Lalo
Ein Hauch Macht
Diana L. Paxton
»Eine
rote, Papa – ich möchte jetzt eine rote Fliege.«
Lalo blickte hinunter auf seinen kleinen Sohn, seufzte und suchte eine rote Kreide aus dem Kästchen. Geschickt fuhr seine Hand über das Papier und malte einen Kopf, einen Körper, angewinkelte Beine und die Umrisse feiner Flügel. Dann legte er die rote Kreide zur Seite, griff nach einer goldgelben und füllte die Umrisse mit einem sanften Schimmer. Alfi hüpfte auf der Bank neben ihm und verfolgte die Handbewegungen seines Vaters.
»Ist sie fertig, Papa?« Das Kind kletterte auf den Tisch, um besser zu sehen, und Lalo brachte rasch das Papier in Sicherheit. Er wünschte, Gilla würde endlich heimkommen und ihm den Jungen abnehmen. Wo blieb sie bloß so lange? Besorgnis verkrampfte ihm den Magen. In dieser Zeit der Gewalttätigkeiten zwischen den beysibischen Eindringlingen und den einheimischen Faktionen, deren Zahl und Art sich laufend änderte, konnte sich selbst ein harmloser Einkaufsbummel als gefährlich erweisen. Ihr ältester Sohn, Wedemir, der gerade auf Urlaub von seiner Karawane zu Hause war, hatte sich erboten, sie zum Basar zu begleiten. Die Geduld der Beysiber war vorüber, jeder Tag brachte neue Gerüchte über Widerstand und blutige Vergeltung durch die Fischäugigen. Gilla und Wedemir müßten längst zurück sein …
Alfi zupfte an seinem Arm und riß Lalo aus seinen Gedanken zurück. Während er auf den blonden Lockenkopf hinunterblickte, dachte er, wie sehr sein Jüngster seinem Ältesten glich – beide waren blond und hartnäckig … Einen Augenblick sprang die Zeit zurück: Er war wieder ein junger Vater, und es war Wedemir, der sich an ihn schmiegte und bettelte, daß er ihm noch mehr zeichne.
Aber zwischen Lalos damaliger und jetziger Malerei war ein Unterschied.
»Papa wird die Fliege sehen können?« Alfi deutete auf den gezeichneten Kopf.
»Ja, ja, Quälgeist, hab Geduld.« Lalo griff nach seinem Messer, um die schwarze Kreide zu spitzen. Alfi zappelte, da rutschte Lalos Hand aus, und das Messer schnitt in seinen Daumen. Mit einer Verwünschung ließ er es fallen und hob den Finger an den Mund, um das Blut durch Saugen zu stillen, nicht ohne seinen Sohn anzufunkeln.
»Papa, mach’s jetzt – mach den Trick und laß sie wegfliegen!« bettelte Alfi, ohne zu bemerken, was er angerichtet hatte.
Lalo unterdrückte den Wunsch, das Kind durch die Stube zu schleudern, und fügte der gemalten Fliege Fühler und Facettenaugen hinzu.
Es war nicht Alfis Schuld. Er hätte sich nie auf dieses Spiel einlassen dürfen.
Er verzog das Gesicht, hob das Blatt Papier, schloß flüchtig die Augen, konzentrierte sich, dann öffnete er sie wieder und hauchte vorsichtig auf die feinen Flügel.
Alfi hielt sich jetzt ganz still, und seine Augen weiteten sich, als die gezeichnete Fliege erzitterte, die schimmernden Flügel ausbreitete und summend davonflog, um sich der farbenprächtigen Schar von Artgenossen anzuschließen, die über dem Abfalleimer an der Tür kreisten.
Einen gnädigen Augenblick war das Kind ruhig, aber Lalo, der auf die von ihm ins Leben gezeichneten Insekten blickte, erschauderte plötzlich. Er erinnerte sich(2) – ein scharlachroter Sikkintair, der über die Köpfe der Götter beim Festmahl flog; die übernatürliche Schönheit von Ils’ Antlitz; die Anmut Eshis, die Wein einschenkte … und neben ihm Thilli, oder war es Theba – ihr Götter, er konnte es doch nicht jetzt schon vergessen!
»Papa, mach mir nun eine, die grün und violett ist und …« Wieder zupfte eine kleine Hand an Lalos Ärmel.
»Nein!« Der Tisch kippte fast, als Lalo aufsprang. Farbige Kreide rollte klappernd auf den Boden.
»Aber Papa …«
»Ich habe nein gesagt! Kannst du denn nicht hören?« brüllte Lalo und schämte sich, als Alfi erschrocken Luft holte und sich ganz still verhielt. Lalo zwängte sich hinter dem Tisch hervor und ging zur Tür, doch abrupt blieb er stehen und zitterte. Er konnte jetzt nicht weggehen – er hatte Gilla versprochen –, er durfte das Kind nicht allein im Haus lassen! Verdammte Gilla! Lalo hob die Hände zu den Augen und versuchte, den Schmerz hinter ihnen wegzureiben.
Er hörte ein unterdrücktes Schluchzen hinter sich und dann leises Klicken, als Alfi die Kreidestifte in ihr Holzkästchen zurücklegte.
»Tut mir leid, Quälgeist«, entschuldigte sich Lalo. »Es ist nicht deine Schuld. Ich habe dich immer noch lieb – Papa ist bloß sehr müde.«
Nein, es war nicht Alfis Schuld. Lalo ging steif zum Fenster. Er öffnete die Holzläden und blickte über die dicht aneinanderanschließenden Dächer der Stadt. Man sollte meinen, ein Sterblicher, der mit den Göttern beim Festmahl geschwelgt hatte, müßte anders sein, vielleicht von einer Art Leuchten umgeben, das alle wahrnehmen konnten – vor allem wenn er ein Künstler war, der nicht nur die Seele seines Modells zu zeichnen, sondern auch Leben in seine Werke zu hauchen vermochte. Doch nichts hatte sich für ihn oder an ihm verändert. Gar nichts.
Er blickte auf seine Hände: breite Handflächen, ziemlich kurze und dicke Finger mit Farbe unter den Nägeln und in den Schwielen. Eine kurze Weile waren sie die Hände eines Gottes gewesen, doch jetzt war er hier und rings um ihn schien Freistatt noch rascher als bisher seinem Untergang entgegenzustreben. Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.
Er zuckte zusammen, als etwas an seinem Ohr vorbeisirrte. Er sah, wie die von ihm erschaffenen bunten Fliegen aus dem Fenster und hinunter zu dem größeren Abfallhaufen am schmalen Durchgang flogen. Einen Augenblick fragte er sich, ob sie sich etwa auch fortpflanzen konnten und ob irgend jemandem in Freistatt die bunten Insekten auffallen würden, die aus dem Abfall schlüpften. Da drehte sich der Wind, und übler Gestank schlug ihm entgegen.
Würgend schloß er die Läden, lehnte sich gegen sie und grub das Gesicht in die Hände. Im Reich der Götter hatte jede Brise einen anderen Wohlgeruch. Die Gewänder der Unsterblichen waren mit flüssigen Edelsteinen gefärbt und schillerten. Und er, Lalo, hatte dort weilen und genießen dürfen, und sein Pinsel hatte tausend überirdischen Wundern Leben verliehen.
Er zitterte vor Sehnsucht nach den samtigen Wiesen und dem Aquamarinhimmel. Tränen quollen durch seine geschlossene Lider, und seinen Ohren, verzaubert von der Erinnerung an Vögel, deren Lieder alle irdischen Melodien übertrafen, fiel die Stille hinter ihm nicht auf, sie hörten weder das jubelnde Kichern des Kindes noch die schweren Schritte auf der Treppe.
»Alfi! Komm sofort herunter!«
Träume barsten um ihn, und Lalo wurde in die Wirklichkeit der Stube zurückgerissen. Er blinzelte, als sein verwirrter Blick die Vision einer zornigen Göttin von der massigen Gestalt zu trennen versuchte, die ihn an der Tür anfunkelte. Doch noch ehe sein Blick sich klärte, stürmte Gilla durch die Stube und holte das Kind herunter von dem Regal über dem Herd.
Wedemir, dessen Blondschopf über den Paketen und gehäuften Körben kaum zu sehen war, stolperte hinter ihr durch die Tür und suchte nach einem Platz, wo er die Einkäufe abstellen könnte.
»Will es schön machen!« klang Alfis Stimme gedämpft aus dem üppigen Busen seiner Mutter. Er zappelte in ihren Armen und deutete. »Siehst du?«
Drei Augenpaare folgten seinem Finger und blickten zur Decke über dem Herd, wo der Ruß nun mit blauen und grünen Kreisen und Wellenlinien vermischt war.
»Ja, Liebling«, sagte Gilla ruhig, »aber da oben ist es dunkel, und die Farben heben sich nicht gut ab. Und du weißt doch, daß du die Kreiden deines Vaters nicht nehmen darfst! Und erst recht weißt du, daß du nicht auf den Herd klettern darfst! Nun?« Sie hob die Stimme: »Antworte!«
Ein rußverschmiertes Gesichtchen mit zitternder Unterlippe wandte sich ihr zu, und die dunklen Augen senkten sich unter Gillas strengem Blick. »Ja, Mama …«
»Vielleicht hilft dir das, dich in Zukunft besser daran zu erinnern!« Gilla setzte das Kind ab und legte es übers Knie; sie war damit nicht zimperlich. Alfi wimmerte und rieb sich das schmerzende Hinterteil. Tränen flossen über seine Pausbäckchen.
»Und jetzt legst du dich in dein Bett und bleibst dort, bis Vanda deine Schwester Latilla heimbringt.« Sie faßte ihn an den schmalen Schultern, schob ihn in die Kinderstube und schloß die Tür hinter ihm so heftig, daß der Boden schwang.
Wedemir setzte den letzten Korb auf dem Küchentisch ab und beobachtete seine Mutter mit einer Bangigkeit, die nicht zu den breiten Schultern und kräftigen Muskeln paßte, die er sich bei der Arbeit in der Karawane erworben hatte.
