KAPITEL 9

Von Schwester Grella war Fidelma überrascht. Sie war eine attraktive Frau von Ende Dreißig. Wenn auch eher klein und zur Fülle neigend, besaß sie ein lebhaftes Temperament, gepflegtes braunes Haar und lustige dunkle Augen. Nur der schmollende, sinnliche Mund, meinte Fidelma, störte den Gesamteindruck. Auf den ersten Blick erschien sie fehl am Platz in der ernsten, düsteren Abtei, noch dazu in der Bibliothek. Doch sie leitete die Bibliothek sogar. Und obwohl sie auf den ersten Blick so sinnlich wirkte, hielt sich Schwester Grella gerade und würdevoll wie eine Königin inmitten ihres Hofstaats. Sie saß in einem prachtvoll geschnitzten Eichensessel am hinteren Ende des weiten Bibliotheksaals, der fast so groß war wie die Abteikirche und ein ähnliches Gewölbe hatte. Die Bibliothek dieser Abtei war ein eindrucksvolles Gebäude, auch im Vergleich zu den anderen großen Bibliotheken in den fünf Königreichen von Éireann, die Fidelma besucht hatte.

Die Bücher standen nicht in Regalen, sondern jedes Werk steckte in einer taig liubhair oder Buchtasche aus Leder, auf der sein Titel deutlich verzeichnet war und die an einem der vielen Holzhaken hing, die sich in Reihen an den Wänden entlangzogen. Als Fidelma die imponierende Sammlung betrachtete, fiel ihr die Geschichte vom Tod des heiligen Longargán ein, des hervorragendsten Gelehrten zur Zeit Colmcilles. In der Nacht, in der der heilige Longargán starb, sollen alle Buchtaschen in Irland von ihren Haken gefallen sein als Zeichen der Hochachtung und als Symbol für den Verlust an Gelehrsamkeit, den sein Tod für das Land bedeutete.

Die meisten der Bücher in den Buchtaschen waren Nachschlagewerke, die von Gelehrten häufig benutzt wurden. Es befanden sich auch Bücher von großem Wert darunter, die in reich verzierten Lederhüllen steckten, welche mit Emaille, Gold und Silber geprägt und sogar mit Edelsteinen verziert waren. Es hieß, daß Assicos, der Kupferschmied des heiligen Patrick, viereckige Buchhüllen aus Kupfer für die Bücher des Heiligen anfertigte. Einige Bücher wurden in speziellen Kästchen aus Holz oder Metall aufbewahrt.

In Behältnissen aus geschnitztem Holz lagen Bündel von Hasel- oder Espenstäben, in die Buchstaben des alten Ogham-Alphabets eingeritzt waren, die Stäbe der Dichter, doch was auf ihnen stand, war für immer verloren, wenn die dünnen Holzstäbe verrotteten. Oft übertrug man den Text in das neue Alphabet und auf Pergamentblätter. In der muffigen und dunklen Bibliothek hielten sich mehrere Personen auf. Obwohl ein wenig Tageslicht durch die hohen Fenster fiel, hatte man riesige Kerzen in großen schmiedeeisernen Ständern angezündet. Ihr flackerndes Licht erhellte den Raum, doch war die von ihrem Rauch geschwängerte, stickige Luft einem ernsthaften Studium kaum förderlich. Hier und da saßen Schreiber an besonderen Tischen über Pergamentblätter gebeugt, mit einer Schwanen- oder Gänsefeder in der einen Hand und einem Malerstock zur Unterstützung des Handgelenks in der anderen, und übertrugen ein altes Werk in schöner oder verzierter Schrift für die Nachwelt. Andere lasen schweigend, seufzten gelegentlich, wandten raschelnd ein Blatt um.

Fidelma durchschritt die Gänge mit den Buchtaschen und den Tischen der fleißigen Gelehrten. Niemand hob den Kopf, wenn sie vorbeikam. Sie ging bis zum Ende des Saals, wo der Holzsessel der Bibliothekarin hinter einem Tisch auf einem Podest stand, so daß sie die Tech Screptra in ihrer ganzen Länge und Breite überblicken konnte.

»Schwester Grella? Ich bin …«, setzte Fidelma an, als sie vor der Bibliothekarin stand.

Schwester Grella hob eine kleine, wohlgeformte Hand und brachte sie damit zum Schweigen. Sie legte einen Finger an die Lippen, erhob sich und wies auf eine Seitentür.

