Banks, Winsome und Jamie Murdoch saßen im kahlen Vernehmungsraum, Murdoch trug einen orangefarbenen Overall von der Polizei und knibbelte an seinen Fingernägeln. Seine Pflichtverteidigerin, Miss Olivia Melchior, saß in der Ecke. Sie hatte bereits mit Jamie gesprochen und ihm die Situation erklärt. Es sei am besten, wenn er einfach wahrheitsgemäß antworte, es sei denn, es bestünde Gefahr, sich durch seine Aussage selbst zu belasten oder dass seine Rechte verletzt würden - aber das würde sie selbst beurteilen. Banks schaltete Aufnahmegerät und Camcorder ein, sprach die Einleitung auf - Uhrzeit, Datum, Anwesende - und zitierte dann für Jamie die korrekte Rechtsmittelbelehrung, in der es darum ging, dass es seiner Verteidigung schaden könne, wenn er auf eine Frage hin etwas verschwieg, worauf er sich später vor Gericht bezöge. Jamie prüfte die ganze Zeit über seine Fingernägel.
»Gut«, sagte Banks. »Warum sind Sie weggelaufen, Jamie?«
»Sie wollten mir doch was anhängen, oder?«
»Was meinen Sie damit?«
»Wegen dem Schmuggeln. Die Ziggies und der Schnaps. Das wollen Sie mir anhängen. So was habe ich schon öfter gehört.«
»Hier geht's nicht um Schmuggel, Jamie.«
»Nicht?«
»Nein.«
»Um was dann?«
»Es geht um die Vergewaltigung und Ermordung von Hayley Daniels.«
Murdoch schaute wieder auf seine Fingernägel. »Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich darüber nichts weiß.«
»Sie waren direkt um die Ecke.«
»Das sind dicke Mauern. Von innen hört man nicht viel.«
»Aber schon, wenn die Tür geöffnet ist, nicht wahr, Jamie?«, sagte Winsome.
Murdoch starrte sie an. »Hä?«
»Als Hayley Daniels mit ihren Freunden den Laden verließ«, erklärte Winsome, »blieb die Tür einen Spalt weit offen, so dass Sie mithören konnten, was draußen geredet wurde. Wir gehen davon aus, dass Sie gehört haben, wie Hayley ankündigte, ins Labyrinth zu gehen.«
»Ja, und?«
»Geben Sie das zu?«, hakte Winsome nach.
»Kann schon sein. Hey, es wäre doch unhöflich, die Tür zuzuknallen und zu verrammeln, kaum dass die letzten Gäste draußen sind. Da wartet man ein paar Sekunden. Falls einer was liegengelassen hat. 'ne Handtasche oder 'ne Jacke.«
»Sehr rücksichtsvoll von Ihnen«, sagte Banks. »Und ich dachte, Sie hätten so schnell wie möglich zugeschlossen, um einen Überfall zu verhindern.«
»Das auch. Aber ...«
»Hayley Daniels hat Sie ganz schön fertiggemacht, was?«
»Wie meinen Sie das?«
»Als Sie ihr sagten, die Toiletten wären kaputt, sie könnte sie nicht benutzen, hat sie Sie zur Schnecke gemacht, hat herumgeflucht. Also bitte, Jamie, das hatten wir doch alles schon.«
»Es war echt übel«, sagte Murdoch. Langsam schüttelte er den Kopf. »Ich hab noch nie gehört, wie so üble Wörter aus einem ... aus einem ...«
»Aus einem so schönen Mund kommen können? Sie sah gut aus, Jamie, nicht? Hayley war gut gebaut.«
»Das hab ich nicht gesehen.«
»Erzählen Sie mir nicht, dass Sie es nicht gemerkt haben. Das ist selbst mir aufgefallen, und da war sie schon tot.«
Melchior warf Banks einen warnenden Blick zu. Offenbar war ihr bekannt, dass er dazu neigte, sonderbare, fast schon abgelegene Nebenstraßen einzuschlagen, um den Verdächtigen von seiner zurechtgelegten Geschichte abzubringen.
»Sie war schon ganz fit«, sagte Murdoch.
»Und wusste es auch? So wie in dem Lied >Fit And She Knew It<?«
»Tun doch die meisten.«
»Was soll das heißen, Jamie?«
»Was ich gesagt habe. Solche Mädchen wie sie. Die wissen, dass sie fit sind.«
»Ist das der Grund, warum Ihnen das Lied gefällt, warum Sie es als Klingelton haben?«
»Das ist nur ein kleiner Spaß.«
»Die geben ganz schön an, diese fitten Mädels, was?«
»Sie müssten mal sehen, was die für Klamotten anhaben, beziehungsweise nicht anhaben.« Jamie stieß ein unangenehmes, schroffes Lachen aus.