Lalos Blick kehrte zu seiner Frau zurück, und sein Magen zog sich zusammen, als er die Verkörperung Sabellias, der Scharfzüngigen, da stehen sah.
»Vielleicht hält ihn das das nächste Mal auf dem festen Boden zurück«, brummte Gilla. Sie stemmte die Fäuste auf die breiten Hüften und funkelte Lalo an. »Ich wollte, ich könnte dir ebenfalls den Hintern versohlen! Wo warst du mit deinen Gedanken?« Ihre Stimme hob sich, als sie sich noch mehr ereiferte. »Als du gesagt hast, du würdest auf Alfi aufpassen, dachte ich, ich könnte mich auf dich verlassen! Du weißt doch, wie lebhaft Kinder in seinem Alter sind! Im Herd ist noch Glut! Hättest du es überhaupt gehört, wenn Alfi zu schreien angefangen hätte? Lalo der Maler – Lalo der Träumer sollte man dich nennen! Pah!«
Wedemir zog sich lautlos zu dem Stuhl in der Ecke zurück. Lalo konnte sein mitfühlendes Lächeln nicht erwidern. Seine zusammengepreßten Lippen zitterten unter Worten, doch siebenundzwanzig Jahre mit dieser Frau hatten ihn gelehrt, sie nicht auszusprechen. Und es stimmte ja auch, daß … Seine lebhafte Phantasie malte ein Bild seines Jüngsten, der sich in lodernden Flammen wand. Aber er hatte doch bloß einen Augenblick lang aus dem Fenster geschaut! In der nächsten Sekunde hätte er das Kind gesehen und heruntergeholt!
»Die Götter wissen, welche Geduld ich immer hatte!« tobte Gilla weiter. »Immer sparsam und immer bedacht, die Familie zusammenzuhalten, während sich die Rankaner oder Beysiber oder sonstwer in der Stadt breitmachten. Zumindest hättest du wirklich …«
»Im Namen Ils’, Weib, jetzt ist es genug!« Lalo fand endlich seine Stimme wieder. »Wir haben ein Dach über dem Kopf, und von wessen Einnahmen bezahlen wir denn …«
»Das gibt dir noch lange nicht das Recht, alles niederzubrennen!« unterbrach sie ihn. »Außerdem, wenn wir die Steuern nicht bezahlen, werden wir dieses Dach über dem Kopf bald nicht mehr haben; Shalpa weiß, wem wir sie in diesem Jahr bezahlen müssen! Was hast du eigentlich in letzter Zeit gemalt?«
»Bei den Göttern!« Lalos Finger zuckten hilflos. »Was ich gemalt habe …!« Einen scharlachroten Sikkintair, der unter einem azurblauen Himmel segelte, einen Vogel mit Feueraugen und Kristallschwingen … Seine Kehle schnürte sich zu. Er hatte es ihr nicht erzählt … Er würde ihr die regenbogenfarbenen Fliegen zeigen, die er für Alfi gemalt hatte, dann würde sie verstehen. Ihm war die Macht eines Gottes gegeben – welches Recht hatte sie da, so zu ihm zu sprechen? Lalo schaute sich wild um, da erinnerte er sich, daß er die Läden geöffnet hatte und die Insekten hinausgeflogen waren.
»Ich habe dir das Leben gerettet, und so dankst du es mir?« brüllte Gilla. »Mir das letzte Kind zu verbrennen, das ich gebären konnte?«
»Mir das Leben gerettet?«
Plötzlich sah er das Ende seiner Vision wieder – er hatte eine Göttin gemalt, die ihn aus dem Himmel hinabzerrte! Eine Göttin mit Gillas Zügen! »Dann warst du es, die mich zurück in diese Kloake holte? Und da willst du auch noch, daß ich dir dafür danke?« Jetzt brüllte er so laut wie sie. »Du Unglückselige! Weißt du, was du mir damit angetan hast? Sieh dich doch an! Du stehst da wie ein unförmiger Haufen Talg! Warum sollte ich zu dir zurückkehren wollen, wenn Eshi sich persönlich meines leiblichen Wohls annahm?«
Einen Augenblick starrte Gilla ihn sprachlos an, dann riß sie den Kochlöffel aus dem Topf am Herd und warf ihn nach Lalo. »Nein, dank mir nicht, denn es tut mir jetzt leid, daß ich es getan habe!« Ein Sieb folgte dem Kochlöffel. Dann griff sie nach dem Kupferkessel, und Lalo duckte sich, während Wedemir protestierend auf die Füße sprang.
»Du hast eine Göttin, mit der du schlafen kannst? Wurm! Dann geh doch zu ihr! Wir kommen hier gut ohne dich aus!« schrie Gilla.
Der Kupferkessel kam wie ein Sonnenrad auf Lalo zugeflogen, traf und fiel krachend auf den Boden. Lalo richtete sich auf und hielt seinen Arm.
»Ich werde gehen …« Er bemühte sich um eine feste Stimme. »Ich hätte schon lange gehen sollen. Ich hätte der größte Künstler des Reiches sein können, wenn du mich nicht festgehalten hättest! Aber bei den tausend Augen Ils’, das kann ich immer noch sein!« Gilla keuchte, ihre abgearbeiteten Hände ballten und öffneten sich, während sie nach einem weiteren Gegenstand Ausschau hielt, den sie nach Lalo werfen könnte. »Wenn du wieder von mir hörst, wirst du wissen, was ich wirklich bin, und du wirst deine Worte bereuen!«
Lalo straffte die Schultern. Gilla beobachtete ihn mit steinernem Gesicht und einem Ausdruck in den Augen, den zu enträtseln er sich jetzt nicht die Mühe machen wollte. Seine Erinnerung flüsterte ihm zu, daß er sie, wie schon früher, im wahren Licht sehen würde, wenn er seinen Zorn beherrschte. Aber er verdrängte diesen Gedanken. Die Wut brannte in seinem Bauch wie eine Esse der Macht. So hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er den Attentäter Zanderei überlistet hatte.(3)
Stumm stapfte er zur Tür, hängte sich den Beutel an den Gürtel und warf sich das kurze Cape um, das dort am Haken hing.
»Papa – wo willst du hin?« Wedemir hatte endlich seine Stimme gefunden. »Es ist nicht mehr lange bis Sonnenuntergang, und bald beginnt die Ausgangssperre! Du kannst jetzt nicht mehr weggehen!«
»Meinst du? Ihr werdet schon sehen, was ich kann!« Lalo öffnete die Tür.
»Mistkerl! Farbenkleckser! Betrüger!« schrie Gilla. »Wenn du jetzt gehst, brauchst du dir nicht einzubilden, daß wir dich mit offenen Armen wieder aufnehmen werden!«
Lalo antwortete nicht. Als er die Treppe hinunterrannte, hörte er als letztes das knochenerschütternde Krachen des Gußeisentopfes gegen die sich schließende Tür.
Das Geräusch laufender Stiefel hinter ihm jagte ihm Angst ein. Sie verband sich mit der Wut, die Lalo zu schnellem Schritt angespornt hatte. Narr! Die Lektionen eines ganzen Lebens hallten in seinem Kopf. Dein Rücken verrät dich! Du darfst ihn niemandem zuwenden! Nur wer wachsam ist, überlebt! Früher hatte jeder gewußt, daß es sich nicht lohnen würde, Lalo zu überfallen, aber bei dem gegenwärtigen Durcheinander in der Stadt konnte man von jedem verfolgt werden. Verzweifelt versuchte Lalo sich zu erinnern, ob dieser Block zum Revier der VFBF gehörte, der Nisibiser Todestrupps oder der zurückkehrenden Stiefsöhne oder des 3. Kommandos oder Jubals neuen Horden – oder ob hier der Bezirk von sonst irgend jemandem war, von dem er noch nicht gehört hatte.
Sein kleiner Dolch blitzte in seiner Hand. Er würde zwar kaum irgend jemand abschrecken, der mit Waffen umzugehen verstand, wohl aber jemanden, der bloß schnell noch vor Sonnenuntergang leichte Beute machen wollte.
»Papa – ich bin es!« Der Schatten hinter ihm hielt in einiger Entfernung an. Lalo blinzelte und erkannte Wedemir, dessen Gesicht vom Laufen zwar etwas gerötet war, der jedoch gleichmäßig atmete.
Der Junge ist gut in Form, dachte Lalo mit flüchtigem Stolz. Er entspannte sich, richtete sich von seiner Abwehrstellung auf und schob die Klinge in ihre Scheide zurück.
»Wenn deine Mutter dich geschickt hat, kannst du gleich wieder umkehren!«
Wedemir schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht. Sie sagte, wenn ich hinter dir herlaufe, will sie auch von mir nichts mehr wissen! Wohin gehst du denn eigentlich?«
Lalo starrte ihn an. Wedemirs Unbekümmertheit erschreckte ihn. Begriff der Junge denn nicht? Zwischen ihm und seiner Mutter war es aus für immer! Die Zukunft lag vor ihm wie eine atemberaubende, von Blitzen leuchtende Wolke.
»Lauf heim, Wedemir«, riet er ihm. »Ich gehe zum Wilden Einhorn.«
Wedemir lachte, und die weißen Zähne hoben sich blitzend von der sonnengebräunten Haut ab. »Papa, ich bin jetzt bereits zwei Jahre mit Karawanen unterwegs, hast du das vergessen? Glaubst du, ich war noch nie in einer Kaschemme?«
»Bestimmt noch in keiner wie dem Wilden Einhorn«, brummte Lalo.
»Dann wird es Zeit, daß du meine Ausbildung vervollständigst«, meinte der Junge vergnügt. »Wenn du stärker bist als ich, dann schlag mich jetzt nieder. Wenn nicht, ist es in diesem Viertel gewiß für zwei sicherer als für einen!«
Eine neue Art von Ärger machte sich in Lalos Magen bemerkbar, als er seinen Sohn betrachtete und ihm die sichere Haltung und der feste Blick bewußt wurden. Er ist erwachsen, dachte er verbittert und erinnerte sich an das letzte Mal, als er den Jungen versohlt hatte; das erschien ihm noch gar nicht solange herzusein. Wedemir ist ein Mann! Aber ihr Götter, hatte ich je so arglose Augen? Ein Mann, und ein starker noch dazu … Selbst in Wedemirs Alter war Lalo nicht gerade ein Kämpfer gewesen, und jetzt … Der Gedanke, daß sein Sohn ihn schlagen könnte, stieg ihm wie Galle auf.
