KAPITEL 10
Die Leiche lag am Sandstrand unterhalb der Mauern der Abtei. Es dunkelte schon, doch eine Gruppe von Fischern und ein paar Mönche und Nonnen hatten sich aus Neugier darum versammelt. Mehrere von ihnen hielten Fackeln in den Händen, die den Schauplatz beleuchteten. Fidelma folgte Cass zu der Gruppe. Sie sah, daß Bruder Midach bereits dort war und die Leiche untersuchte. Ein Mönch mittleren Alters stand hustend neben ihm und hielt ihm eine Laterne. Wahrscheinlich Bruder Martan, der Apotheker. Der Arzt war offensichtlich von den Leuten gerufen worden, die Eisten gefunden hatten. Fidelma meinte in dem flackernden Licht zu erkennen, daß er sichtlich erschüttert aussah.
»Dräng die Leute ein Stück zurück«, wies Fidelma Cass leise an, »außer denen, die die Leiche gefunden haben.«
Sie beugte sich zu Bruder Midach hinunter und schaute ihm über die Schulter.
Schwester Eistens Kleidung war von Wasser vollgesogen. Das Seewasser hatte ihr Haar dicht an den Kopf und über ihr bleiches, volles Gesicht geklebt. Ihre Züge waren vom Entsetzen eines gewaltsamen Todes verzerrt. Ihr prachtvolles Kruzifix hing noch fest an ihrem Hals.
»Kein schöner Anblick«, knurrte Midach, als er Fidelma an seiner Seite bemerkte. »Halte die Laterne höher, Martan«, fügte er, rasch an den Apotheker gewandt, hinzu.
»Das ist ein gewaltsamer Tod nie«, murmelte Fidelma. »Hat sie Selbstmord begangen?«
Midach sah Fidelma einen Moment nachdenklich an und schüttelte verneinend den Kopf. »Was veranlaßt dich zu dieser Frage?«
»Sie erlitt einen Schock, als Rae na Scríne zerstört wurde, und sie war ganz niedergedrückt, als das Baby, das sie gerettet hatte, bald darauf starb. Möglicherweise hat sie sich die Schuld daran gegeben. Ich sah sie heute morgen, und da hatte sie sich noch nicht wieder erholt. Ein Raubmord war es offensichtlich auch nicht, denn sie trägt immer noch ihr wertvolles Kruzifix.«
»Ich glaube nicht, daß sie Selbstmord begangen hat«, erwiderte Bruder Midach.
»Woraus schließt du das?«
Bruder Midach drehte den Kopf des toten Mädchens leicht zur Seite und ließ Bruder Martan die Laterne näher heranhalten.
Da sah Fidelma die klaffende Wunde am Hinterkopf. Selbst das Seewasser hatte nicht alles Blut abwaschen können.
»Sie wurde von hinten angegriffen?«
»Jemand versetzte ihr einen Hieb auf den Hinterkopf«, bestätigte Midach. »Erst danach wurde die Leiche ins Meer geworfen.«
»Also Mord?«
Bruder Midach seufzte tief.
»Ich kann zu keinem anderen Schluß kommen. Dafür spricht nicht nur der Schlag auf den Hinterkopf. Wenn du starke Nerven hast, Schwester, dann sieh dir ihre Hände und Arme an.«
Fidelma tat es. Die Wunden und Brandmale sprachen für sich.
»Die hat sie sich nicht selbst beigebracht.«
»Nein. Sie wurde gefesselt und gefoltert, bevor man sie tötete. Schau dir die Stellen an den Handgelenken an. Sie stammen von Riemen. Als sie tot war, muß der Mörder ihr die Fesseln abgenommen und sie ins Meer geworfen haben.«
Wie betäubt starrte Fidelma auf die Leiche der unglücklichen jungen Frau.
»Wenn du erlaubst, Bruder …« Sie beugte sich vor, nahm die kalten Hände der Toten und untersuchte sie, besonders die Finger und die Nägel. Bruder Midach sah ihr neugierig zu. Fidelma blickte enttäuscht drein.
