KAPITEL 15

Cuan Dóir, der Hafen von Dór, lag kaum mehr als drei Meilen von der Abtei entfernt. Der Weg führte quer über die Landzunge durch eine wilde Landschaft von Granitfelsen, Stechginster und Heide. Bäume gab es hier nicht. Immer sah man das Meer und kämpfte mit ständig auflandigen Winden. Auf der Hälfte des Weges kamen Fidelma und Cass an den Überresten eines alten Steinringes vorbei. Hohe graue Granitsteine standen wie Wächter da und zeugten stumm vom Glauben und von den Gebräuchen der Vorfahren. Sie bildeten einen Kreis von etwa zehn Meter im Durchmesser, und dicht dahinter stand eine kleine Steinhütte. Alles schien ganz natürlich zu dieser wilden, winddurchtosten Landschaft zu passen und Bilder der Vorzeit heraufzubeschwören.

Ein Stück weiter senkte sich der Weg zu einer Bucht hinab, die einen ähnlichen Naturhafen bildete wie Ros Ailithir. In dieser Gegend gab es viele mit Fuchsien durchsetzte Hecken, die einen atemberaubenden Blick einrahmten. Einige wenige Schiffe ankerten in dem kleinen Hafen. Die Siedlung umfaßte mehrere Gebäude, die aber alle überragt wurden von Salbachs Burg, einer runden Steinfeste, so angelegt, daß sie sowohl die Ansteuerung von See wie die Straße zum Hafen beherrschte. Fidelma sah, daß die etwa sieben Meter hohen Mauern der Burg, wie die vieler Burgen, die sie kannte, Trockenmauern waren. Sie schätzte die runde Befestigungsanlage auf ungefähr dreißig Meter im Durchmesser. Sie besaß nur einen Eingang, einen hohen Torweg mit schrägen Pfosten, der nur für einen Reiter breit genug war.

Zwei bewaffnete Krieger standen am Tor herum und beobachteten mit schlecht verhohlener Neugier, wie Fidelma und Cass sich ihnen näherten.

»Ist Schwester Grella aus Ros Ailithir in der Burg?« rief Fidelma und zügelte ihr Pferd. Sie machte sich nicht die Mühe abzusteigen.

»Dies ist die Burg von Salbach, dem Fürsten der Corco Loígde«, kam die Antwort eines der Torwächter. Er änderte seine lässige Haltung nicht, lehnte an der Mauer und starrte sie an.

»Dann würden wir gern mit Salbach sprechen«, sagte Fidelma.

»Er ist nicht da«, gab der Torwächter trocken zur Antwort.

»Wo ist er dann?« fragte Cass und schob sich vor, so daß der Krieger seinen goldenen Halsring sehen und ihn als einen der Elitekrieger von Cashel erkennen konnte.

Der Wächter verriet mit keiner Miene, daß er das Zeichen gesehen hatte. Er blickte Cass dreist an.

»Er ist vor einer Weile weggeritten. Wahrscheinlich ist er auf der Jagd im Wald von Dór, dort in dieser Richtung.«

»War jemand bei ihm?« fragte Fidelma.

»Salbach jagt lieber allein.«

Diese Feststellung schien seinen Kameraden wie ein guter Witz zu amüsieren.

Fidelma winkte Cass, ihr zu folgen, und ritt auf den entfernten Wald zu, auf den der Wächter gedeutet hatte.

»Wenn Grella nicht bei Salbach ist, warum müssen wir ihn dann suchen?« fragte Cass, als ihm ihre Absicht aufging.

»Vielleicht jagt Salbach ja doch nicht allein?« meinte Fidelma. »Die Vorstellung scheint dem Gefährten unseres liebenswürdigen Freundes äußerst komisch vorgekommen zu sein.«

Sie ließen ihre Pferde im Schritt gehen auf dem Weg, der sich jetzt wieder vom Ufer emporwand, ein paar Meilen quer über Bodenwellen führte und dann in einen dichten Wald hinein. Fidelma bemerkte, daß sich in ihm viele Baumarten fanden, vorherrschend jedoch waren Nadelbäume, gemischt mit Birken und Haselsträuchern. Überall wuchs üppiges Heidekraut.

Plötzlich sahen sie sich einem kleinen Fluß gegenüber, der in stürmischem Lauf von den Bergen herunterkam und dem Meer hinter ihnen zustrebte. Er war breit und offenbar recht flach an dieser Stelle. Fidelma wollte in ihn hineinreiten, als Cass sie mit einem leisen Zuruf zurückhielt.

