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Am folgenden Tag - der Marquis war gerade dabei, ihm die nötigsten Posen, Gesten und Tanzschritte für den bevorstehenden gesellschaftlichen Auftritt beizubringen - fingierte Grenouille einen Schwindelanfall und stürzte scheinbar vollkommen entkräftet und wie von Erstickung bedroht auf einem Diwan nieder.
Der Marquis war außer sich. Er schrie nach den Dienern, schrie nach Luftwedeln und tragbaren Ventilatoren, und während die Diener eilten, kniete er an Grenouilles Seite nieder, fächelte ihm mit seinem veilchenduftgetränkten Taschentuch Luft zu und beschwor, bebettelte ihn regelrecht, doch ja sich wieder aufzurichten, doch ja nicht jetzt die Seele auszuhauchen, sondern damit, wenn irgend möglich, noch bis übermorgen hinzuwarten, da sonst das Überleben der letalen Fluidaltheorie aufs äußerste gefährdet sei.
Grenouille wand und krümmte sich, keuchte, ächzte, fuchtelte mit seinen Armen gegen das Taschentuch, ließ sich schließlich auf sehr dramatische Weise vom Diwan fallen und verkroch sich in die entlegenste Ecke des Zimmers. «Nicht dieses Parfum!» rief er wie mit allerletzter Kraft, «nicht dieses Parfum! Es tätet mich!» Und erst als Taillade-Espinasse das Taschentuch aus dem Fenster und seinen ebenfalls nach Veilchen riechenden Rock ins Nebenzimmer geworfen hatte, ließ Grenouille seinen Anfall abebben und erzählte mit ruhiger werdender Stimme, dass er als Parfumeur eine berufsbedingt empfindliche Nase besitze und immer schon, besonders aber jetzt in der Zeit der Genesung, auf gewisse Parfums sehr heftig reagiere. Dass ausgerechnet der Duft des Veilchens, einer an und für sich lieblichen Blume, ihm so stark zusetze, könne er sich nur dadurch erklären, dass das Parfum des Marquis einen hohen Bestandteil an Veilchenwurzelextrakt enthalte, welcher wegen seiner unterirdischen Herkunft auf eine letal fluidal angegriffene Person wie ihn, Grenouille, verderblich wirke. Schon gestern, bei der ersten Applikation des Duftes, habe er sich ganz blümerant Gefühlt und heute, als er den Wurzelgeruch abermals wahrgenommen habe, sei ihm gar gewesen, als stoße man ihn zurück in das entsetzliche stickige Erdloch, in dem er sieben Jahre vegetiert habe. Seine Natur habe sich dagegen empört, anders könne er nicht sagen, denn nachdem ihm einmal durch die Kunst des Herrn Marquis ein Leben als Mensch in fluidalfreier Luft geschenkt worden sei, stürbe er lieber sofort, als dass er sich noch einmal dem verhassten Fluidum ausliefere. Noch jetzt krampfe sich alles in ihm zusammen, wenn er bloß an das Wurzelparfum denke. Er glaube aber zuversichtlich, dass er augenblicklich wiederhergestellt sein würde, wenn es ihm der Marquis gestatte, zur vollständigen Austreibung des Veilchenduftes ein eigenes Parfum zu entwerfen. Er denke dabei an eine besonders leichte, aerierte Note, die hauptsächlich aus erdfernen Ingredienzen wie Mandel-und Orangenblütenwasser, Eukalyptus, Fichtennadelöl und Zypressenöl bestehe. Einen Spritzer nur von einem solchen Duft auf seine Kleider, ein paar Tropfen nur an Hals und Wangen - und er wäre ein für allemal gefeit gegen eine Wiederholung des peinlichen Anfalls, der ihn soeben übermannt habe...
Was wir hier der Verständlichkeit halber in ordentlicher indirekter Rede wiedergeben, war in Wirklichkeit ein halbstündiger, von vielen Hustern und Keuchern und Atemnöten unterbrochener blubbernder Wortausbruch, den Grenouille mit Gezittre und Gefuchtle und Augenrollen untermalte. Der Marquis war schwer beeindruckt. Mehr noch als die Leidenssymptomatik überzeugte ihn die feine Argumentation seines Schützlings, die ganz im Sinne der letal fluidalen Theorie vorgebracht war. Natürlich das Veilchenparfum! Ein widerlich erdnahes, ja sogar unterirdisches Produkt! Wahrscheinlich war er selbst, der es seit Jahren benutzte, schon infiziert davon. Hatte keine Ahnung, dass er sich Tag für Tag durch diesen Duft dem Tode näherbrachte. Die Gicht, die Steifheit seines Nackens, die Schlaffheit seines Glieds, das Hämorrhoid, der Ohrendruck, der faule Zahn - all das kam zweifelsohne von dem Gestank der fluidaldurchseuchten Veilchenwurzel. Und dieser kleine dumme Mensch, das Häuflein Elend in der Zimmerecke dort, hatte ihn daraufgebracht. Er war gerührt. Am liebsten wäre er zu ihm gegangen, hätte ihn aufgehoben und an sein aufgeklärtes Herz gedrückt. Aber er fürchtete, noch immer nach Veilchen zu duften, und so schrie er abermals nach den Dienern und befahl, alles Veilchenparfum aus dem Hause zu entfernen, das ganze Palais zu lüften, seine Kleider im Vitalluftventilator zu entseuchen und Grenouille sofort in seiner Sänfte zum besten Parfumeur der Stadt zu bringen. Genau dies aber hatte Grenouille mit seinem Anfall bezweckt.