»So wie Jill?«
»Jill?«
»Ja, das Mädchen, das bei Ihnen arbeitet. Jill Sutherland. Das ist doch ein hübsches Mädel, oder? Die ist immer durchs Labyrinth zum Parkplatz gegangen, nicht? Sind Sie dadurch auf die Idee gekommen?«
»Was für eine Idee?«
»Dass sich der Ort gut für einen Überfall eignet.«
»Das ist ja albern!«
»Aber die Weiber machen jeden heißblütigen Kerl verrückt, nicht wahr?«, sagte Banks. »Wie sie sich anziehen und wie sie sich ausdrücken.«
»Das brauchen Sie nicht beantworten, Jamie«, mischte sich Melchior ein. »Er will Sie in die Irre führen.« Sie schaute Banks streng an. »Hören Sie auf damit! Halten Sie sich an relevante Fragen.«
»Ja, Miss«, sagte Banks.
Melchior blickte böse.
»Seit wann kannten Sie Hayley Daniels?«, fragte Winsome.
»Ich kannte sie nicht«, entgegnete Jamie. »Hab sie nur gesehen, wenn sie mit ihrer Clique in den Pub kam.«
»Aber in den Akten steht, Sie waren beide zusammen im ersten Jahr am College, bevor Sie es schmissen«, sagte Winsome. Sie rückte ihre Lesebrille zurecht und klopfte auf den Ordner vor sich auf dem Tisch.
»Vielleicht hab ich sie da mal gesehen. Das College ist groß.«
»Mal versucht, mit ihr auszugehen?«
»Kann schon sein. Na und?«
»Nur, dass Sie schon mal was miteinander zu tun hatten.« Winsome nahm die Brille ab und lehnte sich auf dem Stuhl zurück.
»Sie wollten von Anfang an was von Hayley, oder?«, fragte Banks.
»Und, ist das schlimm?«
»Aber sie wollte nichts von Ihnen wissen. Hayley war ganz schön wählerisch, mit wem sie ausging. Sie mochte lieber ältere Männer, Professoren, Männer mit Erfahrung, Geld, Grips.«
Jamie schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Ruhig, Jamie«, sagte Melchior. »Wollen Sie auf irgendwas hinaus?«, fragte sie Banks.
»Allerdings«, entgegnete er. »Nicht wahr, Jamie? Sie wissen, auf was das hinausläuft, oder? Samstag, 17. März, St. Patrick's Day. Was war das Besondere an dem Tag?«
»Nichts. Keine Ahnung.«
»Irgendwelche Spinner haben Ihnen die Toiletten kaputtgemacht, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und? Haben die auch Ihr Guckloch in der Damentoilette entdeckt?«
Murdoch erstarrte. »Was?«
Es war ein Schuss ins Blaue von Banks - nie war von so etwas die Rede gewesen -, aber seine Vermutung entpuppte sich als Treffer. Das waren genau die Dinge, die er einem Typ wie Murdoch zutraute. »Wir kommen später darauf zurück«, sagte er. »Hayley sah an dem Abend besonders scharf aus, nicht? Kurzer Rock, tiefer Ausschnitt. Ein bisschen nuttig, oder?«'
»DCI Banks«, unterbrach ihn Melchior. »Bitte etwas weniger Kommentare dieser Art, wenn ich bitten darf.«
»Sorry«, meinte Banks. »Aber Sie wollten was von ihr, Jamie, nicht wahr?«
»Sie war sehr attraktiv.«
»Und Sie wollten schon lange was von ihr.«
»Ich mochte sie, ja.«
»Und das wusste Hayley?«
»Ich glaube schon.«
»Und dann passierte das mit den Toiletten.«
»Sie hätte so was nie sagen dürfen.«
»Hayley demütigte Sie vor allen anderen, nicht wahr?«
»Sie hätte mich nicht so beschimpfen dürfen.«
»Wie denn, Jamie?«
»Ganz schlimm. Wegen meiner Männlichkeit und so.« Murdoch warf der völlig gebannten Melchior einen unsicheren Blick zu.
»Hayley hat Sie als impotent bezeichnet, nicht wahr? Als Schlappschwanz. Das hat Sie so richtig auf die Palme gebracht, stimmt's?«
»Wieso hat sie so was gesagt? Sie wusste genau, dass ich ... dass ich sie mochte. Wie kann man so gemein sein?«
»Sie war betrunken, Jamie. Und sie musste dringend pissen.«
»Mr Banks!«
Banks hob die Hand, »'tschuldigung.«
»Da konnte ich doch nichts für, oder?«, sagte Jamie. »Ich hab schließlich nicht die verfluchten Klos verstopft!«
Es klopfte an der Tür. Winsome ging hin, kam zurück und flüsterte Banks etwas ins Ohr.
»Diese Befragung wird um achtzehn Uhr dreizehn unterbrochen«, sagte Banks. »DCI Banks und DC Jackman verlassen den Raum. PC Mellors behält den Verdächtigen so lange im Auge.« Banks schaute zu Melchior hinüber. »Kommen Sie mit?«
Die Pflichtverteidigerin schien hin- und hergerissen zwischen ihrem Klienten und der Nachricht, die gerade hereingereicht worden war. »Kommen Sie klar, Jamie?«
»Der kommt schon zurecht, Ma'am«, sagte der Beamte.
Jamie nickte mit abgewandtem Blick.
