KAPITEL 4

Die mittägliche Angelusglocke läutete bereits, als Fidelma und ihre Begleiter die Abtei von Ros Ailithir erblickten. Sie waren länger unterwegs gewesen, als sie gedacht hatte, denn der Tag war zwar warm und hell, doch die Wege waren noch feucht und morastig und schwer zu begehen.

Die Abtei war größer, als Fidelma es sich vorgestellt hatte, sie nahm mit ihren mächtigen grauen Steingebäuden einen ganzen Berghang oberhalb eines engen Meeresarms ein. Letzterer war so lang und schmal, daß man ihn kaum eine Bucht nennen konnte. Sie bemerkte flüchtig, daß mehrere Schiffe darin vor Anker lagen, dann wandte sie ihren Blick wieder den grauen Häusern zu. Es waren mehrere große Gebäude hinter einer hohen dunklen Granitmauer, die sich in einem Oval um sie herum zog. In ihrer Mitte erkannte man die imposante Abteikirche, ein bemerkenswertes und ungewöhnliches Bauwerk. Die meisten Kirchen in den fünf Königreichen waren rund gebaut, diese jedoch war in Form eines Kreuzes errichtet, mit einem langen Hauptschiff und Querschiffen im rechten Winkel dazu. Fidelma wußte, daß sich dieser Stil bei den neuen Kirchenbauherren wachsender Beliebtheit erfreute. Daneben stand ein hohes cloictheach, ein Glockenhaus, aus dem ein feierliches Läuten herausdrang und in dem engen Tal widerhallte, das sich zum Wasser hinabsenkte.

Eins der Kinder, es war der jüngere der beiden schwarzhaarigen Brüder, stöhnte leise und begann zu zittern. Sein Bruder sprach scharf, aber gedämpft auf ihn ein.

»Was ist mit ihm?« fragte Cass. Er stand den beiden Jungen am nächsten.

»Mein Bruder glaubt, es würde uns schlecht ergehen, wenn wir zu Erwachsenen kommen«, erklärte der Ältere ernst. »Er fürchtet sich, nach dem, was gestern geschehen ist.«

Cass lächelte dem jüngeren Knaben beruhigend zu. »Hab keine Angst, mein Junge. Hier wird dir niemand etwas tun. Es ist eine heilige Abtei. Man wird dir helfen.«

Der Ältere flüsterte seinem kleinen Bruder erneut etwas ins Ohr und wandte sich dann an Cass: »Nun ist er beruhigt.«

Allen Kindern war die Ermüdung und Erschöpfung nach ihren schrecklichen Erlebnissen anzumerken. Sie waren körperlich und mit den Nerven am Ende. Bei der unruhigen Rast in der kalten Nacht hatten sie sich nicht erholt, und im Laufe des Vormittags hatten sie einen schwierigen Weg zurückgelegt.

»Ich wußte gar nicht, daß die Abtei so groß ist«, bemerkte Fidelma fröhlich zu Cass, sie versuchte, die Gruppe ein wenig aufzuheitern.

»Ich habe gehört, daß hier Hunderte zum Glauben Bekehrte studieren«, erwiderte Cass gleichgültig.

Das Glockengeläut verstummte plötzlich.

Fidelma gab das Zeichen zum Weitergehen. Sie war ein wenig beunruhigt, weil sie den Ruf zum Gebet nicht befolgt hatte. Doch sie hatte erst Zeit, innezuhalten und zu beten, wenn sie und ihre erschöpften Schützlinge sicher hinter den Mauern der Abtei waren. Besorgt schaute sie Schwester Eisten an, sie schien in trauriges Sinnen versunken. Fidelma schrieb dies dem Schock über den Tod des Babys zu. Bald nach dem Aufbruch war Eisten in trübsinnige Niedergeschlagenheit verfallen und schien ihre Umgebung gar nicht mehr wahrzunehmen. Sie ging automatisch weiter, den Kopf gesenkt und den Blick auf den Boden gerichtet, und gab keine Antwort, wenn sie angesprochen wurde. Fidelma war aufgefallen, daß sie nicht einmal die Augen hob, als Ros Ailithir in Sicht kam und man die Glocken hörte. Ja, es war wichtiger, die Gruppe in die Abtei zu bringen, als die vorgeschriebenen Gebete zu verrichten.

Als sie sich den Mauern der Abtei näherten, sah sie einige Mönche, die auf den umliegenden Feldern arbeiteten. Anscheinend schnitten sie Kohl fürs Viehfutter. Ein paar neugierige Blicke trafen sie, aber die meisten Männer arbeiteten fleißig weiter an diesem kalten Herbstmorgen.

Die Tore der Abtei standen offen. Neben dem Tor sah Fidelma ein Bündel von geflochtenen Weiden- und Espenzweigen hängen. Sie versuchte sich zu erinnern, was das bedeutete, aber es fiel ihr nicht ein. Am Tor erwartete sie ein untersetzter Mann mittleren Alters in Mönchskleidung. Das Haar, das ihm die Tonsur gelassen hatte, war lang und graumeliert. Er wirkte muskulös, und seine finstere Miene deutete an, daß mit ihm nicht zu spaßen war.

»Bene vobis«, intonierte er mit tiefem Bariton den üblichen Gruß.

