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Das Ziegenleder für die spanische Haut! Baldini erinnerte sich. Er hatte die Häute vor ein paar Tagen bei Grimal bestellt, feinstes weichstes Waschleder für die Schreibunterlage des Grafen Verhamont, fünfzehn Franc das Stück. Aber jetzt brauchte er sie eigentlich nicht mehr, er konnte sich das Geld sparen. Andrerseits, wenn er den Jungen einfach zurückschickte...? Wer weiß - es könnte einen ungünstigen Eindruck machen, man würde vielleicht reden, Gerächte könnten entstehen: Baldini sei unzuverlässig geworden, Baldini bekomme keine Aufträge mehr, Baldini könne nicht mehr zahlen... und so etwas war nicht gut, nein, nein, denn so etwas drückte womöglich den Verkaufswert des Geschäfts. Es war besser, diese nutzlosen Ziegenhäute anzunehmen. Niemand brauchte zurUnzeit zu erfahren, dass Giuseppe Baldini sein Leben geändert hatte.

«Komm herein!»

Er ließ den Jungen eintreten, und sie gingen in den Laden hinüber, Baldini mit dem Leuchter voran, Grenouille mit seinen Häuten hinterdrein. Es war das erste Mal, dass Grenouille eine Parfumerie betrat, einen Ort, wo Gerüche nicht Beiwerk waren, sondern ganz unverblümt im Mittelpunkt des Interesses standen. Natürlich kannte er sämtliche Parfum - und Drogenhandlungen der Stadt, nächtelang war er vor den Auslagen gestanden, hatte seine Nase an die Spalten der Türen gedrückt. Er kannte sämtliche Düfte, die hier gehandelt wurden, und hatte sie in seinem Innern schon oft zu herrlichsten Parfums zusammengedacht. Es erwartete ihn also nichts Neues. Aber ebenso wie ein musikalisches Kind darauf brennt, ein Orchester aus der Nähe zu sehen oder einmal in der Kirche auf die Empore hinaufzusteigen, zum verborgenen Manual der Orgel, so brannte Grenouille darauf, eine Parfumerie von innen zu sehen, und er hatte, als er hörte, es solle Leder zu Baldini geliefert werden, alles daran gesetzt, diese Besorgung übernehmen zu dürfen.

Und nun stand er in Baldinis Laden, an dem Ort von Paris, an dem die größte Anzahl professioneller Düfte auf engstem Raum versammelt war. Viel sah er nicht im vorüberfliegenden Kerzenlicht, nur kurz den Schatten des Kontors mit der Waage, die beiden Reiher über dem Becken, einen Sessel für die Kunden, die dunklen Regale an den Wänden, das kurze Aufblinken von Messinggerät und weißen Etiketten auf Gläsern und Tiegeln; und er roch auch nicht mehr, als er schon von der Straße her gerochen hatte. Aber er spürte sofort den Ernst, der in diesen Räumen herrschte, fast möchte man sagen, den heiligen Ernst, wenn das Wort «heilig» für Grenouille irgendeine Bedeutung besessen hätte; den kalten Ernst spürte er, die handwerkliche Nüchternheit, den trockenen Geschäftssinn, die an jedem Möbel, an jedem Gerät, an den Bottichen und Flaschen und Töpfen klebten. Und während er hinter Baldini herging, in Baldinis Schatten, denn Baldini nahm sich nicht die Mühe, ihm zu leuchten, überkam ihn der Gedanke, dass er hierhergehöre und nirgendwo anders hin, dass er hier bleiben werde, dass er von hier die Welt aus den Angeln heben würde.

Dieser Gedanke war natürlich von geradezu grotesker Unbescheidenheit. Es gab nichts, aber schon wirklich rein gar nichts, was einen dahergelaufenen Gerbereihilfsarbeiter dubioser Abkunft, ohne Verbindung oder Protektion, ohne die geringste ständische Position, zu der Hoffnung berechtigte, in der renommiertesten Duftstoffhandlung von Paris Fuß zu fassen; um so weniger, als, wie wir wissen, die Auflösung des Geschäfts bereits beschlossene Sache war. Aber es handelte sich ja auch nicht um eine Hoffnung, die sich in Grenouilles unbescheidenen Gedanken ausdrückte, sondern um eine Gewissheit. Diesen Laden, so wusste er, würde er nur noch verlassen, um seine Kleider bei Grimal abzuholen, und dann nicht mehr. Der Zeck hatte Blut gewittert. Jahrelang war er still gewesen, in sich verkapselt, und hatte gewartet. Jetzt ließ er sich fallen auf Gedeih und Verderb, vollkommen hoffnungslos. Und deshalb war seine Sicherheit so groß.