Fidelma verstand das als Einladung, ihr zu folgen.

Hinter der Tür fand sich Fidelma in einem kleinen Raum wieder, der mit Bücherregalen angefüllt war, aber auch einen Tisch und mehrere Stühle enthielt. Auf dem Tisch lagen ein paar Blätter Pergament, ein adirícín, ein Tintenbehälter, eine Reihe von Schreibfedern und ein kleines Messer zum Spitzen der Federn. Es handelte sich offensichtlich um ein privates Arbeitszimmer.

Schwester Grella schloß die Tür hinter Fidelma und wies mit huldvoller Geste auf einen Stuhl. Als Fidelma sich setzte, ließ sich die Bibliothekarin auf einen Stuhl ihr gegenüber nieder.

»Ich weiß, wer du bist und weshalb du kommst«, sagte sie leise.

Fidelma lächelte. »Das macht meine Aufgabe wesentlich einfacher«, antwortete sie.

Die Bibliothekarin hob eine Augenbraue, sagte aber nichts.

»Bist du schon lange Bibliothekarin in Ros Ailithir?«

Schwester Grella hatte diese Eingangsfrage offensichtlich nicht erwartet und runzelte die Stirn.

»Ich bin hier leabhar coimedach seit acht Jahren«, antwortete sie nach kurzem Zögern.

»Und davor?« forschte Fidelma.

»Davor war ich nicht in der Abtei.«

Fidelma hatte die Fragen nur gestellt, um etwas aus dem Vorleben der Bibliothekarin zu erfahren, doch sie spürte einen leisen Ton des Mißtrauens in deren Stimme und wollte gern den Grund dafür erfahren.

»Dann mußt du mit sehr guten Empfehlungen hergekommen sein, um einen so wichtigen Posten zu besetzen, wenn du nicht in diesem Kloster ausgebildet wurdest, Schwester«, bemerkte sie.

Schwester Grella machte eine abwehrende Geste mit der linken Hand.

»Ich bin bis zum sai ausgebildet.«

Fidelma wußte, daß man sechs Jahre eine geistliche Schule besuchen und gute Kenntnis der Bibel und ein gründliches Allgemeinwissen besitzen mußte, um den Grad eines sai zu erlangen.

»Wo hast du studiert?« fragte sie aus reiner Neugierde.

Wieder zögerte Schwester Grella ein wenig. Dann sagte sie: »An der vom heiligen Colmcille gegründeten Klosterschule namens Cealla.«

Fidelma starrte sie einen Moment verblüfft an.

»Cealla in Osraige?«

»Ich kenne kein anderes«, antwortete Grella tadelnd.

»Stammst du denn aus Osraige?« Schon wieder dieses Grenzland. Unglaublich, wie viele verschiedene Verbindungen zwischen dem Königreich Osraige und Ros Ailithir anscheinend bestanden.

»Ursprünglich«, gab Schwester Grella zu. »Ich verstehe aber nicht, was das mit deiner Aufgabe zu tun hat. Abt Brocc hat mir erklärt, du seist eine dálaigh und kämst, um den Tod Dacáns von Fearna zu untersuchen. Mein Geburtsort und meine Qualifikationen stehen doch wohl kaum in einem Zusammenhang damit?«

Fidelma betrachtete sie nachdenklich.

Die Bibliothekarin machte nicht gerade einen entspannten Eindruck. Ihr Mund zitterte leicht, eine Hand spielte nervös mit dem silbernen Kruzifix an ihrem Halse.

»Ich habe gehört, daß der Ehrwürdige Dacán einen erheblichen Teil seiner Zeit in der Bibliothek verbracht hat.« Fidelma machte sich nicht die Mühe, auf Schwester Grellas Protest einzugehen, sondern kam direkt auf Dacán zu sprechen.

»Er war ein Gelehrter. Er kam mit der Absicht zu forschen nach Ros Ailithir. Wo sollte er seine Zeit sonst verbringen?«

»Wie lange war er hier?«

»Das hat dir der Abt doch sicherlich gesagt?«

»Zwei Monate«, beantwortete Fidelma ihre Frage selbst und begriff, daß die Bibliothekarin ihr nicht helfen wollte und daß sie ihre Fragen genau formulieren mußte, wenn sie überhaupt etwas aus ihren vorsichtigen Antworten erfahren wollte. »Und in diesen zwei Monaten«, fuhr Fidelma fort, »verbrachte er die meiste Zeit mit Forschungen in der Bibliothek. Wonach hat er geforscht?«

»Er war Historiker.«

»Ich weiß, daß er wegen seiner Kenntnisse hohes Ansehen genoß«, erklärte Fidelma geduldig. »Aber welche Bücher hat er hier gelesen?«

»Welche Bücher gelesen werden, das geht nur den Bibliothekar und den Gelehrten etwas an«, konterte Schwester Grella trocken.