»Na gut«, sagte Lalo schließlich. »Aber gib mir nicht die Schuld, wenn nicht alles nach deiner Erwartung verläuft!« Er drehte sich zum Weitergehen um, hielt jedoch noch einmal an. »Und um Shalpas willen, wisch dir dieses Grinsen vom Gesicht, ehe wir hineingehen!«
Lalo neigte den Krug, und der letzte Schluck des sauren Weines rann die Kehle hinab. Dann schlug er die Faust auf den Tisch und bestellte noch einen Krug. Es war lange her, daß er sich im Wilden Einhorn hatte vollaufen lassen – überhaupt eine lange Zeit, daß er sich irgendwo betrunken hatte. Vielleicht würde der Wein besser schmecken, wenn er mehr davon trank.
Wedemir hob flüchtig eine Braue. Er nahm einen weiteren, gemessenen Schluck seines Bieres und setzte den Krug wieder ab. »Also bisher habe ich noch nichts gesehen, was mich schockieren könnte.«
Lalo schluckte seinen aufsteigenden Groll über die Selbstbeherrschung des Jungen. Vermutlich verachtet er mich. Als Ältester hatte er sicher mitbekommen, wie es damals war, als Lalo versucht hatte, seine Sorgen in Wein zu ertränken, und Gilla für andere gewaschen hatte, um die Familie zu ernähren. Und während der letzten Jahre des Wohlstands war Wedemir mit den Karawanen unterwegs gewesen. Kein Wunder, wenn er seinen Vater für einen Säufer hielt!
Er versteht nicht … Lalo streckte der dünnen Schankmaid den Krug entgegen. Er weiß nicht, was ich durchgemacht habe!
Der kühle, beißende Wein linderte den Schmerz in seiner Kehle, und Lalo rutschte seufzend zurück. Wedemir hatte recht, was das Einhorn betraf. So einen ruhigen Abend hatte Lalo hier noch nie erlebt. Die vom Alter glatten Bretter der Nische knarrten, als er sich dagegen lehnte. Er schaute sich in der großen Gaststube um und versuchte die veränderte Atmosphäre zu verstehen.
Der vertraute Geruch von Schweiß und saurem Bier weckte Erinnerungen; Öllampen warfen tanzende Schatten auf die rußigen Deckenbalken und die massiven Tische darunter. Leere Tische zumeist, selbst jetzt, da die Nacht sich bereits über Freistatt gesenkt hatte und es hier von Gästen wimmeln sollte, wie Flöhe auf einem Basarköter. Nicht, daß das Einhorn außer ihnen völlig leer war. Er erkannte den bleichen, narbengesichtigen Burschen, der sich Zip nannte. Er saß in einer Nische auf der gegenüberliegenden Stubenseite mit drei anderen, die ein bißchen jünger und dunkler waren als er und denen der schützende Schleier aus Zynismus vor den Augen fehlte.
Während Lalo ihn beobachtete, klopfte Zip mit der Faust auf den Tisch, dann machte er sich daran, etwas mit verschüttetem Bier auf die Tischplatte zu zeichnen. Der Maler konzentrierte seinen Blick auf eine andere Weise und sah durch die Maske des Fleisches eine Mischung aus Angst und Fanatismus, die ihn zusammenzucken ließ. Nein, dachte er, vielleicht sollte ich mich dieser besonderen Gabe hier nicht bedienen! Es gab einige Seelen, deren Wahrheit er nicht sehen wollte.
Er zwang sich, den Blick weiter durch die Schankstube wandern zu lassen. In einer Ecke saßen ein Mann und eine Frau und tranken miteinander. Narben alter Kämpfe zeichneten ihre Gesichter, und alte Leidenschaften bewölkten ihre Augen. Sie sahen aus, als gehörten sie zu Jubals Leuten, und Lalo fragte sich, ob sie wieder für ihn arbeiteten. An der hinteren Wand unterhielten sich drei Männer, deren Haltung, trotz ihrer Lumpen, nicht verleugnen konnte, daß sie einmal Soldaten gewesen waren – vielleicht Fahnenflüchtige aus dem Krieg im Norden, oder Söldner, die selbst für das 3. Kommando zu disziplinlos waren? Lalo wollte es gar nicht wissen.
Er nahm einen tiefen Schluck und hustete heftig. Das war es: Seine neuen Sinne waren gegen seinen Willen am Werk, und seine Nasenflügel blähten sich unter dem üblichen Geruch von Tod und Zauberei. Er erinnerte sich an ein Gerücht, das ihm zu Ohren gekommen war: daß Eindaumen, der Wirt des Einhorns, etwas mit der Nisibisihexe Roxane hatte. Vielleicht sollte er lieber mit Wedemir von hier verschwinden …
Doch als er aufstehen wollte, übermannte ihn eine Schwindelgefühl, und ihm wurde klar, daß er in diesem Zustand auf den Straßen Freistatts in nächtlicher Stunde nicht überleben könnte. Außerdem würde Wedemir ihn auslachen, ganz abgesehen davon, daß er ohnehin nicht wüßte, wohin er sich begeben sollte. Seufzend lehnte er sich wieder zurück und trank weiter.
Zwei oder vielleicht drei Krüge später fiel Lalos inzwischen sehr verschwommener Blick auf einen vertrauten dunklen Kopf und die eckige Form eines Harfenkastens, der sich vom hellen Umhang seines Trägers abhob. Lalo blinzelte, bemühte sich um einen klareren Blick und grinste.
»Cappen Varra!« Er winkte dem Mann zu, sich zu ihnen zu setzen. »Ich dachte, du hättest die Stadt verlassen.«
»Das dachte ich auch«, antwortete der Spielmann trocken. »Das Wetter ist zu unsicher für Schiffe, also schloß ich mich einer Karawane nach Ranke an. Ich hoffte, von dort eine nach Caronne zu finden.« Er nahm den Harfenkasten vom Rücken, setzte ihn behutsam auf der Bank ab und zwängte sich in die Nische neben Wedemir.
»Nach Ranke!« rief der Junge. »Ihr hattet Glück, daß Ihr noch lebt!«
»Mein Sohn Wedemir«, stellte Lalo ihn Cappen Varra vor. »Er arbeitet für Ran Alleyn.«
Cappen Varra blickte ihn mit Respekt an und fuhr fort. »Ja, ich glaube auch, daß ich Glück hatte – ich kam in Ranke an, kurz nachdem sie den alten Kaiser umgebracht hatten. Jetzt schwingt ein neuer Mann das Zepter – Theron nennen sie ihn –, und man erzählt sich, daß das Leben von niemandem aus dem alten Kaisergeschlecht mehr als das Versprechen einer Hure wert ist. Also dachte ich mir, Prinz Kittycat sitzt sicher in Freistatt –, vielleicht stehen die Dinge dort jetzt besser.«
Lalo fing zu lachen an, verschluckte sich an seinem Wein und hustete, bis Wedemir ihm auf den Rücken klopfte und er wieder Luft bekam.
»Ihr braucht mir nichts zu sagen.« Cappen Varra machte ein betrübtes Gesicht. »Aber gewiß läßt sich aus der Lage hier etwas machen. Diese Beysiberinnen – glaubt ihr, es gäbe eine Möglichkeit, daß ich …«
»Denk lieber nicht einmal daran, Cappen.« Lalo schüttelte den Kopf. »Zumindest nicht, wie du es gewöhnlich anstellst! Deine Musik mag sie zwar erfreuen, aber es könnte dich das Leben kosten, wenn es auch bloß den Anschein hätte, daß du mehr bieten möchtest!«
Der Spielmann blickte ihn nachdenklich an. »Das habe ich gehört, aber ist es wirklich …«
»Wirklich«, versicherte ihm Wedemir ernst. »Meine Schwester arbeitet für eine ihrer Edelfrauen, und sie sagt, daß alles stimmt.«
»Was soll’s?« Cappen Varra prostete Vater und Sohn zu. »An ihrem Gold ist jedenfalls nichts auszusetzen.« Er trank, dann lächelte er Lalo an. »Als ich Freistatt verließ, warst du der gefeierte Mann am Hof. Ich hatte nicht erwartet, dich hier zu sehen …«
Lalo verzog das Gesicht und fragte sich, ob er schlechter sah oder es nur die Lampen waren, die niederbrannten. »Es ist nun der Hof der Beysa, und sie hat keine Verwendung für mich.« Er bemerkte, daß Cappen Varras Miene zu einem höflichen, mitfühlenden Lächeln erstarrte, und schüttelte den Kopf. »Aber es spielt keine Rolle – ich bin jetzt zu anderem fähig – Dinge, zu denen selbst Enas Yorl gern imstande sein möchte.« Lalo griff nach seinem Krug.
Cappen Varra blickte Wedemir fragend an. »Wovon spricht er?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Mutter sagt, er hat zu trinken aufgehört. Aber heute nachmittag stritten sie, da hat er angefangen, merkwürdiges Zeug zu reden, und ist davongestürmt. Ich hielt es für angebracht, ihm zu folgen, um sicherzugehen …« Er zuckte verlegen die Schultern.
Lalo hob die Augen von den hypnotisch wirbelnden Spiegelungen in seinem Krug und bedachte seinen Sohn mit einem bitteren Blick. »Um sicherzugehen, daß der Alte sich nicht vollaufen läßt? Habe ich es mir doch gedacht! Aber ihr täuscht euch beide, wenn ihr glaubt, das sei bloß Suffgeschwätz! Nicht einmal deine Mutter weiß …« Lalo unterbrach sich. Er war hierhergekommen, entschlossen seine Macht zu beweisen, aber der Wein zehrte an seinem Willen. Spielte es wirklich eine Rolle?
