Dubro & Illyra

Gyskonras

Lynn Abbey

Illyra benötigte keine besonderen S’danzokräfte, um die Vergangenheit des jungen Burschen zu lesen. Er war eine Kanalratte gewesen und war immer noch eine. Krankheit und schlechte Ernährung hatten sein Gesicht gezeichnet. Er blickte auf sie und ihren Wahrsagetisch mit der verzweifelten Eindringlichkeit eines Menschen, den das Leben durch die Mangel gedreht und verraten hatte und der doch Hoch zu triumphieren hoffte. Sie stand neben ihrem Tisch und versuchte den Mann durch ihren Blick zu vertreiben, doch da warf er eine alte, schmutzige Goldmünze auf den grauen Filz neben ihr.

»Ich muß es wissen. Sie sagten, Ihr würdet es sehen, auf die eine oder andere Weise.« Seine überraschend tiefe Stimme machten diese einfachen Worte zu einer Anklage.

»Manchmal«, entgegnete sie und lauschte dem gleichmäßigen Schlag von Dubros Hammer, während ihre Finger über der Münze anhielten.

Sie fanden nun zahlreicher den Weg zu ihr, seit Mondblume tot und ihre älteste Tochter mit Nachtschatten, dem Dieb, die Stadt verlassen hatte. Illyra konnte nicht an die gewaltige Frau denken, die ihr Recht verteidigt hatte, S’danzo in Freistatt zu sein, ohne daß sie die Trauer um sie überwältigte. Sie wollte die Kordel vor den Eingang spannen, dem Gesicht den Rücken wenden und sich ihrem Leid hingeben. Aber sie kamen mit ihren Münzen und forderten, und Illyra wußte nicht, wie sie sie wegschicken könnte. Dubro half, er schüchterte die ein, von denen Gefahr ausging, doch diesen Kerl hatte er eingelassen. Ihr Zeigefinger streifte über das Goldstück. »Wenn die Antwort zu erfahren ist, erkenne ich sie manchmal.« Sie raffte ihre Röcke über einen Arm, ließ sich hinter dem Tisch nieder und bedeutete dem Burschen, sich auf den Hocker davor zu setzen. Das Gold lag noch auf dem Filz, und die Seide war noch um ihre Karten gewickelt, als er mit seiner Geschichte begann.

»Ich habe gestern nacht ein Schwein abgestochen. Am Schimmelfohlenfluß – um Glück zu haben. Ich brauche viel Glück!«

Illyra spürte die ersten Lügen in der Luft zwischen ihnen. Freistatt war voll von beysibischen Bäuchen; und Ranke, das sich mit seinen Kriegen selbst vernichtete, schwand allmählich aus diesem Winkel des einst großen Reichs. Selbst Kanalratten müßten es besser wissen, als ein Schwein für beysibisches Gold zu verkaufen und mit dem Gold Glück erstehen zu wollen.

»Ich – ich brachte das Blut zu – zu einem Ort, einem geheimen Ort. Meinem und Vashankas. Ihm gab ich das Blut.«

Illyra legte die Karten zur Seite und unterdrückte einen Schauder. Im Gegensatz zu vielen S’danzofrauen im ganzen Reich hatte Illyra das Zweite Gesicht wirklich. Eine S’danzo schlug sich durch, indem sie ihren Kunden zuhörte, ohne zu lachen, und die Karten benutzte, um sich etwas zusammenzureimen. Illyra bediente sich der Karten zur Erleuchtung und damit sie ihr den Weg wiesen, wenn das Gesicht über sie kam. Doch sie brauchte keine Erleuchtung, als dieser Bursche sich alles von der Seele redete.

»Es war wie ein Wind! Es war heiß und kalt, naß und trocken, alles gleichzeitig!«

»Dann kann es kein Wind gewesen sein«, entgegnete sie, obgleich sie die Wahrheit seiner Erinnerungen um sich wirbeln sah. Es war ganz ungewohnt für das Gesicht, daß es sich so unbeherrscht bemerkbar machte. Sie versuchte es zu zügeln.

»Es war ein Wind! Und das Blut – das Blut war mit Funken bedeckt!«

Sie sah den geheimen Ort in seinem Gedächtnis: ein verlassener Altar im Sumpf, den die Kanalratte entdeckt hatte. Und jetzt betete der Bursche davor, ohne zu wissen, für wen er einst errichtet worden war. Blutopfer auf moosüberwucherten Steinen – nicht Blut von Schweinen, sondern von Menschen: beysibisches Blut und Teile des Körpers, die von der Leiche gehackt waren, als Opfergaben in dieser privaten Andacht. Illyra spürte den unheiligen Wind um ihn peitschen, während der Rest des Sumpfes erstarrte, und sah die bläulich weißen Flammen auf dem Blut tanzen. Sie hörte das schrille Gelächter eines Kindes, als die grausigen Stücke auf dem Altar von den Flammen verzehrt wurden. Dann verschwand das Gesicht, und nur dieser zerlumpte, verstörte Bursche war da, der sich Zip nannte und seinen wahren Namen sogar vor sich selbst zu verheimlichen suchte.

Er starrte sie an.

»Also, was seht Ihr? Hat der Sturmgott mich erhört? Schenkt Vashanka mir seine Gunst? Kann ich ihn an mich binden? Verkauft mir einen Trank, um den Sturmgott zu binden!«

Sie wollte ihn wegschicken. Die S’danzo wollten nichts mit Göttern zu tun haben und waren am glücklichsten, wenn die Götter nichts mit ihnen zu tun haben wollten. Es spielte keine Rolle, daß sie seine Fragen beantworten konnte. Er hatte ihr Gesicht auf den Gott gerichtet, und sie wollte, daß er und alle seine Erinnerungen verschwunden waren, ehe ER sie bemerkte. Doch immer noch vermochte sie das Gelächter zu hören, und bedeutete das nicht, daß der Schaden bereits angerichtet war, ob sie ihm nun antwortete oder nicht?

Der Bursche schloß aus ihrem Schweigen fälschlich, daß sie beabsichtigte, ihn zu hintergehen. »Kommt mir nicht mit Suveshgeschwätz!« Er langte über den Tisch und faßte sie am Handgelenk.

»Geh zu den Priestern, wenn du mit dem Sturmgott reden willst«, entgegnete sie eisig und löste ihre Hand mit einer flinken, aber kaum merklichen Bewegung, wie er sie noch nie zuvor gesehen oder gespürt hatte. Wäre der Schmied nicht gewesen, der draußen im Sonnenschein eifrig hämmerte, wäre sie selbst zur Kanalratte geworden. Sie kannte Zips Art von halsstarrigem Stolz – und wußte, ebenso wie er selbst, daß schon die kleinste Laune des Schicksals ihn erbarmungslos und ohne Vorwarnung wie Ungeziefer zerquetschen konnte. Er war da in etwas gestolpert, das größer und gefährlicher war, als er sich je hätte vorstellen können. So sehr er sich nach Nervenkitzel und Ruhm sehnte, so sehr fürchtete er es auch.

»Was wissen die Priester schon?« sagte er, als hätte je ein Priester mit ihm gesprochen. »Sie kriechen vor den Schlangen! Über Vashanka wissen sie gar nichts!«

»Wenn du soviel mehr weißt als sie, dann weißt du erst recht mehr als eine S’danzoseherin.« Sie schob ihm das Goldstück wieder zu.

»Eine Wahrsagerin, die nur halb S’danzo ist und wußte, daß die verdammte Flotte kommen würde, könnte auch mit Vashanka sprechen, wenn sie es wagte!« Er ignorierte die Münze und erwiderte ungerührt ihren Blick.

Alles, was in Freistatts Gosse überlebte, war gefährlich. Zip hatte mit seinen Visionen bereits den Frieden ihres Hauses gefährdet; wenn er die Wahrheit über seine Gebete und Opfer und den Altar erfuhr, würde ihn das noch gefährlicher machen – oder weniger gefährlich?

»Behalte dein Gold und alles andere. Vashanka hört niemanden mehr.«

Er zuckte zurück, als hätte sie ihn geschlagen. Gewiß hatte er die Gerüchte gehört, hatte den Sturm erlebt, der Vashankas Namen von den Giebelsteinen des Pantheons gelöscht hatte.

Vielleicht hatte er nicht so recht geglaubt, daß der rankanische Sturmgott am Himmel über Freistatt besiegt worden war, aber er hätte lernen müssen, sein Entsetzen zu verbergen, wenn er überleben wollte.

»Ich opfere ihm Blut auf meinem Altar – und er nimmt es an!«

»Narr! Überlaß die Götter den Priestern. Bloß weil du einen Haufen zerfallender Steine im Schlamm beim Schimmelfohlenfluß gefunden hast, glaubst du, daß du Vashanka für deine Seite gewinnen kannst. Vashanka! Der Sturmgott von Ranke – und mit dem Blut eines Schweines!«

»Er hört mich! Ich spüre ihn, aber ich kann ihn nicht hören! Er sagt mir irgend etwas, und ich kann ihn nicht hören!«

»Du möchtest gar nicht wirklich wissen, wer dich hört! Könnte Ranke Vashanka einen Tempel erbaut und ihn an den Schimmelfohlenfluß verloren, und ganz Freistatt außer dir ihn vergessen haben?« Sie stand nun, lehnte über ihrem Tisch und brüllte ihm ins Gesicht, ohne an etwas anderes denken zu können, als an das Gelächter, das ER in ihrem Gedächtnis zurückgelassen hatte. Sie konnte noch nicht sehen, was dieser Bursche heraufbeschworen hatte, aber es wurde immer deutlicher, je länger er ihr gegenübersaß, und der Gedanke an seine Opfer und seine Erinnerungen auf sie einhämmerten.