»Ich hatte gehofft, sie hätte sich gegen ihren Angreifer wehren und irgend etwas packen können, was uns einen Hinweis gäbe«, erklärte sie.
»Nein. Der tödliche Schlag traf sie wahrscheinlich, als sie es nicht ahnte«, sagte Midach. »Sie wurde von hinten erschlagen.«
»Er?« fragte Fidelma scharf.
Midach zuckte gleichmütig die Achseln. »Oder sie, wenn du willst. Obgleich ich nicht glaube, daß eine Frau so etwas tun könnte.«
Fidelma kniff einen Moment die Lippen zusammen, sagte aber nichts.
Bruder Midach erhob sich und klopfte sich den Sand von der Kutte. Er winkte Martan und noch einem Bruder, der aus dem Schatten trat, und wies sie an, die Leiche in die Abtei zu bringen.
»Ich werde die Leiche in die Totenhalle schaffen lassen und dem Abt Bericht erstatten.«
»Sag dem Abt, daß ich bald mit ihm sprechen werde«, sagte Fidelma, erhob sich ebenfalls und schaute nach der kleinen Gruppe von Leuten, die Cass ein Stück zurückgedrängt hatte.
»Meinst du, das hier steht im Zusammenhang mit dem Tod des Ehrwürdigen Dacán?« fragte Midach über die Schulter zurück.
»Das hoffe ich herauszubekommen«, antwortete Fidelma.
Midach verzog das Gesicht und schritt auf das Tor der Abtei zu, gefolgt von Bruder Martan mit der Laterne.
Fidelma ging auf die Gruppe von Menschen zu. Einige wollten anscheinend nichts mit dem traurigen Vorfall zu tun haben, denn sie schlichen sich fort. Cass hatte sich eine Laterne besorgt.
»Wer hat die Leiche gefunden?« fragte Fidelma und blickte einen nach dem anderen an.
Sie sah, wie zwei ältere Fischer im Licht ihrer Fackeln verstörte Blicke tauschten.
»Ihr braucht euch nicht zu fürchten«, beruhigte sie sie. »Ich möchte nur wissen, wo und wie ihr die Leiche gefunden habt.«
Einer der Fischer, ein rotgesichtiger Mann mittleren Alters, schob sich nach vorn.
»Mein Bruder und ich haben sie entdeckt, Schwester.« Er sprach unsicher und zögernd.
»Erzähl mir, wie«, bat ihn Fidelma.
»Wir waren draußen in der Bucht, dicht bei dem Kriegsschiff aus Laigin, und warfen unsere Netze noch mal aus, ehe es dunkel wurde. Wir dachten schon, wir hätten einen großen Fang gemacht, doch als wir das Netz ins Boot holten, da sahen wir …« er bekreuzigte sich angstvoll, »sahen wir die Leiche der Schwester hier.«
»Wie dicht wart ihr bei dem Schiff aus Laigin?« fragte Fidelma.
»Das Schiff aus Laigin liegt am Eingang zur Bucht, dort ist tiefes Wasser und eine der Stellen in dieser Gegend, wo im Winter der Schellfisch steht. Da findet er viel Meeresgetier und Krebse.« Der Fischer spuckte plötzlich verbittert aus. »Und dann kommt dieses Kriegsschiff und geht genau in den Fischgründen vor Anker.«
»Ich verstehe. Also bist du mit deinem Bruder so dicht wie möglich an das Kriegsschiff herangefahren, um zu fischen?«
»Genau. Wir waren bloß ein paar Meter ab, als wir die arme Schwester ins Netz kriegten. Wir haben die Leiche geradewegs ans Ufer gebracht und Alarm geschlagen.«
Cass, der neben Fidelma stand und die Laterne hielt, beugte sich zu ihr.
»Kann sie vielleicht von dem Schiff aus Laigin ins Meer geworfen worden sein?« flüsterte er.
Fidelma ignorierte seine Bemerkung und wandte sich wieder an die Fischer, die sie unsicher ansahen.