»Deus vobiscum«, antwortete Schwester Fidelma automatisch und entschied sich dann dafür, auf die restlichen Höflichkeiten zu verzichten. »Diese Kinder brauchen Essen, Wärme und Ruhe«, forderte sie ohne weitere Vorrede. Die Augen des Mannes weiteten sich vor Erstaunen. »Diese Schwester hier auch. Sie haben Schlimmes erlebt. Ich muß euch darauf hinweisen, daß sie mit der Gelben Pest in Berührung gekommen sind und deshalb sofort von eurem Arzt untersucht werden müssen. Inzwischen möchten mein Begleiter und ich zum Abt Brocc geführt werden.«

Der Mann stotterte vor Verblüffung, daß eine junge Nonne so viele Befehle erteilte, bevor ihr ordnungsgemäß die Gastfreundschaft der Abtei gewährt worden war. Seine Brauen zogen sich zusammen, und er öffnete den Mund zum Protest.

Fidelma schnitt ihm das Wort ab.

»Ich bin Fidelma von Cashel. Der Abt erwartet mich sicherlich«, setzte sie mit Bestimmtheit hinzu.

Der Mann stand mit offenem Mund da und schluckte wie ein Fisch. Als Fidelma ihre Gruppe an ihm vorbei durch das Tor führte, faßte er sich. Er eilte ihr nach auf den großen gepflasterten Hof.

»Schwester Fidelma … wir, das heißt …« Er war offensichtlich verwirrt von ihrem formlosen Eindringen. »Wir erwarten dich seit gestern oder so etwa. Wir wurden vorgewarnt … verständigt … dich zu erwarten … Ich bin Bruder Conghus, der aistreóir der Abtei. Was ist passiert? Wer sind diese Kinder?«

»Überlebende aus Rae na Scríne, das bei einem Überfall niedergebrannt wurde«, antwortete Fidelma knapp.

Der Mönch schaute von den mitleiderregenden Kindern zu Schwester Eisten. Plötzlich erkannte er sie.

»Schwester Eisten! Was ist passiert?«

Die junge Frau starrte gedankenverloren ins Leere und reagierte nicht.

Der Mönch wandte sich wieder an Fidelma; er war sichtlich durcheinander.

»Schwester Eisten ist in der Abtei wohlbekannt. Sie führte das Waisenhaus in Rae na Scríne. Bei einem Überfall zerstört, sagst du?«

Fidelma nickte bestätigend.

»Das Dorf wurde von einem Trupp angegriffen, den ein Mann namens Intat anführte. Nur Schwester Eisten und diese Kinder blieben am Leben. Ich verlange Asyl für sie.«

»Du hast auch etwas von der Gelben Pest gesagt«, erinnerte sie Bruder Conghus leicht verwirrt.

»Ich habe gehört, der Grund für diesen furchtbaren Überfall soll der Ausbruch der Gelben Pest in dem Dorf gewesen sein. Deshalb bitte ich darum, den Arzt der Abtei zu rufen. Fürchtet ihr euch hier vor der Gelben Pest?«

Bruder Conghus schüttelte den Kopf.

»Mit Gottes Hilfe sind die meisten in dieser Abtei bisher von ihr verschont geblieben. Im letzten Jahr trat die Pest viermal auf, hat aber nur wenige Opfer unter den Schülern hier gefordert. Wir fürchten die Krankheit nicht mehr. Ich kümmere mich darum, daß jemand die arme Schwester Eisten und ihre Schützlinge ins Gästehaus bringt. Dort wird man sie gut versorgen.«

Er winkte eine vorbeigehende Novizin heran, ein hochgewachsenes Mädchen mit etwas breiten Schultern und ungeschickter Haltung.

»Schwester Necht, führe diese Schwester und die Kinder in das Gästehaus. Sag Bruder Rumann, er soll Bruder Midach rufen, damit der sie untersucht. Dann sorge dafür, daß sie zu essen bekommen und sich ausruhen können. Ich werde gleich mit Midach sprechen.«

Seine Befehle erteilte er kurz und abgehackt. Fidelma bemerkte, daß das Mädchen zögerte und mit vor Überraschung offenem Munde Eisten und die Kinder anstarrte, die sie wohl erkannte. Dann riß es sich zusammen und beeilte sich, die Kinder und Eisten wegzuführen. Bruder Conghus wandte sich wieder Fidelma zu. »Bruder Midach ist unser leitender Arzt und Rumann unser Verwalter. Sie werden sich um Schwester Eisten und die Kinder kümmern«, erklärte er überflüssigerweise. Er wies über den Hof. »Ich bringe euch zum Abt. Kommt ihr direkt aus Cashel?«

»Ja«, bestätigte Cass, während sie ihm folgten. Als Krieger wies er auf etwas hin, was Fidelma versäumt hatte. »Unsere Pferde müssen trockengerieben und gefüttert werden, Bruder.«

»Ich versorge eure Pferde, sobald ich euch zum Abt geführt habe«, antwortete Conghus.

Der Torhüter der Abtei eilte mit unziemlicher Hast über den gepflasterten Hof und durch die Gebäude und drängte sie von Zeit zu Zeit, ihm schneller zu folgen. Fidelma und Cass gingen jedoch in einem gemächlicheren Tempo, denn sie waren müde. Der Weg schien kein Ende zu nehmen, aber endlich stiegen sie die Treppe zu einem großen, etwas abseits liegenden Haus empor, der aistreóir verhielt vor einer dunklen Eichentür und machte ihnen ein Zeichen zu warten, während er anklopfte und durch die Tür verschwand. Nach wenigen Augenblicken erschien er wieder und winkte sie herein.