Das Duftwesen hatte alte Tradition in Montpellier, und obwohl es in jüngster Zeit im Vergleich zur Konkurrenzstadt Grasse etwas heruntergekommen war, lebten doch noch etliche gute Parfumeur-und Handschuhmachermeister in der Stadt. Der angesehenste unter ihnen, ein gewisser Runel, erklärte sich im Hinblick auf die Geschäftsbeziehungen mit dem Hause des Marquis de la Taillade-Espinasse, dessen Seifen-, Öl-und Duftstofflieferant er war, zu dem außergewöhnlichen Schritt bereit, sein Atelier für eine Stunde dem in der Sänfte herbeigeschafften sonderbaren Pariser Parfumeurgesellen abzutreten. Dieser ließ sich nichts erklären, wollte gar nicht wissen, wo er was zu finden habe, er kenne sich schon aus, sagte er, finde sich schon zurecht; und schloss sich in der Werkstatt ein und blieb dort eine gute Stunde, während Runel mit dem Haushofmeister des Marquis auf ein paar Gläser Wein in eine Schenke ging und dort erfahren musste, weswegen man sein Veilchenwasser nicht mehr riechen könne.
Runels Werkstatt und Laden waren bei weitem nicht so üppig ausgestattet wie seinerzeit Baldinis Duftstoffhandlung in Paris. Mit den paar Blütenölen, Wässern und Gewürzen hätte ein durchschnittlicher Parfumeur keine großen Sprünge machen können. Grenouille jedoch erkannte mit dem ersten schnuppernden Atemzug, dass die vorhandenen Stoffe für seine Zwecke durchaus hinreichten. Er wollte keinen großen Duft kreieren; er wollte kein Prestigewässerchen zusammenmischen wie damals für Baldini, so eines, das hervorstach aus dem Meer des Mittelmaßes und die Leute kirre machte. Nicht einmal ein einfaches Orangenblütendüftchen, wie dem Marquis versprochen, war sein eigentliches
Ziel. Die gängigen Essenzen von Neroli, Eukalyptus und Zypressenblatt sollten den eigentlichen Duft, den er sich herzustellen vorgenommen hatte, nur kaschieren: dies aber war der Duft des Menschlichen. Er wollte sich, und wenn es vorläufig auch nur ein schlechtes Surrogat war, den Geruch der Menschen aneignen, den er selber nicht besaß. Freilich den Geruch der Menschen gab es nicht, genau so wenig wie es das menschliche Antlitz gab. Jeder Mensch roch anders, niemand wusste das besser als Grenouille, der Tausende und Abertausende von Individualgerüchen kannte und Menschen schon von Geburt an witternd unterschied. Und doch - es gab ein parfumistisches Grundthema des Menschendufts, ein ziemlich simples übrigens: ein schweißig-fettes, käsigsäuerliches, ein im ganzen reichlich ekelhaftes Grundthema, das allen Menschen gleichermaßen anhaftete und über welchem erst in feinerer Vereinzelung die Wölkchen einer individuellen Aura schwebten.
Diese Aura aber, die höchst komplizierte, unverwechselbare Chiffre des persönlichen Geruchs, war für die meisten Menschen ohnehin nicht wahrnehmbar. Die meisten Menschen wussten nicht, dass sie sie überhaupt besaßen, und taten überdies alles, um sie unter Kleidern oder unter modischen Kunstgerüchen zu verstecken. Nur jener Grundduft, jene primitive Menschendünstelei, war ihnen wohlvertraut, in ihr nur lebten sie und fühlten sich geborgen, und wer nur den eklen allgemeinen Brodem von sich gab, wurde von ihnen schon als ihresgleichen angesehen.