Fidelma fand, nun sei es an der Zeit, sich durchzusetzen.

»Schwester Grella«, sagte sie so leise, daß die Bibliothekarin sich vorbeugen mußte, um ihre Worte zu hören. »Ich bin eine dálaigh und untersuche einen Mordfall. Ich besitze den Grad eines anruth. Das bringt gewisse Rechte und Pflichten für jeden mit sich, den zu befragen ich für notwendig halte. Ich bin sicher, daß du dir als sai über diese Pflichten völlig im klaren bist. Du wirst also die Fragen, die ich dir stelle, ohne weitere Ausflüchte beantworten.«

Schwester Grella setzte sich plötzlich steif und gerade auf. Mit schlecht verhehltem Zorn starrte sie die jüngere Frau an. Daß sie es nicht gewohnt war, so direkt getadelt zu werden, erkannte man an der Rötung ihrer Wangen. Sie schluckte hörbar.

»Welche Bücher hat Dacán hier gelesen?« wiederholte Fidelma.

»Er … er interessierte sich für unsere Bände über die Geschichte von … von Osraige.«

Schon wieder Osraige! Fidelma musterte das jetzt wieder unbewegte Gesicht der Bibliothekarin.

»Osraige? Wieso besitzt eine Abtei im Lande der Corco Loígde Bücher über ein Königreich, das viele Meilen entfernt liegt?«

Zum erstenmal verzogen sich Schwester Grellas Lippen zu einem überlegenen Lächeln. Es machte sie nicht gerade schöner.

»Offensichtlich, Fidelma von Kildare, hast du trotz deiner Qualifikationen im Rechtswesen wenig Ahnung von der Geschichte dieses Landes.«

Fidelma zuckte gleichmütig die Achseln.

»Jeder ist ein Anfänger auf dem Gebiet eines anderen. Ich begnüge mich mit dem Rechtswesen und überlasse die Geschichte den Historikern. Kläre mich auf, wenn ich etwas darüber wissen muß.«

»Vor zweihundert Jahren gab es einen Fürsten von Osraige namens Lugne. Er besuchte das Land der Corco Loígde und begegnete Liadán, einer Tochter des hiesigen Fürsten. Sie lebten eine Weile zusammen auf einer Insel vor der Küste. Ein Sohn wurde ihnen geboren, den sie Ciarán nannten, und er wurde einer der großen Apostel des Glaubens in Irland.«

Fidelma hatte aufmerksam zugehört.

»Ich habe eine Geschichte von der Geburt des heiligen Ciarán gelesen, in der es heißt, daß seine Mutter Liadán eines Nachts schlief und ein Stern vom Himmel ihr in den Mund fiel, und davon wurde sie schwanger.«

Die Bibliothekarin reagierte höchst empört.

»Geschichtenerzähler schmücken ihre Berichte mit phantastischen Elementen aus, aber in Wahrheit war Lugne von Osraige der Vater Ciaráns.«

»Ich will mich nicht streiten«, besänftigte Fidelma sie. »Es gibt so viele verschiedene Geschichten von den großen Aposteln Irlands.«

»Ich erkläre dir die Verbindung zwischen Osraige und den Corco Loígde«, erwiderte die Bibliothekarin säuerlich. »Natürlich nur, wenn du willst.«

»Ich bitte dich darum«, sagte Fidelma.

»Als Ciarán zum Mann herangewachsen und sein Vater gestorben war, machte er sich daran, zuerst die Menschen im Königreich seines Vaters zum neuen Glauben zu bekehren. Zu der Zeit, vor zweihundert Jahren, hatten die meisten das Wort Christi noch nicht vernommen. Er bekehrte Osraige und wurde sein Schutzpatron, auch wenn er seine Gemeinschaft in Saighir unmittelbar nördlich der Grenze ansiedelte. Deshalb ist er heute als Ciarán von Saighir bekannt.«

Fidelma wußte das sehr gut, sagte es aber nicht.