»Also gut.« Melchior sammelte ihre Unterlagen und ihre Tasche ein und stolzierte hinter Banks und Winsome nach draußen. Sie gingen über den Marktplatz zum Fountain. Ein frischer Wind war aufgekommen, Melchior musste ihren violetten Rock beim Gehen mit einer Hand festhalten. Vor dem Pub hatten sich bereits ein paar Schaulustige eingefunden, und die beiden uniformierten Beamten taten ihr Bestes, den Tatort zu schützen.
Nachdem Banks und die anderen sich eingetragen hatten, durften sie den Pub betreten. Er wurde gründlich durchsucht, seit Jamie Murdoch aufs Revier hinübergebracht worden war, alles ganz legal und einwandfrei. Die Spurensicherung trug Atemmasken wegen des Staubs und Schutzkleidung, ein Assistent händigte Banks, Winsome und Melchior dieselbe Ausrüstung aus. Melchior schien sich in dem Overall und mit Kappe und Maske ein wenig unwohl zu fühlen.
Im Pub herrschte das reinste Chaos. Alles war voller Staub und Gips. Der Wirt würde durchdrehen, wenn er das erfuhr, dachte Banks, obwohl das wohl seine kleinste Sorge sein dürfte, wenn sie erfolgreich waren. Die drei folgten Stefan Nowak nach oben in einen der Lagerräume über der Bar, der an Taylor's Yard und das Labyrinth grenzte. Ein Teil der Vertäfelung war zur Seite geschoben und gab den Blick auf ein Loch frei, das groß genug für einen Mann war. Banks hörte Stimmen von der anderen Seite und sah den Strahl einer Taschenlampe.
»Da ist kein Licht drin«, sagte Stefan und verteilte Taschenlampen, »und kein Fenster.« Er bückte sich und stieg durch das Loch. Banks folgte ihm. Melchior zögerte, aber Winsome hielt sich zurück, ließ die Anwältin vorgehen und bildete die Nachhut. Durch die Taschenlampen war der Raum, in dem sie sich befanden, hell genug. Es roch muffig und stickig, zweifellos kam nur wenig Luft herein. An der Wand stapelten sich Kisten mit Bier und Kartons mit Zigaretten.
»Das ist alles?«, fragte Banks enttäuscht. »Gibt es keinen Zugang zum Labyrinth?«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Stefan, ging zur anderen Seite des Raumes und drehte ein an Scharnieren befestigtes Paneel in seine Richtung. »Folgen Sie mir!«
Sie gehorchten. Der nächste Raum war genauso vollgestellt und muffig wie der erste, doch zusätzlich führte eine steile Holztreppe hinunter ins Erdgeschoss, wo sich eine Tür mit gut geölten Scharnieren und einem kürzlich angebrachten Schloss zu einer namenlosen Gasse hinter Taylor's Yard öffnete, eine Stelle, die von keiner Überwachungskamera erfasst wurde.
»Bingo!«, sagte Banks.
»Das ist echt wie in diesem Musical Das Phantom der Oper«, meinte Stefan. »Geheimgänge und weiß Gott, was noch.«
»Es sind nur für uns Geheimgänge«, erklärte Banks. »So eng gebaute Häuser und Lagerräume sind oft durch Kriechböden oder Ähnliches verbunden. Murdoch hat Wandpaneele abgelöst und ausgetauscht, damit er kommen und gehen konnte, wann er wollte. Anfangs war es wohl nur ein praktisches Geheimversteck zur Lagerung seiner Schmuggelware, doch als Hayley Daniels ihn so fertigmachte, dass er sich nicht mehr anders zu helfen wusste, bot dies die perfekte Möglichkeit, es ihr heimzuzahlen. Er wusste, wo sie hinwollte und dass er innerhalb von Sekunden dort sein konnte, ohne gesehen zu werden. Wie lange hat er wohl von der Eingangstür bis ins Labyrinth gebraucht?«
»Keine fünf Minuten«, sagte Stefan.
»Sir?« Einer der Spurensicherer sprach sie an. Seine Taschenlampe leuchtete in eine Ecke.
»Was ist das?«, fragte Banks.
»Eine Plastiktüte«, sagte Stefan. Er machte Fotos davon. Der Blitz blendete alle in dem engen Raum, dann hob Stefan die Tüte vorsichtig an und öffnete sie. »Voilä«, sagte er und zeigte Banks den Inhalt. »Klamotten. Kondome. Bürste. Lappen. Wasserflasche.«
»Das ist seine Ausrüstung«, meinte Banks. »Templeton hatte recht. Dem Schwein hat es so gut gefallen, dass er es wieder versuchen wollte.«
»Oder er hat es von langer Hand geplant«, ergänzte Stefan. »Vielleicht beides.«
»Ich glaube, davon sollten Sie nicht ausgehen«, sagte eine blasse Miss Melchior, die jetzt wieder auf Pflichtverteidigerin umschaltete und versuchte, trotz des wachsenden Entsetzens angesichts der Schuld ihres Klienten ihre Arbeit zu tun.