Wortlos wies er zum anderen Ufer.

Fidelma erblickte dort, ein Stück entfernt, eine kleine Holzfällerhütte. Aus ihrem Schornstein stieg Rauch auf.

Vor der Hütte standen zwei Pferde. Eins war ziemlich reich aufgezäumt, das andere sehr einfach.

Fidelma wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Cass.

»Wir reiten hinüber«, befahl sie und trieb ihr Pferd durch die Furt, zu der der Weg sie geführt hatte. Hier war der Fluß an der tiefsten Stelle kaum mehr als einen halben Meter tief. Vorsichtig ritten sie das andere Ufer hoch.

»Wir lassen unsere Pferde dort zwischen den Bäumen«, meinte Fidelma und wies auf eine kleine geschützte Stelle ein Stück weit vor ihnen. »Dann gehen wir zu Fuß zu der Hütte. Ich vermute, dort finden wir sowohl Salbach als auch unsere verschollene Bibliothekarin.«

Cass schüttelte verwundert den Kopf, widersprach aber nicht.

Fidelma hatte beschlossen, sich der Hütte heimlich zu nähern, denn ihr war eine Reihe von Gedanken gekommen, die sie zu einer Schlußfolgerung geführt hatten, die sie zwar wenig rühmlich fand, deren Logik jedoch zu den Dingen zu passen schien, die sie bisher erfahren hatte.

Sie folgten einem schmalen Pfad parallel zum Flußufer und kamen zu der kleinen Lichtung, auf der die Holzfällerhütte stand.

Sie blieben am Rande des Waldes stehen. Fidelma hob den Kopf und lauschte.

Aus der Hütte drang das helle Lachen einer Frau.

Fidelma sah Cass an. Anscheinend hatte sie mit ihrer Voraussage recht behalten.

Sie wollte schon auf die Hütte zugehen, als Cass sie am Arm packte.

Da hörte auch sie den leisen Hufschlag eines herantrabenden Pferdes.

Rasch zog sie sich in den Schutz des Unterholzes zurück und hockte sich neben Cass nieder.

Von der anderen Seite der Lichtung jagte ein Reiter heran und hielt vor der Hütte. Er war untersetzt und trug einen Wollmantel, wirkte ungepflegt und schmutzig; es war ein Krieger.

»Salbach!« rief er.

Kurz darauf erschien der Fürst in der Tür der Hütte, er zog sich gerade das Hemd an.

»Was gibt’s?« rief er und warf sich einen pelzbesetzten Mantel darüber.

»Die Verhandlung soll in den nächsten Tagen in Ros Ailithir stattfinden. Und Ross’ barc ankert in der Bucht. Sie müssen zurückgekehrt sein.«

Fidelma sah, wie Cass sie mit großen Augen anblickte. Sie schnitt eine Grimasse.

»Weiß sie es?« fragte Salbach.

»Das bezweifle ich. In Sceilig Mhichil war darüber nichts zu erfahren.«

»Na, ich glaube, ich weiß, wo sie sich verstecken«, meinte Salbach.

»Das wird den bó-aire freuen«, brummte der Krieger.

Salbach ging zu seinem Pferd und schwang sich behende in den Sattel.

»Ich begleite dich nach Cuan Dóir, und unterwegs gebe ich dir meine Anweisungen für Intat.«

Cass blickte Fidelma bedeutungsvoll an.

Salbach und der Krieger ritten zum Fluß und durchquerten die Furt.

»Ich dachte, Salbach wollte Krieger aussenden, um Intat festzunehmen, damit er wegen des Verbrechens in Rae na Scríne vor Gericht kommt?« flüsterte er.

»Intat und Salbach stecken offensichtlich unter einer Decke«, antwortete Fidelma, stand auf und klopfte sich die Blätter vom Habit. »Das hatte ich schon vermutet. Komm, ich glaube, es wird Zeit, daß wir ein Wörtchen mit unserer verschollenen Bibliothekarin reden.«

Sie ging mit festen Schritten über die Lichtung zur Tür der Hütte und stieß sie kurzerhand auf.

Schwester Grella, noch nicht angekleidet, fuhr herum und starrte sie entgeistert an.

Fidelma lächelte kalt.

