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Mit dem Erwerb von Grenouille begann der Aufstieg des Hauses Giuseppe Baldini zu nationalem, ja europäischem Ansehen. Das persische Glockenspiel stand nicht mehr still, und die Reiher hörten nicht mehr auf zu speien im Laden auf dem Pont au Change.

Am ersten Abend noch musste Grenouille einen großen Ballon «Nuit Napolitaine» ansetzen, von dem im Laufe des folgenden Tages über achtzig Flakons verkauft wurden. Der Ruf des Duftes verbreitete sich mit rasender Geschwindigkeit. Chenier bekam ganz glasige Augen vom Geldzählen und einen schmerzenden Rücken von den tiefen Bücklingen, die er verrichten musste, denn es erschienen hohe und höchste Herrschaften, oder zumindest die Diener von hohen und höchsten Herrschaften. Und einmal flog sogar die Tür

auf, dass es nur so schepperte, und herein trat der Lakai des Grafen d'Argenson und schrie, wie nur Lakaien schreien können, dass er fünf Flaschen von dem neuen Duft haben wolle, und Chenier zitterte noch eine Viertelstunde später vor Ehrfurcht, denn der Graf d'Argenson war Intendant und Kriegsminister Seiner Majestät und der mächtigste Mann von Paris.

Während Chenier im Laden allein dem Ansturm der Kundschaft ausgesetzt war, hatte sich Baldini mit seinem neuen Lehrling in der Werkstatt eingeschlossen. Chenier gegenüber rechtfertigte er diesen Umstand mit einer phantastischen Theorie, die er als

«Arbeitsteilung und Rationalisierung» bezeichnete. Jahrelang, so erklärte er, habe er geduldig mitangesehen, wie Pelissier und seinesgleichen zunftverachtende Gestalten ihm die Kundschaft abspenstig gemacht und das Geschäft versaut hätten. Jetzt sei sein Langmut zu Ende. Jetzt nehme er die Herausforderung an und schlage wider diese frechen Parvenüs zurück, und zwar mit deren eigenen Mitteln: Zu jeder Saison, jeden Monat, wenn es sein musste auch jede Woche, werde er mit neuen Düften auftrumpfen, und mit was für welchen! Er wolle aus dem vollen seiner kreativen Ader schöpfen. Und dazu sei es nötig, dass er - unterstützt allein von einer ungelernten Hilfskraft - ganz und ausschließlich die Produktion der Düfte betreibe, während Chenier sich ausschließlich deren Verkauf zu widmen habe. Mit dieser modernen Methode werde man ein neues Kapitel in der Geschichte der Parfumerie aufschlagen, die Konkurrenz hinwegfegen und unermesslich reich werden - ja, er sage bewusst und ausdrücklich «man», denn er gedenke, seinen altgedienten Gesellen an diesen unermesslichen Reichtümern mit einem bestimmten Prozentsatz zu beteiligen.

Vor wenigen Tagen noch hätte Chenier solche Reden seines Meisters als Anzeichen eines beginnenden Alterswahnsinns gedeutet. «Jetzt ist er reif für die Charité», hätte er gedacht, «jetzt kann's nicht mehr lange dauern, bis er das Pistill endgültig aus der Hand legt». Nun aber dachte er nichts mehr. Er kam gar nicht mehr dazu, er hatte einfach zu viel zu tun. Er hatte so viel zu tun, dass er abends vor Erschöpfung kaum noch in der Lage war, die pralle Kasse auszuleeren und sich seinen Anteil abzuzweigen. Er kam nicht im Traum darauf zu zweifeln, dass es mit rechten Dingen zuging, wenn Baldini beinahe täglich mit irgendeinem neuen Duft aus seiner Werkstatt trat.

Und was für Düfte waren das! Nicht nur Parfums der höchsten, allerhöchsten Schule, sondern auch Cremes und Puder, Seifen, Haarlotionen, Wässer, Öle ... Alles, was zu duften hatte, duftete jetzt neu und anders und herrlicher als je zuvor. Und auf alles, aber wirklich alles, selbst auf die neuartigen Dufthaarbänder, die Baldinis kuriose Laune eines Tages hervorbrachte, sprang das Publikum los wie behext, und Preise spielten keine Rolle. Alles, was Baldini produzierte, wurde ein Erfolg. Und der Erfolg war dermaßen überwältigend, dass Chenier ihn wie ein Naturereignis hinnahm und nicht mehr nach seinen Ursachen forschte. Dass etwa der neue Lehrling, der unbeholfene Gnom, der in der Werkstatt hauste wie ein Hund und den man manchmal, wenn der Meister heraustrat, im Hintergrund stehen und Gläser wischen und Mörser putzen sah - dass dieses Nichts von Mensch etwas zu tun haben sollte mit dem sagenhaften Aufblühen des Geschäfts, das hätte Chenier nicht einmal dann geglaubt, wenn man es ihm gesagt hätte.