»Schauen wir mal, was das Labor dazu sagt«, bemerkte Banks. »Gute Arbeit, Stefan, Jungs. Los, zurück ins Vernehmungszimmer. Wir wollen doch Mr Murdoch nicht noch länger warten lassen, oder?«
Nach dem Mittagessen mit Ginger ging Annie zurück zur Dienststelle, um zu sehen, ob sich etwas Neues ergeben hatte. Sie hoffte auf weitere gute Nachrichten aus der Rechtsmedizin, hatte aber im Laufe der Jahre gelernt, geduldig zu bleiben. In der Zwischenzeit beschäftigte sie sich mit der Suche nach Dr. Laura Henderson, die, wie sich herausstellte, immer noch in Bath praktizierte. Nachdem am Telefon mehrmals besetzt gewesen war, kam Annie endlich durch und stellte sich vor. Dr. Henderson war natürlich argwöhnisch und bestand darauf, Annies Durchwahl zu notieren und sie über die Zentrale zurückzurufen.
»Entschuldigen Sie«, sagte die Ärztin, als sie wieder miteinander verbunden waren, »aber in meinem Beruf kann man nicht vorsichtig genug sein.«
»In meinem auch nicht«, antwortete Annie. »Kein Problem.«
»Und, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Können Sie sich an eine Patientin namens Kirsten Farrow erinnern? Das muss ungefähr 1988 gewesen sein, vielleicht Anfang 1989. Ich weiß, das ist lange her.«
»Aber sicher erinnere ich mich an Kirsten«, sagte Dr. Henderson. »Manche Patienten vergisst man nie. Warum? Ist etwas mit ihr passiert?«
»Nicht dass ich wüsste«, sagte Annie. »Genau das ist das Problem. Seit rund achtzehn Jahren ist sie wie vom Erdboden verschluckt. Hat sie sich mal bei Ihnen gemeldet?«
»Nein, hat sie nicht.«
»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
»Könnten Sie eben kurz warten? Ich hole mal die Akte. Die Sachen von damals sind leider nicht im Computer.«
Annie wartete, klopfte mit dem Bleistift auf den Tisch. Kurz darauf war Dr. Henderson wieder am Apparat. »Unsere letzte Sitzung war am 9. Januar 1989«, sagte sie. »Seitdem habe ich Kirsten nicht mehr gesehen.«
Annie hatte auf eine andere Antwort gehofft. »Warum kam sie danach nicht mehr zu Ihnen?«
Es gab eine lange Pause am anderen Ende. »Ich weiß nicht, ob ich mit Ihnen darüber reden soll«, sagte Dr. Henderson.
»Ich versuche, Kirsten Farrow aufzutreiben«, erklärte Annie. »Alles, was Sie mir sagen können, ist mir eine Hilfe. Ich erwarte nicht von Ihnen, Ihre Schweigepflicht zu brechen.«
»Warum suchen Sie Kirsten?«
»Sie hat vielleicht Informationen über einen Fall, an dem ich arbeite.«
»Was für ein Fall?«
Annie hätte am liebsten gesagt, darüber dürfe sie ebenfalls nicht sprechen, aber das wäre reichlich albern gewesen. Wenn sie selbst etwas preisgab, würde sie vielleicht etwas zurückbekommen. »An dem Ort, den Kirsten immer besuchte, wurde eine Frau ermordet«, sagte sie. »Wir denken nun -«
»Ach, du liebe Güte!«, sagte Dr. Henderson. »Sie glauben, er ist wieder da, nicht? Der Mörder von damals.«
Das hatte Annie überhaupt nicht sagen wollen, doch sie erkannte eine Chance, wenn sie sich vor ihrer Nase bot. »Die Möglichkeit besteht, ja«, sagte sie. »Er wurde nie gefasst.«
»Aber ich weiß trotzdem nicht, wie ich Ihnen helfen könnte.«
»Warum kam Kirsten nicht mehr zu Ihnen?«
Wieder schwieg die Ärztin, und Annie konnte beinahe die Debatte in Hendersons Kopf hören. Schließlich schienen die Pro-Argumente zu überwiegen. »Als Begründung sagte sie mir, unsere Sitzungen würden zu schmerzhaft für sie«, erklärte Henderson.
»In welcher Hinsicht?«
»Sie müssen verstehen, dass Kirsten verdrängt hatte, was ihr in jener Nacht, als sie vergewaltigt wurde, geschah. Das verursachte alle möglichen Störungen bei ihr: Depressionen, Alpträume, Panikattacken. Dazu die anderen Probleme -«
»Dass sie keinen Geschlechtsverkehr und keine Kinder haben konnte?«
»Wissen Sie das?« Henderson schien sich zu wundern.
»Ja, ein wenig weiß ich darüber Bescheid«, sagte Annie.
»Nun gut. Zusammen mit all diesen anderen Problemen, die sie hatte, nun, dann wissen Sie wohl auch bereits, dass Sie einen Selbstmordversuch unternahm. Das steht bestimmt auch in den Polizeiakten.«
»Ja«, log Annie. Warum sollte sie Dr. Henderson das Gefühl geben, zu viel verraten zu haben? Dann würde sie nur dichtmachen.