»Nun, Schwester Grella? Anscheinend hast du beschlossen, das Nonnendasein aufzugeben.«

Mit offenem Mund und bleichem Gesicht starrte Schwester Grella an Fidelma vorbei auf Cass, der ihren Blick mit gleichem Erstaunen zurückgab. Dann brach Grella den Bann, indem sie ein Kleidungsstück ergriff und sich damit bedeckte.

Fidelma drehte sich um und schaute Cass vorwurfsvoll an.

Der junge Krieger wurde rot, trat rückwärts aus der Hütte und stellte sich neben die Tür.

»Zieh dich an, Grella«, befahl Fidelma, »und dann reden wir miteinander.«

»Wo ist Salbach?« flüsterte die ehemalige Bibliothekarin. »Was hast du vor?«

»Salbach ist fortgeritten, wie du ja wohl bemerkt hast«, antwortete Fidelma. »Und was deine zweite Frage angeht, nun, das kommt darauf an. Zieh dich endlich an.«

Fidelma fand einen Stuhl und setzte sich.

Grella tat, wie ihr geheißen.

»Nimmst du mich mit zurück in die Abtei?«

Fidelma lächelte spöttisch.

»Du hast dich für dein Verhalten sowohl nach dem kirchlichen wie nach dem weltlichen Recht zu verantworten.«

»Ich habe nicht gesündigt. Salbach will mich zu seiner zweiten Frau nehmen. Die Abtei habe ich für immer verlassen.«

»Ohne das dem Abt mitzuteilen? Und du sagst, Salbach ist schon verheiratet?«

»Seine Frau ist alt«, antwortete Grella, als wäre das eine Erklärung für alles.

»So wie Dacán alt war?« fragte Fidelma harmlos.

Grella schaute sie verblüfft an. Dann fing sie sich und zuckte die Achseln.

»Das hast du also herausgefunden? Ja, wie Dacán es war. Verrunzelt, müde und schwach war er. Deshalb habe ich mich von ihm scheiden lassen.«

»Nachdem der Glaube in dieses Land gekommen ist, haben die Bischöfe die Sitte, eine zweite Frau oder einen zweiten Mann zu nehmen oder eine Konkubine zu halten, verurteilt«, bemerkte Fidelma. »Wenn Salbach dich zu seiner zweiten Frau nimmt, wird dich die Kirche verurteilen.«

Grella lachte höhnisch.

»Vor ein paar Jahren hatte Nuada von Laigin zwei Frauen. Das weltliche Gesetz gesteht dem Mann immer noch das Recht auf eine zweite Frau zu.«

»Ich kenne das Gesetz, Grella. Doch du bist eine Nonne und müßtest wissen, daß die Regeln des Glaubens oft im Gegensatz zum weltlichen Recht stehen.«

»Aber deine Aufgabe ist es, das weltliche Recht durchzusetzen«, fuhr Grella sie an.

Fidelma verfolgte dieses Thema nicht weiter, denn sie wußte, daß die Kirche sich zwar gegen die in alten Zeiten weit verbreitete Polygynie stellte, doch nur mit begrenztem Erfolg. Schließlich hatte ein Brehon, der den Gesetzestext des Bretha Crólige verfaßte, verzweifelt vermerkt: »Es gibt im irischen Gesetz verschiedene Meinungen darüber, was angemessener ist, viele geschlechtliche Verbindungen einzugehen oder nur eine, denn da das auserwählte Volk Gottes in Vielehe lebte, fällt es leichter, dies zu preisen als zu verurteilen.« Grella hatte recht. Aber Fidelma ging es nicht in erster Linie um die Moral ihres Liebesverhältnisses mit Salbach von den Corco Loígde.

»Du hattest also vor, niemals wieder in die Abtei zurückzukehren? Warum hast du dann deine persönlichen Besitztümer nicht mitgenommen?«

Grella biß sich auf die Lippen. Sie hatte sich fertig angezogen und ihr Haar in Ordnung gebracht. Die Hände in die Hüften gestemmt, stand sie vor Fidelma.

»Ich brauche mich nicht zu entschuldigen. Es ist nicht viel, was ich noch in der Abtei habe, und was ich brauche, bekomme ich von Salbach. Vielleicht kehre ich noch einmal dorthin zurück, nachdem ich Salbachs Frau geworden bin. Dann wagt es niemand mehr, mir Vorwürfe zu machen. Ich stehe dann unter Salbachs Schutz.«

»Salbach ist ebenso dem Gesetz verantwortlich wie du, Grella. Es gibt ein paar Fragen, die du zu beantworten hast, und zwar sofort. Du wußtest, daß dein früherer Mann Dacán mit einer besonderen Absicht nach Ros Ailithir gekommen war?«

»Wieviel weißt du wirklich?« fragte Grella ein wenig ängstlich.