»Also nehmen wir mal an, daß Ciarán tatsächlich einen Vater aus Osraige hatte und eine Mutter von den Corco Loígde. War es das, wofür sich Dacán interessierte? Die Lebensbeschreibung Ciaráns?«

»Der entscheidende Punkt ist der: Als Ciarán nach Osraige ging, um den Glauben dorthin zu bringen, folgten ihm auch viele Anhänger von den Corco Loígde, darunter seine verwitwete Mutter, Liadán, die ein Nonnenkloster nicht weit von Saighir gründete. Zu seinen Gefolgsleuten gehörte auch sein engster Freund und Verwandter, Cúcraide mac Duí, den Ciarán nach seinem Sieg über den heidnischen König von Osraige an dessen Stelle zum König erhob.«

Plötzlich interessierte sich Fidelma sehr für die Geschichte.

»Auf diese Weise wurden also die Könige von Osraige aus derselben Familie gewählt wie die Fürsten der Corco Loígde?«

»Genau. Seit zweihundert Jahren wird Osraige von der Familie der Fürsten der Corco Loígde regiert. Diese Herrschaft wird oft als ungerecht empfunden. In den letzten hundert Jahren sind mehrere Könige von Osraige von ihrem Volk umgebracht worden, wie etwa Feradach, der im Schlaf erschlagen wurde.«

»Und Salbachs Vetter Scandlán stammt auch von den Corco Loígde ab?«

»So ist es.«

»Gibt es immer noch Streit um die Königsherrschaft?«

»Es wird immer Streit geben, bis Osraige wieder sein eigenes Königsgeschlecht einsetzen kann.«

Es lag eine gewisse Heftigkeit in Grellas Stimme, die Fidelma nicht entging.

»War Dacán deshalb so daran interessiert, die Verbindung zwischen Osraige und den Corco Loígde zu erforschen?«

Grella war sofort wieder auf der Hut.

»Er studierte unsere Texte zur Geschichte von Osraige und seinen Kleinkönigen, mehr weiß ich nicht.«

»Komm – das ist doch wohl logisch?« sagte Fidelma. »Dacán stammte aus Laigin. Seit langem erhebt Laigin Ansprüche auf Osraige. Vielleicht liegt Laigin daran, das ursprüngliche Königshaus von Osraige wieder an die Macht zu bringen, wenn diese Könige ihr Treueverhältnis von Cashel auf Laigin übertrügen? War das vielleicht der Grund, weshalb sich Dacán für die Geschichte des Königreichs interessierte?«

Grella errötete.

Fidelma erkannte, daß sie recht hatte und daß Grella genau wußte, wonach der alte Gelehrte gesucht hatte.

»Dacán wurde von Fianamail, dem neuen König von Laigin, oder von seinem eigenen Bruder, Abt Noé von Fearna, dem Berater des Königs, hergeschickt, um die Vorgeschichte des Königreichs Osraige zu erforschen, damit man vor der Ratsversammlung des Großkönigs eine Klage gegen die Corco Loígde vorbringen könnte. So ist es doch wohl?«

Grella schwieg und starrte trotzig vor sich hin.

Fidelma lächelte die Bibliothekarin plötzlich an.

»Du bist in einer ungünstigen Lage, Grella. Als Frau aus Osraige neigst du dazu, die abgesetzten heimatlichen Könige zu unterstützen. Ich glaube, ich weiß jetzt, weshalb der Ehrwürdige Dacán nach Ros Ailithir kam. Doch warum wurde er umgebracht? Wollte man damit verhindern, daß seine Erkenntnisse nach Laigin gelangten?«

Schwester Grellas Ausdruck änderte sich nicht.

»Komm, sag schon was, Grella«, drang Fidelma in sie. »Wir alle haben ein Recht auf unsere Meinung. Du bist eine Frau aus Osraige. Zweifellos hast du auch eine Meinung. Wenn du für die Rückkehr der ursprünglichen Könige eintrittst, dann bedeutet das auch, daß du kein Motiv hattest, Dacán zu töten.«

Grellas Augen blitzten plötzlich auf.

»Ich? Ich Dacán töten? Wie kannst du es wagen …« Sie bemühte sich, ihren Zorn zu beherrschen. Ruhig sprach sie weiter: »Ja, natürlich habe ich eine Meinung. Das Erbe Ciaráns hängt uns wie ein Mühlstein am Halse. Aber ich bin niemand, der die Dinge verändern möchte.«

Fidelma lehnte sich zurück. Sie meinte einen Schritt vorangekommen zu sein, doch hatten sich damit viele neue Geheimnisse und Rätsel vor ihr aufgetürmt.