»Ich schlug eine Hypnosetherapie vor, und Kirsten war einverstanden.«
»Was war das Ziel?«
»Die Heilung natürlich. Manchmal muss man sich seinen Dämonen stellen, um sie zu vertreiben, und das funktioniert nicht, wenn man sie verdrängt.«
Annie hatte das Gefühl, durchaus zu verstehen, wovon die Therapeutin sprach. »Und, funktionierte es?«
»Nein. Wie gesagt, ich glaube, es wurde zu schmerzhaft für sie. Sie kam zu nah heran. Zuerst ging es nur langsam voran, dann erinnerte sie sich zu schnell an zu viel. Ich glaube, sie hatte das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, und bekam Panik.«
»Und die Konfrontation mit den Dämonen?«
»Das dauert«, sagte Dr. Henderson. »Man muss sich sehr gründlich vorbereiten. Man muss dazu bereit sein. Ich glaube, Kirsten war es nicht. Es wäre so gewesen, als sei man auf einer stark befahrenen Autobahn unterwegs, ohne den Führerschein gemacht zu haben.«
»Wie weit kam sie?«, fragte Annie. »Fiel ihr irgendetwas Wichtiges über den Täter ein?«
»Das war nicht der Sinn der Behandlung.«
»Das ist mir klar, aber vielleicht ein Nebenprodukt?«
»Das weiß ich nicht genau«, sagte Dr. Henderson.
»Was meinen Sie damit?«
»Bei der letzten Sitzung war Kirstens Stimme nur schwer zu verstehen, ich verstand kaum ein Wort. Als sie aus der Hypnose kam, war sie schockiert und verblüfft über das, woran sie sich erinnert hatte. Mehr als sonst.«
»Aber warum?«
»Ich weiß es nicht. Verstehen Sie nicht, was ich sagen will? Ich weiß es nicht. Sie brach überstürzt auf und kam nicht mehr wieder, teilte nur noch meiner Sekretärin mit, sie würde nicht mehr kommen.«
»Was glauben Sie denn, was geschah? Was sie so sehr erschütterte?«
Dr. Henderson überlegte wieder, dann hörte Annie, wie sie ganz leise sagte: »Ich glaube, sie erinnerte sich, wie der Täter aussah.«
»Wo sind Sie gewesen?«, fragte Murdoch. »Langsam reicht mir das hier. Ich will nach Hause.«
»Nicht mehr lange, Jamie«, sagte Banks. »Nur noch ein paar Fragen. Fangen wir mal am Anfang an. Vielleicht geht's dann schneller. Haben Sie Hayley Daniels vergewaltigt und getötet?«
»Nein! Wie sollte ich denn? Dann hätten Sie mich gesehen. Wenn man den Pub verlässt, wird man von den Kameras aufgenommen.«
Banks warf Miss Melchior einen Blick zu. Sie machte ein betretenes Gesicht, sagte aber nichts. Banks beugte sich vor und verschränkte die Hände auf dem Tisch. »Ich will Ihnen mal erzählen, Jamie, was meiner Meinung nach passiert ist. Dann können Sie ja sagen, ob es stimmt oder nicht, okay?«
Jamie nickte, ohne aufzusehen.
»Sie hatten einen schlechten Tag. Ehrlich gesagt, lief es schon länger ziemlich mies. Der armselige Pub, Sie immer allein, der Wirt sonnt sich in Florida. Selbst Jill meldete sich ständig krank. Sie half nicht nur hinter der Theke aus, sie war auch nett anzusehen, nicht? Aber Jill wollte nichts mit Ihnen zu tun haben, stimmt's? Kein Mädchen wollte das. Ich stelle mir vor, dass Sie sich ausmalten, Jill allein im Labyrinth zu erwischen. Sie wussten, dass sie die Abkürzung nahm. Vielleicht war das Ihr Plan für Samstagabend. Endlich hatten Sie den Mut gefunden. Aber Jill meldete sich krank, mal wieder, und das vereitelte Ihren kleinen Plan. Bis Hayley Daniels kam. Sie kannten das Mädchen schon seit Jahren, hatten am College sogar mal versucht, sich mit ihr zu verabreden, bevor Sie bei der Hälfte der Prüfungen nach dem ersten Jahr durchfielen und das College schmissen. So war es doch, Jamie, oder?«
Murdoch schwieg. Melchior schrieb in ihren Block, und Winsome betrachtete einen Fleck hoch oben an der Wand.
»Nachdem Hayley Sie an dem Samstagabend beschimpft und beleidigt hatte, setzten Sie die Clique vor die Tür, hörten sie aber draußen reden. Hayley hatte eine laute, durchdringende Stimme, besonders wenn sie betrunken und sauer war. Sie hörten, wie sie zu ihren Freunden sagte, was für ein dummes Schwein Sie wären, ein Schlappschwanz, sagte sie immer wieder, in aller Öffentlichkeit auf dem Marktplatz, jeder konnte es hören. Die Tür vom Pub hatten Sie einen Spaltbreit offen gelassen, so dass auch Sie es mitbekamen. Wie schlage ich mich bisher, Jamie?«
Murdoch knibbelte weiter an seinen Fingernägeln herum.
»Sie hörten, wie Hayley sagte, sie würde jetzt ins Labyrinth gehen, um sich zu erleichtern, auch wenn sie andere Wörter benutzte. Sie hatte eine richtige Gossensprache drauf, Jamie, oder?«
Kurz schaute Murdoch zu Banks auf. »Sie war sehr derb und grob«, sagte er.