»Ich weiß, daß du einmal mit Dacán verheiratet warst.«

»Das muß dir Mugrón erzählt haben. Es war ein blöder Zufall, daß er mich in Cuan Dóir gesehen hat.«

»Er sah dich dort mit Schwester Eisten«, sagte Fidelma ruhig. Grella ging nicht darauf ein.

»Was spielt das für eine Rolle? Ich habe dir mein Verhältnis zu Salbach erklärt.«

»Warum hast du Schwester Eisten zu Salbachs Burg mitgenommen?«

»Salbach hat mich darum gebeten. Er hatte gehört, daß Eisten ein Waisenhaus in Rae na Scríne führte. Er wollte sie und die Kinder kennenlernen. Er wußte, daß ich mit ihr befreundet war.«

»Und hat sie die Kinder mitgebracht?« fragte Fidelma.

»Nein, sie begleitete mich nach Cuan Dóir, weigerte sich aber, die Kinder mitzunehmen, wegen der Gelben Pest.«

»War Salbach verärgert, als sie ohne die Kinder kam?«

Grella sah sie neugierig an.

»Weshalb hätte er sich darüber ärgern sollen?«

Fidelma lehnte sich zurück und schwieg einen Moment.

»Weißt du, daß Eisten ermordet worden ist?«

Grellas Gesicht wurde plötzlich zu einer starren Maske. Es war offensichtlich, daß sie es erfahren hatte, und Fidelma merkte, daß die Bibliothekarin hinter der Maske sichtlich erschüttert war.

»Ich habe es erst vor ein paar Tagen gehört.«

»Nicht früher?«

Sie schüttelte den Kopf, und irgendwie spürte Fidelma, daß sie die Wahrheit sagte.

»Es scheint dir nahezugehen. Du sagtest, ihr wart befreundet. Wie eng?«

»Seit Eisten zu Anfang des Jahres bei mir in der Bibliothek Studien trieb, waren wir Seelenfreundinnen.«

Seelenfreundinnen! Ja, Eisten hatte Fidelma erzählt, daß sie eine Seelenfreundin in der Abtei besaß. Was hatte Eisten Fidelma gefragt, als sie sich zum letztenmal sahen? Kann eine Seelenfreundin das Vertrauen brechen?

»Ihr hattet also kaum ein Geheimnis vor einander?«

»Du weißt, was eine anamchara bedeutet«, erwiderte Grella kühl. Fidelma sah ihrem Gesicht an, daß sie dazu nichts weiter erfahren würde. Sie wechselte also das Thema. »Du hast mir, als ich bei dir in der Bibliothek war, schon gesagt, daß du wußtest, woran Dacán arbeitete. Aber du hast mir nicht gesagt, daß er auf der Suche nach den Nachkommen des ursprünglichen Königshauses von Osraige war.«

Grella warf Fidelma einen beunruhigten Blick zu.

»Woher weißt du das?« fragte sie.

»Ich habe Dacáns Aufzeichnungen gelesen.«

Grella hob die Hand, als wolle sie sich an die Kehle fassen.

»Du … du hast sie gesehen?«

Fidelma schaute sie prüfend an.

»Ich habe dein Zimmer durchsucht, Grella. Es war dumm von dir, anzunehmen, du könntest die Pergamente verstecken oder mir die Texte der Ogham-Stäbe falsch deuten.«

Sie hatte gedacht, Grella werde alles heftig abstreiten, doch zu ihrem Erstaunen zuckte sie nur die Achseln.

»Ich dachte, niemand würde die Pergamente und die Stäbe finden. Ich glaubte, ich hätte sie gut versteckt. Ich wollte sie vernichten.«

»Du wußtest nicht, daß ich sie schon vor einer Woche an mich genommen hatte?«

»Ich habe dir doch bereits gesagt, daß ich seitdem nicht mehr in der Abtei war.«

Fidelma beließ es für den Augenblick dabei. »Nun, du wußtest also, daß Dacán den Erben Illans suchte, der Anspruch erheben konnte, der rechtmäßige Anwärter auf das Kleinkönigtum von Osraige zu sein?«

»Das habe ich bereits zugegeben«, bestätigte Grella.

»Und du hast Salbach davon erzählt?«

Sie zuckte verlegen die Schultern, gab aber keine Antwort.