Sie betraten ein großes gewölbtes Zimmer, dessen kalte graue Steinwände mit farbigen Teppichen behangen waren, die Szenen aus dem Leben Christi darstellten. Im Kamin glomm ein Feuer, und der Duft von Weihrauch erfüllte den Raum. Der Boden war mit weichen Wollteppichen belegt. Das Zimmer war reich möbliert und mit prächtigem Zierat ausgeschmückt. Der Abt von Ailithir hielt anscheinend nicht viel von Bescheidenheit.

»Fidelma!«

Ein hochgewachsener Mann erhob sich hinter einem dunklen polierten Eichenholztisch. Er war mager, hatte eine Hakennase, durchdringende blaue Augen, und sein rotes Haar war zu einer Tonsur irischer Art geschnitten, vorn geschoren bis zu einer Linie von Ohr zu Ohr und hinten lang herabhängend. Seine Gesichtszüge verrieten dem Kennerblick eine Ähnlichkeit mit Fidelma.

»Ich bin dein Vetter Brocc«, erklärte er mit tönendem Baß. »Ich habe dich nicht gesehen, seit du ein Kind warst.«

Die Begrüßung sollte warm ausfallen, doch irgendwie gelang ihm das nicht. Es schien, als wäre er mit den Gedanken woanders, während er sie willkommen hieß.

Auch als er zur Begrüßung Fidelma beide Hände entgegenstreckte, waren sie kalt und schlaff. Fidelma hatte aus ihrer Kindheit kaum eine Erinnerung an ihren Vetter. Das war nur natürlich, denn Abt Brocc war mindestens zehn oder fünfzehn Jahre älter als sie.

Sie erwiderte seine Begrüßung mit bemühter Förmlichkeit und stellte dann Cass vor.

»Cass ist mir zu meiner Unterstützung in dieser Angelegenheit von meinem Bruder Colgú beigegeben worden.«

Brocc musterte Cass unsicher, und sein Blick fiel auf Cass’ Hals. Der Krieger hatte seinen Mantel geöffnet, und der goldene Halsreif, sein Rangabzeichen, war zu sehen. Cass erfaßte die Hand des Abts mit festem Griff, und Fidelma sah, wie Brocc unter dem Druck das Gesicht verzog.

»Komm, setz dich, Kusine. Du auch, Cass. Mein Torhüter, Bruder Conghus, hat mir berichtet, daß mit euch Schwester Eisten und ein paar Kinder aus Rae na Scríne hier eingetroffen sind. Eistens Mission dort untersteht der Rechtsprechung dieser Abtei, deshalb sind wir sehr besorgt über das, was dort vorgefallen ist. Erzählt mir die Geschichte.«

Fidelma sah Cass an, der erschöpft auf einem Stuhl zusammengesunken war. Der junge Krieger las die Aufforderung in ihrem Blick und berichtete kurz, wie sie Eisten und die Kinder in Rae na Scríne gefunden hatten.

Broccs Gesicht wurde zornig, und er tippte sich nachdenklich auf den Nasenrücken.

»Das ist eine üble Angelegenheit. Ich werde sofort einen Boten an Salbach, den Fürsten der Corco Loígde, schicken. Er wird Intat und seine Leute für dieses furchtbare Verbrechen bestrafen lassen. Überlaßt es mir, das zu regeln. Ich sorge dafür, daß Salbach sogleich davon erfährt.«

»Und Schwester Eisten und ihre Schützlinge?« fragte Fidelma.

»Für sie braucht ihr nichts zu befürchten. Wir werden hier für sie sorgen. Wir haben einen guten Krankensaal, und unser Arzt, Bruder Midach, hat im letzten Jahr schon zehn Fälle der Gelben Pest behandelt. Gott war uns gnädig. Drei der Erkrankten hat er geheilt. Wir fürchten uns hier nicht vor der Pest. Und ist es nicht auch richtig, daß wir uns nicht fürchten? Wir halten uns ja an den Glauben und stehen in Gottes gütiger Hand.«

»Ich freue mich sehr, daß du die Dinge so betrachtest«, antwortete Fidelma. »Ich hatte es nicht anders erwartet.«

Cass überlegte einen Moment, ob sie sich über Broccs fromme Haltung lustig machte.

»Also«, begann Brocc und musterte sie mit seinem kühlen Blick, »kommen wir nun zu dem Hauptzweck eures Besuches hier.«

Fidelma stöhnte innerlich. Sie hätte lieber erst geschlafen und ihren Seelenfrieden wiedergefunden, bevor sie sich dieser Angelegenheit zuwandte. Etwas essen und schlafen … Aber Brocc hatte wohl recht, die Sache duldete keinen Aufschub.

Während sie sich ihre Antwort zurechtlegte, erhob sich Brocc und stellte sich an ein Fenster, das auf den Meeresarm hinausging, wie sie selbst aus ihrer sitzenden Haltung feststellen konnte. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, starrte der Abt hinunter.