Natürlich hatte der Gnom alles damit zu tun. Das, was Baldini in den Laden brachte und Chenier zum Verkauf überließ, war nur ein Bruchteil dessen, was Grenouille hinter verschlossenen Türen zusammenmischte. Baldini kam mit dem Riechen nicht mehr nach. Es war ihm manchmal eine regelrechte Qual, unter den Herrlichkeiten, die Grenouille hervorbrachte, eine Wahl zu treffen. Dieser Zauberlehrling hätte alle Parfumeure Frankreichs mit Rezepten versorgen können, ohne sich zu wiederholen, ohne auch nur ein Mal etwas Minderwertiges oder auch nur Mittelmäßiges hervorzubringen. - Das heisst, mit Rezepten, also Formeln, hätte er sie eben nicht versorgen können, denn zunächst komponierte Grenouille seine Düfte noch auf jene chaotische und völlig unprofessionelle Manier, die Baldini schon kannte, indem er nämlich aus der freien Hand in scheinbar wildem Durcheinander Ingredienzien mischte. Um das verrückte Geschäft, wenn nicht zu kontrollieren, so doch wenigstens begreifen zu können, verlangte Baldini eines Tages von Grenouille, er möge sich, auch wenn er das für unnötig halte, beim Ansetzen seiner Mischungen der Waage, des Messbechers und der Pipette bedienen; er möge sich ferner angewöhnen, den Weingeist nicht als Duftstoff zu begreifen, sondern als Lösungsmittel, welches erst im nachhinein zuzusetzen sei; und ermöge schließlich um Gottes willen langsam hantieren, gemächlich und langsam, wie es sich für einen Handwerker gehöre.

Grenouille tat das. Und zum ersten Mal war Baldini in der Lage, die einzelnen Handhabungen des Hexenmeisters zu verfolgen und zu dokumentieren. Mit Feder und Papier saß er neben Grenouille und notierte, immer wieder zur Langsamkeit mahnend, wie viel Gramm von diesem, wie viel Messstriche von jenem, wie viel Tropfen von einem dritten Ingredienz in die Mischflasche wanderten. Auf diese sonderbare Weise, indem er nämlich einen Vorgang nachträglich mit eben jenen Mitteln analysierte, ohne deren vorherigen Gebrauch er eigentlich gar nicht hätte stattfinden dürfen, gelangte Baldini endlich doch in den Besitz der synthetischen Vorschrift. Wie Grenouille ohne diese in der Lage war, seine Parfums zu mixen, blieb für Baldini zwar weiterhin ein Rätsel, vielmehr ein Wunder, aber wenigstens hatte er das Wunder jetzt auf eine Formel gebracht und damit seinen nach Regeln dürstenden Geist einigermaßen befriedigt und sein parfümistisches Weltbild vor dem vollständigen Kollaps bewahrt.

Nach und nach entlockte er Grenouille die Rezepturen sämtlicher Parfums, die dieser bisher erfunden hatte, und er verbot ihm schließlich sogar, neue Düfte anzusetzen, ohne dass er, Baldini, mit Feder und Papier zugegen war, den Prozess mit Argusaugen beobachtete und Schritt für Schritt dokumentierte. Seine Notizen, bald viele Dutzende von Formeln, übertrug er dann penibel mit gestochener Schrift in zwei verschiedene Büchlein, deren eines er in seinen feuerfesten Geldschrank einschloss und deren anderes er ständig bei sich trug und mit dem er nachts auch schlafen ging. Das gab ihm Sicherheit. Denn nun konnte er, wenn er wollte, Grenouilles Wunder selber nachvollziehen, die ihn, als er sie zum ersten mal erlebte, tief erschüttert hatten. Mit seiner schriftlichen Formelsammlung glaubte er, das entsetzliche schöpferische Chaos, welches aus dem Innern seines Lehrlings hervorquoll, bannen zu können. Auch hatte die Tatsache, dass er nicht mehr bloß blöde staunend, sondern beobachtend und registrierend an den Schöpfungsakten teilnahm, auf Baldini eine beruhigende Wirkung und stärkte sein Selbstvertrauen. Nach einer Weile glaubte er gar von sich, zum Gelingen der sublimen Düfte nicht unwesentlich beizutragen. Und wenn er sie erst einmal in seine Büchlein eingetragen hatte und im Tresor und dicht am eigenen Busen verwahrte, zweifelte er sowieso nicht mehr daran, dass sie nun ganz und gar sein eigen seien.