»Geh jetzt! Vashanka hört dich nicht! Kein Gott, der je angebetet wurde, hört dich! Nichts hört dich! Mögest du im Dung versinken und dich verschlingen, ehe irgend etwas dich je wieder hört!«

Sie glaubte nicht, daß S’danzos die Gabe hatten, jemanden zu verfluchen, aber die Kanalratte glaubte es. Zip wich zurück, bis das Sonnenlicht an der Tür um seine Füße fiel, dann drehte er sich um und rannte, was er konnte. Er vergaß, sein Goldstück wieder mitzunehmen, vielleicht wollte er es auch nicht mehr.

»‘Lyra! Was ist passiert?« rief Dubro besorgt durch die Tür. Er wollte sich umdrehen, um dem Kunden zu folgen, doch dann rannte er und fing Illyra auf, ehe sie über den Tisch fiel.

Er hob sie auf die Arme und trug sie wie ein krankes Kind und machte sich Vorwürfe, daß er die Gefahr durch den jungen Mann nicht gespürt hatte. Illyra flüsterte stockende Worte in der alten S’danzosprache.

Dieser Bursche, der nicht nur eine Kanalratte war, sondern wirklich das Gesicht einer Ratte besaß, hatte sie gezwungen etwas zu sehen, das nicht gesehen werden und an das sie sich nicht erinnern sollte. Doch mit jedem Atemzug, mit jedem Herzschlag prägten sich ihr die gesehenen Bilder und das Wissen darüber fester ein. Verzweifelt versuchte sie, sich dem Geschehenen zu verschließen, ehe es sich wie Gift in Wein ausbreitete und das gleiche mit ihr geschah wie mit dem Burschen. Sie formte das Wissen zu einem der schwarzen Aasfresser, die über dem Schlachthof kreisten, dann schickte sie es mit einem herzzereißenden Schluchzen fort.

»‘Lyra, was hast du denn?« erkundigte sich ihr Mann. Er strich ihr übers Haar und trocknete ihre Tränen mit einem Zipfel seines verschwitzten Kittels.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie wahrheitsgetreu. Eine schimmernde, von ihr selbst herbeigerufene Schwärze hing über ihrem Gedächtnis. Die Angst blieb, ein Gefühl drohenden Verhängnisses, doch die Erinnerung an die Vision war verschwunden. Ebenfalls geblieben war Kinderweinen, das noch in ihrem Ohr nachzuhallen schien. »Die Kinder«, flüsterte sie.

Dubro vertraute seine Schmiede seinem neuen und sehr eifrigen Lehrling an und folgte Illyra durch den Basar zur Straße der Roten Laternen. Kinder waren hier eine unvermeidliche Nebenerscheinung, zwar endeten die meisten in der Gosse, aber einigen war doch eine gesunde, geborgene Kindheit in den Häusern beschieden. Myrtis, die Besitzerin des festungsgleichen Aphrodisiahauses, nahm sich sowohl der Mädchen wie der Knaben an. Als Ausgleich, daß sie sich um das Zwillingspärchen, Sohn und Tochter des Schmiedeehepaars, kümmerte, hatte sie einen Jungen zu Dubro in die Lehre gegeben.

Im gedämpften Nachmittagslicht war die Straße still und leer.

Illyra ließ Dubros Hand los und sagte sich, daß keine Gefahr bestand und die Schwärze über ihrem Gedächtnis ein Alptraum war, den sie fortschicken und vergessen konnte. Sie dachte sich nichts dabei, als die junge Frau auf sie zugerannt kam/bis sie vor ihnen auf die Knie sank.

»Shipri sei gedankt! Ihr seid schon hier! Er schlief mit den anderen …«

Die Hysterie der Frau weckte Illyras Besorgnis und ihr Gesicht aufs neue. Sie sah den Raum, wo Myrtis sich stirnrunzelnd über ein Bettchen beugte, wo die pausbackige Lillis sich in eine dunkle Ecke drückte und wo ihr eineinhalbjähriger Sohn zu weinen aufgehört hatte. Illyra folgte ihrer unfehlbaren Vision und rannte die Treppe und Korridore voraus.

»Ihr seid sehr rasch gekommen«, rief die nichtalternde Hausherrin und blickte leicht verwirrt von dem Bettchen hoch. »Ach so, ich verstehe, ihr habt das Zweite Gesicht, nicht wahr?« Die Verwirrung schwand. »Dann wißt Ihr soviel wie ich.« Sie machte für die Mutter Platz am Bettchen.

Der kleine Junge war plötzlich starr wie in lähmendem Fieber. Sein Atem kam als unregelmäßiges Keuchen, und jeder Atemzug ließ befürchten, daß kein weiterer folgen würde. Die Tränen trockneten bereits auf den schmutzigen Bäckchen.

Illyra strich behutsam darüber und erschauerte, als sie sah, daß dieser Schmutz erst durch die Tränen selbst gekommen war.

»Es ist keine Krankheit, von der ich je auch nur gehört habe!« sagte Myrtis. »Ich würde Lythande rufen, aber der Blau-Stern-Adept ist nicht zu erreichen. Wir könnten Stulwig oder einen anderen Heiler kommen lassen …«

»Nicht nötig«, erwiderte Illyra müde.

Sie sah jetzt alles doppelt: einmal mit den Augen, und einmal mit dem Gesicht. Das war seltsam, doch da das Gesicht damit verbunden war, konnte es sie nicht überraschen. Dubro schob den Vorhang zur Seite und trat neben sie. Sie blickte ihn an und sah sein ganzes Dasein: seine Kindheit, seine Reife, seinen Tod. Rasch senkte sie die Augen. Wieder machte sie die Vision zum Raben und schickte ihn fort. Die neue Schwärze in ihr war unbedeutend, verglichen mit der alten.

Da sie nur auf ihren jetzt seicht atmenden Sohn blickte, dessen Gestalt und Geschick sowohl vor den Augen ihres Körpers wie in dem Gesicht gleich waren, ließ man sie allein mit ihm. Sie saß auf dem Schaukelstuhl und spürte das Tageslicht durch das Fenster auf ihre Schultern fallen und dann die zunehmende Kühle der Abenddämmerung. Man brachte ihr Fleischbrühe, die sie unberührt ließ, und legte ihr ein dickeres Schultertuch um, als die kalte Nacht kam. Sie bewegte sich so wenig wie Arton in ihren Armen.

Ein frischer Wind trug das Wetter, einen fast stummen Sturm, durch Freistatt und schob die dünnen Wolken rasch am Mond vorbei.

Es war Mitternacht oder vielleicht ein wenig später, als sich ein vom Mond geworfener Schatten selbständig machte und sich auf dem Brett am Kopfende des Bettchens niederließ. Illyra beugte den Kopf und gestattete dem Raben die Rückkehr. Die Sicht verschwamm und bildete sich erneut, ohne Schwärze. Sie sah Zips nächtlichen Altar und das Zeichen eines Sturmgottes in den dunklen Tränen ihres Sohnes.

Sie wußte noch nicht, wie sie Arton retten konnte, obwohl Sicht und Gesicht jetzt gleich waren und ein wichtiger, silberumsäumter Pfad erkennbar wurde, wo zuvor nur Schwärze geherrscht hatte. Ihr Plan war noch ohne Form, als sie sich enger in das geborgte Schultertuch hüllte und ungesehen und ohne Licht durch die dunklen Gänge des Aphrodisiahauses huschte.

Es mußte späte Nacht sein, denn auf der Straße war es still geworden und der Mond untergegangen. Nebel zog aus dem Hafen herauf. Er betonte die Stille, die Dunkelheit und die Gefahren. Illyra, die die Stadt nicht mochte und sich so wenig wie möglich auf die Straße begab, schritt nun voll Selbstvertrauen zur Garnisonkaserne, wo ihr Halbbruder, der Standortkommandant, zu finden sein würde. Vage entsann sie sich all des Geredes im Basar, daß es auf den Straßen Freistatts jetzt noch gefährlicher war denn je, seit so viele Faktionen, Söldner und Soldaten hergekommen waren. Sie erinnerte sich auch, daß noch keine S’danzo je das Gesicht wie sie benutzt hatte, um in völliger Dunkelheit, völlig allein und völlig sicher durch die Straßen zu schreiten. Sie hätte ihren sich entfaltenden Kräften mißtrauen können, da sie ihr gegeben worden waren, während ihr Sohn von einem unerkennbaren Sturmgott berührt war. Doch voll Vertrauen auf das Gesicht lehnte sie solche Gedanken ab und ging geschickt um silberumzeichneten Schmutz herum.

»Ischade?«

Illyra drehte sich um. Weder der Name noch die heisere Stimme, die ihn flüsterte, waren ihr bekannt. Ihre Sicht fiel auf einen zerlumpten Bettler.

»Warum wandert Ihr heute nacht herum?« fragte der Mann.

So, wie sie bei Dubro gesehen hatte, sah sie nun den Bettlerkönig – und ebenfalls viel über die Nekromantin Ischade, für die er sie gehalten hatte.

Sie wich vor ihm zurück und er vor ihr, obgleich er sie in der Dunkelheit nicht gesehen, sondern nur gespürt haben konnte, daß sie etwas in ihm sah, dem gegenüber sogar Ischade blind war.

Die neuen Seiten des Gesichts wurden Illyra rasch vertraut. Sie setzte ihren Weg fort, ohne ihr Gesicht des Bettlerkönigs zu einem Raben formen zu müssen, um es loszuwerden. Und als der Posten am Kasernentor sie nicht einlassen wollte, benutzte sie, was sie gelernt hatte, und blickte ihm im Fackelschein ins Gesicht, bis er bestürzt über seine innere Entblößung zur Seite trat und sie in den Aufenthaltsraum einließ.

»Cythen?« rief Illyra. Sie wußte, daß die Frau sich in der rauchigen Stube aufhielt.

»‘Lyra?« Die Söldnerin erhob sich aus einer Gruppe Männer. Sie legte einen Arm fest um die Schultern der S’danzo und führte sie in einen Alkoven. »‘Lyra, was machst du … ?«

Illyra blickte der anderen ins Gesicht. Cythen zuckte zurück, dann funkelten ihre Augen verärgert, und nun war Illyra es, die den Blick abwandte.

»Ist etwas passiert?« erkundigte sich Cythen.