»Mir ist klar, Kusine, daß die Zeit knapp ist«, sagte er langsam. »Mir ist auch klar, daß ich als Abt für den Tod des Ehrwürdigen Dacán verantwortlich gemacht werde. Für den Fall, daß ich das nicht wüßte, hat mir der König von Laigin etwas geschickt, um mich daran zu erinnern.«

Fidelma sah ihn einen Augenblick verdutzt an.

»Was meinst du damit?« sprach Cass die Frage aus, die ihr auf der Zunge lag.

Brocc nickte zum Fenster hinaus.

»Seht dort hinunter, zur Mündung des Meeresarms.«

Fidelma und Cass standen auf und traten zu dem Abt. Neugierig spähten sie ihm über die Schulter auf die Stelle, die er ihnen wies. In dem Meeresarm lagen mehrere Schiffe vor Anker, darunter zwei große seegehende. Brocc zeigte auf eins der größeren Schiffe, das nahe der Ausfahrt aus der geschützten Bucht ankerte.

»Du bist ein Krieger, Cass.« Broccs Baßstimme klang düster. »Kannst du das Schiff erkennen? Du siehst, welches ich meine? Nicht das fränkische Handelsschiff, sondern das andere.«

Cass kniff die Augen zusammen.

»Es führt die Flagge Fianamails, des Königs von Laigin«, erwiderte er etwas überrascht. »Es ist ein Kriegsschiff aus Laigin.«

»Genau«, seufzte Brocc, wandte sich um und winkte sie zu ihren Stühlen zurück, während er den seinen wieder einnahm. »Es tauchte vor einer Woche hier auf. Sie haben ein Kriegsschiff hergeschickt, um mich daran zu erinnern, daß Laigin mir für den Tod Dacáns die Verantwortung zuschreibt. Es liegt dort in der Bucht, tagein, tagaus. Um die Sache klarzustellen, kam der Kapitän gleich nach der Ankunft zu mir und unterrichtete mich von den Absichten des Königs von Laigin. Seitdem ist keiner mehr von dem Schiff zur Abtei gekommen. Es liegt einfach in der Einfahrt zur Bucht und wartet – wie eine Katze auf die Maus. Wenn sie mir damit die Ruhe nehmen wollten, dann ist ihnen das gelungen. Zweifellos haben sie vor, dort zu warten, bis die Ratsversammlung des Großkönigs ihre Entscheidung trifft.«

Cass wurde rot vor Zorn.

»Das ist eine Beleidigung der Justiz«, sagte er scharf. »Das ist Einschüchterung. Das ist körperliche Bedrohung.«

»Wie ich gesagt habe, ist es eine Erinnerung daran, daß Laigin Auge um Auge, Zahn um Zahn verlangt. Was sagt die Heilige Schrift? Wenn ein Mann einem anderen ein Auge herausreißt, soll man auch ihm ein Auge ausreißen?«

»Das ist das Gesetz der Israeliten«, erklärte Fidelma. »Es ist nicht das Gesetz der fünf Königreiche.«

»Sehr richtig, Kusine. Doch wenn wir glauben sollen, daß die Israeliten das erwählte Volk Gottes sind, dann sollten wir ihrem Gesetz ebenso folgen wie ihrer Religion.«

»Theologische Debatten können wir später führen«, fuhr Cass dazwischen. »Warum machen sie dich verantwortlich, Brocc? Hast du den Ehrwürdigen Dacán umgebracht?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Dann hat Laigin keinen Grund, dir zu drohen.« Für Cass war der Fall ganz einfach.

Fidelma wandte sich vorwurfsvoll an ihn.

»Laigin hält sich an das Gesetz. Brocc ist hier der Abt. Er ist das Oberhaupt dieser Abtei und damit nach dem Gesetz verantwortlich für alles, was seinen Gästen zustößt. Wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Geldstrafen und Entschädigungen zu zahlen, dann muß das seine Familie tun, so lautet das Gesetz. Weil er den Eóganachta, der Herrscherfamilie von Muman, angehört, wird nun ganz Muman für die Tat haftbar gemacht. Kannst du dieser Logik folgen, Cass?«

»Aber das ist ungerecht«, protestierte Cass.

»Es ist das Gesetz«, beharrte Fidelma. »Das solltest du wissen.«

»Und oft sind Gesetz und Gerechtigkeit zwei Dinge, die nicht übereinstimmen«, bemerkte Brocc bitter. »Aber du hast richtig dargestellt, wie Laigin den Fall sieht. Es bleibt nicht viel Zeit, um eine Verteidigung vorzubereiten, bis die Ratsversammlung des Großkönigs in Tara zusammentritt.«

»Dann wäre es wohl das beste«, Fidelma versuchte ihr Gähnen zu unterdrücken, »wenn du mir die wesentlichen Tatsachen mitteilst, damit ich mir überlegen kann, auf welche Art ich meine Nachforschungen betreibe.«

Abt Brocc fiel ihre Erschöpfung nicht auf. Er breitete die Arme aus zu einer beredten Geste der Verlegenheit.

