Als Annies Telefon am Sonntagmorgen um halb acht klingelte, war sie noch nicht wieder richtig eingeschlafen, nachdem sie von dem Geräusch und dem schlechten Traum um drei Uhr nachts geweckt worden war. Sie hatte wach gelegen und an Banks und Eric, an Lucy Payne, Kirsten Farrow und Maggie Forrest gedacht, bis alles zu einem verwirrten Knäuel wurde, dann hatte sie eine Weile unruhig gedöst. Und jetzt das Telefon.
Annie tastete nach dem Hörer und murmelte ihren Namen.
»'tschuldigung, habe ich Sie geweckt?«, fragte eine Stimme am anderen Ende. Irgendwie klang sie sonderbar. Zumindest war es nicht Eric.
»Schon gut«, sagte sie. »Ist eh Zeit zum Aufstehen.«
»Ich habe extra bis zu einer vernünftigen Uhrzeit gewartet. Zuerst habe ich auf der Dienststelle angerufen, und da sagte man mir, ich könnte Sie unter dieser Nummer erreichen. Bei euch ist es halb acht, stimmt's, und die Polizei ist immer früh auf den Beinen, oder?«
»So ungefähr«, sagte Annie. Jetzt konnte sie den Akzent zuordnen. Australisch. »Dann sind Sie wohl Keith McLaren«, sagte Annie.
»Genau. Ich rufe aus Sydney an. Hier ist es halb sieben Uhr abends.«
»Wenn es das doch hier auch schon wäre! Dann hätte ich den Arbeitstag hinter mir.«
McLaren lachte. Es hörte sich an, als sei er direkt um die Ecke. »Aber heute ist Sonntag.«
»Ha!«, lachte Annie. »Das macht für Superintendent Brough keinen Unterschied. Na, ist auf jeden Fall gut, dass Sie so schnell von sich hören lassen. Danke für den Rückruf.«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen noch irgendwas Neues sagen kann, aber die Beamtin, die mich anrief, meinte, es sei wirklich wichtig.«
Ginger hatte über die Polizei von Sydney Kontakt mit McLaren aufgenommen. Er war natürlich nicht vorbestraft, aber man hatte die Kollegen dort über das informiert, was vor achtzehn Jahren in Yorkshire geschehen war - deshalb war sein Name in den Akten. »Könnte sein«, sagte Annie und klemmte das schnurlose Telefon unters Kinn, holte sich Wasser und stellte den Wasserkessel an. Sie war nackt, was ihr irgendwie peinlich war, aber es konnte sie ja niemand sehen, versicherte sie sich. So einfach war es gar nicht, sich anzuziehen und gleichzeitig zu telefonieren. Sie trank einen Schluck Wasser und schlug den Block vor sich auf dem Tisch auf. Sie hörte, dass der Kessel kurz vorm Kochen war. »Ich hoffe, dass diese Erinnerungen für Sie nicht allzu schmerzhaft sind«, fuhr sie fort, »aber ich möchte mit Ihnen über das sprechen, was Sie vor achtzehn Jahren in England erlebten.«
»Warum? Haben Sie endlich herausgefunden, wer es war?«
»Wir wissen es noch nicht, aber es könnte eine Verbindung zu meinem aktuellen Fall geben. Jedenfalls kam Ihr Fall vor kurzem zur Sprache. Ist Ihnen im Lauf der Jahre vielleicht noch mehr eingefallen?«
»Ja, ein paar Kleinigkeiten, doch. Erst war mein Kopf völlig leer, und dann fiel mir wieder das eine oder andere ein. Ich habe immer alles aufgeschrieben. Mein Arzt meinte, das wäre eine gute Therapie, und es hilft wirklich. Wenn ich ein Detail aufschreibe, fällt mir manchmal noch mehr ein. Das ist sonderbar. Im Großen und Ganzen erinnere ich mich an das meiste, bis ich in Staithes war, danach ist alles eher verschwommen. Ist das nicht komisch? Dass ich mich so wenig an den größten Urlaub meines Lebens erinnern kann? Reine Geldverschwendung, wenn man es recht bedenkt. Vielleicht hätte ich eine Rückerstattung beantragen sollen.«
Annie lachte. »Wäre eine gute Idee gewesen. Was ist mit dem Tag in Staithes? Ein Zeuge meinte, er hätte Sie in Begleitung einer jungen Frau am Hafen gesehen.«
»Ich weiß. Wie gesagt, es ist alles verschwommen. Ich habe nur so ein vages Gefühl, unten am Hafen mit jemandem geredet zu haben, und ich dachte, es sei jemand, den ich kenne. Aber ich weiß nicht mal, ob es ein Mann oder eine Frau war.«
»Es war eine Frau«, sagte Annie. »Was glauben Sie, woher Sie sie kannten?«
»Das weiß ich nicht. Es ist nur so ein Gefühl, ohne Grundlage. Die Polizei hat mir gesagt, ich hätte im B&B in Whitby ein Mädchen kennengelernt, und inzwischen kann ich mich an sie erinnern. Die Polizei meint, sie wäre die Frau am Hafen gewesen, aber das weiß ich nicht. Ich hatte immer wieder dieselben Träume, Alpträume, kann man wohl sagen, aber ich weiß nicht, inwiefern sie mit der Realität übereinstimmen.«
»Was für Alpträume?«
»Die sind ein bisschen ... ähm ... peinlich.«
»Ich bin Polizeibeamtin«, sagte Annie. »Sehen Sie mich einfach als Ärztin.«
»Trotzdem sind Sie eine Frau.«
»Tut mir leid, aber daran kann ich nichts ändern.«
McLaren lachte. »Ich tue mein Bestes. Wissen Sie, es ist ein wenig sexuell. Dieser Traum. Wir sind im Wald, ja, liegen auf dem Boden, machen herum, küssen uns und so.«
»So weit alles klar«, sagte Annie. »Und nur zu Ihrer Information: Bisher bin ich nicht rot geworden.« Der Wasserkessel kochte. Annie klemmte sich das Telefon unters Kinn und goss das Wasser auf den Teebeutel in ihrer Tasse, achtete darauf, sich nicht zu verbrühen.