»Wie verlaufen die Strömungen hier in der Bucht?« fragte sie.
Einer von ihnen rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Jetzt gerade kommt die Flut herein. Um die Felsen herum sind die Strömungen sehr stark. Sie verlaufen um die ganze Landzunge herum zwischen den Felsen.«
»Demnach könnte die Leiche überall auf der Landzunge ins Meer geworfen worden sein.«
»Sogar auf der anderen Seite der Landzunge, Schwester, auch von dort könnte sie in die Bucht getrieben worden sein.«
»Zur Zeit würde eine Leiche eher an Land treiben als auf See hinaus?« hakte Fidelma nach.
»So ist es«, stimmte der Fischer ihr zu.
»Sehr gut, ihr könnt jetzt gehen«, sagte Fidelma und wiederholte etwas lauter: »Ihr könnt jetzt alle nach Hause gehen.«
Die kleine Gruppe der Neugierigen löste sich auf ihren Befehl langsam und widerwillig auf.
Cass spähte mißtrauisch in die Dunkelheit über der Bucht. Fidelma folgte seinem Blick. Lichter flackerten auf dem Kriegsschiff.
»Kannst du ein Boot rudern, Cass?« fragte Fidelma plötzlich.
»Natürlich«, antwortete er. »Aber …«
»Ich glaube, es wird höchste Zeit, daß wir dem Kriegsschiff aus Laigin einen Besuch abstatten.«
»Wäre das klug? Wenn Schwester Eisten ermordet und vom Schiff ins Meer geworfen wurde …?«
»Wir haben keinen Beweis, nicht einmal einen begründeten Verdacht dafür«, erwiderte Fidelma ruhig. »Komm, suchen wir uns ein Boot.«
Der Klang der Vesperglocke ließ sie innehalten.
Cass drehte die Laterne so, daß das Licht einen Augenblick auf sein Gesicht fiel. Er sah müde aus.
»Wir verpassen die Abendmahlzeit«, protestierte er.
»Ich bin sicher, wir finden später noch etwas, wir verhungern schon nicht. Jetzt suchen wir uns ein Boot«, erwiderte Fidelma entschlossen.
Fidelma saß im Heck des kleinen Bootes und hielt die Laterne hoch, während Cass sich in die Riemen legte. Über das dunkle, rauschende Wasser der Bucht bewegte sich das Boot auf den großen Schatten und die funkelnden Lichter des Kriegsschiffs aus Laigin zu.
Beim Näherkommen sah Fidelma, daß mehrere Laternen das Deck des schlanken Schiffes erhellten. Männer bewegten sich darauf hin und her.
Sie waren nur noch wenige Meter vom Schiff entfernt, als sie angerufen wurden.
»Antworte«, murmelte Fidelma, als Cass an den Riemen zögerte.
»Schiff aus Laigin ahoi!« rief der Krieger. »Ein dálaigh des Gerichtshofs der Brehons will an Bord kommen.«
Mehrere Augenblicke herrschte Schweigen, dann antwortete dieselbe Stimme, die sie angerufen hatte.
»Kommt an Bord und seid willkommen.«
Cass steuerte das Boot längsseit unter eine Strickleiter, die von der Reling herabhing. Ihm wurde ein Tau zugeworfen, mit dem er das Boot festmachte, während Fidelma behende die Leiter emporkletterte und sich über die Reling schwang.
Auf dem Deck sah sie sich einem Dutzend verwegen aussehender Männer gegenüber, die sie verblüfft anstarrten.
Sie hörte, wie Cass hinter ihr hinaufstieg. Ein Mann, dessen Gesicht nicht zu erkennen war, kam mit dem wiegenden Gang eines Seemanns auf sie zu und schaute von Fidelma zu Cass. Sein Blick blieb schließlich an Cass haften.
»Was willst du, dálaigh?« fragte er unfreundlich.
»Ich bin es, die du anreden mußt«, wies Fidelma ihn zurecht. »Ich bin Schwester Fidelma von Kildare, dálaigh am Gerichtshof der Brehons.«
Der Mann wandte sich mit einem Erstaunen zu ihr, das er rasch zu überspielen wußte.