Sie hatten den Laden durchquert. Baldini öffnete den nach der Flussseite gelegenen Hinterraum, der teils als Lager, teils als Werkstatt und Labor diente, wo die Seifen gekocht und die Pomaden gerührt und die Riechwässer in bauchigen Flaschen gemischt wurden. «Da!» sagte er und wies auf einen großen Tisch, der vor dem Fenster stand, «da leg sie hin!»

Grenouille trat aus Baldinis Schatten heraus, legte die Leder auf den Tisch, sprang dann rasch wieder zurück und stellte sich zwischen Baldini und die Tür. Baldini blieb noch eine Weile stehen. Er hielt die Kerze etwas beiseite, damit keine Wachstropfen auf den Tisch fielen, und strich mit dem Fingerrücken über die glatte Fläche des Leders. Dann schlug er das oberste um und fuhr über die samtige, zugleich rauhe und weiche Innenseite. Es war sehr gut, dieses Leder. Wie geschaffen für eine spanische Haut. Es würde sich beim Trocknen kaum verziehen, es würde, wenn man es richtig mit dem Falzbein strich, wieder geschmeidig werden, er spürte das sofort, wenn er es nur zwischen Daumen und Zeigefinger drückte; es konnte Duft für fünf oder zehn Jahre aufnehmen; es war ein sehr, sehr gutes Leder - vielleicht würde er Handschuhe daraus machen, drei Paar für sich und drei Paar für seine Frau, für die Reise nach Messina.

Er zog seine Hand zurück. Rührend sah der Arbeitstisch aus: wie alles bereit lag; die Glaswanne für das Duftbad, die Glasplatte zum Trocknen, die Reibschalen zum Anmischen der Tinktur, Pistill und Spatel, Pinsel und Falzbein und Schere. Es war, als schliefen die Dinge nur, weil es dunkel war, und als würden sie morgen wieder lebendig. Vielleicht sollte er den Tisch mitnehmen nach Messina? Und einen Teil seines Werkzeugs, nur die wichtigsten Stücke...? Man saß und arbeitete sehr gut an diesem Tisch. Er bestand aus Eichenbrettern, und das Gestell ebenfalls, und er war quer verstrebt, da zitterte und wackelte nichts an diesem Tisch, dem machte keine Säure etwas aus und kein Öl und kein Messerschnitt - und ein Vermögen würde es kosten, ihn nach Messina zu bringen! Selbst mit dem Schiff! Und darum wird er verkauft, der Tisch, morgen wird er verkauft, und alles, was darauf, darunter und daneben ist, wird ebenfalls verkauft! Denn er, Baldini, hatte zwar ein sentimentales Herz, aber er hatte auch einen starken Charakter, und deshalb würde er, so schwer es ihm fiel, seinen Entschluss durchführen; mit Tränen in den Augen gab er alles weg, aber er würde es trotzdem tun, denn er wusste, dass es richtig war, er hatte ein Zeichen bekommen.

Er drehte sich um, um zu gehen. Da stand dieser kleine verwachsene Mensch in der Tür, den hatte er fast schon vergessen. «Es ist gut», sagte Baldini. «Richte dem Meister aus, das Leder ist gut. Ich werde in den nächsten Tagen vorbeikommen, um zu bezahlen.»

«Jawohl», sagte Grenouille und blieb stehen und verstellte Baldini, der sich anschickte, seine Werkstatt zu verlassen, den Weg. Baldini stutzte ein wenig, hielt aber in seiner Ahnungslosigkeit das Verhalten des Jungen nicht für Chuzpe, sondern für Schüchternheit.

«Was ist?» fragte er. «Hast du mir noch etwas zu bestellen? Nun? Sag es nur!» Grenouille stand geduckt und schaute Baldini mit jenem Blick an, der scheinbar Ängstlichkeit verriet, in Wirklichkeit aber einer lauernden Gespanntheit entsprang.