»Also hast du Dacán alle die alten Texte zur Verfügung gestellt, die er brauchte, um Informationen für den König von Laigin zu sammeln, damit dieser vor dem Großkönig einen neuen Antrag auf die Rückgabe von Osraige stellen könnte?«

Schwester Grella gab keine Antwort, und Fidelma fuhr fort. »Dacán studierte die Texte und machte sich Aufzeichnungen für einen Bericht, den er in Laigin erstatten wollte, nicht wahr?«

»Das habe ich bereits zugegeben.«

»Wo bewahrte er seine Notizen und Aufzeichnungen auf?«

Schwester Grella verzog das Gesicht.

»In seinem Zimmer im Gästehaus, nehme ich an.«

»Überrascht es dich dann nicht zu hören, daß sich in seinem Zimmer weiter nichts befand als ein paar leere Pergamentblätter, etwas Schreibmaterial und das hier …«

Fidelma zog den kurzen Espenholzstab aus ihrem Gewand, den sie in Dacáns Zimmer entdeckt hatte.

Grella nahm ihn, drehte ihn und las die eingekerbten Zeichen.

»Es ist ein Stück aus dem ›Lied der Mugain‹, die eine Tochter von Cúcraide mac Duí war, des ersten Königs von Osraige, der den Corco Loígde angehörte. Darin wird ein Teil der Genealogie der angestammten Könige von Osraige aufgezählt. Ich habe noch gar nicht gemerkt, daß der Stab fehlt.«

Sie stand auf, ging in eine Ecke des Zimmers und sah mehrere Behältnisse durch, in denen Bündel von Stäben aufbewahrt wurden. Sie nahm eines, prüfte den Inhalt und schnalzte mit der Zunge.

»Ja, es ist ein Stab aus dieser Sammlung.«

»Der Stil ist eigenartig, eher der eines Testaments als der einer Genealogie«, wandte Fidelma ein.

Grella kniff die Augen zusammen.

»Verstehst du Ogham?« fragte sie scharf.

»Ja.«

»Nun, es ist kein Testament«, erwiderte Grella nicht gerade freundlich, »die Symbolik ist die eines Gedichts.«

»Anscheinend hatte Dacán die Stäbe mit auf sein Zimmer genommen, um sich ihren Text abzuschreiben, und als er sie zurückbrachte, vergaß er diesen hier, denn er war zu Boden gefallen. War das so üblich, daß er Bücher und Dichterstäbe mit auf sein Zimmer nahm?«

Grella schüttelte den Kopf.

»Nein, durchaus nicht. So arbeitete Dacán nicht. Er wollte nicht, daß irgend jemand erfuhr, wonach er suchte, deshalb nahm er gewöhnlich nichts aus der Tech Screptra mit. Normalerweise las er in diesem Zimmer hier, in dem wir sitzen. Es ist mein privater Arbeitsraum als Bibliothekarin. Aus diesem Zimmer wurde nichts fortgeschafft.«

»Aber jemand muß zumindest diesen einen Stab des ›Liedes der Mugain‹ mit nach draußen genommen haben«, widersprach Fidelma. »Wie hätte er sich sonst in Dacáns Zimmer befinden können?«

»Die Frage kann ich nicht beantworten.«

»Und du meinst, daß er seine Notizen oder Aufzeichnungen niemals hier in der Bibliothek ließ?«

Schwester Grella saß ihr steif gegenüber.

»Ich kann dir versichern, daß ich nichts davon weiß.«

»Kanntest du den Kaufmann Assíd?«

Der Themenwechsel kam so plötzlich, daß Schwester Grella um eine Wiederholung der Frage bat.

»Ich sah ihn beim Abendessen vor der Nacht, in der Dacán ermordet wurde«, antwortete Schwester Grella. »Was hat er damit zu tun?«

»Konntest du feststellen, ob Dacán Assíd kannte?«

Von Grellas Gesicht ließ sich nichts ablesen.