»Der gegenwärtige König von Osraige, Scandlán, ist Salbachs Vetter, nicht wahr? Also müßte Salbach ein Interesse daran haben, dafür zu sorgen, daß man den Sohn Illans nicht findet.«

»Ich dachte nur, Salbach sollte es wissen, daß jemand nach Illans Nachkommen forscht«, antwortete Grella. »Ich wollte weitere Kriege in Osraige verhindern. Als Illan versuchte, Scandlán zu stürzen, wurde viel Blut vergossen.«

»Also hast du Salbach von Dacán erzählt. Salbach begriff, daß Laigin wieder die Herrschaft über Osraige gewinnen könnte und vielleicht einen König einsetzen würde, der auf Laigin hörte statt auf Muman.«

»Wenn du meinst«, bemerkte Grella gleichgültig.

»Dacán stellte also eine Gefahr dar für Salbachs Familie in Osraige. War das der Grund, warum du deinen früheren Gatten ermordet hast?«

Einen Augenblick schien Grella zutiefst betroffen.

»Wer beschuldigt mich, ihn getötet zu haben?« fragte sie.

»Die Fesseln, die man ihm angelegt hatte, bestanden aus blaurotem Leinen. Besitzt du einen blaurot gestreiften Rock?«

»Natürlich nicht.« Das klang nicht gerade überzeugend.

»Wenn ich dir nun sage, daß ich bei der Durchsuchung deines Zimmers einen blauroten Leinenrock gefunden habe, von dem ein Stück abgerissen war, das genau den Fesseln entsprach, mit denen man Dacán gebunden hatte, bevor er getötet wurde, behauptest du dann immer noch, daß er dir nicht gehört?«

Grella lief rot an.

»Hast du so einen Rock?« drang Fidelma in sie. »Sag lieber die Wahrheit.«

Grella ließ resigniert die Schultern sinken.

»Das ist schon mein Rock, aber ich habe ihn nicht getragen, seit ich nach Ros Ailithir kam. Ich wollte ihn den Armen geben, aber …« Sie schaute Fidelma fest in die Augen. »Ich habe vielleicht das Vertrauen des alten Dacán gebrochen und Salbach verraten, wonach er forschte, denn ich glaubte, dazu wäre ich berechtigt, aber ich habe ihn nicht getötet. Warum sollte man Dacán ermorden? Er hätte Salbach zu Illans Erben geführt, und das war es, was Salbach wollte.«

Fidelma erkannte die Logik ihrer Argumente. Trotzdem fuhr sie fort: »Du streitest ab, daß du in den letzten Tagen noch einmal in die Abtei zurückgekehrt und in das Zimmer des Abts gegangen bist, um Beweismaterial aus seiner Truhe zu entwenden?«

Grella starrte sie verständnislos an.

Fidelma hatte darauf vertraut, daß Grella vielleicht nicht die Schuldige sei, aber genug wissen müßte, um erkennen zu lassen, wer es war, und daß sie auf die Beschuldigung, verstärkt durch das Beweismaterial, über das Fidelma verfügte, mit einem Geständnis reagieren würde. Das schien jedoch nicht zum Ziel zu führen.

»Du hattest erfahren, daß ich einen Beutel mit Beweismaterial in der Truhe des Abts zurückgelassen hatte?« setzte sie sie dennoch weiter unter Druck.

»Auf keinen Fall«, antwortete Grella. »Wie sollte ich denn, wenn ich nicht einmal wußte, daß du etwas aus meinem Zimmer mitgenommen hattest? Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich in der letzten Woche nicht mehr in der Abtei war.«

»Du hast einen merkwürdigen Zeitpunkt gewählt, die Abtei zu verlassen. Das erweckt irgendwie Verdacht, meinst du nicht auch?«

»Es war Salbachs Vorschlag, daß ich an dem Abend mit ihm gehen sollte. Zu lange schon hatte ich meine Liebe zu ihm verheimlicht. Es wurde Zeit, daß wir uns offen dazu bekannten.«

»Entschuldige, wenn ich mich wiederhole, aber die Wahl des Zeitpunkts ist seltsam.«

»Ich habe Dacán nicht ermordet«, erwiderte Grella fest.