«Ich will bei Ihnen arbeiten, Maitre Baldini. Bei Ihnen, in Ihrem Geschäft will ich arbeiten.»

Das war nicht bittend gesagt, sondern fordernd, und es war auch nicht eigentlich gesagt, sondern herausgepresst, hervorgezischelt, schlangenhaft. Und wieder verkannte Baldini das unheimliche Selbstbewusstsein Grenouilles als knabenhafte Unbeholfenheit. Er lächelte ihn freundlich an. «Du bist Gerberlehrling, mein Sohn», sagte er, «ich habe keine Verwendung für einen Gerberlehrling. Ich habe selbst einen Gesellen, und einen Lehrling brauche ich nicht.»

«Sie wollen diese Ziegenleder riechen machen, Maitre Baldini? Diese Leder, die ich Ihnen gebracht habe, die wollen Sie doch riechen machen?» zischelte Grenouille, als habe er Baldinis Antwort gar nicht zur Kenntnis genommen.

«In der Tat», sagte Baldini.

«Mit «Amor und Psyche» von Pelissier?» fragte Grenouille und duckte sich noch tiefer zusammen. Jetzt zuckte ein milder Schrecken durch Baldinis Körper. Nicht weil er sich fragte, woher der Bursche so genau Bescheid wusste, sondern einfach wegen der Namensnennung dieses verhassten Parfums, an dessen Enträtselung er heute gescheitert war.

«Wiekommst du auf die absurde Idee, ich würde ein fremdes Parfum benutzen, um…»

«Sie riechen danach!» zischelte Grenouille. «Sie tragen es auf der Stirn, und in der rechten Rocktasche haben Sie ein Tuch, das ist getränkt davon. Es ist nicht gut, dieses «Amor und Psyche», es ist schlecht, es ist zu viel Bergamotte darin und zu viel Rosmarin und zu wenig Rosenöl.»

«Aha», sagte Baldini, der von der Wendung des Gesprächs ins Exakte völlig überrascht war, «was noch?»

«Orangenblüte, Limette, Nelke, Moschus, Jasmin, Weingeist und etwas, von dem ich den Namen nicht kenne, hier, sehen Sie, da! In dieser Flasche!» Und er deutete mit dem Finger ins Dunkle. Baldini hielt den Leuchter in die angegebene Richtung, sein Blick folgte dem Zeigefinger des Jungen und fiel auf eine Flasche im Regal, die mit einem graugelben Balsam gefällt war.

«Storax?» fragte er.

Grenouille nickte. «Ja. Das ist drin. Storax.» Und dann krümmte er sich wie von einem Krampf zusammengezogen und murmelte mindestens ein dutzendmal das Wort «Storax» vor sich hin:

«Storaxstoraxstoraxstorax...»

Baldini hielt die Kerze gegen das storaxkrächzende Häuflein Mensch und dachte: Entweder ist er besessen, oder er ist ein betrügerischer Gauner, oder er ist ein begnadetes Talent. Denn dass die angegebenen Stoffe in richtiger Zusammensetzung das Parfum «Amor und Psyche» ergeben konnten, war durchaus möglich; es war sogar wahrscheinlich. Rosenöl, Nelke und Storax - nach diesen drei Komponenten hatte er heute Nachmittag so verzweifelt gesucht; mit ihnen fügten sich die anderen Teile der Komposition - die auch er erkannt zu haben glaubte - wie Segmente zu einem hübschen runden Kuchen. Es war jetzt nur noch die Frage, in welchem exakten Verhältnis zueinander man sie fügen musste. Um das herauszufinden, würde er, Baldini, tagelang herumexperimentieren müssen, eine entsetzliche Arbeit, fast noch schlimmer als das bloße Identifizieren der Teile, denn nun galt es, zu messen und zu wägen und zu notieren und dabei doch höllisch aufzupassen, denn die kleinste Unaufmerksamkeit - ein Zittern mit der Pipette, ein Fehler beim Tropfenzählen - konnte alles verderben. Und jeder verpatzte Versuch war gräßlich teuer. Jede verdorbene Mischung kostete ein kleines Vermögen... Er wollte den kleinen Menschen auf die Probe stellen, wollte ihn nach der exakten Formel von «Amor und Psyche» fragen. Wenn er sie wusste, auf Gramm und Tropfen genau - dann war er offenkundig ein Betrüger, der sich auf irgendeine Weise das Rezept von Pelissier ergaunert hatte, um sich bei Baldini Zutritt und Anstellung zu verschaffen. Erriet er sie aber ungefähr, dann war er ein Geruchsgenie und forderte als solches Baldinis professionelles Interesse heraus. Nicht dass Baldini seinen gefassten Entschluss, das Geschäft aufzugeben, in Frage stellte! Es kam ihm nicht auf das Parfum von Pelissier als solches an. Selbst wenn der Bursche es ihm literweise verschaffte, Baldini dachte nicht im Traum daran, die spanische Haut des Grafen Verhamont damit zu beduften, aber... Aber man war doch nicht sein Leben lang Parfumeur gewesen, hatte sich nicht ein Leben lang mit der Zusammensetzung von Düften beschäftigt, um von einer Stunde zur anderen seine ganze professionelle Leidenschaft zu verlieren! Es interessierte ihn jetzt, die Formel dieses verfluchten Parfums herauszubekommen, und mehr noch, das Talent dieses unheimlichen Jungen zu erforschen, der ihm einen Duft von der Stirne abgelesen hatte. Er wollte wissen, was da dahintersteckte. Er war ganz einfach neugierig.