»Ich muß mit Walegrin sprechen.«

»Sein Dienst beginnt bei Morgengrauen. Er ist eben erst hochgegangen, um sich schlafen zu legen.«

»Ich muß ihn sofort sprechen!«

Cythen zupfte an einem abgegriffenen Amulett. »Lyra, was hast du?«

»Ich muß meinen Bruder sprechen, Cythen!« Illyras Stimme zitterte im Bewußtsein des Gesichts und vor Entschlossenheit, mit Walegrin zu sprechen, ehe das erste Grau des Morgens auf Zips Altar fiel.

Sie wartete in der oberen Kammer des Offiziers, während Cythen Walegrin weckte, der darüber nicht sehr erfreut war. Wie der verkörperte grünäugige Grimm stürmte er in die Kammer, doch sie blickte ihm mit dem Gesicht ruhig entgegen.

»Ich brauche deine Hilfe«, erklärte sie ihrem bestürzten, abergläubischen Halbbruder. »Mein Sohn, den ihr zu einem rankanischen Bürger gemacht habt, wurde gestohlen!«

»Die Wache zieht ihre Streife in der Straße der Roten Laternen. Es ist dort so sicher wie im Palast.« Er verteidigte die Tüchtigkeit seiner Männer, während er eine mit Bronze verstärkte Beinschiene um die Wade befestigte. »Hast du es der Streife gemeldet? Haben die Männer die Suche sogleich aufgenommen?«

»Es gibt nichts, was sie tun könnten.«

Walegrin legte die zweite Beinschiene zur Seite und starrte sie an. »Illyra, was hast du?«

Nun, da sie bei ihm war, stellte sie fest, daß das Gesicht nicht sehr deutlich war. Sie sah ihn ihre Botschaft weitergeben, aber nicht, daß er seine Männer zu Zips Altar führte, um ihn zu zerstören.

»Heute nachmittag kam ein Bursche zu mir, mit einer Geschichte über einen Altar am Schimmelfohlenfluß und dem Geist des Sturmgottes, dem er dort Opfer darbringt …«

»Arton … ein Opfer?«

Menschenopfer waren verboten trotzdem kam es dann und wann dazu.

Illyra schüttelte den Kopf. »Dieser Bursche – er nennt sich Zip – brachte diesen gräßlichen, unbeschreiblichen Dämon in mein Leben. Er berührte mich mit ihm, und als ich mich widersetzte, griff er nach meinem Sohn. Arton weint schwarze Tränen.«

»Gift – Zip?« Walegrin hatte inzwischen auch die andere Beinschiene befestigt und lächelte, als er den Namen der Kanalratte aussprach. »Wir haben schon lange einen guten Grund gebraucht, um gegen ihn vorgehen zu können. Etwas, das die Gemüter nicht noch mehr erhitzt. Und einige der Beysiberinnen bilden heilendes Gegengift in ihrem Blut. Wenn sie ein Freistätter Kind heilen, wird die öffentliche Meinung …«

Illyra hämmerte mit beiden Fäusten auf den Tisch. Weder er noch das Gesicht reagierten, wie sie wollte. »Du hörst mir nicht zu! In Artons Blut ist kein Gift, Halbbruder. Geister suchen ihn heim. Gottgeister, die auf einem Altar am Schimmelfohlenfluß beschworen werden! Was könntest du für Arton tun, das ich nicht bereits getan habe? Was könnten barbusige Beysiberinnen tun, während der Geist eines Sturmgotts auf seinem Altar sitzt und auf eine neue Chance lauert? Zerstöre du den Altar, dann kann ich meinen Sohn retten!«

Walegrin musterte sie scharf. Den Harnisch ließ er auf dem Tisch liegen.

»Illyra, meine Männer haben die Hände voll mit dem Labyrinth. In dieser Stadt gibt es mehr Greueltaten und Intrigen, als irgend jemand sich vorstellen könnte! Und da verlangst du, daß ich durch den Sumpf am Schimmelfohlenfluß stapfe und nach einem Steinhaufen von Altar suche! Wenn es nur der Altar ist, den du weg haben möchtest, bitte doch Dubro, daß er ihn mit seinem Hammer zerschmettert!«

»Ich habe Dubro nichts gesagt.«

Er hob eine Braue. Er hatte gedacht, daß die beiden keine Geheimnisse voreinander hätten.

Gerade, als er weitere Fragen stellen wollte, drehte sie sich zum Feuer um.

»Ich weiß nicht, warum ich zu dir um Hilfe gekommen bin.« Sie wandte sich wieder um und ließ den Blick durch die Kammer schweifen. »Das Gesicht endet hier, und ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Du kannst hierbleiben«, bot er ihr fast gütig an. »Ich werde meinen Bericht am Morgen machen. Oder ich begleite dich zum Aphrodisiahaus zurück, und du kannst dort bei Arton warten.«

Die kristallene Klarheit des Gesichts war fort, und sie konnte natürlich nicht einmal ahnen, wann sie zurückkehren würde. Das übernatürliche Selbstvertrauen, das es ihr verliehen hatte, schwand. Sie hatte zu viele schreckliche Kindheitserinnerungen an diese Kaserne, als daß sie bleiben wollte, so erklärte sie sich mit dem zweiten Vorschlag ihres Halbbruders einverstanden. Walegrin rief Cythen und noch zwei Söldner, sie ebenfalls zu begleiten. Jeder trug Fackeln, die durch ihr Gewicht allein schon als Waffen dienen konnten. Einmal wurden sie durch Kampflärm in einer Sackgasse kurz aufgehalten. »Vobfs«, brummte Walegrin, als sie die Kämpfenden auseinandergejagt hatten, aber Illyra, die nicht lesen und schreiben konnte und den Basar so gut wie nie verließ, sagte diese Bezeichnung nichts.

Myrtis begrüßte die Söldner mit Bechern starken Weines, und Illyra hastete zur Stube, in der ihre Kinder untergebracht waren. Wie auch ohne das Gesicht erwartet, hatte sich der Zustand ihres Sohnes nicht verändert. Dubro hatte das bewußtlose Kind aus dem Bettchen gehoben und hielt den Kleinen schützend in seinen Armen, während Lillis erschöpft und verstört über das Benehmen ihres Bruders mit weit aufgerissenen Augen auf dem Boden saß und sich an Dubros Bein klammerte.

»Bist du einer S’danzoeingebung gefolgt?« fragte Dubro milde anklagend.

»Ich hatte gedacht, Walegrin könnte helfen.« Illyra ließ den Umhang von den Schultern gleiten. »Er will es versuchen, doch ich weiß nicht, ob es sich als Hilfe herausstellen wird. Beten wir, daß das genügt.«

»Betest du?« fragte ihr Mann sie, als spreche er mit einer Fremden.

»Zu dem, der unseren Sohn haben will – ja.«

Allmählich färbte der Himmel sich rosig, dann strahlend blau.

Arton ging es nicht schlechter, aber auch nicht besser. Trotz ihrer Besorgnis waren Illyra und Lillis an den Schmied gelehnt eingeschlummert.

Die anderen Kinder, die gewöhnlich schon vor dem Frühstück diese Stube auf den Kopf stellten, wurden in einen anderen Teil des Hauses gebracht, so daß die Familie allein sein konnte.

Ein schwarzer Vogel, nicht so groß wie der, den Illyra aus ihrem Gesicht gemacht hatte, aber ohne Zweifel echt, krächzte laut vor dem Fenster. Illyra erwachte und hoffte, es sei das Gesicht, das zurückkehrte. Doch ehe sie es so oder so herausfinden konnte, erklangen schwere Schritte auf dem Korridor, die vor der Stube anhielten. An der Tür stand Molin Fackelhalter, der Hohepriester Vashankas.

»Illyra«, sagte er, ohne auf die anderen Anwesenden zu achten. Da sie nicht wußte, wie sie sich sonst verhalten sollte, ließ Illyra sich vor ihm auf die Knie fallen: Die Macht des Priesters war echt, auch wenn sein Gott vielleicht keine mehr besaß. »Wie geht es dem Kind?«

Sie schüttelte den Kopf und nahm Arton aus Dubros Armen. »Nicht besser. Er atmetet, doch das ist alles. Woher wißt Ihr davon. Warum seid Ihr hier?«

Molin lachte mit leisem Spott. »Ich hatte nicht erwartet, daß ich Antworten geben soll. Ich weiß es, weil ich dafür sorge, daß ich alles erfahre, was in Freistatt vorgeht, um so die Möglichkeit zu finden, das Richtige zu tun. Ihr habt Euch in die Garnison begeben. Ihr habt gesagt, Euer Sohn sei ›besessen‹. Ihr habt von Geistern gesprochen und vom Sturmgott, ohne jedoch Vashanka zu erwähnen. Ihr habt gewollt, daß Euer Bruder sich des Altars annimmt, und Ihr selbst wolltet Euch um alles andere kümmern.

Man sagt, Ihr habt das sagenhafte S’danzogesicht. Ich möchte gerne wissen, was genau Ihr gesehen habt.« Es schien den Priester nicht zu überraschen, daß Illyras einzige Erwiderung war, düster auf den Boden zu starren. »Nun, dann laßt mich Euch überzeugen.«

Er faßte sie sanft am Arm und führte sie zu einem kleinen Innenhof, wo die Krähe auf einem Baum saß. Dubro erhob sich, um ihnen zu folgen, doch zwei stumme, mit Speeren bewaffnete Tempeldiener sorgten dafür, daß er bei den Kindern blieb.

»Niemand hat Euch verraten, Illyra, noch wird jemand es. Walegrin sieht nicht das ganze Bild, wenn er mir die Einzelheiten erzählt. Ihr jedoch seid vielleicht imstande, ein noch größeres Bild zu erkennen als ich. Ihr habt das Zweite Gesicht, Illyra, und Ihr habt den Sturmgott gesehen, nicht wahr?«

»Die S’danzo haben keine Götter«, antwortete sie abwehrend.