»Von Kildare, so? Vertrittst du Laigin?«
Fidelma ärgerte sich über den verwirrenden Umstand, daß ihr Mutterkloster Kildare tatsächlich im Königreich Laigin stand.
»Nein. Ich gehöre zwar zur Gemeinschaft von Kildare, aber in dieser Angelegenheit vertrete ich das Königreich Muman.«
»Schwester, ich möchte nicht ungastlich erscheinen, aber dies ist ein Kriegsschiff des Königs von Laigin und steht unter seinem Befehl. Ich meine, daß du hier nichts zu sagen hast«, stellte der Seemann hämisch fest.
»Dann darf ich dich an das Seerecht erinnern«, erwiderte Fidelma langsam mit sorgfältiger Betonung. Sie hätte sich zu gern besser darin ausgekannt, verließ sich aber darauf, daß der Seemann es noch weniger kannte als sie. »Erstens bin ich eine dálaigh und untersuche einen Mordfall. Zweitens ist dein Schiff zwar ein Schiff aus Laigin, es ankert aber in einer Bucht von Muman. Es hat weder um die Erlaubnis noch die Gastfreundschaft von Muman nachgesucht.«
»Da irrst du dich, Schwester.« Der Triumph in der Stimme des Seemanns war unverhohlen. »Wir ankern hier mit Erlaubnis von Salbach, dem Fürsten der Corco Loígde.«
Fidelma war froh, daß das Licht der Laternen ihr nicht voll ins Gesicht fiel. Sie schluckte vor Verblüffung. Stimmte es, daß Salbach dem Schiff aus Laigin die Erlaubnis erteilt hatte, die Abtei von Ros Ailithir einzuschüchtern? Was hatte das zu bedeuten? Das würde sie bestimmt nicht erfahren, wenn sie gezwungen wäre, sich wie ein geprügelter Hund mit dem Schwanz zwischen den Beinen fortzuschleichen. Ein Bluff war einen Versuch wert. Was hatte der Brehon Morann einmal gesagt? »Ohne ein gewisses Maß an Täuschung läßt sich kein großes Unternehmen durchführen.«
»Der Fürst der Corco Loígde mag dir die Erlaubnis erteilt haben, aber diese Erlaubnis ist nicht rechtmäßig ohne die Zustimmung des Königs in Cashel.«
»Cashel ist viele Meilen weit weg, Schwester«, spottete der Seemann. »Was der König von Cashel nicht weiß, darüber kann er nicht entscheiden.«
»Aber ich bin hier. Ich bin die Schwester von Colgú, dem König von Cashel. Und ich kann im Namen meines Bruders sprechen.«
Es herrschte Schweigen, während der Seemann das verdaute. Sie hörte, wie er schwer ausatmete.
»Nun gut, Lady«, antwortete er mit etwas mehr Respekt in der Stimme. »Was suchst du hier?«
»Ich will den Kapitän dieses Schiffes unter vier Augen sprechen.«
»Ich bin der Kapitän«, antwortete der Mann. »Komm nach achtern in meine Kajüte.«
Fidelma sah Cass an.
»Warte hier auf mich, Cass. Es wird nicht lange dauern.«
Cass schien davon nicht gerade begeistert zu sein.
Der Seemann führte sie zum Heck des Schiffes und in eine Kajüte unter Deck. Sie war klein und eng und roch stark nach einem beengt lebenden Mann, Körpergeruch vermischte sich mit dem Gestank der Öllampen und anderen Gerüchen, die sie nicht identifizieren konnte. Einen Moment bedauerte sie, daß sie nicht an der frischen Luft auf Deck mit dem Kapitän sprach, aber sie wollte den neugierigen Ohren der Matrosen und Krieger entgehen.
»Lady.« Der Kapitän deutete auf den einzigen Stuhl in der engen Kajüte und warf sich auf ein Ende seiner Koje.