Sein verschwommener Blick richtete sich auf eine Gestalt, die den Schatten an der Tür entstiegen zu sein schien: hager, finster, mit einem dunklen Umhang, der alles verbarg, was er sonst noch trug. Lalo erkannte das Gesicht, das er an der Tafel der Götter an Shalpa gesehen hatte. Dieser Hanse, auch er ist einer, mit dem die Götter gespielt haben, und seht euch bloß seine saure Miene an! Es hat weder ihm noch mir Gutes gebracht, zur Hölle mit den Göttern!
»Jetzt hör mal zu, Papa«, sagte Wedemir. »Ich habe genug von deinen geheimnisvollen Andeutungen und deiner Mich-versteht-niemand-Miene. Entweder du erklärst uns, wovon du redest, oder du hörst ganz damit auf!«
Gekränkt richtete Lalo sich auf, und es gelang ihm, seinen Blick lange genug auf seinen Sohn zu richten, um ihm fest in die Augen zu blicken. »Als ich so krank war …« Er wollte gar nicht mehr weitererzählen, doch die Worte kamen nun wie ein unaufhaltsamer Strom. »…war ich bei den Göttern. Ich kann jetzt allem, was ich zeichne, Leben einhauchen.«
Wedemir starrte ihn an, und Cappen Varra schüttelte den Kopf. »Der Wein«, stellte der Spielmann fest. »Ohne Zweifel der Wein. Es ist wirklich zu bedauerlich …«
Lalo blickte ihn wütend an. »Ihr glaubt mir nicht. Darüber sollte ich eigentlich froh sein. Wie würde es dir gefallen, wenn ich einen Sikkintair machte, Cappen Varra, oder einen Troll, wie sie sie im Krieg im Norden einsetzen?« Er schüttelte den Kopf und versuchte die wachsenden Schmerzen hinter den Augen loszuwerden.
Es war nicht fair – so dürfte er sich nicht vor morgen fühlen! Er hatte gehofft, Alkohol würde seinen Kummer vergehen lassen, aber während sein Blick verschwamm, sah er die Wahrheit hinter den Schleiern der Menschen deutlicher denn zuvor. Der Bursche in der Nische gegenüber hatte eigene Männer getötet und würde es wieder tun … Lalo schauderte und wandte den Blick ab.
»Papa, verdammt, hör auf!« rief Wedemir verärgert. »Du hörst dich verrückt an – was glaubst du, wie ich mich dabei fühle?«
»Warum sollte mich das interessieren?« brummte Lalo. »Wenn ihr alle nicht gewesen wärt, hätte ich diese verdammte Stadt schon lange verlassen. Ich spreche die Wahrheit, und es ist mir scheißegal, ob ihr mir glaubt oder nicht.«
»Dann beweis es!« sagte Wedemir so heftig, daß die Gäste an den benachbarten Tischen aufhorchten. Cappen Varra wirkte verlegen, doch der Junge faßte ihn am Arm. »Nein, geht nicht! Ihr seid einer seiner ältesten Freunde. Helft mir bitte, ihm zu zeigen, welchen Unsinn er redet, ehe er seinen restlichen Verstand auch noch verliert!«
»Na gut …«, sagte der Spielmann zögernd. »Lalo, hast du was zum Zeichnen dabei?«
Lalo schaute zu ihm auf und las in seinem Gesicht Schwäche, tollkühnen Mut, Käuflichkeit und trotzdem eine hartnäckige Integrität, die ihm nicht einmal Freistatt hatte nehmen können, eine zynische Einschätzung weiblicher Verhaltensweisen und eine weihevolle Hingabe an die vollkommene Schönheit, die er noch nicht gefunden hatte. Wie Lalo war Cappen Varra ein Künstler, er versuchte Lieder zu machen, die Platz in den Herzen der Menschen fanden. Was würde er davon halten? Die Versuchung, seinen alten Freund zu beeindrucken und seinen Sohn dazu zu bringen, daß er sich schämte, überwältigte ihn schier.
So griff Lalo in seinen Beutel, kramte unter den paar Münzen, die noch übrig waren, und holte einen Holzkohlestift heraus und ein abgegriffenes Stückchen Zeichenblei.
»Kein Papier«, stellte er nach einer Weile seufzend fest.
»Benutz doch die Wand«, riet ihm Cappen Varra, dessen Augen herausfordernd glänzten. Er deutete auf die schmutzige Tünche, die von eingeritzten Initialen und gekritzelten Obszönitäten verunstaltet war. »Ein hübsches Bild kann nicht schaden – ich bin sicher, Eindaumen hat nichts dagegen.«
Lalo nickte und blinzelte mehrmals. Er wünschte sich, dieser Schleier würde von seinen Augen verschwinden. Wein hatte noch nie zuvor eine solche Wirkung auf ihn gehabt – ihm war, als starre er durch das schmutzige Wasser im Hafen auf den Grund, der mit allem bedeckt war, was die Kanalisation aus der Stadt abgeladen hatte.
Um hochzukommen mußte er sich mit den Knien gegen die Wand stützen. Cappen Varra begann Interesse zu zeigen, aber Wedemirs Miene verriet, daß er sich seines Vaters schämte. Dir werde ich es zeigen! dachte Lalo und blickte auf die Wand. Was sollte er zeichnen? Der flackernde Lampenschein fiel auf die Unebenheiten und malten eine lange Kurve da und einen riesigen Schatten dort, fast wie …
Ja, das war es, was er ihnen geben würde: ein Einhorn! Immerhin hatte er ja auch das Aushängeschild draußen gemalt. Er spürte, wie die vertraute Konzentration sein Gesichtsfeld verengte, als er die Hand hob. Fast konnte er sich einbilden, er sei zu Hause in seinem Atelier und male ein Wandgemälde nach einem Modell, wie er es schon so oft getan hatte.
Lalo ließ den anderen Teil seines Gehirnes übernehmen und seine Hand lenken – diesen verborgenen Teil, der die Welt in Zusammenhängen von Licht und Dunkel sah, von Masse, Beschaffenheit und Schnitt, und der behielt, was er sah. Und während seine Hand sich bewegte, griff sein Bewußtsein nach außen, um die Seele des Modells in das Bild zu ziehen, auch das, wie schon so oft zuvor. Das Einhorn – ein Phantasie-Einhorn? Nein, das Wilde Einhorn, selbstverständlich – die Seele des Wilden Einhorns …
Lalos Hand zuckte und hielt inne. Er schauderte, als unwillkommenes Wissen auf ihn eindrang. Hier in dieser Nische hatte ein Mann vor noch gar nicht so langer Zeit sein Leben verloren – sein Blut floß unter dem geschickten Streich einer Klinge. Er hatte gekämpft, und Blut war an die Wand gespritzt – dieser Flecken, den Lalo bisher für Ruß gehalten hatte. Ohne seinen Willen fuhr die Kreide um ihn herum und fügte ihn als dunkleren Schatten in das Ganze ein.
Und nun brachen weitere Eindrücke auf Lalo ein: die stechende Furcht von Menschen, die die Razzia der Beysiber überrascht hatte, ein verschlungenes Wirbeln, das den Namen der Hexe Roxane wiedergab. Aber es mußte doch selbst hier Humor gegeben haben! Gewiß hatte die Schenke auch fröhliche Stunden gesehen, genug um dem Kopf des Einhorns eine gewisse schräge Haltung zu geben und seinem Auge ein bißchen verschmitzten Spottes. Aber es gab nicht viele solche Augenblicke, die ihm Modell stehen konnten, und aus letzter Zeit überhaupt keine.
Rascher, immer rascher bewegte sich des Künstlers Hand. Sie bedeckte die Wand mit ineinander überlaufenden Figuren, und die Umrisse, die sie hielten, verzerrten sich. Da war das Gesicht einer Frau, die in einer der oberen Kammern zu Tode geschändet worden war; dort die verzweifelt verkrampften Hände eines Mannes, von den Kupferstücken beraubt, die seine Familie gerettet hätten. Fieberhaft zeichnete die Holzkohle die Züge von Haß, Hunger, Verzweiflung …
Lalo war sich nur vage der Anwesenheit von anderen um ihn herum bewußt. Nicht nur Cappen Varra und Wedemir blickten ihm erschrocken über die Schulter, auch die Gäste von den Nebentischen und sonstwo in der Gaststube, ja sogar Nachtschatten.
»Das ist Lalo, der Maler, nicht wahr? Der Künstler, der alle Wandgemälde im Palast gemalt hat«, sagte jemand.
»Vielleicht hat Eindaumen ihm den Auftrag erteilt, seine Wände zu verschönern?«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, entgegnete die erste Stimme. »Was malt er da überhaupt? Scheint irgendein Tier zu werden.«
Lalo hörte es kaum. Er wußte nicht, wer inzwischen die Schenke betreten oder verlassen hatte. Irgendwann hatte jemand ihn am Ärmel gezupft, ein flüchtiger Blick aus den Augenwinkeln hatte ihm Wedemirs bleiches Gesicht gezeigt. »Papa, schon gut – du brauchst nicht weiterzumalen!«
Lalo stieß einen kehligen Laut hervor und entriß ihm den Arm. Verstand der Junge nicht? Er konnte jetzt nicht aufhören! Hand und Arm bewegten sich von selbst zum nächsten Strich, zum nächsten Schatten, zum nächsten Grauen, während alle Geheimnisse des Wilden Einhorns durch seine Finger auf die Wand flossen.
Und dann war das Bild fertig. Der Stummel Holzkohle entglitt tauben Fingern und ging im Schmutz auf dem Boden verloren. Lalo zwang seine Muskeln zum Gehorsam, stieg von der Bank hinunter und machte ein paar Schritte rückwärts, um zu sehen, was er getan hatte. Schaudernd erinnerte er sich an den Augenblick, als er ebenfalls einige Schritte rückwärts gemacht hatte, um die Seele des Meuchlers Zanderei zu betrachten. Er schloß kurz die Augen, ehe er sich zwang die Wand anzuschauen.