»Aber Ihr habt selbst zugegeben, daß etwas Euren Sohn berührt hat und dieses Etwas eine Beziehung zu bekannten Göttern hat.«

»Nicht zu Göttern, sondern zu Gottgeistern – Gyskourem.«

»Gyskourem?« Molin rollte dieses Wort über die Zunge, und auch die Krähe versuchte diesen Laut. »Geister? Dämonen? Nein, das denke ich nicht, Illyra.«

Seufzend wandte sie sich ab. Sie sprach nun lauter, damit er trotzdem hören konnte, was noch kein Suvesh bisher zu hören bekommen hatte.

»Wir haben die Vergangenheit ebenso wie die Zukunft gesehen. Menschen beginnen mit der Erschaffung von Göttern. Wenn Hoffnung oder Bedürfnis besteht, kommen die Gyskourem, und dann ersteht ein Gott und bleibt, bis Hoffnung oder Bedürfnis erloschen ist. Anfangs sind Gyskourem wie normale Menschen, manchmal werden auch Dämonen als Gyskourem gerufen, sobald sie jedoch gefüllt sind, werden sie echte Götter und sind mächtiger als irgendein Mensch oder Dämon. Um keine Gyskourem zu rufen, erlauben S’danzo sich keine Hoffnung und keine Bedürfnisse.«

»So ist Vashanka nicht der Sohn Savankalas und Sabellias, sondern die Hoffnung und das Bedürfnis der Rankaner, als sie ihre ersten Schlachten fochten?« Der Priester lachte belustigt.

»Auf gewisse Weise. Es könnte jedenfalls so sein. Zumindest ist das das übliche. Allerdings ist es sehr schwierig, so weit zurückzublicken, denn Vashanka ist ein sehr alter Gott«, sagte Illyra ausweichend. Immerhin war dieser Mann ein Priester Vashankas, und sie hatte nicht vor, ihm von der Geburt oder dem Tod seines Gottes zu erzählen.

»Aber nicht so schwierig vorauszusehen, würde ich meinen. Mein Gott ist in großen Schwierigkeiten, nicht wahr, S’danzo?« Fackelhalters Stimme klang rauh und verbittert, so daß Illyra sich unwillkürlich zu ihm umdrehte, obwohl sie um ihr Leben fürchtete. »Macht mir nichts vor, S’danzo. Ihr mögt zwar das Zweite Gesicht haben, aber ich war dort! Vashanka wurde aus dem Pantheon gerissen! Ils war da, aber ich glaube nicht, daß er oder seine Sippschaft die Lücke füllen können, die durch Vashankas Verschwinden entstanden ist. Und da ist eine Lücke, nicht wahr? Eine Hoffnung? Ein Bedürfnis? Der rankanische Sturmgott, der den Streitkräften Macht und Sieg verleiht, ist nicht mehr hier.«

Sie nickte und zupfte nervös an den Fransen ihres Schultertuchs. »Ich glaube, so etwas gab es noch nie zuvor. Er veränderte sich, wuchs, selbst als er hereingelegt und verbannt wurde. Über Freistatt ist ein gewaltiges Netz gesponnen, Hoherpriester, schon ehe Vashanka verschwand. Das Gesicht zeigt viel, doch wenig Verständliches.« Sie sprach zu ihm wie zu einem ihrer Kunden, und einen Augenblick wirkte er verlegen.

»Wieviel Hoffnung bedarf es, S’danzo? Und wieviel Bedürfnis? Kann der Gott eines Volkes die Verehrung eines anderen an sich reißen?« Dann schien der Priester nicht mehr auf sie zu achten. Er langte in den Saum eines Ärmels und holte eine Näscherei für die Krähe heraus, die sogleich auf sein Handgelenk flog, um nach dem Leckerbissen zu picken. Als Molin wieder etwas sagte, klang seine Stimme ruhig.

»Ich kam mit dem Prinzen hierher, um einen Tempel zu errichten. In Ranke raunte man von Krieg mit den Nisibisi, und es war keine gute Zeit für einen Baumeister-Priester. Ich wollte lieber die Grundmauern für einen Tempel legen, als die Mauern einer Stadt unterhöhlen.

Es hätte hier ruhig sein sollen, und Vashankas Aufmerksamkeit dem Norden zugewandt, dem Krieg und den Armeen, er war jedoch fast von Anfang an hier, und das habe ich nie verstanden.

Jetzt geht der Krieg weiter, doch ohne Sieg. Die Streitkräfte sind mutlos und rebellisch. Sie haben den Kaiser getötet, seine Familie und meine – alle Angehörigen, deren sie habhaft werden konnten. Jetzt führt Theron den Krieg, doch er hat ebensowenig Glück, vielleicht hatte es nicht daran gelegen, daß der Kaiser ein schlechter Feldherr war, sondern daran, daß in einem vergessenen Winkel des Reiches ein rankanischer Gott verbannt wurde.

Mir blieb es, diese Kloake von Stadt zu regieren, weil niemand sonst daran interessiert oder dazu fähig ist. Mein Tempel wurde nie erbaut und wird es auch jetzt nicht mehr. Mein Prinz, der einzige rechtmäßige Erbe des Kaiserthrons, ist von einer unerschütterlichen Naivität, und es gibt zweitausend Beysiber in Freistatt, Schlangen, Vögel und Fischer nicht mitgerechnet, die vorhaben mit ihrer Kaiserin, ihrem Gold und ihren abscheulichen Sitten hier zu warten, bis ihre Göttin sich dazu aufrafft, einen Krieg zu gewinnen, den diese Beysiber zu Hause mit ihren eigenen Händen und Waffen nicht gewinnen konnten!«

Seine Stimme hob sich wieder und erschreckte die Krähe so sehr, daß sie in die fütternde Hand zwischen Daumen und Zeigefinger hackte.

»In letzter Zeit ist mir klargeworden, daß ich nicht in meine Heimat zurückkehren kann«, sagte er nun leiser und verband die Wunde mit einem Ärmelstreifen. »Oder vielmehr, ich muß mich damit abfinden, daß Freistatt – dieser verfluchteste Ort aller Schöpfung – bis zu meinem Ende mein Zuhause sein wird. Mein Traum, im Tempel des Gottes, in dem ich geboren wurde, selig zu sterben, wird sich nicht erfüllen. Bedeutet den S’danzo ihr Geburtshaus viel? Ich erblickte das Licht der Welt in Vashankas Tempel in Ranke. Mein Ich ist eins mit diesem Tempel. Ein Teil von mir – meine Augen, mein Herz und was auch immer – hat sich seit meiner Geburt nicht verändert und gehört mehr diesem Tempel als mir. Aber jetzt, seht, hackt der Vogel nach mir, Blut fließt und neue Haut bildet sich. Freistätter Haut, Illyra. Für mich wird es immer ein sehr kleiner Teil sein, aber für Euch – ist Freistatt nicht in Euch, so, wie das S’danzo-Gesicht in Euch ist?«

Er hatte sie dazu gebracht, auf seine Wunde zu sehen, und bemühte sich, sie mit seinen besten Argumenten zu überzeugen, wie er es vor dem Kaiser getan hätte. Er blickte sie eindringlich an.

»Illyra, wenn Ihr mir nicht helfen wollt, kann ich Freistatt nicht helfen, dann ist es auch egal, ob Ihr Euren Sohn rettet. Benutzt das Zweite Gesicht, um Euch umzusehen. Es gibt hier Hoffnung und Bedürfnis; wo Vashanka regierte, herrscht jetzt eine große Leere …«

Illyra wich abrupt vor ihm zurück. »Die S’danzo haben keine Götter. Es ist uns gleichgültig, welche Gyskourem zum Gyskouras werden, dem neuen Gott, den andere anbeten werden.«

»Ehe Vashanka verbannt wurde, führte ich ein großes Ritual für ihn durch, um seine Verehrung hier zu weihen, um Freistatt in seinen Augen würdig zu machen – und, um ehrlich zu sein, um seine Macht in die richtige Bahn zu lenken. Ich veranstaltete das Fest des Zehntodes und den Tanz der Azyuna.(11)

Das Mädchen war eine im Tempel in Ranke ausgebildete Sklavin, und Vashanka war der Kaiserliche Prinz höchstpersönlich.

Das war möglicherweise das größte Opfer, das ich dem Gott darbrachte, und mein schlimmstes. Das Mädchen wurde tatsächlich schwanger und gebar einen Knaben, und zwar nicht ganz zwei Wochen vor Vashankas – Verschwinden. Dieses Kind dürfte im gleichen Alter sein wie Euer Sohn.

Er ist ein sehr merkwürdiger Junge, er neigt zu Wutanfällen und ist häufig mißgestimmt. Seine Mutter und die anderen, die für sein Wohl verantwortlich sind, versichern mir zwar, daß er nicht schlimmer ist als andere Kinder in seinem Alter, aber ich bin da nicht so sicher. Sie sagen, er fühle sich einsam, aber er weigert sich mit irgendeinem der Kinder zu spielen, die aus dem Palast zu ihm gebracht werden. Ich glaube, er hat das Bedürfnis, sich seine eigenen Spielkameraden zu erwählen. Und dann hörte ich heute morgen von Eurem Sohn …« Er hielt inne, aber Illyra führte seinen Satz nicht zu Ende. »Soll ich Euch eine alte ilsiger Münze geben wie der Bursche gestern? Sprechen S’danzo nur zu Gold? Soll Euer Sohn der Gefährte von Vashankas letztem Sohn werden? Ist er der neue Gott, dem ich dienen muß, oder ist er der Gyskouras irgendeiner anderen Hoffnung, die ich vernichten muß?«

»Warum stellt Ihr mir all diese Fragen?« sagte Illyra hilflos, als sie spürte, daß die Worte Molin Fackelhalters ihr Gesicht wieder weckten.