«Du hast, so scheint es, eine feine Nase, junger Mann», sagte er, nachdem Grenouille mit seinem Gekrächze aufgehört hatte, und trat zurück in die Werkstatt, um den Leuchter vorsichtig auf dem Arbeitstisch abzustellen, «eine zweifellos feine Nase, aber...»

«Ich habe die beste Nase von Paris, Maitre Baldini», schnarrte Grenouille dazwischen. «Ich kenne alle Gerüche der Welt, alle, die in Paris sind, alle, nur kenne ich von manchen die Namen nicht, aber ich kann auch die Namen lernen, alle Gerüche, die Namen haben, das sind nicht viele, das sind nur einige Tausende, ich werde sie alle lernen, ich werde den Namen des Balsams nie vergessen, Storax, der Balsam heisst Storax heisst er, Storax...»

«Schweig!» rief Baldini, «unterbrich mich nicht, wenn ich spreche! Du bist vorlaut und anmaßend. Kein Mensch kennt tausend Gerüche beim Namen. Selbst ich kenne nicht tausend beim Namen, sondern nur einige hundert, denn mehr gibt es nicht in unserem Gewerbe als einige hundert, alles andre ist nicht Geruch, sondern Gestank!»

Grenouille, der sich während seiner längeren eruptiven Zwischenrede beinahe Körperlich entfaltet, in der Erregung sogar für einen Moment mit beiden Armen im Kreis gefuchtelt hatte, um das «alles, alles», was er kenne, zu umschreiben, klappte bei Baldinis Entgegnung augenblicks wieder in sich zusammen wie eine kleine schwarze Kröte und verharrte auf der Türschwelle, bewegungslos lauernd.

«Ich bin mir», fuhr Baldini fort, «selbstverständlich längst darüber im klaren, dass

«Amor und Psyche» aus Storax, Rosenöl und Nelke sowie Bergamott und Rosmarinextrakt et cetera besteht. Um das herauszufinden, bedarf es, wie gesagt, bloß einer leidlich feinen Nase, und es mag durchaus sein, dass Gott dir eine leidlich feine Nase gegeben hat, wie vielen, vielen anderen Menschen auch - namentlich in deinem Alter. Der Parfumeur jedoch» - und hier hob Baldini den Zeigefinger und wölbte seine Brust heraus - «der Parfumeur jedoch braucht mehr als eine leidlich feine Nase. Er braucht ein über viele Jahrzehnte geschultes, unbestechlich arbeitendes Riechorgan, das ihn in Stand versetzt, auch komplizierteste Gerüche nach Art und Menge sicher zu enträtseln, ebenso wie neue,

unbekannte Duftgemische zu kreieren. Eine solche Nase» - und er tippte mit dem Finger an die seine «hat man nicht, junger Mann! Eine solche Nase erwirbt man sich mit Ausdauer und Fleiß. Oder könntest du mir vielleicht auf Anhieb die exakte Formel von «Amor und Psyche» nennen? Nun? Könntest du das?»

Grenouille antwortete nicht.