»Danach kippt das Ganze und wird ein Horrorfilm«, fuhr McLaren fort. »Auf einmal liege ich da nicht mit einem hübschen jungen Mädchen, sondern mit einem Monster, das einen Kopf hat wie ein Hund oder Wolf, wie so ein Werwolf, denke ich, und auf der Brust ist die Haut wie roh, ich sehe nur eine Brustwarze, die blutet, der Rest ist kreuz und quer mit roten Streifen überzogen, wo eigentlich die Brüste und die andere Brustwarze sein müssten. Dann reißt mein Kopf auf. Ich hab ja gesagt, es ist ziemlich seltsam. -«
»So ist das nun mal mit Träumen«, sagte Annie. »Keine Sorge, ich werde Sie jetzt nicht analysieren.«
»Das ist kein Problem. Wäre nichts Neues für mich. Nun, das ist es jedenfalls im Großen und Ganzen. Ich wache dann immer schweißgebadet auf.«
Annie wusste von ihrem Gespräch mit Sarah Bingham, dass Kirsten Farrow nach der Vergewaltigung an der Brust operiert worden war, ebenfalls an der Scheide und im Schambereich. »Was hat der Traum Ihrer Meinung nach zu bedeuten?«
»Das hat mich der Psychologe auch gefragt. Null Ahnung.«
»Was machten Sie damals in Whitby?«
»Ich war gerade mit der Uni fertig und wollte etwas von der Welt sehen, bevor ich zu Hause sesshaft wurde. Ich hatte Geld gespart und bin rüber nach Europa, machen ja viele Aussies. Wir sind hier so weit ab vom Schuss, und das Land ist so riesig, dass wir das Gefühl haben, mindestens einmal eine große Reise machen zu müssen, bevor wir uns hier häuslich niederlassen. Einer meiner Vorfahren stammte aus Whitby. Strafgefangener. Hatte ein Brot gestohlen oder so. Deshalb hatte ich in meiner Kindheit viel über den Ort gehört und wollte ihn mir mal ansehen.«
»Erzählen Sie mir von dem jungen Mädchen aus der Pension!«
»Könnten Sie eben kurz warten? Ich hole nur mein Notizbuch. Da steht alles drin, was ich noch weiß.«
»Super«, sagte Annie. Sie wartete eine halbe Minute, dann war McLaren wieder in der Leitung.
»Ich hab's«, sagte er. »Ich habe sie beim Frühstück kennengelernt. Sie sagte, sie heiße Mary oder Martha, irgend so was. Das weiß ich nicht mehr so genau.«
Annies Puls schlug vor Aufregung schneller. Die Frau, die Lucy aus Mapston Hall abgeholt hatte, nannte sich ebenfalls Mary. »Nicht Kirsten?«, fragte sie.
»Kommt mir nicht bekannt vor.«
»Was für einen Eindruck hatten Sie von ihr?«, wollte Annie wissen und zeichnete auf ihren Schreibblock den Blick aus dem Fenster, den fedrigen Nebel über den gewellten roten Dachpfannen, das Meer als vager Dunst unter einem Totentuch, Grau in Grau, die Sonne so blass und schwach, dass man ewig hätte hineinsehen können, ohne zu erblinden.