»Dazu kann ich wenig sagen, Kusine. Die Tatsachen sind folgende: Der Ehrwürdige Dacán kam mit Genehmigung von König Cathal in die Abtei, um unsere Sammlung alter Bücher zu studieren. Wir haben eine große Anzahl von ›Stäben der Dichter‹, in denen im Ogham-Alphabet alte Geschichten und Sagen eingeritzt sind. Wir sind stolz auf unsere Sammlung. Es ist die beste in den fünf Königreichen. Nicht einmal in Tara findet man eine solche Sammlung.«

Fidelma teilte Broccs Stolz. Sie hatte das alte Alphabet gelernt, das der Legende nach den Iren von Ogma, dem heidnischen Gott der Literatur, geschenkt worden war. Es bestand aus einer unterschiedlichen Anzahl von Strichen und Kerben zu einer Grundlinie hin oder darüber hinweg. Dieses alte Alphabet wurde nun mehr und mehr von dem lateinischen verdrängt, das man mit dem christlichen Glauben übernommen hatte.

Brocc fuhr fort: »Wir sind besonders stolz auf unsere Tech Screptra, unsere große Bibliothek. Unsere Gelehrten haben nachgewiesen, daß das Königreich Muman als erstes die Kunst des Ogham den Menschen der fünf Königreiche brachte. Wie du vielleicht weißt, wurde diese Abtei vor fast hundert Jahren vom heiligen Fachtna Mac Mongaig, einem Schüler Itas, gegründet. Er schuf sie nicht nur als ein Haus zur Anbetung Gottes, sondern auch als einen Aufbewahrungsort wissenschaftlicher Bücher, als einen Ort des Lernens für Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Und sie kamen und kommen immer noch, ein endloser Zug von Pilgern auf der Suche nach Wissen. Ros Ailithir ist berühmt in allen fünf Königreichen und noch darüber hinaus.«

Fidelma konnte eine leichte Belustigung über die plötzliche Begeisterung Broccs für seine Abtei nicht unterdrücken. Auch bei den Frommen, die eigentlich ein Beispiel an Demut sein sollten, war oft Hochmut zu finden.

»Und deshalb heißt die Abtei auch das Vorgebirge der Pilger«, sagte Cass leise, als wolle er zeigen, daß er auch etwas beisteuern konnte.

Der Abt sah ihn kühl an und neigte leicht das Haupt.

»Ganz recht, Krieger. Ros Ailithir – das Vorgebirge der Pilger. Und zwar nicht nur der Pilger des Glaubens, sondern auch der Pilger der Wahrheit und des Wissens.«

Fidelma machte eine ungeduldige Geste.

»Also der Ehrwürdige Dacán kam mit der Erlaubnis König Cathals her, um zu studieren. Soviel wissen wir.«

»Und um zu lehren, als Entgelt für den Zugang zu unserer Bibliothek«, ergänzte Brocc. »Sein größtes Interesse bestand darin, die Texte auf den ›Stäben der Dichter‹ zu entziffern. An den meisten Tagen arbeitete er in unserer Tech Screptra.«

»Wie lange hielt er sich hier als Gast auf?«

»Ungefähr zwei Monate.«

»Und wie ist er gestorben?«

Brocc lehnte sich zurück und legte die Hände mit den Handflächen nach unten auf den Tisch.

»Es passierte vor zwei Wochen. Es war kurz vor dem Läuten der Glocke zur Terz.« Er wandte sich an Cass und erläuterte pedantisch: »Die Arbeit eines Abts wird zwischen der Terz am Morgen und der Vesper am Abend getan.«

»Die Terz ist die dritte Stunde des kanonischen Tages«, erklärte Fidelma, als sie sah, daß Cass bei den Worten des Abts verständnislos die Stirn runzelte.

»Es ist die Stunde, in der wir mit unseren Studien beginnen und einige der Brüder zur Arbeit hinausgehen, denn wir haben Ackerland zu bearbeiten und Tiere zu füttern und Fische aus dem Meer zu holen.«

»Weiter«, forderte ihn Fidelma auf, die sich über die Länge seines Berichts ärgerte. Ihre Augenlider brannten, und sie sehnte sich nach etwas Ruhe, nach ein paar Stunden Schlaf.

»Wie gesagt, es war kurz bevor die Glocke zur Terz rief, als Bruder Conghus, mein aistreóir, das ist der Torhüter der Abtei, der auch die Glocken läutet, in mein Zimmer stürzte. Natürlich fragte ich ihn, was ihn veranlaßte, sich derart zu vergessen …«

»Und dann sagte er dir, daß Dacán tot war?« unterbrach ihn Fidelma ungeduldig.

Brocc stutzte; er war es nicht gewohnt, daß ihm jemand ins Wort fiel.

»Er hatte Dacáns cubiculum im Gästehaus aufgesucht. Man hatte Dacán beim jentaculum vermißt.« Er hielt inne und wandte sich herablassend an Cass. »Das ist die Mahlzeit, mit der wir nach dem Aufstehen das Fasten brechen.«

Diesmal machte sich Fidelma nicht die Mühe, ihr Gähnen zu unterdrücken. Der Abt sah leicht gekränkt aus und fuhr eilig fort.