«Könntest du sie mir vielleicht ungefähr verraten?» sagte Baldini und beugte sich ein wenig vor, um die Kröte in der Tür genauer zu sehen, «nur so in etwa, schätzungsweise? Nun? Sprich, du beste Nase von Paris!»

Doch Grenouille schwieg.

«Siehst du?» sagte Baldini gleichermaßen befriedigt wie enttäuscht und richtete sich wieder auf, «du kannst es nicht. Natürlich nicht. Wie solltest du es auch können. Du bist wie einer, der beim Essen schmeckt, ob Kerbel oder Petersilie in der Suppe ist. Nun gut das ist schon etwas. Aber deshalb bist du noch lange kein Koch. In jeder Kunst und auch in jedem Handwerk - merke dir das, bevor du gehst! - gilt das Talent so gut wie nichts, aber alles die Erfahrung, die durch Bescheidenheit und Fleiß erworben wird.»

Er griff nach dem Leuchter auf dem Tisch, als Grenouilles gepresste Stimme von der

Tür her schnarrte:

«Ich weiß nicht, was eine Formel ist, Mahre, das weiß ich nicht, sonst weiß ich alles!»

«Eine Formel ist das A und O jeden Parfums», erwiderte Baldini streng, denn er wollte dem Gespräch nun ein Ende machen. «Sie ist die akribische Anweisung, in welchem Verhältnis die einzelnen Ingredienzen zu mischen sind, damit der eine gewünschte, unverwechselbare Duft entstehe; das ist die Formel. Sie ist das Rezept - wenn du dieses Wort besser verstehst.» «Formel, Formel», krächzte Grenouille und wurde etwas größer in der Tür, «ich brauche keine Formel. Ich habe das Rezept in meiner Nase. Soll ich es für Sie mischen, Maitre, soll ich es mischen, soll ich?»

«Wie denn?» rief Baldini mit ziemlicher Lautstärke und hielt dem Gnom die Kerze vors Gesicht. «Wie denn mischen?»

Grenouille zuckte zum ersten Mal nicht mehr zurück. «Aber sie sind doch alle da, die man braucht, die Gerüche, sind doch alle da, in diesem Raum», sagte er und deutete wieder ins Dunkle. «Rosenöl da! Orangenblüte da! Nelke da! Rosmarin da...!»

«Freilich sind sie da!» brüllte Baldini. «Alle sind sie da! Aber ich sage dir doch, Holzkopf, das nützt nichts, wenn man die Formel nicht hat!»

«...Jasmin da! Weingeist da! Bergamotte da! Storax da!» krächzte Grenouille weiter und deutete bei jedem Namen auf einen anderen Punkt im Raum, wo es so dunkel war, dass man den Schatten der Regale mit den Flaschen höchstens ahnen konnte.

«Du siehst wohl auch bei Nacht, he?» fuhr Baldini ihn an, «du hast nicht nur die feinste Nase, sondern auch die schärfsten Augen von Paris, wie? Wenn du nur leidlich gute Ohren hast, dann mach sie auf, denn ich sage dir: Du bist ein kleiner Betrüger. Wahrscheinlich hast du irgend etwas aufgeschnappt bei Pelissier, hast was ausspioniert, wie? Und glaubst, du könntest mich hinters Licht führen?»

Grenouille stand jetzt ganz auseinandergefaltet, sozusagen in voller Körpergröße in der Türe, mit leicht auseinandergestellten Beinen und leicht abgespreizten Armen, so dass er aussah wie eine schwarze Spinne, die sich an Schwelle und Rahmen festkrallte. «Geben Sie mir zehn Minuten», sagte er in ziemlich flüssiger Rede, «und ich werde Ihnen das Parfum «Amor und Psyche» herstellen. Jetzt gleich und hier in diesem Raum. Maitre, geben Sie mir fünf Minuten!»

«Du glaubst, ich lasse dich in meiner Werkstatt herumpantschen? Mit Essenzen, die ein Vermögen wert sind? Dich?»

«Ja», sagte Grenouille.