»Und das mögen Sie nicht bei einer Frau, stimmt's?«
Murdoch schüttelte den Kopf.
»Gut, die Clique löste sich also auf, und Hayley ging allein ins Labyrinth. Na, es dauerte nicht lange, bis Sie eine Idee hatten, wie Sie Hayley einholen und es ihr geben könnten, nicht wahr?«
»Ich habe es schon gesagt«, wiederholte Murdoch mit gelangweilter Stimme, ohne aufzusehen. »Wenn ich ihr gefolgt wäre, hätte man mich gesehen.«
»Jamie«, sagte Banks. »Kennen Sie den Lagerraum hinter dem Fountain, den man über die Vertäfelung oben erreicht?«
Die Pause, bevor Murdoch »Nein« sagte, verriet Banks alles, was er wissen musste.
»Wir haben ihn gefunden, Jamie«, sagte Banks. »Sie brauchen nicht mehr zu lügen. Wir haben den Raum gefunden, den Ausgang, die Kleidung, die Sie dort deponiert haben, Ihre Ausrüstung - die Kondome, die Bürste, alles. Wir haben alles gefunden. Sie hatten ganz schön was vor, hm?«
Murdoch wurde leichenblass und vergaß seine Fingernägel, schwieg jedoch weiter.
»Von so was haben Sie schon seit langem geträumt, nicht?«, fuhr Banks fort. »Sie hatten Phantasien. Sie hatten sogar diese Ausrüstung zusammengestellt, um alle Beweise von der Leiche zu entfernen, um selbst Ihre Schamhaare einzusammeln. Sehr schlau, Jamie. Aber Sie hatten nicht geahnt, dass Hayley die Erste sein würde. Sie hatten Jill im Sinn. Vielleicht sind Sie nach der Sperrstunde auch einfach nur im Labyrinth rumgelaufen und haben gehofft, irgendeine käme vorbei, aber diese Gelegenheit war einfach zu gut, um sie sich entgehen zu lassen, nicht wahr? Welch ein Auftakt für eine große Karriere. Dieses vulgäre, umwerfende, aufreizende Biest Hayley Daniels.«
»Mr Banks, könnten Sie bitte ein bisschen runterfahren?«, unterbrach ihn Melchior mit wenig Überzeugung.
»'tschuldigung«, sagte Banks. »Soll ich mich vielleicht höflicher ausdrücken? Damit sich das alles netter anhört?« Er wandte sich wieder an Jamie. »Sie verließen den Pub durch den Geheimgang und sahen, dass Hayley ihr Geschäft verrichtete wie eine gemeine Hure. Ich nehme an, es erregte Sie, nicht wahr? So wie es Sie erregte, durch das Guckloch die Frauen auf der Toilette zu beobachten. Wahrscheinlich konnten Sie es gar nicht abwarten, bis Hayley fertig war. Sie kannten das Lager vom Ledergeschäft und wussten, dass das Schloss nur schwach war, und genau vor das Haus hockte sich Hayley hin, nicht wahr, direkt neben die Tür? Wir haben dort Spuren ihres Urins gefunden. Übergeben hatte sie sich auch. Sie schlugen zu, noch bevor Hayley ihr Höschen wieder hochziehen konnte, und schleppten sie ins Lager, auf den weichen Berg von Lederresten. Sehr romantisch. Aber eine Kleinigkeit ging daneben, nicht? Bei der ganzen Aufregung hatten Sie vergessen, Ihr Handy abzustellen, und es hat einen sehr auffälligen Klingelton, den es sehr laut spielt, ein richtiges Lied, von den Streets: >Fit But You Know It<. Den hatten Sie sich runtergeladen. Sehr passend, finden Sie nicht? Diesen Klingelton hörte jemand, Jamie. Zuerst erkannte er ihn nicht, aber dann hörte ihn noch jemand anders, als Sie eine Woche später gerade das Fountain verließen. Wer rief Sie an, Jamie? Ihr Chef aus Florida, so wie meistens am Ende des Abends? Er konnte Sie im Fountain nicht am Telefon erreichen, deshalb nahm er das Handy. War es so? Bei ihm muss es kurz nach sieben Uhr abends gewesen sein, wahrscheinlich machte er es sich gerade zu Sonnenuntergang mit einer Margarita und einer blonden Tussi im Bikini gemütlich und wollte von Ihnen wissen, wie der Laden läuft. Was sagten Sie ihm, Jamie? Nicht sehr gut? Ich nehme an, Sie lügen ihn auch an, so wie Sie alle Menschen anlügen. Aber das ist ein anderes Problem. Sie hätten Ihren Klingelton nach dem Mord an Hayley ändern sollen.