Fidelma ließ sich vorsichtig auf dem schmalen Holzstuhl nieder.
»Du hast einen Vorteil vor mir, Kapitän«, begann Fidelma, »Du kennst meinen Namen, aber ich weiß deinen nicht.«
Der Seemann grinste.
»Mugrón. Ein passender Name für einen Seemann.«
Fidelma mußte ebenfalls lächeln. Der Name bedeutete »Seehundjunge«. Dann kam sie zu dem Grund ihres Besuchs zurück.
»Also, Mugrón, zuerst möchte ich wissen, warum du hier in der Bucht von Ros Ailithir bist.«
»Ich bin hier auf Befehl meines Königs Fianamail von Laigin«, antwortete Mugrón.
»Das erklärt noch nichts. Bringst du Frieden oder Krieg?«
»Ich bin gekommen, um Abt Brocc von Ros Ailithir die Botschaft meines Königs zu übermitteln, daß er ihn für den Tod seines Vetters, des Ehrwürdigen Dacán, verantwortlich macht.«
»Die Botschaft hast du ausgerichtet. Was suchst du hier noch?«
»Ich soll hier warten, um sicherzustellen, daß Brocc zu gegebener Zeit die Verantwortung übernimmt. Mein König wünscht nicht, daß er aus Ros Ailithir verschwindet, bevor die Ratsversammlung des Großkönigs in Tara zusammentritt. Der Brehon meines Königs hat uns erklärt, daß dies nach dem Pfändungsrecht zulässig ist. Wie ich schon sagte, habe ich die Erlaubnis Salbachs, hier zu ankern.«
Fidelma erinnerte sich an ein Gesetz, das sie schon halb vergessen hatte, und erkannte, daß Mugróns Schiff vom Standpunkt dieses Gesetzes aus legal hier vor Anker lag. Juristisch gesehen war das Schiff vor der Abtei, um Brocc zu zwingen, seine Verantwortung für den Tod Dacáns zuzugeben, auch wenn er die Tat nicht selbst begangen hatte; und bis der Gegenbeweis angetreten wurde, durfte das Schiff hier liegen. Das Gesetz ging sogar noch weiter und berechtigte Abt Noé als den nächsten Verwandten Dacáns, ein rituelles Fasten gegen Brocc durchzuführen, bis er seine Schuld anerkannte.
»Du hast Brocc die Botschaft überbracht, als du hier ankamst. War das eine offizielle apad – die Ankündigung dieses Verfahrens?«
»Das war es«, bestätigte Mugrón. »Es wurde entsprechend den Anweisungen des Brehons meines Königs vollzogen.«
Fidelma preßte ärgerlich die Lippen zusammen.
Sie hätte die Situation schon früher erkennen müssen, als sie das Bündel verschlungener Weiden- und Espenzweige sah, das am Tor der Abtei hing. Dies war das Zeichen eines Pfändungsverfahrens gegen einen Klostervorsteher. Es war lange her, daß sie auf den als Di Chetharshlicht Athgabála bekannten Gesetzestext zurückgreifen mußte, der das komplizierte Vorgehen bei Pfändungen regelte. Sie erinnerte sich nur noch, daß man bei diesem Gesetz drei Fehler machen durfte, ohne eine Geldstrafe zahlen zu müssen, weil es so kompliziert war. Sie gestand sich als ihren ersten Fehler zu, daß sie das Pfändungsrecht vergessen hatte.
Das wettergebräunte Gesicht des Seemanns verzog sich spöttisch, während er ihr Mienenspiel beobachtete.
»Der König von Laigin achtet das Gesetz höher als alles andere, Lady«, erklärte er mit sanfter Bosheit.
»Über das Gesetz will ich auch mit dir reden, nachdem ich nun weiß, weshalb du hier bist«, entgegnete Fidelma lebhaft.