»Assíd stammt aus Laigin. Die meisten Leute in dem Königreich kannten Dacán oder hatten zumindest von ihm gehört.«

»Ich glaube, daß es Assíd war, der die Nachricht vom Tode Dacáns nach Fearna brachte«, fuhr Fidelma fort. »Die Kunde von seinem Tod gelangte äußerst schnell dorthin. Nur eine barc, die an der Küsten entlangsegelte, vermochte Fearna in so kurzer Zeit zu erreichen.«

»Dazu kann ich nichts sagen.«

»Hältst du es für möglich, daß Assíd Dacáns Aufzeichnungen mitgenommen hat?«

»Meinst du, daß Assíd sie gestohlen hat?« fragte Grella. Es klang weder überrascht noch entrüstet.

»Das wäre eine mögliche Erklärung.«

»Ja, das wäre denkbar«, stimmte Schwester Grella zu. »Aber schließt du daraus, daß Assíd Dacán ermordet hat?«

»Bis jetzt weiß ich das noch nicht.«

Fidelma stand auf.

Schwester Grella starrte sie an.

»Eine solche Erklärung würde es dem König in Cashel erlauben, sich aus seiner Verantwortung davonzustehlen.«

Fidelma blickte mit der Spur eines Lächelns auf sie hinunter.

»Wieso?«

»Nun, wenn Dacán von einem Mann aus Laigin ermordet wurde, dann würde Laigins Anspruch auf Osraige als Sühnepreis für Dacán gegenstandslos, nicht wahr?«

»Genau«, stimmte Fidelma ihr zu.

Sie verließ das Zimmer der Bibliothekarin und ging zurück durch die Stille der Tech Screptra, begleitet von seufzenden Atemzügen, dem Rascheln der Seiten und dem Kratzen der Federn.

Eine Gestalt fiel ihr auf zwischen all den Buchtaschen. Sie zog ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich dadurch auf sich, daß sie so offensichtlich unauffällig bleiben wollte. Hätte sie sich mit den Büchern beschäftigt, hätte Fidelma sie wahrscheinlich nicht bemerkt. Doch die Gestalt bemühte sich so sehr, wie ein ernsthafter Leser in der Bibliothek zu erscheinen, daß sie sofort einen zweiten Blick herausforderte. Nun, beschloß Fidelma, wenn diese Gestalt so offenkundig nicht von ihr beachtet werden wollte, dann würde sie auch nicht verraten, daß sie sie erkannt hatte.

Es war Schwester Necht.

Draußen, vor der düsteren, von Kerzen erhellten Tech Screptra war es kalt geworden, von Westen trieben Wolken heran und brachten Nieselregen mit.

Fidelma eilte dem Gästehaus zu.

Bruder Rumann hatte dafür gesorgt, daß in dem großen Kamin des Eingangsraumes ein Feuer brannte. Fidelma war froh über die Wärme, denn das Wetter war wirklich entmutigend. Sie wollte feststellen, ob Schwester Eisten oder die Kinder wieder aufgetaucht seien, und ging zu ihren Zimmern. Die Türen standen offen, doch die Zimmer waren leer.

Fidelma biß sich auf die Unterlippe. Die Zimmer der Kinder standen nicht nur leer, sie sahen aus, als seien sie nie bezogen worden.

Fidelma eilte durch den Gang zurück zu dem Zimmer, das Bruder Rumann als Büro diente.

Der füllige Mönch saß an seinem brandubh-Brett und tüftelte gerade an neuen Zügen.

Er blickte überrascht auf, als Fidelma nach flüchtigem Anklopfen eintrat.

»Ach, du bist es, Schwester.« Er lächelte und deutete auf das Brett. »Kommst du, um mich zu einem Spiel herauszufordern?«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Im Augenblick nicht, Bruder Rumann. Mich interessiert mehr, wo die Kinder stecken.«

»Die Kinder?«

»Die Kinder aus Rae na Scríne.«

»Die wurden nach dem Mittagessen zu Bruder Midach gebracht. Wolltest du sie noch einmal sehen, bevor sie abreisten?« fragte er verwundert.

»Abreisten? Wohin?«

»Bruder Midach untersuchte sie abschließend noch einmal, um sicherzugehen, daß sie keine Anzeichen der Gelben Pest aufwiesen, und dann sollte Schwester Aíbnat sie zu dem Waisenhaus an der Küste bringen, das sie und Bruder Molua führen. Ich glaube, inzwischen sind sie fort.«

»Sind sie alle weg?«

»Wahrscheinlich ja, Schwester. Bruder Midach weiß das sicher.«

Fidelma machte sich eilig auf die Suche nach dem leitenden Arzt der Abtei.