Es war schlimmer als erwartet. Wie konnte er soviel Zeit im Einhorn zugebracht haben, ohne je darauf aufmerksam zu werden? Vielleicht hatte der normale Schirm menschlicher Sinne ihn geschützt. Doch wie ein nach Ruhm strebender Krieger hatte er seinen Schild von sich geworfen, und nun war alles Ruchlose, das sich je in dieser Kaschemme getan hatte, an der Wand offenbart.
»Ist es das, was du kannst? Was du versucht hast, uns zu erklären?« flüsterte Wedemir.
»Kannst du nicht wenigstens einen Teil davon wegwischen?« fragte Cappen Varra mit bebender Stimme. »Selbst hier … du willst doch das nicht wirklich so lassen …«
Lalo blickte von ihm zu den betroffenen Gesichtern der anderen, die auf das starrten, was der tanzende Lampenschein enthüllte. Und plötzlich war er wütend. Sie hatten zugesehen, hatten gebilligt, ja sich vielleicht sogar an den Greueltaten beteiligt, aus denen das Bild zusammengesetzt war. Warum waren sie so entsetzt, ihre Missetaten nun vor sich zu sehen?
Aber der Spielmann hatte recht. Lalo hatte schon öfter Arbeiten vernichtet, wenn sie ihm nicht gefielen. Obwohl dieses Bild nicht wahrheitsgetreuer sein könnte, war es doch besser, es auszulöschen.
Er trat näher, zerknüllte ein Stück seines Capes und hob es zu dem verzerrten Kopf mit den zurückgelegten Ohren und dem gefährlich spitzen, gewundenen Horn.
Da funkelte das Auge des Einhorns bösartig.
Lalo hielt erschrocken im Schritt inne, die Hand noch erhoben. Wie war das möglich? Eine Unebenheit an der Wand oder ein Trick des Lichtes? Er starrte es an und erkannte, daß das Einhornauge rot war. Da pochte seine Hand. Er hob den Daumen – Blut quoll aus der kleinen Schnittwunde.
»Süße Shipri, behüte uns!« murmelte Lalo, als ihm bewußt wurde, wessen Blut diese Obszönität an der Wand färbte. Seine Hand schoß vorwärts und hielt erneut an, ehe sie die Zeichnung berührte, denn wenn dies sein Blut war, was würde mit ihm geschehen, zerstörte er das Bild? Wie kam er überhaupt dazu, mit dieser Art von Macht zu spielen? Er brauchte die Hilfe eines Erfahrenen!
Immer noch verhöhnte ihn das Auge des Einhorns, genau so, wie Gilla ihn verhöhnt hatte, als er sie verließ; oder wie ein noch vertrauterer Hohn, den er einmal im Spiegel in einem Gesicht gesehen hatte: einem Gesicht, dessen Mischung aus Gut und Böse ihn in seinem Schrecken bis ins Reich der Götter gejagt hatte. Aber er hatte sich ans Gute gehalten und das Böse gewiß bezwungen! Verzweifelt forschte Lalo in seinem Gedächtnis nach Bildern von der Schönheit der Götter.
Doch da waren nur Finsternis und das bösartige Auge, das ihn noch mehr in Bann schlug als die Augen der Zauberin Ischade es vermochten, da es sein eigenes war.
Immer näher kam Lalo der Wand, und sein rechter Arm hing kraftlos an seiner Seite. »Ich bin auch deine Seele«, flüsterte das Einhorn. »Hauch mir Leben ein, und meine Macht wird deine sein. Hast du das nicht gewußt?«
Lalo stöhnte. Atem entquoll zischend seiner Lunge, und der Holzkohlestaub an der Wand erzitterte. Das rote Auge des Einhorns glühte auf.
Lalo sah es und würgte, er versuchte seinen Atem zurückzuziehen. Wedemir griff nach seinem Arm, doch Lalo riß sich los und wischte wild über die Wand, aber er wich zurück, als ein Schwall unerträglicher Hitze nach ihm schlug. Er sank in den starken Armen seines Sohnes zusammen.
»Nein!« krächzte Lalo. »Das habe ich nicht gewollt! Kehr dorthin zurück, woher du gekommen bist – so ist es nicht, wie es sein soll!« Männer murmelten um ihn, jemand fluchte, als der Boden erbebte.
»Zauberei!« rief ein anderer. Die Umstehenden wichen zurück. Nachtschatten spuckte auf den Boden und verschwand lautlos durch die Tür.
Hustend griff Lalo nach seinem Krug und schmetterte ihn an die Wand. Im Lampenschein floß der Wein rot wie Blut über eine zu Fleisch werdende Flanke und spritzte auf den Boden.
Wedemir machte das Zeichen gegen das Böse; Cappen Varras Faust verkrampfte sich um das verschnörkelte Silber seines Amuletts. »Es ist nur ein Bild; ein Bild kann einem nichts tun …«, murmelte der Spielmann. Aber Lalo wußte, daß das nicht stimmte. Mit jedem vergehenden Moment wurde das Ungeheuer an der Wand stofflicher. Der Boden zitterte stärker. Lalo wich einen Schritt zurück, dann noch einen.
Eindaumen stapfte die Treppe herunter und brüllte Fragen, doch niemand achtete auf ihn. Er rief nach Roxane, deren Kräfte, falls sie Lust hatte, sie einzusetzen, das Schauspiel hätten beenden können. Doch in dieser Nacht war die Nisibisihexe mit etwas anderem beschäftigt und hörte ihn nicht.
Ein Ächzen erklang, sowohl von Lalos Lippen, wie von der Wand, und das schwarze Einhorn löste sich von der Wand und sprang auf den Schenkenboden.
Plötzlich erinnerte sich Lalo an das erfreute Staunen, mit dem er beobachtet hatte, wie seine erste Schöpfung durch die blaue Luft gesegelt war. So groß wie damals seine Freude, war jetzt sein Entsetzen.
Lebend war dieses Ungeheuer noch erschreckender als an der Wand – eine Entweihung der Vorstellung, die man von einem Einhorn hatte. Es hielt an, stampfte mit Hufen wie polierte Schädel, und die Stützbalken, die das obere Stockwerk trugen, zitterten wie Espen im Wind. Es bäumte sich auf und torkelte vorwärts wie ein Minotaur, dann setzte es die Vorderhufe wieder auf und stieß sein Horn fast gleichmütig in die Brust des nächstbesten Gastes.
Der Mann schrie nur kurz. Das Einhorn schüttelte den Kopf, die Leiche kam frei und flog wie ein Mehlsack in hohem Bogen durch die Luft. Blut rann das gewundene Horn hinunter, und das Einhorn wuchs.
Es drehte den Kopf, und sein rotes Auge richtete sich auf die dünne Schankmaid. Sie versuchte wegzulaufen, doch das Ungeheuer war zu flink. Ihre Leiche hing noch in der Luft, als Wedemir seinen Vater am Arm faßte.
»Papa, schnell – wir müssen hier raus!«
Cappen Varra rannte bereits zur Tür. Das Einhorn wirbelte herum und trieb verächtlich zwei Männer durch die Stube. Frisches Blut vergrößerte die alten Flecken auf dem Boden.
»Nein!« Lalo schüttelte heftig den Kopf. »Es ist meine Schuld – ich muß …« Plötzlich bekam er Wedemirs Kraft zu spüren, als der ihn unter den Arm klemmte und ihn mehr davontrug als wegzerrte.
Drei Männer stürmten hinter ihnen in die Nacht. Dann gab es nichts mehr als die Schreie in der Schenke, während Wedemir Lalo hinter Cappen Varra herzog. Das Grauen verlieh ihnen einen eigenen Schutz, bis sie die ärmliche Kammer des Spielmanns erreichten.
Die dunklen Stunden zwischen Mitternacht und Morgengrauen zogen sich dahin. Das schwarze Einhorn, das in der Spelunke gewütet hatte, stampfte hinaus auf die Straße und streifte durch das Labyrinth. Es leerte die Straßen weit wirkungsvoller, als ein Reichsbefehl oder die Ausgangssperre der Beysiber es je vermocht hatte.
Lalo schlief unruhig auf dem staubigen Boden von Cappen Varras Kammer. Er plagte sich durch Alpträume von Feuer und Dunkelheit, die in der Ferne vom Schimmern kristallener Schwingen gebrochen wurde.
In seinem prächtigen Landhaus im Ostende nahm Lastel wütend und sich vor Schmerzen windend – das Einhorn hatte ihm die Bauchdecke aufgeschlitzt – eine kräftige Prise Krrf und wartete auf Roxane. Ein Tod oder auch ein Dutzend im Wilden Einhorn beunruhigten ihn nicht weiter, aber seine Verbindung mit der Nisibisihexe sollte ihn eigentlich vor jeglicher anderer Zauberei schützen. Und nun lief das Ungeheuer von der Wand seiner Schenke Amok in der Stadt, und jeder Zauberer in Freistatt würde ihn dafür verantwortlich machen. Hatte das tatsächlich der kleine Maler getan? Wer benutzte ihn? Lastel schlug nach dem Sklaven, der ihm die Wunde verbinden wollte, und nahm eine weitere Prise Krrf. Roxane würde helfen können …
Die Zauberin Ischade hob sich von den Seidenkissen und dem verzückten Gesicht des Mannes unter ihr. Mitternachtaugen spähten durch heller werdende Schatten. Sie spürte Macht in der leicht feuchten Luft wirbeln. Die Schutzwehr, die sie zwischen sich und der Nisibisihexe errichtet hatte, zitterte wie straff gespannter Draht im Wind. War Roxane dabei, etwas gegen sie zu unternehmen? Die Erschütterung kam aus der Richtung des Wilden Einhorns, doch aus ihrem wirren Verlauf war kein Sinn zu entnehmen. Ein Wort an den schwarzen Vogel, der in einer Ecke kauerte, ließ ihn die nachtdunklen Schwingen ausbreiten und zu flattern beginnen. »Flieg!« befahl sie. »Sieh dich um und gib mir Bescheid …«
Enas Yorl sah, wie sich das zerbrechliche Gefüge des Zaubers, an dem er arbeitete, zu kräuseln begann, als eine Verzerrung der Dimensionen ihn erreichte. Mit einem raschen Wort hob er den Zauber auf. Was war geschehen? Die Macht, die er spürte, war fremdartig und doch auf erschreckende Weise vertraut. Sofort rief er seine Vertrauten und schickte sie durch die verschlungenen Straßen. Dann kleidete er sich an, doch noch während seine Hand sich um den schweren Samt legte, sah er, wie sie sich veränderte. Verzweifelt und qualgeschüttelt ergab sich der Zauberer der Verwandlung, die ihm jegliche Menschenähnlichkeit raubte. Als Wedemir an seine Bronzetür pochte, konnte nur sein blinder Diener Darous sie öffnen und ihn mit der Beteuerung abspeisen, sein Herr sei nicht zu Hause …
Lythande, die sich in zeitloser Versunkenheit am Ort-der-nicht-ist aufhielt, spürte die unbeschreibliche Erschütterung. Sie schickte ihr ausgebildetes Bewußtsein zurück in die einfache Kammer im Aphrodisiahaus, wo sie ihren stofflichen Körper zurückgelassen hatte. Sie nahm die neue Macht in Freistatt wahr, erkannte jedoch, daß sie – den Göttern sei Dank – keine Gefahr für sie darstellte. Sie hatte sich schon zu lange hier ausgeruht, doch während sie über ihre nächste Reise nachdachte, mußte sie ihre Neugier unterdrücken, denn ein bißchen interessierte es sie schon, wer dieses Ungeheuer erschaffen hatte und warum.