Wie ging es vor sich? Ich nehme an, Sie legten Hayley die Hand auf den Mund, stopften Lederreste hinein, drohten ihr, sie zu töten, wenn sie sich wehrte oder es jemandem erzählte, und dann vergewaltigten Sie das Mädchen. Mein Gott, Sie vergewaltigten Hayley. Vaginal und anal. Fühlten Sie sich gut dabei? Mächtig? Aber was war anschließend, als Sie fertig waren? Ich glaube, da fühlten Sie sich schuldig, nicht wahr? Als Ihnen klar wurde, was Sie getan hatten. Die Phantasie ist das eine, aber die Wirklichkeit ... Ich könnte mir vorstellen, dass es ein ganz schöner Schock war. Es gab kein Zurück mehr. Hayley kannte Sie. Sie wusste, was Sie getan hatten. Eines Tages würde es herauskommen, so oder so. Wenn sie am Leben blieb. Deshalb erwürgten Sie das Mädchen. Vielleicht taten Sie es nicht gern. Ich weiß es nicht. Sie sah so verletzlich aus, wie sie da lag mit den gespreizten Beinen und dem hochgeschobenen Oberteil. Es zeigte Ihnen viel zu deutlich, was Sie getan hatten, wie ein Blick in den Spiegel. Deshalb drehten Sie Hayley vorsichtig auf die Seite, drückten ihre Beine zusammen, als würde sie schlafen oder im Schlaf laufen. Das sah besser aus, nicht wahr? Nicht ganz so mies. Wie schlage ich mich, Jamie?«
Murdoch schwieg.
»Es ist sowieso egal«, sagte Banks, stand auf und beendete die Befragung. »Wir haben genug Spuren, und wenn die Rechtsmedizin damit durch ist, buchten wir Sie ein und werfen den Schlüssel weg.«
Jamie bewegte sich nicht. Als Banks genauer hinsah, bemerkte er, dass Tränen auf die zerkratzte Tischfläche tropften. »Jamie?«
»Sie war so wunderschön«, sagte Jamie. »Und so verkommen. Sie meinte, sie würde alles tun. Als ich ... als wir ... da meinte sie, sie würde alles für mich tun, wenn ich sie laufenlassen würde.«
»Aber das taten Sie nicht.«
Murdoch schaute Banks an, die Augen voller Tränen. »Ich wollte, wirklich, aber ich konnte nicht. Wie sollte das gehen? Ich konnte sie doch nicht einfach laufenlassen. Nicht danach. Sie würde ihr Versprechen nicht halten. So ein Mädchen. So eine Nutte wie sie. Ich wusste, dass sie ihr Versprechen nicht halten würde. Ich musste sie umbringen.«
Banks schaute Melchior an. »Haben Sie das gehört?«, fragte er und verließ den Raum.
Als Annie das Queen's Arms erreichte, war Templetons Leichenschmaus bereits in vollem Gange, und kaum war sie dort eingetroffen, erfuhr sie, dass es gleichzeitig eine Feier zur Ergreifung des Mörders von Hayley Daniels war - eine ziemlich sonderbare Kombination. Banks, Hatchley, Gervaise und der Rest saßen um einen langen Tisch, tranken Bier und erzählten Templeton-Geschichten, so wie man es auf einem Leichenschmaus tat. Die meisten lustig, einige bittersüß. Annie hatte nicht vor, heuchlerisch dabei mitzutun, doch genauso wenig wollte sie den anderen die Stimmung verderben, indem sie ein paar von ihren Templeton-Anekdoten zum Besten gab. Das arme Schwein war tot, und das hatte er nicht verdient, er sollte einen ordentlichen Abschied bekommen.
Aus irgendeinem Grund hatte Annie besonders gute Laune. Das lag natürlich nicht am Anlass, sondern hatte etwas damit zu tun, wieder in Eastvale zu sein, mit den alten Kollegen im Queen's Arms. Eastern Area war ja in Ordnung, aber Annie hatte das Gefühl, dies sei der Ort, wo sie hingehörte. Winsome schien ihren Spaß zu haben, lehnte an der Theke und unterhielt sich mit Dr. Wallace. Annie gesellte sich zu den beiden. Zuerst war Winsome etwas steif, doch sie entspannte sich schnell und bot Annie etwas zu trinken an.
»Ein Pint Black Sheep Bitter«, sagte Annie.
»Hey«, sagte Winsome, »du kannst gerne bei mir schlafen, falls du ... ich meine ...«
Es war eine Art Entschuldigung und gleichzeitig eine Mahnung, nicht zu trinken und zu fahren. »Danke, Winsome«, sagte Annie und stieß mit der Kollegin an. »Mal sehen, wie der Abend läuft. Ich weiß nicht genau, ob ich mich heute betrinken will. Wie geht's Ihnen, Dr. Wallace? Ich bin DI Annie Cabbot. Wir haben uns ein paar Mal getroffen, bevor ich zur Eastern versetzt wurde.«
Dr. Wallace gab Annie die Hand. »Ich erinnere mich«, sagte sie. »Mir geht's gut. Und sagen Sie doch bitte Liz.«
»Gut, Liz.«
»Ich nehme an, Sie haben da drüben gut zu tun?«
»Allerdings.« Annies Bier kam, sie trank einen langen Schluck. »Ah, schon besser«, sagte sie.
Hatchley erzählte gerade einen Templeton-Witz, und der ganze Tisch grölte vor Lachen. Selbst Superintendent Gervaise lachte mit. Sie hatte einen roten Kopf und wirkte leicht beschwipst, fand Annie.
»Und, wie geht es voran?«, fragte Dr. Wallace.