»Bruder Conghus ging ins Gästehaus und fand dort die Leiche des Ehrwürdigen Dacán auf seiner Bettstelle. Man hatte ihn an Händen und Füßen gebunden und ihm dann mehrere Stiche versetzt. Der Arzt wurde geholt und untersuchte ihn. Die Stichwunden gingen alle bis zum Herzen, und jede von ihnen hätte tödlich sein können. Mein fer-tighis, der Verwalter der Abtei, wurde mit den Nachforschungen beauftragt. Er befragte alle, die sich in der Abtei aufhielten, aber niemand hatte etwas Verdächtiges gehört oder gesehen. Es kam nichts ans Licht, was erklärt hätte, wer Dacán ermordet hatte und warum. Weil der Ehrwürdige Dacán ein so berühmter Gast war, sandte ich sogleich eine Nachricht an König Cathal in Cashel.«

»Auch nach Laigin?«

Brocc schüttelte den Kopf.

»Zu der Zeit hielt sich ein Kaufmann aus Laigin in der Abtei auf. Der Seeweg entlang der Küste nach Laigin wird viel befahren. Zweifellos brachte dieser Kaufmann die Nachricht von Dacáns Tod nach Fearna und zu Dacáns Bruder, dem Abt Noé.«

Fidelma beugte sich interessiert vor.

»Wie hieß der Kaufmann?«

»Ich glaube, Assíd. Mein fer-tighis, Bruder Rumann, weiß das sicher.«

»Wann fuhr dieser Kaufmann nach Laigin ab?«

»Ich glaube, es war am selben Tag, an dem die Leiche Dacáns entdeckt wurde. Sicher bin ich mir nicht. Bruder Rumann weiß solche Einzelheiten.«

»Aber Bruder Rumann fand nichts, was den Mord erklärte?« unterbrach Cass.

Während der Abt erneut nickte, fragte Fidelma: »Wann hast du zum erstenmal gehört, daß Laigin dich für den Tod haftbar macht und Entschädigung vom König von Muman verlangt?«

Brocc sah düster drein.

»Als das Kriegsschiff anlegte und der Kapitän in die Abtei kam, um mir zu sagen, daß ich als Abt die Verantwortung trage. Danach traf ein Bote aus Cashel ein, der mir mitteilte, daß der neue König von Laigin als Entschädigung Osraige fordert, König Cathal jedoch dich holen lasse, um den Fall zu untersuchen.«

Fidelma lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und dachte einen Moment nach.

»Ist das alles, was du weißt, Brocc?«

»Ja«, bestätigte Brocc feierlich.

»Nun, klar ist nur, daß der Ehrwürdige Dacán ermordet wurde«, faßte Cass verdrießlich zusammen. »Es ist auch klar, daß die Tat in der Abtei begangen wurde. Folglich ist es auch klar, daß die Entschädigung gezahlt werden muß.«

Fidelma betrachtete ihn mit ironischem Blick.

»Ja, das ist unser Ausgangspunkt.« Sie lächelte spöttisch.

Abrupt stand sie auf.

Cass folgte etwas widerstrebend ihrem Beispiel.

»Wie nun weiter, Kusine?« fragte Brocc eifrig und sah Fidelma an.

»Wie weiter? Ich denke, Cass und ich suchen uns etwas zu essen, denn seit gestern mittag haben wir nichts mehr bekommen, und dann müssen wir uns ausruhen. In der Kälte und Nässe des Waldes konnten wir in der letzten Nacht nur wenig schlafen. Nach der Vesper beginnen wir mit unseren Nachforschungen.«

Broccs Augen weiteten sich.

»Beginnen? Ich dachte, ich hätte dir alles berichtet, was wir in der Abtei darüber wissen.«

»Du weißt nicht, wie ein Brehon eine Untersuchung führt«, erwiderte Fidelma. »Egal. Nach und nach werden wir herausbekommen, wer Dacán ermordete und warum.«

»Meinst du, du schaffst das?« fragte Brocc, und ein schwaches Licht der Erwartung glomm in seinen Augen.

»Dazu bin ich hier.« Fidelmas Stimme klang müde.

Brocc nahm eine kleine silberne Glocke vom Tisch und läutete.

Ein feister Mönch mittleren Alters stürzte ins Zimmer. Jede seiner Bewegungen sprach von überschäumender Energie. Die nervöse Unruhe des Mannes verursachte Fidelma Unbehagen.

»Das ist mein fer-tighis, der Verwalter der Abtei«, stellte ihn Brocc vor. »Bruder Rumann wird in allen Dingen für euch sorgen. Ihr braucht ihn nur zu fragen. Ich sehe euch zur Vesper wieder.«

Bruder Rumann geleitete sie aus dem Zimmer des Abts.

»Ich habe von Bruder Conghus gehört, daß ihr angekommen seid, Schwester, und habe im tech-óiged, unserem Gästehaus, Zimmer für euch vorbereitet.« Seine Stimme war ebenso atemlos, wie seine Erscheinung aufgeregt wirkte. »Ihr werdet euch dort sehr wohl fühlen.«

»Und Essen?« erkundigte sich Cass. Als Fidelma erwähnt hatte, daß sie in den letzten vierundzwanzig Stunden kaum etwas gegessen hatten, war ihm der nagende Hunger bewußt geworden, den er verspürte.

Bruder Rumanns Mondgesicht war so voller Falten, daß man kaum erkennen konnte, ob er lächelte oder grollte.

»Eine Mahlzeit steht bereit«, versicherte er. »Ich führe euch sogleich ins Gästehaus.«

»Dasselbe Gästehaus, in dem der Ehrwürdige Dacán wohnte?« erkundigte sich Fidelma. Bruder Rumann nickte.