Das schwarze Einhorn, das an der Grenze des Labyrinths zwei Söldner und einen Bettler getötet hatte, begann bei Sonnenaufgang seinen Grauenszug durch die belebte Hauptstraße, die sich so rasch leerte, wie sie sich gefüllt hatte. Da wendete das Einhorn, als schwarzer Schandfleck in der strahlenden Helligkeit des neuen Tages, und setzte seinen Amoklauf fort, die Glibbergasse hoch, in Richtung Basar.
»Du bist also zurückgekommen!«
Lalo mußte sich an den Türrahmen lehnen, während sein Cape den kraftlosen Fingern entglitt und auf den Boden fiel. »Das Einhorn …«, flüsterte er. »Sie sagten, es sei auf dem Weg hierher …« Blinzelnd schaute er sich um und stellte fest, daß die Küche noch genauso war, wie er sie vor einem endlosen Tag verlassen hatte. Er sah die Farbe von den weißgetünchten Wänden abbröckeln; sah, daß der schiefe Boden sauber geschrubbt war; er sah die Gesichter seiner Kinder, die ihm entgegenblickten, sogar Vandas Freundin Valira war hier. Und er sah Gilla unter ihnen stehen, wie die Statue von Shipri Allmutter in Ils’ Tempel. Erschauernd zwang er sich, sich ihrem Blick zu stellen. Seine Entschuldigung, die er auf seinem stolpernden Rückweg immer wieder vor sich hingemurmelt hatte, zitterte auf seinen Lippen, aber er fand die Worte nicht mehr.
»Nun«, sagte Gilla schließlich. »Es sieht nicht so aus, als hättest du dein Besäufnis genossen!«
Krächzendes Lachen entrang sich Lalos Brust. »Besäufnis! Wenn es das nur gewesen wäre!« Ein plötzliches Grauen schüttelte ihn, während sein Blick durch die friedliche Stube flog. Das Einhorn war sein Werk – was wäre, wenn es ihm gelang, ihn hier aufzuspüren? Er würgte, legte die Hand um den Türknauf und sammelte seine Kraft, um wieder zu gehen.
»Papa!« rief Wedemir. Im gleichen Augenblick änderte sich endlich Gillas Miene.
»Draußen treibt ein Ungeheuer sein Unwesen! Du darfst da nicht hinaus!«
Lalo starrte sie an. Hysterisches Gelächter quoll in ihm hoch, und es ging über seine Kraft, es zu unterdrücken. »Ich – weiß …« Er schnappte nach Luft. »Ich habe es – erschaffen …«
»O du Unglückseliger!« rief sie. Mit einem schnellen Schritt stand sie neben ihm, und er blickte ängstlich auf. Doch schon legten ihre fleischigen Arme sich um ihn. Flüchtig bemerkte Lalo Wedemirs erstauntes Gesicht hinter ihr, ehe sein Kopf Zuflucht an ihrem Busen fand.
Und dann war für einen Augenblick die Welt wieder in Ordnung. Er war sicher in diesem friedlichen Hafen, wo er und Gilla eins waren. Er stieß einen gewaltigen Seufzer aus. Anspannung, Furcht, ungelenkte Macht flossen aus ihm durch sie und in die Erde unter ihnen. Da gellte in der Ferne ein grauenvoller Schmerzensschrei. Lalo erstarrte und erinnerte sich an das Einhorn.
»Ich schaue mal nach«, erbot sich Wedemir. »Ich kann ziemlich schnell laufen, vielleicht kann ich es irgendwo anders hinlocken, wenn es in diese Richtung kommt.«
»Nein!« riefen Lalo und Gilla gleichzeitig. Lalo blickte seinen Sohn an, dessen Gesicht in der Morgensonne wie das einen jungen Gottes leuchtete. Aller Zorn der vergangenen Nacht wurde zur Qual. In der stolzen Kraft des Jungen steckte eine erschreckende Verwundbarkeit.
Er wandte sich an Gilla. »Als du mein Porträt betrachtet hast, hast du da einen Wahnsinnigen gesehen? Ich habe der Hälfte des Bösen in Freistatt Gestalt gegeben und es freigesetzt! Ich suchte Enas Yorls Hilfe, aber er war nicht da – Gilla, ich weiß nicht, was ich tun soll!«
»Enas Yorl ist nicht der einzige Zauberer in Freistatt, außerdem habe ich ihn nie gemocht«, sagte Gilla fest. Aber Lalo spürte ihre Furcht, und das erschreckte ihn mehr als alles andere.
Eine leise Stimme brach die Stille. »Was ist mit Lythande?«
Die wohlbekannte Besitzerin des Aphrodisiahauses empfand nicht mehr öffentliche Verantwortung als sonst jemand in Freistatt, doch dieses Ungeheuer, das sein Unwesen in den Straßen trieb, schaffte möglicherweise, was weder Ausgangssperre noch den Todestrupps gelungen war – es mochte sich sogar nachteilig fürs Geschäft auswirken. Und sie wußte, daß Valira ein ehrliches Mädchen war – sie hatte ihr sogar angeboten, sie im Haus aufzunehmen, doch das Mädchen hatte sich entschieden, ihr Kind außerhalb aufzuziehen. Jedenfalls hatte Myrtis sich sofort bereit erklärt, Valiras Freunden ihr Ohr zu leihen, nachdem das kleine Freudenmädchen ihre verwirrende Geschichte erzählt hatte. Und als sie sie gehört hatte, beschloß sie, sich bei Lythande für sie einzusetzen.
Aber Lalo hörte die Gereiztheit aus der kühlen Stimme hinter den roten Vorhängen, und kaum trat der Adept heraus, spürte er Widerstand selbst im Faltenwurf des dunklen Umhangs, der Lythandes hochgewachsene Gestalt verbarg. Der Lampenschein ließ Silberfäden in dem langen Haar glitzern und fiel auf schmale, fast hagere Wangen und eine hohe Stirn, auf der der blaue Stern des Ordens glühte. Lalo senkte den Blick, um dem des Zauberers nicht standhalten zu müssen.
Der Adept verachtete ihn zweifellos so sehr, wie er einen Bettler, der seine Farben gestohlen hatte und versuchte den Prinzen zu malen. Aber ein Bettler hätte sich höchstens lächerlich gemacht. Lalos unüberlegte Anwendung der Macht dagegen mochte sich als ihr aller Ende erweisen.
Unsicheres Schweigen herrschte, während der Adept es sich in dem geschnitzten Sessel bequem machte. Als er sich eine Pfeife anzündete und aromatischer Rauch aufstieg, zuckten Lalos Nasenflügel. Er rutschte nervös auf der Couch, und Gilla, die scheinbar völlig ruhig war, tätschelte seine Hand.
»Nun?« Der klangvolle Tenor des Adepten brach die Stille. »Myrtis sagte mir, ihr brauchtet meine Hilfe …«
Gilla räusperte sich. »Der Dämon in Einhorngestalt ist das Werk meines Mannes. Wir benötigen Eure Hilfe, ihn wieder loszuwerden.
»Wollt Ihr behaupten, dieser Mann sei ein Magier?« Lalo wand sich unter der Verachtung, die in dieser Stimme lag. »Myrtis!« rief Lythande, »warum hast du mich gebeten, meine Zeit mit einem hysterischen Weibsbild und einem Narren zu vergeuden?«
Verärgert entgegnete Gilla: »Kein Magier, Meister, sondern ein Mann mit einer Gabe, die ihm Enas Yorl verlieh, und einer anderen von den Göttern persönlich!«
Lalo zwang sich, den Blick zu heben. Er sah, daß der blaue Stern auf Lythandes Stirn zu glühen begann, als Gilla den Namen des anderen Zauberers nannte. Dieses Glühen beleuchtete das Gesicht auf unheimliche Weise und betonte die unergründlichen Augen.
Das Bild verschwamm, und einen Herzschlag lang sah Lalo unter diesen strengen Zügen ein sanfteres, doch nicht weniger entschlossenes Gesicht. Er blinzelte, schüttelte den Kopf, blickte Lythande erneut an und sah das Gesicht des Adepten das andere verschleiern, bis beide miteinander verschmolzen und sich nur noch eines vor ihm befand: das einer Frau, deren Geheimnis er erkannte wie einst das von Enas Yorl –
– eine unerbittliche und zeitlose Schönheit wie die einer Klinge, getempert und geschliffen in mehr Jahren und Ländern, als Lalo sich vorzustellen vermochte. Und der nie endende Schmerz versagter Erfüllung und immerwährender Liebe, die unausgesprochen blieb. Die Gerüchte im Basar hatten nur vage Hinweise auf die Macht Lythandes gegeben, und den Preis, den der Adept dafür bezahlt hatte, nicht einmal angedeutet – den sie bezahlt hatte, denn Lalo kannte Lythandes Geheimnis nun.