»Ich war Vashankas Hohepriester und Baumeister. Ich bin immer noch Hohepriester und Baumeister des Sturmgottes – aber ich muß wissen, wem ich diene, Illyra. Und wenn es sein muß, werde ich versuchen, eine Einigung des Sturmgotts mit seinem Volk herbeizuführen. Ich könnte Euren Sohn hinaus zu jenem Altar schaffen und ihn als Opfer darbringen; ich könnte ihn in den Palast schaffen und ihn als Gottessohn erziehen, statt jenem, den ich jetzt dort habe. Versteht Ihr die Möglichkeiten, unter denen ich meine Entscheidung treffen muß, Illyra?«

Illyra sah seine Möglichkeiten allesamt ebenso wie die Götter, die besorgt beobachteten, wie Gyskourem zu Freistatts Mahlstrom aus Hoffnung und Bedürfnis gezogen wurden. Das Netz der Verwirrung, das sie um die Stadt gesehen hatte, war nun dort, wo Vashanka gewesen war, und im Augenblick wurde alle andere Magie und Machenschaft durch die Hoffnungen und Bedürfnisse gelenkt, die der erstehende Sturmgott aufnehmen mußte.

Sie preßte die Hände an die Ohren und war sich nicht bewußt, daß sie selbst es war, die schrie. Als sie wieder zu sich kam, lag sie im Staub des Innenhofs, und Myrtis drückte ein feuchtes, kühles Tuch auf ihre Stirn. Dubro funkelte den Priester mit Mordlust in den Augen an.

»Sie ist eine starke Frau«, versicherte Fackelhalter dem Schmied. »Sturmgötter erwählen keine schwachen Boten.« Nunmehr wandte er sich an Illyra.

»Ich habe Vashankas letztem Sohn noch keinen Namen gegeben, ich hatte keinen, der mir richtig erschien für ihn. Jetzt aber werde ich eine Namensfeier für ihn veranstalten und ihn Gyskouras nennen – zumindest, bis er selbst einen anderen Namen für sich wählt. Und Illyra, ich glaube, Euer Sohn sollte bei dieser Feier dabeisein, meint Ihr nicht?« Er rief seine Diener mit einem Schnippen der Finger und verließ den Innenhof ohne förmlichen Abschied. Die große Krähe verlor einige Federn, als sie sich plagte, über das steile Dach des Aphrodisiahauses zu kommen.

»Was habe ich ihm gesagt?« fragte Illyra und klammerte sich an Dubros Hand. »Er nimmt doch Arton nicht zu sich? Ich habe ihm das doch nicht erlaubt, oder?«

Nie würde sie ihren Sohn dem Priester oder den Göttern überlassen, nicht einmal, wenn sich in Fackelhalters Bitte das Silber des wahren Gesichts befand. Dubro würde es nie verstehen, und außerdem erkannten S’danzo die Einmischung von Göttern nicht an. Sie würden die Stadt verlassen, sich, falls es sich als nötig erwies, im Dunkeln hinausschleichen, wie Nachtschatten und Mondblumes Tochter es getan hatten; denn Fackelhalter hatte bereits verfügt, daß niemand ohne seine Erlaubnis aus der Stadt gelassen werden durfte.

Während sie mit dem Priester im Innenhof gewesen war, hatte Myrtis den Kleinen dazu gebracht, ein paar Löffel Honigbrei zu schlucken.

Doch als sie ihn wieder Illyra in die Arme legte, ließ Myrtis keinen Zweifel daran, daß sie nicht glaubte, er würde durchkommen. Und da der Hohepriester ein solches Interesse an ihm bezeigte, wollte sie auf keinen Fall, daß er im Aphrodisahaus überlebte oder starb.

»Wir nehmen ihn mit«, sagte Dubro und hob auch gleich seine Tochter auf den Arm und ging mit ihr voraus auf die Straße. Sie hätten ohnehin nicht mehr viel länger hierbleiben können.

Im Lauf der Jahre hatten Dubro und Illyra durch ihre Arbeit ein wenig Gold angehäuft, das sie dort versteckten, wo die Steine von Dubros Schmiede die Außenwand ihres Heims bildeten. Aber durch die Beysiber und das viele Gold, das sie mitgebracht hatten, war nicht einmal Gold mehr soviel wert wie früher, und die beiden konnten sich einen Tag der Untätigkeit nur schwer leisten. Eine Sturmböe kam vom Meer herbei: ein plötzlicher, heftiger Regen, der in einer Küstenstadt nicht erstaunlich sein sollte, hätten die Tropfen, die auf Artons Gesicht fielen, seine dunklen Tränen abgewaschen – sie färbten sie statt dessen jedoch noch dunkler. Ohne einen Grund dafür anzugeben, drückte Illyra ihren Sohn fester an sich und rannte voraus durch den bei diesem Wetter menschenleeren Basar.

Es dauerte einige Tage, bis die Klatschweiber und Gerüchteverbreiter in Freistatt sich einen Reim auf das Zusammentreffen einiger Ereignisse machten, wie die sich wiederholenden, heftigen Regenschauer, Molin Fackelhalters unerwarteter Besuch im Aphrodisiahaus und die dunklen Tränen des S’danzokindes. Die Geschichte, daß jemand eine unfreundliche Schlange in das Schlafgemach der beysibischen Kaiserin geschmuggelt hatte, war für lüsterne Ausschmückungen geradezu geschaffen; während die über halbverweste Leichen, die durch Freistatts Gassen stapften, angsteinflößend war. Doch als zum fünftenmal in fünf Tagen eine heftige Sturmböe die Stadt heimsuchte und Hunderte von Fischen, einige so groß wie der Unterarm eines kräftigen Mannes, auf dem Eingang von Vashankas unfertigen Tempel ablud, wuchs die Neugier ungemein.

»Sie geben uns die Schuld daran«, sagte Dubros Lehrling, als das Schmiedefeuer für die Nacht gedämpft war und der Eintopf für den Abend auf dem Rost garte. »Sie sagen, es sei er!« Der Junge blickte verängstigt auf Artons Bettchen.

»Es ist die Zeit für Stürme, nichts weiter«, versicherte ihm Dubro, und seine Finger gruben sich in die Schultern des Jungen.

»Das vergessen sie jedes Jahr.«

Der Lehrling aß stumm sein Mahl. Er hatte mehr Angst vor dem seltenen Ärger des Schmiedes als vor dem unnatürlichen Zustand des Kindes, trotzdem zog er seinen Strohsack so weit wie nur möglich vom Bettchen Artons weg und rief jeden Gott, der ihm einfiel, um Schutz an, ehe er sein Gesicht für die Nacht der Wand zudrehte.

Illyra schenkte ihm keine Beachtung, ihre Aufmerksamkeit galt lediglich Arton und dem Brei, den er hoffentlich schlucken würde. Dubro saß stirnrunzelnd in seinem Sessel, bis der Lehrling leise zu schnarchen anfing.

Eine Böe brauste durch den Basar und sogleich trommelte Regen gegen Wände und Fensterläden. Illyra blies die Kerze aus und schaute mit leerem Blick über das Bettchen.

»Wieder Tränen?« erkundigte sich Dubro. Sie nickte und weinte auch. »‘Lyra, der Junge hat recht: Die Leute scharen sich vor des blinden Jakobs Wagen und starren mit Furcht in den Augen auf die Schmiede. Sie verstehen es nicht – und ich verstehe es ebensowenig. Ich habe dir nie Vorschriften gemacht oder dich über deine Karten und dein Zweites Gesicht ausgefragt, aber ‘Lyra, wir müssen jetzt rasch etwas unternehmen, sonst haben wir die ganze Stadt gegen uns. Was ist mit unserem Sohn geschehen?«

Der Riese von Mann hatte sich nicht bewegt, und auch am weichen Ton seiner Stimme hatte sich nichts geändert, aber als Illyra ihn anblickte, verrieten ihre weit aufgerissenen Augen Furcht. Sie forschte nach den richtigen Worten, und als sie keine fand, stolperte sie zu ihm und sank auf seinen Schoß. Das Gesicht hatte ihr Schreckliches gezeigt, doch nichts schmerzte sie so sehr wie die müde Traurigkeit im Gesicht ihres Mannes. Sie erzählte ihm alles, so, wie die Suvesh ihre Geschichten ihr erzählten.

»Ich werde gleich in der Früh in die Stadt gehen«, beschloß Dubro, als er von Zips Altar gehört hatte, von Molins Gottkind und dem Dahinscheiden des Sturmgottes. »Ich kenne einen Waffenschmied, der mir für meine Schmiede gutes Gold bezahlen wird. Gleich morgen verlassen wir die Stadt – für immer.«

Eine neue Bö peitschte über das Dach, und irgendwo stürzte eine Mauer ein, das Krachen war unverkennbar. Dubro drückte Illyra an sich, bis sie sich in den Schlaf geweint hatte. Die kleine Öllampe neben ihm brannte nieder, ehe der Sturm nachließ und Dubro ebenfalls Schlaf gefunden hatte.

Illyra wußte später nicht, ob sie das Krachen unter der Plane gehört hatte, oder nur aufgewacht war, weil Dubro sie behutsam zur Seite geschoben hatte und bereits in den Sturm und auf die aufgeweichte Straße hinausstapfte. Bis sie eine Kerze mit einer Kohle aus dem Herdfeuer anzündete, hatte Dubro den Burschen, mit dessen Besuch ihr Unglück begonnen hatte, bereits am Schlafittchen.

»Dachtest wohl, du könntest stehlen, eh?« knurrte Dubro und hob die Kanalratte am Kragen hoch.

Zip nahm seinen Mut zusammen und drehte das Bein zu einem Stoß, wo es dem Schmied am meisten schmerzen würde, doch Dubro warf ihn für seinen mißglückten Versuch mit dem Gesicht voraus auf den rauhen Holzboden.

»Was wolltest du?« fragte Illyra. »Deine Goldmünze?« Sie griff nach ihrem Schultertuch und schlang es sich um, ehe sie in ihrem Kästchen kramte. »Ich habe sie für dich aufbewahrt.« Sie fand die Münze und warf sie auf den Boden neben ihn. »Sei dankbar und verschwinde!« warnte sie ihn.