Bruder Midach sah nicht so aus, wie man sich einen Arzt vorstellt. Offenbar besaß er Humor, denn sein rundes Gesicht war von unzähligen Lachfalten durchzogen. Das Haar ging ihm aus, und es war schwer zu entscheiden, wie weit die Tonsur reichte und was natürliche Kahlheit war. Seine Lippen waren dünn, seine braunen Augen blickten warm und freundlich, und auf seinen Wangen standen Bartstoppeln.

Fidelma hatte sein Zimmer, ohne anzuklopfen, betreten. Der Arzt war allein und anscheinend dabei, eine Kräutermixtur herzustellen. Er blickte stirnrunzelnd auf.

»Ich bin Fidelma von Kildare«, begann sie.

Bruder Midach musterte sie eingehend, bevor er antwortete, unterbrach aber seine Tätigkeit nicht.

»Mein Kollege, Bruder Tóla, hat von dir gesprochen. Suchst du ihn?«

»Nein. Ich habe gehört, du hast heute nachmittag die Kinder aus Rae na Scríne untersucht. Stimmt das?«

»Das stimmt«, antwortete Bruder Midach. »Der Abt hielt es für das beste, sie direkt zu Bruder Molua weiterzuschicken, der an der Küste ein Haus für Waisenkinder hat. Schwester Aíbnat hatte den Auftrag, sie dort hinzubringen. Ich sollte sie untersuchen, um festzustellen, ob sie gesund sind.«

Fidelma war die Enttäuschung anzusehen.

»Also sind sie alle fort?«

Midach nickte zerstreut und zerstieß weiter Blätter in seinem Mörser.

»Wir haben hier keine Einrichtungen für Kinder«, erklärte er. »Die beiden kleinen Mädchen waren gesund. Und je eher Tressach, der Junge, mit anderen Jungen zusammenkommt, desto glücklicher wird er sein. Ja, im Hause Moluas wird es ihnen besser gehen.«

»Du sagst gar nichts von den beiden Brüdern, Cétach und Cosrach?«

Midach hob den Blick vom Mörser.

»Welche beiden Brüder?« fragte er. »Da waren zwei Schwestern …«

»Die schwarzhaarigen Jungen«, unterbrach Fidelma ihn ungeduldig.

»Ich weiß nichts von schwarzhaarigen Jungen. Ich habe zwei Mädchen untersucht und einen achtjährigen Jungen«, stellte Midach fest.

»Keinen vierzehnjährigen und keinen ungefähr zehnjährigen Jungen?«

Midach schüttelte verblüfft den Kopf.

»Nun sag mir bloß nicht, daß Bruder Rumann etwas verwechselt hat und zwei andere Kinder zu Molua geschickt werden sollten? Ich habe sie bestimmt nicht gesehen …«

Aber Fidelma war schon hinaus und auf dem Wege zum Gästehaus.

Bruder Rumann fuhr überrascht auf, als sie erneut bei ihm hereinplatzte.

»Die beiden schwarzhaarigen Jungen«, fragte sie. »Cétach und Cosrach. Wo sind sie?«

Bruder Rumann sah sie gekränkt an und blickte auf sein brandubh-Brett. Die Figuren waren durcheinandergefallen, wahrscheinlich durch seine erschrockene Bewegung, als Fidelma zur Tür hereinstürmte.

»Also wirklich, Schwester. Ein wenig Geduld bitte. Ich hatte beinahe eine neue Kombination fertig. Eine wundervolle Taktik …«

Er hielt inne, als er merkte, wie aufgeregt sie war.

»Ist etwas geschehen?«

»Ich frage dich, wo die beiden schwarzhaarigen Jungen sind, Cétach und Cosrach.«

Bruder Rumann ordnete langsam die Figuren auf dem brandubh-Brett.

»Schwester Aíbnat sollte sämtliche Kinder zu Bruder Midach bringen, und wenn er der Meinung wäre, sie seien gesund genug, dann sollte sie mit ihnen zu Molua aufbrechen.«

»Bruder Midach sagt, daß ihm nur die beiden kleinen Mädchen, Ciar und Cera, vorgestellt wurden und ein etwa achtjähriger Junge, nämlich Tressach. Was ist aus den anderen beiden Jungen geworden?«

Bruder Rumann erhob sich.

»Bist du sicher, daß sie nicht mit Schwester Aíbnat fort sind?« fragte er ungläubig.