Sie folgten ihm durch die grauen steinernen Abteigebäude, über winzige Höfe und durch dämmrige Gänge.

»Wie geht es Schwester Eisten und den Kindern?« fragte Fidelma nach einiger Zeit des Schweigens.

Bruder Rumann gab einen Laut von sich, der wie das Locken einer aufgeregten Glucke klang. Fidelma mußte plötzlich lächeln, denn genau daran erinnerte sie Bruder Rumann, wie er so mit wedelnden Armen vor ihnen her flatterte.

»Schwester Eisten ist erschöpft und scheint von ihren Erlebnissen zutiefst erschüttert zu sein. Die Kinder sind einfach müde und brauchen vor allem Wärme und Schlaf. Bruder Midach, unser leitender Arzt, hat sie untersucht. Es gibt keine Anzeichen von Krankheiten bei ihnen.«

Bruder Rumann blieb vor der Tür eines zweistöckigen Gebäudes stehen, das an eine der Hauptmauern der Abtei grenzte und von der mächtigen Mittelkirche durch einen steingeplasterten Hof getrennt lag, in dessen Mitte ein Brunnen stand.

»Dies ist unser tech-óiged, unser Gästehaus, Schwester. Wir sind stolz darauf. Im Sommer kommen Besucher von überall her zu uns.«

Er riß die Tür auf wie ein Schausteller, der einen schwierigen Trick vor vielen Zuschauern vorführt, und geleitete sie in das Gebäude. Sie betraten eine große Halle, die mit Wandbehängen und Bildern geschmückt war. Eine hölzerne Treppe führte zum oberen Stock hinauf, wo der Verwalter ihnen zwei nebeneinanderliegende Zimmer anwies. Fidelma bemerkte, daß ihre Satteltaschen bereits dort waren.

»Die Zimmer werden hoffentlich bequem genug sein?« fragte Bruder Rumann und wollte schon davoneilen, ohne ihre Antwort abzuwarten. »Für diesmal«, sagte er, »habe ich euer Essen der Einfachheit halber hierher bringen lassen. Von heute abend an werdet ihr die Mahlzeiten aber im Refektorium einnehmen, dem Nachbargebäude. Alle unsere Gäste speisen gewöhnlich dort.«

Fidelma erblickte auf einem Tisch Schüsseln mit dampfender Suppe, einen Holzteller mit Brot und Käse, einen Krug Wein und zwei Tonbecher. Sie spürte, wie ihr das Wasser im Munde zusammenlief.

»Das ist ausgezeichnet«, lobte sie.

»Mein Zimmer liegt unten am anderen Ende des Gästehauses«, fuhr Bruder Rumann fort. »Wenn ihr irgend etwas braucht, findet ihr mich dort. Und mit dieser Glocke«, er wies auf eine kleine bronzene Handglocke auf dem Tisch, »könnt ihr meine Helferin Schwester Necht herbeirufen. Sie ist eine unserer Novizinnen und bedient die Gäste.«

»Noch eins, bevor du gehst«, sagte Fidelma, während Bruder Rumann bereits zur Tür ging. Der füllige Mann blieb stehen und drehte sich fragend um.

»Wie viele Menschen wohnen denn so ungefähr im Gästehaus?«

»Nur ihr selbst. Ach, und dann haben wir Schwester Eisten und die Kinder vorläufig hier untergebracht«, antwortete er.

»Ich habe gehört, die Abtei hätte Hunderte von Schülern«, sagte Fidelma.

Bruder Rumann schnaufte.

»Um die macht euch keine Sorgen. Der Schlafraum der Schüler liegt auf der anderen Seite der Abtei. Wir sind natürlich eine gemischte Gemeinschaft, wie die meisten Abteien. Die männlichen Mitglieder sind bei uns in der Mehrzahl. Ist das alles, Schwester?«

»Für den Augenblick ja«, antwortete Fidelma.

Der Mönch war kaum zur Tür hinaus, als Cass alle Zurückhaltung fahren ließ und sich eine Schüssel mit Suppe heranzog.

»Mehrere hundert Schüler und Mönche und Nonnen«, stöhnte er, als Fidelma sich ebenfalls an den Tisch setzte. »Einen Mörder unter so vielen zu suchen ist, als wollte man am Strand ein bestimmtes Sandkorn finden.«

Fidelma verzog das Gesicht und führte den hölzernen Löffel zum Mund. Sie genoß die Wärme der Suppe.

»So schlecht stehen unsere Chancen vielleicht gar nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Das heißt, wenn der Mörder sich noch in der Abtei aufhält. Nach dem, was Brocc sagte, sind seit dem Mord Leute gekommen und gegangen. Wenn ich den Ehrwürdigen Dacán umgebracht hätte, wäre ich wahrscheinlich nicht hiergeblieben. Aber das hinge davon ab, wer ich wäre und welches Motiv ich für den Mord hätte.«

»Der Mörder könnte in dem Glauben leben, daß er nicht gefaßt wird«, meinte Cass.