»Was soll ein einfacher Seemann wie ich schon vom Gesetz wissen?« konterte Mugrón. »Ich tue, was mir befohlen wird.«
»Du hast zugegeben, daß du hier als Ausführender des Gesetzes auftrittst, nach Anweisungen des Brehons deines Königs«, erwiderte Fidelma rasch. »Dafür verstehst du genug vom Gesetz.«
Mugróns Augen weiteten sich, als er sah, daß sie sich nicht einschüchtern ließ, und dann grinste er. »Na gut. Worüber willst du mit mir sprechen?«
»Eine Glaubensschwester wurde neben deinem Schiff aus dem Wasser gezogen. Sie war tot.«
»Einer meiner Männer hat mir den Vorfall gemeldet«, bestätigte Mugrón. »Es passierte kurz vor dem Dunkelwerden. Zwei Fischer hatten die Leiche in ihrem Netz. Sie ruderten damit zum Ufer.«
»Ihr haltet anscheinend gut Wache auf diesem Schiff. Hat niemand von deiner Mannschaft etwas Verdächtiges bemerkt? Kein Anzeichen dafür, daß die Leiche von den Felsen an der Landspitze ins Meer geworfen wurde?«
»Wir haben nichts gesehen. Wir haben wenig mit dem Land zu tun, außer wenn wir mit Salbachs Erlaubnis von den Einheimischen frisches Fleisch und Gemüse einhandeln.«
»Und die Schwester war nie an Bord dieses Schiffes?«
Mugróns Gesicht wurde rot vor Ärger.
»Schwester Eisten war nicht hier an Bord«, fauchte er. »Wer das behauptet, ist ein Lügner!«
Seine Reaktion gab Fidelma eine Chance.
»Und woher weißt du, daß sie Eisten hieß? Ich habe es nicht erwähnt.« Ihre Stimme war messerscharf.
Mugrón blinzelte.
»Du …«
Sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
»Treib kein Spiel mit mir, Mugrón. Woher kennst du ihren Namen? Ich will die Wahrheit wissen.«
Mugrón hob mit hilfloser Geste die Arme.
»Na schön, du sollst die ganze Wahrheit erfahren. Aber ich möchte mein Leben und mein Schiff nicht in Gefahr bringen. Behalten wir die Sache einstweilen unter uns.«
»Es gibt keine Gefahr, solange man die Wahrheit sagt«, versicherte ihm Fidelma.
Mugrón stand auf, ging zur Kajütentür und rief: »Midnat«. Er setzte sich wieder. Einen Moment später trat ein ältlicher, bärtiger Mann ein und grüßte seemännisch. Er war grauhaarig und sonnenverbrannt.
»Sag der Schwester hier deinen Namen und deine Stellung auf dem Schiff. Dann erzähl ihr, was passierte, als du heute an Land gingst.«
Der Alte drehte sich zu Fidelma um, nickte und entblößte seine zahnlosen Gaumen.
»Ich heiße Midnat, Lady. Ich bin hier der Schiffskoch. Ich ging heute an Land, um frisches Gemüse und Hafer für die Mannschaft zu kaufen.«
»Wann war das?«
»Gerade als in der Abtei zum Mittagessen geläutet wurde.«
»Erzähl Schwester Fidelma, was passierte«, unterbrach ihn Mugrón. »Genau so, wie du es mir erzählt hast.«
Der Alte sah ihn überrascht an.
»Von der …?«
»Na los, Mann«, fuhr ihn Mugrón an. »Erzähl ihr alles.«
Der Alte wischte sich über Mund und Kinn.
»Also, ich gehe zu meinem Boot zurück. Ich habe Gemüse gekauft, weißt du. Also, ich gehe zurück … na, da ruft mich diese Schwester an und fragt mich, ob mein Kapitän zwei Passagiere auf die Reise mitnehmen kann.«
»Sie sprach von zwei Passagieren?« fragte Fidelma. »Was hat sie genau gesagt?«
»Ungefähr so: ›He, Seemann, bist du von dem Seeschiff?‹ sagt sie. Ich nicke. ›Wieviel verlangt dein Kapitän für die Überfahrt von zwei Personen nach Britannien oder Gallien?‹ Da merke ich, daß sie mich für einen von dem fränkischen Schiff da drüben hält. Dem großen Handelsschiff. Sie bietet, sagt sie, zwei screpall für die Überfahrt.«
Fidelma starrte ihn einen Moment verblüfft an.