Zip griff nach der Münze und krabbelte auf die Füße. »Ihr habt mir IHN gestohlen! Ihr habt mich verflucht und IHN für Euch selbst behalten. Seine Augen waren Feuer, als ich ihn rief. Er braucht mich nicht mehr!« Das Gesicht des Burschen war aufgeschürft und blutete leicht, aber die Hysterie in seiner Stimme kam von etwas Tieferem als körperlichem Schmerz. »Das genügt nicht! Ich muß IHN zurückhaben!« Er warf die Münze von sich und zog ein Messer aus seinem Gürtel.

Rasende Wut war Illyra nicht fremd, sie war schon mehr als einmal auf sie gerichtet gewesen, wenn sie einem verzweifelten Kunden etwas gesagt hatte, das ihm nicht gefiel. Doch bisher war immer ein fester Holztisch zwischen ihnen gewesen, und sie hatte ein Messer zu ihrem Schutz gehabt. Aber Zip stach nach ihr, noch ehe sie oder Dubro sich der Gefahr bewußt waren. Die Klinge drang tief in ihre Schulter, bevor Dubro reagieren konnte.

»Damit wird er mich zurücknehmen!« rief Zip triumphierend am Eingang und verschwand, das blutige Messer schwenkend, im Sturm.

Die Klinge hatte eine kleine, tiefe Wunde verursacht, die nach Dubros Meinung nicht stark genug blutete. Sie würden Kräuter brauchen und Umschläge machen müssen, damit es nicht zur Blutvergiftung kam. Mondblume hätte sofort helfen können, aber sie lebte nicht mehr. Ohne sie konnten sie sich bis zum Morgen nur nach ihrem Instinkt richten. Sich Illyras anzunehmen war dringender, als Zip zu verfolgen. Der verstörte Lehrling wurde zum Brunnen um frisches Wasser geschickt, und Dubro trug seine Illyra in ihr gemeinsames Bett.

Der Lehrling hatte das Wasser gerade auf den Rost gestellt, als die Wortführerin der S’danzo den Eingang verdunkelte. Sie war groß, dürr und verbittert und durchaus nicht die Älteste der Amoushem, der Wahrsagerinnen, und schon gar nicht war sie die Beste im Hellsehen, wohl aber die Gefürchtetste. Ihr Wort hatte verhindert, daß Mondblume die verwaiste Illyra zu sich nahm. Sowohl S’danzo wie Suvesh nannten sie aus gutem Grund Megäre, und selbst Dubro zuckte vor ihr zurück, als sie das Handzeichen gegen das Böse machte und den Raum betrat.

Illyra stützte sich auf dem Kissen auf. »Geht, ich will Eure Hilfe nicht!«

Die Vettel rümpfte abfällig die Nase, wandte sich von Illyra ab und zog an den Decken in Artons Bettchen. »Du hast uns an den Rand des Abgrundes gebracht, und nur du kannst uns zurückholen – nur du! Du siehst die Götter, aber hast du schon jemals die Augen geschlossen und um dich herum gesehen? Nein. Selbst Rezel – und das Gesicht deiner Mutter war besser als deines als Halbblut je sein kann – war vernünftiger. Suvesh beten und lassen sich mit Magie ein, doch sie sind sichtlose Kreaturen, auf die niemand achtet. Aber wenn eine S’danzo die Augen öffnet … Nicht einmal den mächtigen Göttern ist das Gesicht gegeben, Illyra, denk daran!«

Die alte Vettel wandte den Blick ab und biß sich auf die Lippen. Illyra ließ sich wieder ins Kissen fallen. Zweifel dämpfte ihre Wut und Angst. Rezel hatte sich nie die Mühe gemacht, ihrer kleinen Tochter etwas über das Wesen der S’danzo zu erzählen. Mondblume hatte es versucht, doch mit der drohenden und fluchenden Megäre in der Nähe tappte Illyra gefährlich im dunkeln, was die Rasse betraf, deren Gabe sie sich bediente.

»Ich habe weder Götter noch Gyskourem gesucht«, flüsterte sie zu ihrer Verteidigung. »Sie fanden mich!«

»Im Hafen segeln Dämonenschiffe; im Labyrinth treiben schwarze Bestien ihr Unwesen; dazu tobt der unnatürliche Sturm. Die Suvesh erschaffen sich einen Kriegsgott, Illyra, und die Gyskourem, die sie nach Freistatt ziehen, schrecken vor nichts zurück, um dieser Gott zu werden. Es ist schlimm, wenn S’danzo die Karten für sie lesen und das Gesicht für die Suvesh benutzen.«

»Ich habe das Gesicht nicht für sie benutzt. Ich hatte es gar nicht, ehe mein Sohn berührt wurde …«

Sie hätte noch mehr gesagt, doch der Kräuteraufguß begann zu dampfen, und Megäre machte damit rasch einen Umschlag, der Illyra den Atem raubte, als sie ihn ihr auf die Schulter legte.

»Törin! Du hast die Suvesh verflucht, nicht die Gyskourem, die es auf ihn abgesehen haben«, flüsterte die Alte jetzt, so daß nur Illyra sie verstehen konnte. Sie warf einen raschen Blick auf Artons Bettchen, und Besorgnis verdrängte ihre Verachtung. »Hat er das Gesicht?«

Illyra hätte am liebsten gelacht. Söhne erbten das Gesicht nicht, und Töchter wußten es erst, wenn sie viel älter waren als Lillis und Arton.

Megäre entging Illyras verstohlenes Lächeln nicht. »S’danzomänner haben das Gesicht nicht. Aber wer vermag zu sagen, was er möglicherweise hat? Du hast nicht viel für S’danzo übrig – und vielleicht war es falsch von mir, eine Gefahr in dir zu sehen und dich deshalb von den S’danzo fernzuhalten. Eines sollst du wissen: Es sind viele Generationen vergangen, seit ein neuer Gott aus den Gyskourem entstanden ist, und nie zuvor haben sie den Platz eines so mächtiges Gottes wie Vashanka übernommen. Aber ehe Gyskourem zum Gott werden können, müssen sie von Bedürfnis und Opfern angezogen werden; dann müssen sie Gyskouras werden – eins sein mit einem erwählten Sterblichen. So wird es auch mit dem neuen Vashanka sein.

Sie haben deinen Sohn als Gyskouras auserkoren. Durch ihn haben sie dich geblendet. Götter waren für uns nie eine Gefahr, doch dieser, dieser Gyskouras – der dein Sohn war – wird das Gesicht haben und wird unbesiegbar sein.«

»Aber Molin Fackelhalters Kind im Tempel wird der Gyskouras werden …«

»Viele Menschen hoffen und bringen Opfer dar, Illyra, aber es kann nur einen Gyskouras geben. Es ist noch nicht entschieden. Das eine oder andere Kind muß sterben, ehe der Gyskouras erscheinen kann, um unter den Menschen zu leben, bevor er ein Gott wird. Du hast deinen Sohn geliebt. Wenn du ihn nicht aus dem Netz der Gyskourem befreien kannst, dann töte ihn, ehe es zu spät für uns alle sein wird – für S’danzo und Suvesh.«

Sie preßte den Umschlag auf die Wunde, und, da sie wußte, daß der Schmerz der jungen Frau eine Weile wieder den Atem rauben würde, wandte sich an den Schmied. »Ihr müßt sie rächen«, sagte sie, dann nähte sie die Wunde mit Seide. »Ihr könnt damit warten, bis sie sich erholt hat oder stirbt, oder Ihr könnt ihn auch sofort töten für die Beleidigung, die er allen S’danzo zugefügt hat. Sie wird bezahlen, aber das wird auch der Suvesh, der ihr das angetan hat. Keine von uns, die aus den Karten liest, wird mehr sicher sein, wenn das ungerächt bleibt.«

Dubro schüttelte den Kopf. »Hätte ich ihn erwischt, ehe er floh, wäre er jetzt tot. Aber ich kann einen Menschen nicht jagen und umbringen, alte Frau. Ich werde der Garnison Bescheid geben. Dort freut man sich über einen triftigen Grund, ihn …«

»Nein.« Illyra versuchte sich aufzusetzen. »Nein, laß ihn laufen. Soll er mein Blut auf seinem Altar haben. Wenn das Arton befreit, ist der Preis gering genug. Laß ihn zum Gyskouras des neuen Sturmgottes werden.«

»Er hat eine S’danzoseherin angegriffen; weder Götter noch Gyskourem haben über sein Schicksal zu entscheiden! S’danzo haben keine Götter, die sie schützen, nur Vergeltung!« Die Vettel hob die Hand über Illyras Gesicht, doch schon schlossen sich Dubros Finger wie ein Schraubstock um ihr Handgelenk.

»Sie ist nur eine Halbs’danzo, alte Frau. Ihr und euresgleichen habt sie als Kind verstoßen. Wenn sie keine Vergeltung will, dann könnt Ihr sie auch nicht dazu zwingen!« Dubro ließ die Vettel frei und schob sie durch die Tür in den nachlassenden Sturm. Stirnrunzelnd wischte er die Tränen von den Wangen seiner Frau.

»Soll ich zur Kaserne gehen?« fragte der Lehrling in die Stille.

»Noch nicht. Wir wollen abwarten und sehen, was sich tut.«

Illyra schlief ein, doch Dubro blieb in seinem Sessel und starrte in die Nacht. Am frühen Morgen weckte er seine Frau und sagte ihr, daß sich an seinem Entschluß nichts geändert habe. Er würde seine Schmiede an den Waffenschmied verkaufen und unauffällig einen Wagen erstehen. Nach Sonnenuntergang beabsichtigte er, mit ihr und den Kindern die Stadt zu verlassen. Illyra widersprach ihm nicht, sie täuschte vor weiterzuschlafen. Der Kräuterumschlag hatte geholfen, die Wunde fühlte sich kühl an. Nachdem Dubro gegangen war, schaffte sie es, sich allein anzukleiden. Dann ließ sie sich kleinere Arbeiten für den Lehrling einfallen und setzte sich auf die Bank neben der Schmiede. Ungeduldig wartete sie auf die Rückkehr ihres Mannes, während Lillis vor ihren Füßen spielte.