»Dann erkläre mir, warum du Dacáns Aufzeichnungen versteckt hast.«

»Das ist nicht so schwierig. Ich wollte nicht, daß jemand anders erfährt, woran Dacán arbeitete. Es wäre besser, wenn die Leute von Laigin den Sohn Illans nicht fänden. Dann können sie ihn nicht dazu benutzen, Salbachs Vetter zu stürzen.«

»Und Salbach war dir dankbar?«

»Ich liebe Salbach.«

»Also hast du das alles aus Liebe … aus Liebe zu Salbach … getan?«

Aus Schwester Grellas Augen schossen Blitze der Empörung.

»Nun gut«, sagte Fidelma und erhob sich. »Laigin tut genau das, es verlangt Osraige als Sühnepreis für die Ermordung Dacáns. Es scheint, daß der Krieg, den du verhindern wolltest, wie du behauptest, jetzt bevorsteht.«

Grella stand ebenfalls auf.

»Ich möchte an dich als Frau appellieren, Fidelma. Ich wurde mit Dacán verheiratet, als ich fünfzehn war. Es war eine arrangierte Heirat nach dem neuen Brauch des Glaubens, ich hatte wenig dabei zu sagen. Ich blieb drei Jahre bei ihm. Dacán war alt und nicht in der Lage, Kinder zu zeugen, und mit dieser Begründung ließ ich mich scheiden. Dacán wollte eine peinliche Verhandlung vor dem Brehon, bei der das zur Sprache gekommen wäre, vermeiden und stimmte der Scheidung zu. Ich habe viel von ihm gelernt, und dafür bin ich ihm dankbar. Er hat mir so viel Bildung vermittelt, daß ich auf die kirchliche Schule in Cealla gehen konnte, wo ich meinen akademischen Grad erwarb. Es ist seltsam, aber auf eine Art liebte ich den alten Mann, so unfreundlich er war, wie einen Vater. Ich habe ihn nicht getötet, Fidelma von Kildare. Ich habe mich in manchem schuldig gemacht, aber ich habe ihn nicht getötet.«

»Schwester Grella, eine innere Stimme sagt mir, daß ich dir glauben soll. Doch die Beweise sprechen gegen dich: Dacáns versteckte Aufzeichnungen, die Fesseln, mit denen man ihn band, dein plötzliches Verschwinden aus der Abtei, nachdem du mir deine frühere Ehe mit Dacán und andere Dinge verschwiegen hattest. Du wußtest, daß Dacán nach dem Erben Illans suchte. Am Abend, bevor er starb, schrieb er seinem Bruder, er habe entdeckt, wo Illans Erbe sich verberge. Daraus läßt sich schließen, daß du ihn getötet hast, um zu verhindern, daß er den Erben Illans findet, und um damit deinem Liebhaber Salbach einen Gefallen zu tun.«

»Nein! Das ist nicht wahr. Ich habe diese Tat nicht begangen!«

»Nein? Vielleicht nicht. Aber darüber wird die Ratsversammlung des Großkönigs entscheiden.«

»In deinem Herzen, Fidelma, weißt du, daß ich es nicht war«, sagte Grella zornig.

»Ich handle im Auftrag des Königs von Cashel. Ich erfülle nur meine Pflicht. Ich muß einen Krieg verhindern. Cass!«

Der junge Krieger trat in die Hütte. Er blickte in Grellas bleiches Gesicht und dann in Fidelmas strenge Miene.

»Cass, Schwester Grella kehrt als Gefangene mit uns nach Ros Ailithir zurück.«

»Dann hat sie also gestanden?« fragte er erleichtert.

Grella zischte wütend.

»Etwas gestehen, was ich nicht getan habe? Schafft mich als Gefangene in die Abtei. Salbach wird mich befreien – auf die eine oder andere Weise!«

»Verlaß dich nicht darauf«, riet ihr Cass.

Gemeinsam kehrten sie nach Ros Ailithir zurück. Fidelma ritt voran, und Cass folgte ihr dicht neben Schwester Grella. Fidelma schwieg die ganze Zeit und hing ihren Gedanken nach. Etwas nagte an ihr. Wenn Schwester Grella die Wahrheit sagte, dann war sie der Entdeckung von Dacáns Mörder keinen Schritt näher gekommen. Sie hatte noch nicht einmal die Verbindung zwischen Salbach und Intat bewiesen. Und selbst wenn Grella Dacán getötet und ihre Seelenfreundin Eisten verraten hätte, könnte sie dann auch Eisten getötet haben? Und wo waren die Söhne Illans? Warum war sich Dacán so sicher gewesen, daß es einen Erben im Alter der Wahl gäbe? Wo steckten die beiden Jungen, die Primus und Victor genannt wurden? Victor und Primus … Primus …