Aber auch Grenouille profitierte von dem disziplinierenden Verfahren, das ihm von Baldini aufgezwungen wurde. Er selbst war zwar nicht darauf angewiesen. Er musste nie eine alte Formel nachschlagen, um ein Parfum nach Wochen oder Monaten zurekonstruieren, denn er vergaß Gerüche nicht. Aber er erlernte mit der obligatorischen Verwendung von Messbecher und Waage die Sprache der Parfumerie, und er spürte instinktiv, dass ihm die Kenntnis dieser Sprache von Nutzen sein konnte. Nach wenigen Wochen beherrschte Grenouille nicht nur die Namen sämtlicher Duftstoffe in Baldinis Werkstatt, sondern er war auch in der Lage, die Formel seiner Parfums selbst niederzuschreiben und umgekehrt, fremde Formeln und Anweisungen in Parfums und sonstige Riecherzeugnisse zu verwandeln. Und mehr noch! Nachdem er einmal gelernt hatte, seine parfümistischen Ideen in Gramm und Tropfen auszudrücken, bedurfte er nicht einmal mehr des experimentellen Zwischenschritts. Wenn Baldini ihm auftrug, einen neuen Duft, sei es für ein Taschentuchparfum, für ein Sachet, für eine Schminke zu kreieren, so griff Grenouille nicht mehr zu Flakons und Pulvern, sondern er setzte sich einfach an den Tisch und schrieb die Formel direkt nieder. Er hatte gelernt, den Weg von seiner inneren Geruchsvorstellung zum fertigen Parfum um die Herstellung der Formel zu erweitern. Für ihn war das ein Umweg. In den Augen der Welt, das heisst in Baldinis Augen, jedoch war es ein Fortschritt. Grenouilles Wunder blieben dieselben. Aber die Rezeptur, mit denen er sie nun versah, nahmen ihnen den Schrecken, und das war von Vorteil. Je besser Grenouille die handwerklichen Griffe und Verfahrensweisen beherrschte, je normaler er sich in der konventionellen Sprache der Parfumerie auszudrücken wusste, desto weniger fürchtete und beargwöhnte ihn der Meister. Bald hielt Baldini ihn zwar noch für einen ungewöhnlich begabten Geruchsmenschen, nicht mehr aber für einen zweiten Frangipani oder gar für einen unheimlichen Hexenmeister, und Grenouille war das nur recht. Der handwerkliche Komment diente ihm als willkommene Tarnung. Er lullte Baldini geradezu ein durch sein vorbildliches Verfahren beim Wägen der Zutaten, beim Schwenken der Mischflasche, beim Betupfen des weißen ProbierTüchleins. Er konnte es fast schon so zierlich schütteln, so elegant an der Nase vorüberfliegen lassen wie der Meister. Und gelegentlich, in wohldosierten Intervallen, beging er Fehler, die so beschaffen waren, dass Baldini sie bemerken musste: Vergaß zu filtrieren, stellte die Waage falsch ein, schrieb einen unsinnig hohen Prozentsatz von Ambertinktur in eine Formel... und ließ sich den Fehler verweisen, um ihn dann geflissentlichst zu korrigieren. So gelang es ihm, Baldini in der Illusion zu wiegen, es gehe letzten Endes alles doch mit rechten Dingen zu. Er wollte den Alten ja nicht verprellen. Er wollte ja wirklich von ihm lernen. Nicht das Mischen von Parfums, nicht die rechte Komposition eines Duftes, natürlich nicht! Auf diesem Gebiet gab es niemand auf der Welt, der ihn etwas hätte lehren können, und die in Baldinis Laden vorhandenen Ingredienzien hätten auch bei weitem nicht ausgereicht, seine Vorstellungen eines wirklich großen Parfums zu verwirklichen. Was er bei Baldini an Gerüchen realisieren konnte, waren Spielereien verglichen mit den Gerüchen, die er in sich trug und die er eines Tages zu realisieren gedachte. Dazu aber, das wusste er, bedurfte es zweier unabdingbarer Voraussetzungen: Die eine war der Mantel einer bürgerlichen Existenz; mindestens des Gesellentums, in dessen Schutz er seinen eigentlichen Leidenschaften frönen und seine eigentlichen Ziele ungestört verfolgen konnte. Die andre war die Kenntnis jener handwerklichen Verfahren, nach denen man Duftstoffe herstellte, isolierte, konzentrierte, konservierte und somit für eine höhere Verwendung überhaupt erst verfügbar machte. Denn Grenouille besaß zwar in der Tat die beste Nase der Welt, sowohl analytisch als auch visionär, aber er besaß noch nicht die Fähigkeit, sich der Gerüche dinglich zu bemächtigen.