»Aber Ihr …« Seine Verwunderung entlockte ihm diese Worte, und da blitzte der Stern auf Lythandes Stirn plötzlich. Lalos empfängliche Nerven spürten das Pochen der Macht, und abrupt erkannte er die Gefahr. Er preßte die Lider zusammen. Etwas Macht hatte er vielleicht, doch eine vage Erinnerung sagte ihm, daß nur ein echter Zauberer die Entblößung des Geheimnisses eines Blau-Stern-Adepten überleben konnte.
»Ich verstehe.« Die Stimme des Adepten klang weich und doch furchterregend.
»Meister, bitte!« flehte Lalo verzweifelt. Er versuchte, ihr ohne Worte mitzuteilen, daß auch er verstand. »Ich kenne die Gefahr von Geheimnissen – ich habe Euch meines anvertraut und bin in Eurer Macht. Wenn es irgend jemanden in dieser Stadt gibt, der Euch etwas bedeutet, dann zeigt mir bitte, wie ich das Böse, das ich geschaffen habe, ungeschehen machen kann!«
Ein langer Seufzer antwortete ihm. Das Gefühl der Gefahr ließ nach. Nun rutschte Gilla unbehaglich auf der Couch, und Lalo wurde bewußt, daß auch sie den Atem angehalten hatte.
»Nun gut …« Aus Lythandes gemessener Stimme schwang bitterer Humor. »Unter einer Bedingung: Ihr müßt mir versprechen, daß Ihr nie mich malt!«
Schwindelig vor Erleichterung öffnete Lalo die Augen und achtete darauf, nicht in ihre zu blicken.
»Doch ich warne Euch, Rat ist alles, was ich Euch geben kann«, fuhr Lythande fort. »Wenn das Ungeheuer Euer Werk ist, müßt Ihr selbst es in den Griff kriegen.«
»Aber es wird ihn töten!« rief Gilla.
»Vielleicht«, entgegnete der Adept. »Aber wer mit Macht spielt, muß auch bereit sein, dafür zu bezahlen.«
»Was …« Lalo schluckte. »Was muß ich tun?«
»Zunächst müßt Ihr seine Aufmerksamkeit auf Euch lenken …«
Lalo saß auf der Kante einer der wackligen Bänke im Wilden Einhorn und spielte nervös mit der zusammengerollten Leinwand in seinen Händen. Wedemir – wo bist du jetzt? Sein Herz sandte einen qualvollen Ruf aus, als er sich vorstellte, wie sein Sohn auf der Suche nach dem Einhorn durch dunkle Straßen irrte. Lythandes Plan hatte ergeben, daß sie alle den Preis bezahlen mußten: Wedemir, der der Gefahr entgegenschritt, und sie, die hier warteten, daß er das Einhorn herlockte.
Lalo holte zitternd Atem, dann noch einmal und bemühte sich um Ruhe. Lythande hatte ihm gesagt, daß er sich vorbereiten müsse, aber Lalos überreizte Nerven machten ihm den blauen Puls von des Adepten Anwesenheit nur allzu bewußt, ebenso, wie er sich Cappen Varras bewußt war, der, mit der Hand um sein Amulett verkrampft, in der Nähe saß, und Gillas – ihrer vielleicht am stärksten, denn von ihr gingen Kraft und Angst und Liebe gleichermaßen aus.
Vielleicht mißfiel es ihr einfach, sich im Wilden Einhorn aufhalten zu müssen. Doch daß sie hier war, bewies ihr Vertrauen zu Lythande, die gesagt hatte, das Einhorn müsse diese Dimension durch das selbe Tor verlassen, durch das es gekommen war.
Aber war dies wirklich das Wilde Einhorn oder nur der Alptraum eines Betrunkenen? Es war so furchtbar still! Nach einer kurzen, doch heftigen Auseinandersetzung zwischen Eindaumen und Lythande hatte der Adept den paar Gästen die Tür gewiesen, die sich noch an den Geburtsort des schwarzen Einhorns wagten, und die Tische aus der Nische und der Mitte der Wirtsstube zur Seite geräumt. Lalo starrte auf die unebene weiße Stelle an der Wand, wo sich sein Bild befunden hatte. Zitternd wandte er den Blick ab, der daraufhin ungewollt auf die neuen dunklen Flecken auf dem Boden fiel. Hastig schloß er die Augen.
Atme! mahnte er sich. Um Wedemirs willen – du mußt die Kraft finden!
»Ich hätte es nie zulassen dürfen!« Gillas Flüstern drückte Lalos Ängste aus. »Mein armer Sohn! Wie konntest du dulden, daß er sich opfert? Du hättest meinen Kleinsten verbrennen lassen und schickst deinen Ältesten aus, damit er von einem Dämon aus der Hölle aufgespießt wird – ein feiner Vater bist du mir!«
Lalo spürte, wie sie Kraft für eine neue Anschuldigung sammelte. Fast war er froh über diese Ablenkung, doch Lythandes Stimme schnitt durch die Atempause.
»Seid still, Weib! Es steht mehr als ein Leben auf dem Spiel, und die Zeit der Worte ist vorüber. Gebt ein wenig Eures Zorns an Euren Mann weiter – er wird ihn bald brauchen!«
Der lauten Zurechtweisung des Adepten folgten einige gemurmelte Worte. Gilla hörte ›Arbeit mit Amateuren‹ heraus, und ihre Ohren brannten.
Lalo seufzte. Er versuchte ein Gebet zu Ils mit den Tausend Augen zu sprechen, doch das Bild von Wedemir verdrängte alles andere.
Die Tür schwang auf.
Lalo zuckte zusammen und spähte auf den Schatten, der sich aus dem dunkleren Rechteck der jetzt offenstehenden Tür löste. Wedemir? Aber es war zu früh und zu still! Die Gestalt trat in die Stube, und Lalo erkannte den dunklen Umhang und das schmale, mürrische Gesicht Nachtschattens.
»Ich habe eine Nachricht erhalten …« Hanse starrte die Anwesenden ungläubig an. »Euch soll ich helfen?«
Seine Miene drückte Verachtung aus. Lalo ahnte, von wem diese Nachricht gekommen war, und sah einen Hoffnungsschimmer. Er stand auf.
»Ja, Ihr könnt uns helfen«, sagte Lythande ruhig. »Ihr habt miterlebt, wie sich hier gestern etwas selbständig machte. Helft uns, es heimzuschicken.«
»Nein!« Hanse schüttelte den Kopf. »O nein! Das Ungeheuer einmal zu sehen war schon einmal zuviel!«
»Shalpas Sohn …«, sagte Lalo heiser und sah, wie Nachtschatten zusammenzuckte.
»Nicht einmal für …«, begann Hanse, wirbelte plötzlich herum und griff nach seinen Messern. Laufschritte näherten sich und ein tiefes Brüllen.
»Rasch, wenn Euch euer Leben lieb ist …« Der Adept deutete. »Stellt Euch in den Kreis und rührt Euch nicht!«
Einen Augenblick starrte Hanse Lythande nur an, dann gehorchte er.
Aber Lalo hatte ihn bereits vergessen. Die Bank kippte hinter ihm um, als er an Cappen Varra vorbeischoß, um seinen Platz an der Wand einzunehmen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Gilla trotz ihres Gewichts flink zu der Stelle lief, die der Adept ihr zugewiesen hatte. Und als hätte sie sich allein durch Gedankenkraft von einem Ort zum andern bewegt, stand Lythande nun plötzlich, mit ihrem Stab in der Hand, zwischen Tür und Wand.
Da stürmte Wedemir herein. Er stockte flüchtig, als er sah, daß der Platz, den er hätte einnehmen sollen, bereits von Nachtschatten besetzt war, dann stolperte er in die Mitte des Kreises; Blut spritzte aus seinem Arm auf den Boden. Lalos Magen drehte sich um. Er langte nach dem Jungen und zog ihn zur Seite.
»Das Blut …«, krächzte er. »Hat das Einhorn dich erwischt?«
Wedemir schüttelte den Kopf und tupfte auf das Messer an seiner Seite. Lythande warf ihm einen raschen Blick zu.
»Ich riet ihm, sich eine geringfügige Wunde zuzufügen«, erklärte der Adept. »Das Blut eines Unschuldigen – und Eures Lalo –, der Geruch muß das Ungeheuer unwiderstehlich anziehen!«
Und schon füllte eine Schwärze, dunkler als die Schatten, die Tür, und zwei Augen glühten. Das Einhorn war gewachsen. Lalo schluckte, als es sich durch die Tür zwängte. Die schwarze Schnauze beugte sich über den Boden und nahm schnüffelnd die Blutspur auf. Wedemir schwankte, und Lalo sah, daß immer noch Blut auf den fleckigen Boden tropfte. Lalos inneres Auge sah die Lebenskraft von jedem einzelnen Tropfen ausstrahlen. Das war es wohl, wonach das Einhorn gierte!
Ils mit den Tausend Augen, blick herab und hilf mir! flehte er stumm. Gillas Gebet an Shipri vibrierte in der dicken Luft, und Lalo nahm zudem verschwommen Shalpas Macht wahr, Lythandes blaues Glühen, und Cappen Varra, der murmelnd seine nördlichen Götter anflehte.
Das Einhorn wich zurück. Lalo vermochte nicht zu erkennen, ob es auf zwei oder vier Beinen stand. Sahen diese roten Augen kraftlose menschliche Opfer, oder spürte es die in sie geleitete Macht der Götter? Das Ungeheuer durfte nicht verscheucht werden, obgleich Lalo vor Hoffnung erzitterte, daß es die Flucht ergreifen würde. Lythandes strenger Blick übermittelte ihm das Zeichen. Seine Zeit war gekommen – der Adept hatte seinen Teil getan, jetzt war er an der Reihe! Großer Ils! Er konnte es nicht! Doch irgendwie trugen seine Füße ihn von selbst zwischen Wedemir und das Ungeheuer.