»Ich weiß noch, dass ich sie interessant fand«, erwiderte McLaren. »Ich kann mich nicht erinnern, wie sie aussah, aber sie war jedenfalls keine Beleidigung fürs Auge. Ich kannte niemand sonst in dem B&B. Ich wollte einfach nur freundlich sein, mehr nicht, ich hatte es nicht auf sie abgesehen. Jedenfalls nicht ausdrücklich. Sie war sehr zurückhaltend, das weiß ich noch. Ausweichend. Als wollte sie einfach nur in Ruhe gelassen werden. Vielleicht kam ich etwas zu aufdringlich rüber. Das sagt man uns Aussies ja öfter nach. Wir wären zu direkt. Egal, ich schlug ihr vor, sie könnte mir ja die Stadt zeigen, aber sie sagte, sie hätte zu tun. Irgendwas mit einem Forschungsprojekt. Da habe ich sie für abends auf ein Bier eingeladen.«
»Sie geben nicht schnell auf, was?«
McLaren lachte. »Es war ganz schön mühselig. Immerhin war sie einverstanden, mich auf ein Glas im Pub zu treffen. Moment mal kurz ... ja, hier steht's ... im Lucky Fisherman. Sie schien sich da auszukennen.«
»Der Lucky Fisherman?« Annie spitzte die Ohren. Das war die Stammkneipe von Jack Grimley, wo er am Abend kurz vor seinem Verschwinden gewesen war. »Haben Sie das der Polizei erzählt?«, fragte sie.
»Nein. Das ist mir erst Jahre später wieder eingefallen, und ich wurde ja nicht mehr befragt. Ich dachte, es wäre nicht wichtig.«
»Ist schon gut«, sagte Annie. Dieser Fall hatte mehr Löcher als ein Schweizer Käse. Aber Ferris hatte recht gehabt: Sie konnten sich nicht den Luxus leisten, jede Ungereimtheit so lange zu verfolgen, bis sie gelöst war, so wie es die Polizei im Fernsehen machte. Manches ging einem einfach durch. »Kam sie in den Pub?«
»Schon. Aber es war nicht einfach, sich mit ihr zu unterhalten. Sie wirkte sehr unkonzentriert, als würde sie an etwas anderes denken. Und von Crocodile Dundee hatte sie noch nie gehört. Das ist mir Jahre später eingefallen. Der Film war damals total bekannt.«
»Selbst ich habe von Crocodile Dundee gehört«, sagte Annie.
»Na, sehen Sie. Jedenfalls bekam ich ziemlich schnell den Eindruck, dass sie lieber woanders gewesen wäre. Bloß dann ...«
»Was?«
»Na ja, sie interessierte sich fürs Fischen. Wissen Sie, wann die Boote rausfuhren, wo sie den Fang abluden und so weiter. Ich meine, ich wusste das alles nicht, ich fand ihre Fragen auch ziemlich sonderbar. Um ganz ehrlich zu sein, kam ich nach und nach zu dem Schluss, einen großen Fehler gemacht zu haben. Egal, ich ging zum Klo, und als ich zurückkam, hatte ich den Eindruck, als würde sie einen anderen Kerl anstarren.«
»Wen?«, fragte Annie.
»Keine Ahnung. Einen aus dem Ort. Trug so einen dicken Pullover wie die Fischer. Sah gar nicht schlecht aus, auf eine herbe Art, würde ich sagen, aber eigentlich ...«
Jack Grimley, hätte Annie auf der Stelle gewettet, auch wenn er kein Fischer gewesen war. Und sie bezweifelte, dass Kirsten ihn beobachtete, weil sie ihn für einen netten Kerl hielt.