Sie war eingenickt, trotz des Schmerzes in der Schulter und des vormittäglichen Lärms im Basar, als ein dunkler Schatten über die Schmiede fiel. Der Sturm war auf dem Weg hierher: Dunkelheit, dann Wind und Regen. Sie plagte sich auf die Füße, und noch ehe sie hochblickte, wies sie den Lehrling an, die Holzläden zu schließen. Im Basar wurde es totenstill, als Illyra und alle anderen zum wolkenlosen Himmel schauten. Nichts war zu hören als die Schreie verstörter Vogelscharen, die Schutz vor dem drohenden Sturm suchten. Abendsterne erschienen am Horizont, dann war die weißgoldene Sonne zu sehen und eine schwarze Scheibe, die sich davorschob. Jemand schrie, daß die Sonne verschlungen würde. Der Basar und die Stadt dahinter, die in letzter Zeit mehr natürliche und unnatürliche Katastrophen hatten erdulden müssen, als sie sich zu erinnern wünschten, wurden von Panik überwältigt.

Illyra drückte Lillis an sich und starrte auf die Sonne, die zur schmalen Sichel wurde. Und dann, als es aussah, als würde sie für immer verschwinden, erschien ein blendender weißer Strahlenkranz um die schwarze Sonne. Das war zu viel – ohne zu überlegen zog Illyra Lillis und den Lehrling in die Stube, wo sie sich hinter Artons Bettchen auf den Boden kauerten. Die Dunkelheit wurde zum Sturm, der Wasser und Schlamm durch den offenen Eingang spülte. Böen hoben die Plane des Schutzdachs, schlugen sie gegen die Steine der Schmiede, dann trugen sie sie mit sich fort. Lillis und der Lehrling wimmerten vor Angst, während Illyra versuchte, ihnen ein Vorbild des Mutes und der Ruhe zu sein, obwohl sie nichts von beidem empfand.

Der Sturm hatte begonnen nachzulassen, als Illyra bewußt wurde, daß ihr Sohn laut weinte. Sie bat den Lehrling, sich um Lillis zu kümmern, und kroch zum Bettchen, um nach Arton zu sehen. Der Kleine hatte seine Decken von sich gestrampelt und schrie heftig, doch die Tränen waren immer noch so dunkel wie der Sturm. Sie schloß ihn in die Arme und wurde von etwas erfaßt, das nicht das Gesicht war und ihr doch die gierigen Gyskourem zeigte, die, vom Ehrgeiz und den Opfern von Menschen wie Zip angespornt, versuchten, sich und ihn gemeinsam zum Gyskouras des neuen Sturmgottes zu machen. Doch auch eine Spur des Gesichts war da oder zumindest von Empathie. Sie spürte die Angst ihres Sohnes und wußte, daß sie ihn aus Barmherzigkeit und Liebe töten sollte, ehe es die Gyskourem taten, doch da war noch etwas: ein Schimmer von Hoffnung, und ein Hinweis auf ein Opfer, das Hilfe bringen mochte. Ohne auf die Rufe und Schreie des Lehrlings zu achten, wand sie ein Tuch um sich und Arton und trat hinaus in den Sturm.

Der Wind trug mehr Rauch als Regen mit sich, als Illyra sich einen Weg durch die umgestürzten Wagen und Buden kämpfte. Überall war es zu Beschädigungen gekommen, dadurch achtete in dem Chaos auch niemand auf eine Frau, die sich vorsichtig mit einem Bündel auf den Armen in Richtung Basartor plagte. In der Stadt waren weniger Häuser eingestürzt, aber da und dort stieg Rauch auf. Menschenscharen rannten durch die Straßen, manche um zu helfen, andere um in dem Durcheinander zu plündern. Illyra dachte an Dubro, der sich irgendwo in dem Straßenwirrwarr befand, aber sie hatte jetzt auf ihrem Weg zum Palast keine Zeit, ihn zu suchen.

Es war keineswegs wie das letztemal, als sie kühn durch die Straßen Freistatts geeilt war. Ihr Weg war diesmal nicht mit der silbrigen Klarheit des Gesichts umsäumt, und sie konnte die Palastwachen nicht mit der Vision ihres Geschicks einschüchtern. Doch der Palast, von den Blitzen des Unwetters erhellt, war das größte Gebäude der Stadt, und die Wachen waren zu sehr damit beschäftigt, Höflinge zu beruhigen und Plünderer festzunehmen, als auf sie zu achten.

Im Palast hastete Illyra an aufgeregten, verängstigten Höflingen vorbei, auf der Suche nach etwas, das sie nicht hätte zu nennen vermocht. Ihre Schulter pochte vor Schmerzen durch das Gewicht Artons. Das Gefühl, das nicht ganz Gesicht war, führte sie zu einem offenen Raum. Dort kauerte sie sich in eine Ecke, wo sie vor Wind und Regen und Blicken von Vorübergehenden geschützt war. Tränen rannen über ihre Wangen, als die Erschöpfung ihr gnädigen Schlaf schenkte.

»Barbaren!«

Illyra erwachte und hörte das Echo eines schrillen Schreis. Der Sturm war vergangen und hatte Platz für einen strahlend blauen Himmel gemacht. Nur noch ein Hauch von Rauch hing in der Luft. Vor ihr spielte sich der Streit eines Paares ab, das sie zwar deutlich sehen konnte, während sie, dank des Musters von heller Sonne und bewegten Schatten in ihrer Ecke, von den beiden nicht bemerkt wurde. Und das war auch gut so, denn die Frau war dem Akzent nach eine Beysiberin, obwohl sie ein züchtiges, rankanisches Gewand trug, und der Mann war Prinz Kadakithis höchstpersönlich. Illyra drückte Arton fest an sich und war im Augenblick fast froh, daß er sich nicht regte und keinen Laut von sich gab.

»Barbaren! Haben wir nicht unseren Hof geöffnet, während der Sturm tobte, und uns ihre Klagen angehört? Haben wir ihnen nicht persönlich versichert, daß die Sonne schon öfter verschwand und stets wiederkommt? Und daß die Stürme, wovon sie auch immer verursacht werden, nichts mit der Sonne zu tun haben? Haben wir nicht gestattet, daß sie ihre schmutzstarrende Habe auf den Vorhof des Palastes retten?

Und habe ich mich nicht in wahre Stoffmassen gekleidet und mein Haar hochgesteckt, damit sie in mir ihre sittsame Kaiserin sehen?«

Illyra schluckte, als Kittycat den Kopf schüttelte. »Shu-sea, ich fürchte, du hast Lord Molin mißverstanden.«

Die Beysa Shupansea, Avatar der Mutter Bey und absolute, obgleich augenblicklich im Exil lebende Kaiserin des Alten Beysibischen Reiches, wandte dem Prinzen ihren kaiserlichen Rücken zu. Trotz ihrer Ehrfurcht, ja Furcht mußte Illyra Kittycat recht geben: Gewiß, Shupanseas Haar und Gewand waren die einer über jeglichen Tadel erhabenen rankanischen Edlen; aber ihr Gesicht hatte sie nach beysibischer Art geschminkt, und das halb durchscheinende, schimmernde Grün von Haaransatz bis zum Halsausschnitt betonte ihre wahre Herkunft.

»Dein Hohepriester hält zuviel als unerläßlich«, beklagte sich Shupansea und warf den Kopf zurück. Eine Locke löste sich aus ihrer kunstvollen Frisur, dann eine zweite, und schon kroch eine smaragdgrün schillernde Schlange ihren Hals hinunter und an der Schulter unter das Gewand. Seufzend lockte die Beysa die Schlange auf ihren Unterarm.

»Molin ist eben der Meinung, daß es unter den Freistättern eine Art Einigkeit gibt, wie nie zuvor, seit sie die Beysiber und vor allem dich als Invasoren ansehen, als Menschen, die so ganz anders sind als sie. Ihr Haß, ihre Gewalttätigkeit ist gegen euch gerichtet, nicht mehr gegeneinander«, erklärte der Prinz. Er streckte die Hand nach der Beysa aus, da zischte die smaragdgrüne Schlange. Er zog die Hand zurück und saugte kurz an einer Fingerspitze.

Shupansea ließ die Schlange in eine blühende Kübelpflanze gleiten. »Molin dies – Molin das. Du und er, ihr redet, als hättet ihr diese Barbaren gern. Ki-thus, sie mögen dich und die deinen genausowenig, wie sie mich und die meinen mögen. Auf dem Reichsthron sitzt statt dir ein Usurpator, und seine Agenten schleichen durch die Gassen dieser schrecklichen kleinen Stadt. Nein, Ki-thus, die Zeit ist gekommen, ihnen nicht zu zeigen, wie gnädig wir sind – sondern wie erbarmungslos. Sie haben uns bis an den Rand gedrängt. Weiter lassen wir es nicht zu.«

»Aber Shu-sea.« Nun, da die Schlange weg war, ergriff er ihre Hände. »Das ist genau, was Molin versucht hat, dir zu erklären. Wir wurden tatsächlich bis an den Rand gedrängt, aber wir waren nie sehr weit davon entfernt. Dein Burek-Clan ist hier im Exil und hofft, die Heilige Mutter Bey wird ein Ende mit deinem thronräuberischen Vetter machen. Alles, was wir haben, ist Freistatt – aber wir müssen die Freistätter überzeugen, daß es einen Grund für sie gibt, auch uns haben zu wollen. Sprich mit deinem Geschichtenerzähler, wenn du nicht auf mich oder Molin hören willst. Jeder Tag – jeder Sturm, jeder Mord, jeder zerbrochene Blumentopf – macht es uns schwerer.«

Die Beysa lehnte sich gegen die Schulter des Prinzen, und einen Augenblick schwiegen beide. Ihre Leben, die Umstände für das Überleben eines Prinzen oder einer Kaiserin, gingen über Illyras Verständnis hinaus, doch nicht die Müdigkeit in der Haltung der Beysa – die ihr selbst nicht fremd war. Oder die Besorgnis im Gesicht des Prinzen – es war der Blick eines Mannes, der überzeugt ist, daß er den Aufgaben nicht ganz gewachsen ist, von denen er weiß, daß er sie bewältigen muß; diesen Blick hatte jeder einmal früher oder später.