»Einhorn!« Lalos Stimme klang wie das Krächzen einer Krähe. Er versuchte es noch einmal. »Einhorn, komm zu mir! Blut meines Blutes, hier ist, was du begehrst!«
Das Ungeheuer erzitterte unter Donnergrollen und tiefem Gelächter. Es machte einen Schritt auf Lalo zu, dann einen zweiten, voll Verachtung für die anderen ringsum. Sein Blick war wie eine schreckliche, intime Berührung von Lalos Seele, und plötzlich erinnerte sich Lalo, daß es das Böse in ihm war, das sich bei seiner Erschaffung des Einhorns mit allem anderen in Freistatt zusammengetan hatte. Lalos Teil in der Kreatur sehnte sich nach einer Wiedervereinigung, und ein Widerhall vibrierte in den geheimen Tiefen der Seele des Malers. Wie leicht es doch wäre – einfach nachzugeben. Lythande kauerte reglos in der Haltung eines lauernden Raubtiers. Als Lalo schwankte, stapfte das Einhorn an ihr vorbei. Sofort streckte sie ihren Stab aus und blaues Licht schoß über den Kreis zu Gilla, von dort zu Cappen Varra, dann zu Wedemir, der nun Lalos alten Platz bei der Wand einnahm, danach zu Nachtschatten und zurück zu Lythande, ehe das Ungeheuer sich weiterbewegen konnte.
Es brüllte und drehte sich, doch die glühenden Linien des Pentagramms hielten es gefangen. Voll Schrecken erkannte Lalo, daß das auch für ihn galt. Dann verhielt das Einhorn sich still, es beschäftigten sich mit der Barriere. Seine Schwärze pulsierte, und Lalo sah Gesichter in stummer Qual verzerrt. Als er seine eigenen Züge darunter erkannte, rollte er hastig die Leinwand auf, die er unter den Arm geklemmt hatte.
Das Einhorn hörte das Rascheln und drehte sich langsam um. Die Arbeit einer halben Nacht kam zum Vorschein, und Lalo fragte sich verzweifelt, ob sie wirklich nutzen würde. Er holte tief Luft, schloß die Augen und stellte sich Ils’ Antlitz vor. Seine Bewußtheit stockte, festigte sich, und einen zeitlosen Moment war er dort, und diesmal wandte er den Blick nicht ab. Das Strahlen des göttlichen Antlitzes blendete und sengte ihn und verbrannte jenen Teil seines Ichs, der auf das Einhorn angesprochen hatte. Noch stärker wurde das Leuchten, bis Lalo erkannte, daß selbst das strahlende Gesicht Ils’ nur eine Maske jenes geringsten Teiles gewesen war, der in der Sonne und den anderen Sternen brannte.
Und dann fiel er, wirbelte er schwindelerregend in das Gefängnis seines menschlichen Körpers zurück. Immer noch geblendet, hauchte Lalo seinen angehaltenen Atem über die Leinwand in seinen verkrampften Händen.
Das Einhorn schrie, als es die Geburt seines Feindes spürte. Lalo fühlte, wie die Leinwand erzitterte. Licht brach und verteilte sich über den Boden, Kristallschwingen flatterten aufwärts in Dreidimensionalität. Lalo hatte einen weißen Vogel gemalt, ähnlich dem, den er für die Götter gezeichnet hatte, und Lythandes kühle Stimme und gestikulierenden Finger hatten ihn in eine Trance versetzt, die ihm half, sein Gedächtnis aufzufrischen.
Doch er erkannte das Wunder nicht, das hier zu Leben erwachte, es war ein Adler, ein Phönix, ein Schwan – all das war es in einem, und noch mehr. Der gewaltige Vogel riß den leuchtenden Schnabel zum ohrenbetäubenden Schrei auf, Krallen öffneten und schlossen sich, die Schwingen wirbelten Wind auf, und das Geschöpf war frei.
Lalo sank auf die Fersen und keuchte, als die Schwärze des Einhorns unter einem Sturm weißer Schwingen verschwand. Der Kampf zwischen Feuer und Eis und Dunkelheit jagte opalschillernde Blitze durch die Stube. Das Einhorn bäumte sich auf und warf sich auf seinen Feind. Lalo kauerte reglos im Auge des Sturmes.
Zwischen einem Angriff und dem nächsten, hörte er jemanden seinen Namen rufen. Blaues Licht stach durch seine geschlossenen Lider. »Lalo – öffnet das Tor!«
Lalo zwang seine Beine, ihn zu Lythande zu tragen. Das Pentagramm versengte ihn, doch der Stab des Adepten öffnete es für ihn, und er war hindurch. Und gerade noch rechtzeitig, denn der Vogel des Lichtes jagte das Einhorn mit einem Sturm, auf den selbst Vashanka stolz gewesen wäre. Lalo plagte sich auf die Füße. Licht folgte seinem Finger, als er die helle Stelle an der Wand nachfuhr, wo er das Einhorn gemalt hatte.
Als er fertig war, fiel seine Hand herab, und die Wand innerhalb der gezogenen Umrisse fing zu schimmern an. Sie begann sich aufzulösen, und eine unendliche schwarze Kluft öffnete sich, in der Lichtpunkte pulsierten. Ein unterschwelliges Singen vibrierte in Lalos Ohren, seine Sicht verschwamm, und da riß eine kräftige Hand um seinen Arm ihn aus dem Weg der Schwärze, die an ihm vorbei auf die endlose Leere zuschoß, gefolgt von einem Lichtstrahl. Lalo streckte schützend einen Arm aus, als er fiel, und schrie, denn der letzte Schlag der Kristallschwingen streifte ihn, ehe der Vogel des Lichtes verschwand. Dann vertrieb blendendes Leuchten die Dunkelheit. Die Gaststube erbebte, als das Tor zwischen den Dimensionen zuschlug und von dem Einhorn und seinem Gegner nichts mehr zu sehen war.
Zwei Leichen lagen im Schatten einer Mauer, dort, wo die Glibbergasse von der Gerbergasse wegführte. Lythande trat rasch zu ihnen, um zu sehen, wem die bleichen Gesichter gehörten und die Augen, die blicklos in die aufgehende Sonne stierten. Dann kehrte sie zu ihren Begleitern zurück. »Erstochen«, erklärte sie. »Nichts Ungewöhnliches. Ich gehe jetzt heim.« Sie nickte den anderen zu und machte sich auf den Weg zum Basar.
Lalo blieb kurz stehen, rieb sich den tauben Arm und schaute ihr nach. Er hätte sie gern zurückgerufen, aber was sollte er ihr sagen? Der Adept hatte ihm den ganzen Weg vom Wilden Einhorn bis hierher mehr guten Rat erteilt, als er verstehen konnte.
Bis er wieder zu sich gekommen war, hatte Nachtschatten sich längst verzogen, und Cappen Varra, der bei jedem unerwarteten Geräusch mit noch zittrigen Händen nach seinem Amulett griff, hatte sich so rasch wie möglich von ihnen verabschiedet. Nachdem Wedemirs Wunde verbunden war und Lalo sich wieder auf den Beinen halten konnte, spiegelte sich die Sonne bereits auf der Tempelkuppel, und Hakiem spähte durch die offene Schenkentür. Tische und Bänke standen wieder an ihrem alten Platz, und nur der leere Fleck an der Wand und die hier ungewohnt friedliche Atmosphäre hätte einen aufmerksamen Beobachter möglicherweise ahnen lassen, was vorgefallen war. Aber Lalo nahm an, daß der Geschichtenerzähler es herausfinden würde. Irgendwie gelang Hakiem das immer.
Doch wie Lythande ihm erklärt hatte, war es ziemlich unwichtig, was der Rest von Freistatt von ihm hielt – nur vor den Zauberern mußte er sich jetzt hüten. So wie die Art eines Gemäldes den Künstler verriet, verhielt es sich auch bei Magie, und das schwarze Einhorn hatte für jeden, der etwas davon verstand, die Signatur von Lalo getragen.
Auf die eine oder andere Weise werden sie hinter Euch her sein, und Ihr müßt lernen, Eure Gabe richtig anzuwenden …
Diese Worte Lythandes hallten noch in Lalos Ohren.
Er seufzte, und Gilla schob ihren Arm noch ein bißchen mehr unter seinen, um ihn zu stützen. Wedemir, der gegen ihren anderen lehnte, hob den Kopf, und Vater und Sohn wechselten einen verständnisvollen Blick. Sie kannten Gillas Stirnrunzeln und den Zug ihrer Lippen, die harte Worte unterdrückten.
Am Fuß der Treppe hielt Lalo an und sammelte seine Kraft.
»Was ist, o mächtiger Magier, wollt Ihr meine Hilfe oder schafft Ihr es mit eigener Kraft?« spottete Gilla. Im hellen Licht des Morgens bemerkte Lalo zum erstenmal die neuen Sorgenfalten um ihren Mund und die schwarzen Ringe unter den Augen. Und doch war sie so standfest wie der Boden unter seinen Füßen. Ihre Kraft war es, die ihn so weit gebracht hatte.
»Ihr seid meine Kraft, ihr, meine Familie …« Lalos Blick wanderte von Gilla zu Wedemir und begegnete dessen festen Blick, und zum erstenmal erkannte er ihn als Mann und Ebenbürtigen an. »Laßt mich das nie wieder vergessen.«
Gillas Augen glänzten verräterisch. Sie drückte seine Hand. Lalo nickte und machte sich daran, die Treppe hochzusteigen. Aus seinem schweren Atem hörten sie das Wispern weißer Schwingen.
Originaltitel: A Breath of Power
Copyright: © 1984 by Diana L. Paxson
(2) Siehe Spiegelbild von Diana Paxton in Geschichten aus der Diebeswelt: Hexennacht, Bastei-Lübbe 20113
(3) Siehe Eine entblößende Kunst von Diana L. Paxton, in Geschichten aus der Diebeswelt: Verrat in Freistatt, Bastei-Lübbe 20101