»Oder die Mörderin«, ergänzte Fidelma. »Bei allen anderen Fällen, die ich zu untersuchen hatte, gab es immer ein erkennbares Motiv, das sich einem sofort aufdrängte. Hier ist das nicht so. Merkwürdig.«

»Wie meinst du das?«

»Jemand wird tot aufgefunden. Warum? Manchmal handelt es sich um einen Raubmord. Oder die ermordete Person hatte sich verhaßt gemacht. Oder es gab einen anderen naheliegenden Grund, der als Motiv in Frage kommt. Kennen wir das Motiv, können wir uns fragen, wer am ehesten aus dem Verbrechen seinen Nutzen ziehen könnte. Hier fand ein angesehener älterer Gelehrter ein gewaltsames Ende, doch kein Motiv bietet sich an.«

»Vielleicht gab es keines? Vielleicht wurde er von einem Wahnsinnigen umgebracht und …«

Fidelma tadelte Cass sanft.

»Wahnsinn ist selbst schon ein Motiv.«

Cass schüttelte den Kopf und betrachtete traurig die leere Suppenschüssel.

»Das hat geschmeckt«, bemerkte er mit Bedauern darüber, daß nicht mehr da war. »War wohl Hafermehl, Milch und Porree. War das so gut, oder hat es so geschmeckt, weil ich solchen Heißhunger hatte?«

Fidelma lächelte belustigt.

»Diese Suppe soll ein Lieblingsgericht des heiligen Colmcille gewesen sein«, bemerkte sie. »Sie besteht wirklich aus den Zutaten, die du genannt hast, aber ich glaube, alles schmeckt großartig, wenn man lange genug nichts gegessen hat.«

Cass schnitt sich eine Scheibe Käse ab, und Fidelma deutete an, daß sie auch gern eine hätte. Er legte die Scheibe auf den Holzteller und schnitt sich eine andere ab. Dann brach er sich einen Kanten Brot ab. Er kaute nachdenklich daran, während er jedem einen Becher Wein einschenkte.

»Im Ernst, Schwester, wie kannst du hoffen, dieses Rätsel zu lösen? Der Mord geschah vor mehr als zwei Wochen, und ich glaube nicht, daß sich der Verbrecher noch in der Nähe der Abtei aufhält. Und selbst wenn. Es gibt anscheinend keine Zeugen, niemand hat etwas gesehen, keine Spur führt zu dem Täter.«

Fidelma trank ruhig einen Schluck Wein.

»Also, Cass, was würdest du denn an meiner Stelle tun?«

Cass hörte auf zu kauen und blinzelte. Er dachte über die Frage nach.

»So viele Einzelheiten herausfinden wie möglich, nehme ich an, und sie dann nach Cashel berichten.«

»Na«, sagte Fidelma mit gespieltem Ernst, »wenigstens darin stimmen wir überein. Kannst du mir noch weiteren Rat geben, Cass?«

Der junge Krieger errötete.

Fidelma war eine dálaigh. Das wußte er. Sicherlich verspottete sie ihn, weil er sich erdreistet hatte, ihr zu sagen, wie sie ihre Aufgabe lösen sollte.

»Ich wollte damit nicht behaupten …«, setzte er an.

Sie entwaffnete ihn mit einem Lächeln.

»Mach dir keine Sorgen, Cass. Wenn ich angenommen hätte, du wolltest mich kränken, hätte ich mich schon zu wehren gewußt. Vielleicht ist es gut, daß du mir nicht schmeichelst. Obwohl ich meine Stärken ebenso kenne wie meine Schwächen, denn nur Dummköpfe beanspruchen den Respekt für sich, der ihrem Amt gebührt.«

Cass blickte unsicher in Fidelmas grüne Augen und schluckte.

»Einigen wir uns doch darauf«, fuhr sie fort, »daß ich dir nicht sage, wie du im Kampf dein Schwert führen sollst, wenn du mir keine Ratschläge gibst, wie ich die Kunst ausüben soll, für die ich ausgebildet bin.«

Der junge Mann zog ein etwas mürrisches Gesicht.

»Ich wollte nur sagen, daß mir die Aufgabe unlösbar erscheint.«

»Nach meiner Erfahrung sehen alle Aufgaben zuerst so aus. Aber wenn du ein Problem lösen willst, mußt du anfangen und darfst nicht auf der Stelle herumtreten. Verändert sich dein Ausgangspunkt, dann ändert sich auch deine Sicht auf das Problem.«

»Und womit willst du anfangen?« fragte er rasch im Bemühen, die Mißstimmung beizulegen, die noch in Fidelmas scherzhaftem Ton mitschwang.

»Wir fangen damit an, daß wir Bruder Conghus befragen, der die Leiche gefunden hat, dann den Arzt, der sie untersuchte, und schließlich unseren zappeligen Verwalter, Bruder Rumann, der die erste Untersuchung leitete. Einer von ihnen oder jeder offenbart uns vielleicht ein Stückchen des Geheimnisses. Wenn wir alle Stücke, auch die kleinsten, gesammelt haben, dann prüfen wir sie sorgfältig. Vielleicht können wir daraus ein Bild zusammensetzen.«

»Klingt einfach.«

»Ist es aber nicht«, widersprach sie sofort. »Denke daran, daß jede Kleinigkeit hilft. Behalte sie im Gedächtnis, bis du sie verwenden kannst. Doch jetzt, meine ich, werde ich erst einmal schlafen, bevor …«

Als sie sich erhob, zerriß ein durchdringender Schreckensschrei die Stille des Gästehauses.