»Lucy Payne? Ach, wie immer, läuft so vor sich hin. Wissen Sie«, sagte Annie und legte die Hand auf den Arm der Ärztin. Es war nur eine kurze Berührung, doch Liz zuckte zusammen. »Wir müssen uns wirklich mal zusammensetzen und darüber sprechen, Erkenntnisse austauschen.« Sie machte eine ausholende Geste. »Nicht hier. Und natürlich nicht jetzt. Nicht zu so einem Anlass. Aber es gibt einige Parallelen zum Mord an Kevin Templeton.«
»Das ist mir bewusst«, sagte Dr. Wallace. »Ich habe mit Dr. Clarke gesprochen, Ihrem Rechtsmediziner. Zum Beispiel sind die verwendeten Klingen ähnlich.«
»Eine Rasierklinge, meinten Sie doch, oder?«
»Ja. Das ist zumindest am wahrscheinlichsten.«
»Oder ein Skalpell?«
»Kann es auch gewesen sein. Bei solchen Wunden ist das oft unmöglich zu sagen. Jedenfalls etwas sehr Scharfes. Für den einfachen Mann ist ein Skalpell aber nicht so leicht zu besorgen.«
»Oder für die einfache Frau?«
»Natürlich. Wie Sie sagten, das ist jetzt nicht der richtige Ort und die richtige Zeit. Kommen Sie doch in der Leichenhalle vorbei! Da bin ich meistens.« Liz lächelte. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen. Ich muss noch mal kurz mit Superintendent Gervaise sprechen, bevor sie umfällt.«
»Dann würde ich mich beeilen«, sagte Annie und hob das Glas. »Hoch die Tassen!«
Dr. Wallace lächelte wieder und setzte sich auf den leeren Stuhl neben Gervaise.
»Spielverderberin«, meinte Winsome.
Annie sah sie an. »Freut mich, dass du Spaß hast, Winsome. Komm, ich geb dir einen aus. Wie wär's mit was Blauem oder Rosanem mit einem Schirmchen?«
»Ooh, ich weiß nicht«, sagte Winsome und drückte ihr kleines Guinness-Glas an die Brust.
»Ach, komm, jetzt sei mal locker!« Annie zwinkerte. »Man weiß nie, was passiert.« Sie beugte sich über die Theke und bestellte bei Cyril eine seiner Spezialmischungen.
»Hör mal, wegen neulich -«, begann Winsome.
»Das macht nichts -«
»Doch, macht es. Es tut mir leid. Ich wollte nicht so prüde daherkommen. Was du tust, ist deine Sache, ich habe kein Recht, mir darüber ein Urteil zu bilden. Ich habe nicht mal das Recht, mir über Kevin ein Urteil zu bilden.«
»Wie meinst du das?«
»Hey, ich bin auch kein Engel. Ich habe einen nackten Kerl nicht vom Bett losbinden lassen, als ich ihm sagen musste, dass seine Tochter tot ist.«
»Winsome, bist du besoffen?«, fragte Annie. »Wovon redest du da?«
Winsome erzählte von Geoff Daniels und Martina Redfern im Hotel Faversham. Annie brach in Lachen aus. »Darüber würde ich mir keine allzu großen Sorgen machen«, sagte sie. »Hört sich an, als hätte der Sausack es verdient, egal was es war. >Schwarzer Teufel<, also wirklich ...«
Winsome grinste. »Meinst du ehrlich?«
»Klar. Ich hab's nur nicht sofort gerafft, als du das gerade sagtest. Ich meine, ich habe versucht, mir vorzustellen, wie du einen nackten Mann in einem Hotelzimmer ans Bett fesselst.«
»Ich habe ihn da doch nicht festgebunden!«
»Das weiß ich jetzt auch. War nur eine lustige Vorstellung, mehr nicht. Vergiss es.« Annie trank noch einen großen Schluck Bier. Winsomes Drink wurde serviert. Er war blau und rosa. Drüben am Tisch sangen sie jetzt »Why Was He Born So Beauti-ful?«. Annie hörte Banks' unmelodischen Tenor heraus. »Katzenmusik, was?«, bemerkte sie.
Winsome lachte. »Ich meine es ernst«, sagte sie und legte die Hand auf Annies Arm. »Wegen neulich. Es tut mir leid. Ich war unsensibel.«
»Hör mal«, sagte Annie, »nur so unter uns: Ich hatte es verbockt. Du hattest recht mit dem, was du gesagt hast. Es war ein Fehler. Ein großer Fehler. Aber jetzt ist es vorbei. Geschichte. Geklärt.«
»Also Entschuldigung angenommen?«
»Entschuldigung angenommen. Und ich habe gehört, man darf dir gratulieren? Niemand hatte eine Ahnung, dass du so super in Rugby bist. Pass auf, die englische Nationalmannschaft kann Verstärkung gebrauchen!«
Winsome lachte. »Viel schlimmer als jetzt kann es nicht mehr werden.«
»Los, komm mit!« Annie legte Winsome den Arm um die Schulter. Sie nahmen ihre Gläser und gingen an den Tisch, um gerade noch mit einzustimmen: »He's no bloody use to anyone. He's no bloody use at all.«