Es war ein seltsames Parfum, das Grenouille an diesem Tag kreierte. Ein seltsameres hatte es bis dahin auf der Welt noch nicht gegeben. Es roch nicht wie ein Duft, sondern wie ein Mensch, der duftet. Wenn man dieses Parfum in einem dunklen Raum gerochen hätte, so hätte man geglaubt, es stehe da ein zweiter Mensch. Und wenn ein Mensch, der selber wie ein Mensch roch, es verwendet hätte, so wäre dieser uns geruchlich vorgekommen wie zwei Menschen oder, schlimmer noch, wie ein monströses Doppelwesen, wie eine Gestalt, die man nicht mehr eindeutig fixieren kann, weil sie sich verschwimmend unscharf darstellt wie ein Bild vom Grunde eines Sees, auf dem die Wellen zittern.
Um diesen Menschenduft zu imitieren - recht ungenügend, wie er selber wusste, aber doch geschickt genug, um andere zu täuschen -, suchte sich Grenouille die ausgefallensten Ingredienzen in Runels Werkstatt zusammen. Da war ein Häufchen Katzendreck hinter der Schwelle der Tür, die zum Hof führte, noch ziemlich frisch. Davon nahm er ein halbes Löffelchen und gab es zusammen mit einigen Tropfen Essig und zerstoßenem Salz in die Mischflasche. Unter dem Werktisch fand er ein daumennagelgroßes Stückchen Käse, das offenbar von einer Mahlzeit Runels stammte. Es war schon ziemlich alt, begann, sich zu zersetzen und Strömte einen beißend scharfen Duft aus. Vom Deckel der Sardinentonne, die im hinteren Teil des Ladens stand, kratzte er ein fischig-ranzig-riechendes Etwas ab, vermischte es mit faulem Ei und Castoreum, Ammoniak, Muskat, gefeiltem Hörn und angesengter Schweineschwarte, fein gebröselt. Dazu gab er ein relativ hohes Quantum Zibet, mischte diese entsetzlichen Zutaten mit Alkohol, ließ digerieren und filtrierte ab in eine zweite Flasche. Die Brühe roch verheerend. Sie stank kloakenhaft, verwesend, und wenn man ihre Ausdünstung mit einem Fächerschlag von reiner Luft vermischte, so war's, als stände man an einem heißen Sommertag in der Rue aux Fers in Paris, Ecke Rue de la Lingerie, wo sich die Düfte von den Hallen, vom Cimetiere des Innocents und von den überfüllten Häusern trafen.
Über diese grauenvolle Basis, die an und für sich eher kadaverhaft als menschenähnlich roch, legte Grenouille nun eine Schicht von ölig-frischen Düften: Pfefferminz, Lavendel, Terpentin, Limone, Eukalyptus, die er durch ein Bouquet von feinen Blütenölen wie Geranium, Rose, Orangenblüte und Jasmin zugleich zügelte und angenehm kaschierte. Nach weiterer Verdünnung mit Alkohol und etwas Essig war von dem Fundament, auf dem die ganze Mischung ruhte, nichts Ekelhaftes mehr zu riechen. Der latente Gestank hatte sich durch die frischen Ingredienzen bis ins Unmerkliche verloren, das Ekelhafte war vom Duft der Blumen geschönt, ja beinahe interessant geworden, und, sonderbar, von Verwesung war nichts mehr zu riechen, nicht das geringste mehr. Es schien im Gegenteil ein heftiger beschwingter Duft von Leben von dem Parfum auszugehen.
Grenouille füllte es auf zwei Flakons, die er verstöpselte und zu sich steckte. Dann wusch er die Flaschen, Mörser, Trichter und Löffel sorgfältig mit Wasser, rieb sie mit Bittermandelöl ab, um alle geruchlichen Spuren zu verwischen, und nahm eine zweite Mischflasche. In ihr komponierte er rasch ein anderes Parfum, eine Art Kopie des ersten, das ebenfalls aus frischen und aus blumigen Elementen bestand, bei dem jedoch die Basis nichts mehr von dem Hexensud enthielt, sondern ganz konventionell etwas Moschus, Amber, ein klein wenig Zibet und Öl von Zedernholz. Für sich genommen roch es völlig anders als das erste flacher, unbescholtener, unvirulenter - denn es fehlte ihm die Komponente des imitierten Menschendufts. Doch wenn ein gewöhnlicher Mensch es applizierte und es sich mit seinem eigenen Geruch vermählte, so würde es von dem, das Grenouille ausschließlich für sich geschaffen hatte, nicht mehr zu unterscheiden sein.
Nachdem er auch das zweite Parfum auf Flakons gefüllt hatte, zog er sich nackt aus und besprengte seine Kleider mit jenem ersten. Dann betupfte er sich selbst damit unter den Achseln, zwischen den Zehen, am Geschlecht, auf der Brust, an Hals, Ohren und Haaren, zog sich wieder an und verließ die Werkstatt.