«Pah!» rief Baldini und stieß dabei den ganzen Atem, den er hatte, auf einmal heraus. Dann holte er tief Luft, sah den spinnenhaften Grenouille lange an und überlegte. Im Grunde ist es egal, dachte er, denn morgen hat sowie so alles ein Ende. Ich weiß zwar, dass er das, was er behauptet, nicht kann, ja gar nicht können kann, er wäre denn noch größer als der große Frangipani. Aber warum soll ich mir das, was ich weiß, nicht noch vor Augen demonstrieren lassen? Womöglich kommt mir sonst in Messina eines Tages man wird ja manchmal sonderbar im Alter und versteift sich auf die verrücktesten Ideen - der Gedanke, ich hätte ein olfaktorisches Genie, ein Wesen, auf dem die Gnade Gottes überreichlich ruhte, ein Wunderkind, als solches nicht erkannt... - Es ist ganz ausgeschlossen. Nach allem, was mir der Verstand sagt, ist es ausgeschlossen - aber Wunder gibt es, das steht fest. Nun, wenn ich dereinst sterbe in Messina, und auf dem Sterbelager kommt mir der Gedanke: Damals in Paris, an jenem Abend, hast du vor einem Wunder die Augen zugemacht...? Das wäre nicht sehr angenehm, Baldini! Soll der Narr die paar Tropfen Rosenöl und Moschustinktur verkleckern, du selbst hättest sie auch verkleckert, wenn dich das Parfum von Pelissier noch wirklich interessierte. Und was sind schon die paar Tropfen - wiewohl teuer, sehr, sehr teuer! - gemessen an der Sicherheit des Wissens und an einem ruhigen Lebensabend?

«Pass auf!» sagte er mit künstlich strenger Stimme, «pass auf! Ich... - wie heisst du überhaupt?»

«Grenouille», sagte Grenouille. «Jean-Baptiste Grenouille.»

«Aha», sagte Baldini. «Also pass auf, Jean-Baptiste Grenouille! Ich habe es mir überlegt. Du sollst die Gelegenheit bekommen, jetzt, sofort, deine Behauptung zu beweisen. Dies ist zugleich eine Gelegenheit für dich, durch ein eklatantes Scheitern die Tugend der Bescheidenheit zu lernen, welche - in deinem jungen Alter vielleicht verzeihlicherweise noch kaum entwickelt - eine unabdingbare Voraussetzung für dein späteres Fortkommen als Mitglied deiner Zunft und deines Standes, als Ehemann, als Untertan, als Mensch und als ein guter Christ sein wird. Ich bin bereit, dir diese Lehre auf meine Kosten zu erteilen, denn aus bestimmten Gründen bin ich heute spendabel aufgelegt, und, wer weiß, vielleicht wird mir eines Tages die Rückerinnerung an diese Szene etwas Heiterkeit bereiten. Aber glaube nicht, du könntest mich übertölpeln! Giuseppe Baldinis Nase ist alt, aber sie ist scharf, scharf genug, auch den kleinsten Unterschied zwischen deiner Mixtur und diesem Produkt hier» - und dabei zog er sein «Amor und Psyche» - getränktes Tüchlein aus der Tasche und wedelte es Grenouille vor die Nase - «sofort festzustellen. Tritt näher, beste Nase von Paris! Tritt näher an diesen Tisch und zeige, was du kannst! Doch gib acht, dass du mir nichts umstößt und herunterwirfst! Rühre mir nichts an! Erst will ich mehr Licht machen. Wir wollen große Beleuchtung haben für dieses kleine Experiment, nicht wahr?»

Und damit nahm er zwei andere Leuchter, die am Rand des großen Eichentisches standen, und zündete sie an. Er postierte sie alle drei nebeneinander an der hinteren Längsseite, schob das Leder beiseite, räumte den mittleren Teil des Tisches frei. Dann, mit zugleich ruhigen und raschen Griffen, holte er die Geräte, die das Geschäft erforderte, von einem kleinen Gestell: die große bauchige Mischflasche, den gläsernen Trichter, die Pipette, das kleine und das große Messglas, und stellte sie wohlgeordnet vor sich auf die Eichenplatte.

Grenouille hatte sich inzwischen vom Türrahmen gelöst. Schon während Baldinis pompöser Rede war das Versteifte, lauernd Verdruckte von ihm abgefallen. Er hörte nur die Zustimmung, nur das Ja, mit dem innern Jubel eines Kindes, das sich ein Zugeständnis ertrotzt hat und auf die Einschränkungen, Bedingungen und moralischen Ermahnungen, die sich daran knüpfen, pfeift. Locker dastehend, einem Menschen zum ersten Mal ähnlicher als einem Tier, ließ er den Rest von Baldinis Suada über sich ergehen und wusste, dass er diesen Mann, der ihm nun nachgab, schon überwältigt hatte.