Das plötzliche Mitgefühl befreite sie von dem Gesicht, oder was immer sie in Bann geschlagen hatte, gerade als die Beysa sich aus dem liebevollen Griff des Prinzen befreite.

»Also werde ich diese Kleider tragen, und meine Hofdamen ebenso – und wir werden wie Setmur-Clan-Fischweiber aussehen. Dies ist kein mildes Land wie meine Heimat. Seit ich hier angekommen bin, friert es mich bis auf die Knochen. Aber, Ki-thus, ich werde dich nicht zum Manne nehmen. Ich bin die Beysa. Mein Gemahl ist No-Amit, der Kornkönig, und sein Blut muß dem Land geopfert werden. Selbst wenn deine wilden Barbaren deinen Tod durch meine Hand hinnähmen, würde ich nicht den Mann, den ich liebe zum No-Amit nehmen, um ihm zwölf Monate später das Herz aus der Brust zu schneiden.«

»Nicht No-Amit, sondern Koro-Amit, Sturmkönig. Wie du selbst sagtest: Du bist nicht mehr in den sanften Landen der Bey. Nichts muß mehr sein, wie es immer gewesen ist. Freistatt ist zwar nicht viel, aber wenn es uns gehört, wird niemand in Frage stellen, was wir damit tun.

Außerdem, egal, was du von Molins Worten hältst, du hast den Knaben unten im Tempel gesehen. Du hast seine Augen beobachtet, wenn er den Sturm auslöst, und ebenso hast du sie gesehen, wenn die Stürme toben, die er nicht gerufen hat. Selbst dein Großonkel Terrai Burek sagt, daß wir das Kind davon überzeugen müssen, daß es zu uns gehört und nicht zu dem, was immer diese Stürme hierherschickt.«

Die Beysa nickte und setzte sich auf eine feuchte Steinbank. Sie streckte die Hand aus, und die Beynit schlängelte sich wieder auf ihren Arm. »Ich bin der Avatar der Bey. Mutter Bey ist in mir und leitet mich, sie ist Wirklichkeit für mich, doch ich bin nicht wie dieser kleine Junge. Ich höre ihn in meinem Schlaf, und Bey ist besorgt.

Immer hat sie die besiegten Korngötter, o ja und auch Sturmgötter, in ihr Bett geholt, und immer hat sie sie in sich aufgenommen.

Doch diesmal haben wir das Volk des Sturmgottes nicht erobert; der Sturmgott wurde nicht von uns besiegt, und wir wissen nicht, was seinen Platz einnehmen wird. Bey weiß es nicht. Wenn ich einen Koro-Amit nehmen muß, um diesen neuen Gott zu besänftigen, dann den wirklichen Vater des Knaben, diesen Tempus Thales. Ich muß daran glauben, daß Mutter Bey ihn zu sich nehmen wird – und wenn es vorbei ist, habe ich dich immer noch.«

Sowohl der Prinz wie Illyra erbleichten. Der Prinz aus seinen eigenen Gründen, Illyra, weil das Gesicht ihr Vashanka, Tempus und das Kind gemeinsam in einer verschlungenen gottgleichen Erscheinung zeigte.

»Molin bringt mich um, wenn er erfährt, daß nicht ich der Vater dieses kleinen Dämons bin, sondern daß Tempus ihn gezeugt hat. Und, Shu-sea, selbst wenn nur die Hälfte der Geschichten über Tempus Thales wahr sind, wird ihm, wenn du sein Herz herausgeschnitten hast, einfach ein neues nachwachsen. Lieber möchte ich, daß du mein Herz aus der Brust trennst, als mich mit dem Gedanken abfinden zu müssen, daß du an Tempus und seinen Sohn gebunden bist. Ich habe nicht geahnt, was geschehen würde, als ich Tempus schickte, um meinen Platz beim Fest des Zehntodes einzunehmen – aber ich werde jetzt nicht vor den Folgen davonlaufen!«

Illyra sah sowohl die Wahrheit von Kadakithis’ Geständnis wie auch die Massenvernichtung, die folgen würde, wenn Shupansea Tempus »nahm« – falls geduldet wurde, daß diese Vision Wirklichkeit wurde. Sie sah Bilder von Krieg und Gemetzel, aber das Gesicht zeigte ihr auch einen schmalen Silberpfad, der aus ihrer Ecke führte.

»Ich kann euch helfen«, erklärte sie, als sie in den Sonnenschein trat.

Die Beysa schrie, und der Prinz schob sie schützend hinter sich, ohne auf die erregte Schlange auf ihrem Arm zu achten. Er blickte Illyra an. Ruhig, geduldig und mit der Selbstsicherheit des Gesichts sagte sie dem Prinzen, daß sie die Halbschwester Walegrins sei, der sie damals gesucht hatte, als der Prinz ihm sein Schwert aus Enlibarstahl abnahm, um es Tempus zur Besänftigung zu schenken.(12) Kadakithis, ob er sich nun wirklich an die damalige Geschichte erinnerte oder nicht, war so von ihren S’danzokräften beeindruckt, daß er ihr Arton abnahm und sie, wie gebeten, zu Molin Fackelhalter führte.

Sie fanden ihn in der Nähe der Kinderstube, wo er den verstörten Kindermädchen Befehle erteilte. Molin blickte zuerst auf die Beysa und den Prinzen, dann auf Illyra und schließlich auf das Bündel auf Kadakithis’ Arm. Illyra sah den großen schwarzen Vogel, der sich über der Tür das Gefieder putzte, und erinnerte sich, daß sie ihn nicht nur auf dem Innenhof des Aprodisiahauses mit dem Priester gesehen hatte, sondern auch ehe sie zur Kaserne, zu ihrem Bruder rannte, der für den Priester arbeitete – und daß sie sich gezwungen hatte, die Erinnerung daran zu vergessen.

»Ihr habt gewonnen«, sagte Illyra. Es gab auch noch andere Teile dieser Vision. »Ich kann nicht zusehen, wie Freistatt zerstört wird. Ich möchte nicht mit den Augen sehen, was das Gesicht mir zeigt. Ich hätte ihn Euch eher bringen sollen. Er ist dem Tod nahe; vielleicht ist es bereits zu spät …«

»Ich hätte ihn mir nehmen können«, erinnerte Molin sie sanft. »Ich habe weder das Gesicht noch im Augenblick einen Gott, trotzdem erschien es mir nicht richtig, dem Kind da drinnen zu helfen, daß es werden kann, was es werden muß, wenn Freistatt gerettet werden soll, indem ich Euch Euren Sohn stehle. Ich mußte einfach daran glauben, daß Ihr verstehen und ihn mir aus freiem Willen bringen würdet. Wenn ich das noch glauben kann, dürfte es nicht zu spät sein. Nehmt das Kind wieder selbst auf den Arm und folgt mir.« Er drehte sich um und ließ die Tür zur Kinderstube öffnen.

Ein großes Durcheinander herrschte dort. Überall lagen zerrissene Kissen. Federn klebten an den Kindermädchen und der erschöpften Frau, die offenbar die Mutter des Kindes war und die gerade einen riesigen Bluterguß an ihrem Arm betrachtete. Das Kind funkelte die Besucher an, ließ ein halbleeres Kissen fallen und griff nach einem kurzen Holzschwert. Damit stürmte es auf Illyra zu.

»Gyskouras! Benimm dich!« rief Molin. Der Junge gehorchte, und alle anderen zuckten zusammen. Das kleine Schwert fiel klappernd auf den Boden. »So ist es besser, Gyskouras. Sieh her, das ist Illyra, die dein Weinen hörte.« Der Junge begegnete den Augen des Priesters mit einer kalten Herausforderung, wie niemand sonst sie gewagt hätte. »Sie hat ihren Sohn als Spielgefährten für dich gebracht.«

Illyra zog die Decke von Artons Gesicht und wunderte sich nicht, daß seine Augen jetzt offen waren. Sie küßte ihn und fand, daß er sie anlächelte. Dann kniete sie sich nieder und gestattete den Kindern, einander zu betrachten.

Die Augen des Kindes, dem Molin den Namen Gyskouras gegeben hatte, waren furchterregend, wenn man sich ihm Angesicht zu Angesicht gegenübersah, aber sie wurden sanfter, als Arton lächelte und das Händchen ausstreckte, um das Gesicht des anderen zu berühren. Die Gyskourem waren fort, selbst die wechselnden Bilder von Vashanka und Tempus waren verschwunden – es gab nur noch Gyskouras und Arton.

»Darf er bei mir bleiben?« fragte Gyskouras. »Meine Mutter wird sich um ihn kümmern, bis mein Vater kommt.«

Er achtete nicht auf den Prinzen, und glücklicherweise achtete Molin im Augenblick nicht auf ihn. Illyra setzte Arton, der sich bereits zappelnd aus den Decken befreite, auf den Boden und richtete sich auf, als es neue Aufregung gab: Dubro, Walegrin und ein halbes Dutzend beysibischer Wachen zwängten sich durch die Tür. Inzwischen zeigte Gyskouras jedoch Arton bereits, wie er das Schwert halten mußte. Der Schmied akzeptierte die Tatsache, daß sein Sohn jetzt hierhergehörte, auch wenn er es nicht ganz verstehen konnte. Und so leidvoll und unangenehm die Folgen auch sein mochten, waren die Dinge nun doch nicht so schlimm, wie sie hätten sein können.

Originaltitel: Gyskouras
Copyright © 1984 by Lynn Abbey


(11) Siehe Der Tanz der Azyuna von Lynn Abbey in Geschichten aus der Diebeswelt: ›Die Götter von Freistatt‹, Bastei-Lübbe 20098

(12) Siehe Stahl von Lynn Abbey in Geschichten aus der Diebeswelt: ›Verrat in Freistatt‹, Bastei-Lübbe 20101