»Die Schwester bot solche wertvollen Silbermünzen?«
Midnat nickte nachdrücklich.
»Ich sage: ›Würd ich gerne nehmen, Schwester, aber ich bin bloß der Koch von dem Kriegsschiff da aus Laigin. Wenn du aus diesem Land raus willst, mußt du dich an einen Seemann von dem fränkischen Handelsschiff wenden, das auf der anderen Seite der Bucht ankert.‹ Kaum hab ich das gesagt, tritt sie zurück, hat die Hand vor dem Mund und so große Augen, als wär ich der Teufel in Person. Dann dreht sie sich um und rennt weg.«
Der Mann schwieg und wartete, den Blick auf Fidelmas Gesicht gerichtet.
»Ist das alles?« Fidelma war enttäuscht.
»Es war genug«, meinte Midnat.
»Sie verschwand, und du hast sie nicht wieder gesehen?«
»Sie lief weg, das Ufer lang. Ich kehrte auf mein Schiff zurück. Vor einer Weile dann, grade als es dunkel wird, hör ich Lärm. Ich geh an Deck und will sehen, was los ist. Nicht weit weg holen zwei Fischer eine Leiche aus dem Wasser. Es ist dieselbe Schwester, die mir Geld für die Überfahrt geboten hat.«
Fidelma warf ihm einen durchdringenden Blick zu.
»Es war Dämmerung, fast schon dunkel. Wie konntest du sicher sein, daß es dieselbe Schwester war?«
»Es war noch hell genug«, meinte der alte Koch, »und die Leiche der Schwester trug immer noch das merkwürdige Kreuz am Hals. Es war deutlich genug zu sehen, daß ich wußte, daß ich so eins noch nie gesehen hatte außer bei der Schwester, die nach der Überfahrt nach Britannien oder Gallien gefragt hatte.«
Das stimmt schon, dachte Fidelma. Eistens römisches Kreuz war hinreichend auffällig in dieser Gegend. Aber sie wollte sichergehen.
»Merkwürdig? Inwiefern?«
»Es war ein Kreuz ohne einen Kreis.«
»Du meinst ein römisches Kreuz?« fragte Fidelma nach.
»Weiß ich nicht. Wenn du’s so nennst«, antwortete der andere gleichgültig. »Jedenfalls war es groß und verziert und mit ein paar Edelsteinen besetzt, die das Lösegeld für einen König wert sind.«
Es überraschte nicht, daß der alte Seemann die Halbedelsteine für Juwelen von großem Wert hielt. Die Beschreibung war zwar dürftig, reichte aber aus, um Fidelma davon zu überzeugen, daß der Mann die Wahrheit sagte.
»Das wäre alles, Midnat«, stellte Mugrón fest.
Der alte Koch grüßte zum Abschied und verließ die Kajüte.
»Nun?« fragte Mugrón. »Bist du damit zufrieden?«
»Nein«, erwiderte Fidelma ruhig. »Denn das alles erklärt noch nicht, woher du den Namen der unglücklichen Frau weißt.«
Mugrón machte eine wegwerfende Geste.
»Na, das ist kein großes Geheimnis. Ich sagte dir schon, daß wir die Erlaubnis von Salbach haben, hier zu ankern und das Pfändungsverfahren gegen Brocc von Ailithir zu betreiben. Als wir vor gut einer Woche hierherkamen, gingen wir auf Anweisung des Brehons unseres Königs gleich zu Salbachs Burg in Cuan Dóir, um die Erlaubnis dazu einzuholen.«
»Und dann?« fragte Fidelma, die nicht verstand, worauf Mugrón hinauswollte.