Während Baldini noch mit seinen Kerzenleuchtern auf dem Tisch hantierte, schlüpfte Grenouille schon in das seitliche Dunkel der Werkstatt, wo die Regale mit den kostbaren Essenzen, Ölen und Tinkturen standen, und griff sich, der sicheren Witterung seiner Nase folgend, die benötigten Fläschchen von den Borden. Neun waren es an der Zahl: Orangenblütenessenz, Limettenöl, Nelken-und Rosenöl, Jasmin-, Bergamotte-und Rosmarinextrakt, Moschustinktur und Storaxbalsam, die er sich rasch herunterpflückte und am Rand des Tisches zurechtstellte. Als letztes schleppte er einen Ballon mit hochprozentigem Weingeist heran. Dann stellte er sich hinter Baldini, der noch immer mit bedächtiger Pedanterie seine Mischgefäße arrangierte, dieses Glas ein wenig dahin rückte, jenes noch ein wenig dorthin, damit alles seine gute altgewohnte Ordnung habe und sich im vorteilhaftesten Licht der Leuchter präsentiere - und wartete, zitternd vor Ungeduld, dass der Alte sich entferne und ihm Platz mache.

«So!» sagte Baldini endlich und trat zur Seite. «Hier ist alles aufgereiht, was du für dein - nennen wir es freundlicherweise «Experiment» benötigst. Zerbrich mir nichts, vertropfe mir nichts! Denn merke: Diese Flüssigkeiten, mit denen du jetzt fünf Minuten lang hantieren darfst, sind von einer Kostbarkeit und Seltenheit, wie du sie nie wieder in deinem Leben in so konzentrierter Form in Händen halten wirst!»

«Wie viel soll ich Ihnen machen, Maitre?» fragte Grenouille.»Was machen...?» sagte Baldini, der seine Rede noch nicht beendet hatte. «Wie viel von dem Parfum?» schnarrte Grenouille, «wie viel davon wollen Sie haben? Soll ich diese dicke Flasche bis zum Rand vollfüllen?» Und er deutete auf eine Mischflasche, die gut und gerne drei Liter fasste.

«Nein, das sollst du nicht!» schrie Baldini entsetzt, und es schrie aus ihm die ebenso tief verwurzelte wie spontane Angst vor der Verschwendung seines Eigentums. Und als geniere er sich über diesen entlarvenden Schrei, brüllte er gleich hinterher: «Und in die Rede fallen sollst du mir auch nicht!» um dann in ruhigerem, ironisch eingefärbtem Ton fortzufahren: «Wozu brauchen wir drei Liter von einem Parfum, das wir beide nicht schätzen? Im Grunde genügte ein halber Messbecher voll. Da solch kleine Quantitäten jedoch unpräzis zu mischen sind, will ich dir gestatten, eine Drittelfällung der Mischflasche anzusetzen.»

«Gut», sagte Grenouille. «Ich werde diese Flasche zu einem Drittel mit «Amor und Psyche» fällen. Aber, Maitre Baldini, ich mache es auf meine Art. Ich weiß nicht, ob das die zünftige Art ist, denn die kenne ich nicht, aber ich mache es auf meine Art.»

«Bitte!» sagte Baldini, der wusste, dass es bei diesem Geschäft nicht meine oder deine, sondern eben nur eine, eine einzig mögliche und richtige Art gab, die darin bestand, in Kenntnis der Formel und unter entsprechender Umrechnung auf die zu erzielende Endmenge ein aufs Exakteste vermessenes Konzentrat aus den verschiedenen Essenzen herzustellen, welches daraufhin mit Alkohol in einem wiederum exakten Verhältnis, das meistens zwischen eins zu zehn und eins zu zwanzig schwankte, zum endgültigen Parfum vergeistigt werden musste. Eine andre Art, das wusste er, gab es nicht. Und deshalb musste ihm das, was er nun zu sehen bekam und was er zunächst mit spättischer Distanz, dann mit Verwirrung und schließlich nur noch mit hilflosem Erstaunen beobachtete, als schieres Wunder erscheinen. Und die Szene ätzte sich so in sein Gedächtnis ein, dass er sie bis ans Ende seiner Tage nicht mehr vergaß.