung bei Nichtbeachtung noch einmal daran. Auch am Tage stand daher der Himmel, der das Asyl unseres Unwissens ist, nicht mehr offen.