»In Cuan Dóir wurde ich Schwester Eisten vorgestellt. Als Midnat zu mir kam und die Schwester mit dem merkwürdigen Kruzifix beschrieb und sagte, das sei dieselbe Schwester, die eine Überfahrt suchte, fielen mir das Kruzifix und der Name wieder ein.«
»Du bist also sicher, daß Schwester Eisten vor einer Woche auf Salbachs Burg war?« fragte Fidelma. Das war alles ziemlich verwirrend.
»Allerdings. Cuan Dóir liegt an der nächsten Bucht, nicht weit von hier. Warum überrascht es dich so, daß sie dort war?«
Fidelma ließ sich auf keine Erklärung ein.
»Eins möchte ich noch von dir, Mugrón«, sagte sie. »Ich möchte, daß du mich zur Abtei begleitest und feststellst, ob die Leiche von Schwester Eisten dieselbe Person ist wie die Schwester, die du in Salbachs Burg gesehen hast. Ich möchte ganz sicher sein.«
Mugrón zögerte.
»Na, ich denke, ein Landgang ist besser, als hier auf dem Pott sitzen und von den Wellen geschaukelt werden. Ich verstehe allerdings nicht, was der Tod dieser unglückseligen jungen Frau mit dem Mord an Dacán zu tun hat? Es gibt für dich doch sicher Wichtigeres zu tun?«
Er sah Fidelmas Gesicht und hob begütigend die Hand.
»Ja, ja, Schwester Fidelma. Ich komme mit, aber du als dálaigh mußt dafür sorgen, daß ich von den Anhängern Abt Broccs nicht beleidigt werde.«
»Das garantiere ich dir«, versicherte ihm Fidelma.
»Dann ist es abgemacht.«
»Noch eins«, sagte Fidelma und hielt Mugrón zurück, als er aufstehen wollte.
»Nämlich?«
»Du sagtest, du wurdest Schwester Eisten vorgestellt. Warum geschah das?«
»Während wir im Bankettsaal auf Salbachs Erscheinen warteten, sah ich sie. Das Kreuz, das sie trug, interessierte mich, weil es so anders war als die Kruzifixe, die hierzulande bei Mönchen und Nonnen üblich sind. In Laigin könnte ich dafür einen guten Preis erzielen.«
»Das stimmt«, bestätigte Fidelma. »Das Kruzifix wurde in Bethlehem gekauft, denn Schwester Eisten machte eine dreijährige Pilgerfahrt zum heiligen Geburtsort Christi.«
»Genau das hat sie mir damals erzählt, Schwester«, pflichtete ihr der Kapitän bei. »Es hat sich wohl fast jeder danach erkundigt. Ich hatte Schwester Eistens Begleiterin gebeten, mich vorzustellen, damit sie wüßte, daß sie mir trauen konnte. Aber leider hing sie zu sehr an dem Kreuz, als daß sie es verkauft hätte.«
»Wer stellte dich vor?« fragte Fidelma. »Du hast angedeutet, daß du die Begleiterin von Schwester Eisten kanntest.«
Mugrón war ohne Arg.
»Natürlich kannte ich sie. Ich war ihr begegnet, als ich im Dienst des alten Königs Fearna besuchte. Und sie erkannte mich auch gleich wieder. Ich war erstaunt, eine Dame aus Laigin in der Burg des Fürsten der Corco Loígde anzutreffen, besonders, da es sich um die frühere Gattin Dacáns handelte.«
Das war nun wirklich eine gewaltige Überraschung.
»Die frühere Gattin des Ehrwürdigen Dacán?« wiederholte Fidelma langsam, sie traute ihren Ohren kaum. »Bist du dir da ganz sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher. Ich wußte, daß Dacán verheiratet gewesen war. Es ist vierzehn Jahre her, aber ich erinnere mich an sie. Sie war damals ein sehr schönes junges Mädchen. Sie blieben nicht lange zusammen, dann ließ sie sich von ihm scheiden, um ihre geistliche Laufbahn zu verfolgen. Ich dachte, sie wäre nach Cealla gegangen.«
»Und wer ist diese frühere Gattin von Dacán?« fragte Fidelma ruhig. »Weißt du ihren Namen?«
»Natürlich. Sie heißt Grella.«