»Bruder Midach weiß nichts von ihnen«, erwiderte Fidelma.

»Wo können sie sich dann versteckt haben? Dumme, eigensinnige Kinder. Sie hätten mit Schwester Aíbnat mitgehen sollen. Jetzt müssen wir noch jemanden zu Moluas Waisenhaus schicken.«

»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

»Daran kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht, als Salbach hier ankam. Mir fällt ein, daß Schwester Necht mit ihnen in ihrem Zimmer sprach. Kurz darauf kam die Anordnung von Brocc, daß die Kinder in das Waisenhaus geschickt werden sollten.«

»Hast du eine Ahnung, wo sie sich versteckt halten könnten?« fragte Fidelma. Sie erinnerte sich, wie sehr Cétach sich vor Salbach fürchtete. Hatten er und sein Bruder sich irgendwo versteckt und warteten darauf, daß Salbach die Abtei verließ? Saßen sie vielleicht immer noch dort, weil sie nicht wußten, daß er schon fort war?

»Es gibt viele Möglichkeiten«, versicherte ihr Rumann. »Aber mach dir keine Sorgen, Schwester. Bald läutet die Vesperglocke, und dann wird der Hunger sie aus ihrem Versteck treiben.«

Fidelma war nicht davon überzeugt.

»Wir hatten schon angenommen, die Mittagsglocke würde sie zum Essen locken. Wenn du Schwester Eisten siehst, sag ihr, daß ich sie sprechen möchte.«

Bruder Rumann nickte zerstreut und wandte sich wieder seinem brandubh-Spiel zu.

In ihrem Zimmer streckte sich Fidelma erschöpft auf dem Bett aus. Sie wünschte, sie hätte Brocc gesagt, die Kinder aus Rae na Scríne sollten in der Abtei bleiben, bis sie den Fall gelöst hatte. Sie hatte nicht gedacht, daß er sie so schnell fortschicken würde. Für jedes Geheimnis, das sie aufdeckte, kamen neue auf.

Warum hatte Cétach sie gebeten, ihn und seinen Bruder Cosrach nicht vor Salbach zu erwähnen? Warum waren die Jungen dann verschwunden? Warum war Salbach so wenig bereit, ihrer Anklage gegen Intat zu glauben? Und hatten alle diese Dinge etwas mit dem Tode Dacáns zu tun, dessen Ermordung aufzuklären ihre Hauptaufgabe war?

Bisher ergab das, was sie herausgefunden hatte, wenig Sinn. Sie hatte zwar einige Theorien, die sie weiterentwickeln konnte, doch der alte Brehon Morann hatte sie davor gewarnt, Theorien aufzustellen, bevor sie über das ganze Beweismaterial verfügte. Wie lautete doch sein Lieblingsspruch? »Mach keinen Käse, bevor du nicht die Kühe gemolken hast.« Doch sie war sich bewußt, wie schnell ihr größter Feind enteilte – die Zeit.

Sie fragte sich, wie sich ihr Bruder Colgú wohl als König von Muman fühlte. Sie machte sich Sorgen um ihn.

Ihm war sicher wenig Zeit geblieben, den toten König Cathal mac Cathail, ihren Vetter, zu betrauern. Doch die Hauptsache war, daß ein Krieg verhindert werden mußte. Und die Verantwortung dafür lastete ausschließlich auf ihr.

Wieder wünschte sie sich, Eadulf von Seaxmund’s Ham wäre hier bei ihr und sie könnte ihre Vermutungen und Verdachtsmomente mit ihm besprechen. Doch dann fühlte sie sich irgendwie schuldig wegen dieses Wunsches und begriff nicht, warum.

Das Zuschlagen einer Tür ließ sie sich rasch aufrichten. Sie hörte schwere, eilige Schritte auf dem Gang unten und dann auf der Treppe zum Obergeschoß des Gästehauses. Solche Schritte verhießen nichts Gutes. Als die Schritte ihre Tür erreichten, hatte sie sich schon vom Bett erhoben und stand der Tür gegenüber.

Es war Cass, der nach flüchtigem Anklopfen ins Zimmer stürzte. Er war völlig außer Atem.

»Schwester Fidelma!« keuchte er. »Schwester Eisten. Man hat sie gefunden.«

Sie starrte ihn an, las das Weitere in seinen Augen.

»Hat man sie tot gefunden?« fragte sie leise.

»Ja!« bestätigte Cass.