»Und dann?«
»Gingen wir. Liefen durch die Stadt. Am Ende setzten wir uns auf eine Bank und unterhielten uns, aber ich hatte wieder den Eindruck, als sei sie mit den Gedanken woanders.«
»Passierte irgendwas?«
»Nein. Klar, ich hab's mal vorsichtig probiert, den Arm um sie gelegt, ihr einen Kuss gegeben. Aber das führte zu nichts, ich gab auf, und wir gingen zurück zum B&B.«
»Jeder auf sein Zimmer.«
»Natürlich.«
»Haben Sie sie noch mal gesehen?«
»Nicht dass ich wüsste, obwohl die Polizei da ja anderer Meinung ist.«
»Sonst wissen Sie nichts mehr über diesen Tag in Staithes?«
»Nein. Tut mir leid.«
»Ich habe gehört, dass es mit Ihnen eine Zeitlang auf Messers Schneide stand?«
»Ich kann von Glück sagen, dass ich noch lebe. Haben alle gesagt. Ein noch größeres Glück ist es, dass ich mein altes Leben weiterführen konnte, Anwalt wurde, eine gute Stelle bekam und so weiter. Alles außer Frau und Kinder. Dazu kam es irgendwie nie. Damals war durchaus von einem dauerhaften Hirnschaden die Rede. Ich schätze mal, bei euch drüben versteht man das Aussie-Hirn einfach nicht. Das ist nämlich viel härter, als ihr Leimis denkt.«
Annie lachte. »Das freut mich.« Sie mochte Keith McLaren, zumindest soweit sie das nach diesem Telefonat sagen konnte. Er klang, als würde es Spaß machen, mit ihm auszugehen. Außerdem wäre er ungefähr im richtigen Alter für sie. Und Single. Annie fragte sich, wie er wohl aussah. Aber Sydney war sehr, sehr weit weg. Trotzdem war es nett, sich das auszumalen. »Sie haben sich bestimmt gefragt, warum Ihnen das zustieß«, sagte Annie. »Warum ausgerechnet Ihnen.«
»Das frage ich mich so gut wie jeden Tag.«
»Und, haben Sie eine Antwort?«
McLaren überlegte, bevor er sprach. »Damals kam nie einer und sagte es geradeheraus«, erwiderte er, »vielleicht weil ich zuerst im Koma lag und mich anschließend lange davon erholte, aber ich hatte ganz stark den Eindruck, dass die Polizei die Theorie nicht ganz aufgab, ich hätte mich vielleicht etwas zu aggressiv an sie rangemacht und sie hätte sich nur verteidigt.«
Das überraschte Annie nicht. Sie gab es nur sehr ungern zu, besonders nachdem sie nun mit McLaren gesprochen hatte und ihn mochte, aber das wäre auch bei ihr einer der ersten Gedanken gewesen. Ob es daran lag, dass sie eine Frau war oder eine Polizeibeamtin, wusste sie nicht, vielleicht sogar an beidem. Der Grund konnte aber auch sein, dass sie selbst vergewaltigt worden war. »Hat die Polizei angedeutet, Sie hätten die Frau bedrängt, sie vergewaltigen wollen?«
»Nicht ausdrücklich, aber die Botschaft kam klar und deutlich bei mir an. Ich musste nur deshalb nicht ins Gefängnis, weil es gleichzeitig zwei ungeklärte Todesfälle gab und die Frau sich anscheinend aus dem Staub gemacht hatte.«
»Haben Sie die Frau jemals nackt gesehen?«
»Was für eine Frage!«
»Das kann sehr wichtig sein.«
»Aber die Antwort ist nein. Nicht dass ich wüsste. Wie gesagt, ich weiß nicht, was an jenem Tag im Wald passierte, aber bis zu dem Punkt ist mein Gedächtnis so klar, wie es nur geht. Ich meine, sie wollte nichts davon wissen. Ich gab ihr einen einzigen Kuss, auf der Bank beim Denkmal von Cook, das war alles.«
Also konnte er nichts von Kirstens Brustverletzungen gewusst haben, dachte Annie, es sei denn, er war wirklich mit ihr im Wald gewesen und hatte ihr das Oberteil ausgezogen. Der Traum mochte ein Hinweis darauf sein, dass er die Narben gesehen hatte und sein Unterbewusstsein sich damit beschäftigte. Irgendetwas musste er bei Kirsten versucht haben, oder es lief bis zu einem gewissen Punkt in gegenseitigem Einvernehmen, bis Kirsten sich zu wehren begann und Panik bekam. Damals wusste sie bereits, dass sie keinen Sex mehr würde haben können, was war da also gelaufen?
Falls McLaren begriffen hatte, wer sie war - was gut möglich war, selbst wenn sie ihr Aussehen verändert hatte -, falls er also ihre Tarnung durchschaut hatte und eine Bedrohung für ihren Rachefeldzug darstellte, war es doch denkbar, dass sie ihn kaltblütig in den Wald gelockt hatte, um ihn loszuwerden? Dass sie mit ihm herumgeknutscht und dann versucht hatte, ihn zu töten, als er entsprechend abgelenkt war? Mit was für einem Menschen hatte Annie es hier zu tun? Immer wenn sie glaubte, ein gewisses Gefühl für diese Kirsten zu entwickeln, entzog sich die verdammte Frau wieder ihrem Verständnis und Mitgefühl.
»Was halten Sie denn von der Theorie der Polizei?«, fragte Annie.
»Ich sehe das nicht«, sagte McLaren. »Ich meine, es kommt Ihnen vielleicht unglaubhaft vor, aber ich bin einfach nicht der Typ dafür. Ich glaube, ich habe es schlichtweg nicht in mir. Sie denken vielleicht, jeder Mann hat es, ich weiß es nicht. Ich nehme an, Sie haben in Ihrem Beruf schon alles erlebt, und Sie sind eine Frau, aber ich sehe das anders. Ich glaube ganz ehrlich nicht, dass ich jemals eine Frau angreifen oder vergewaltigen könnte.«
Obwohl Annie selbst Opfer einer Vergewaltigung gewesen war, hielt sie nicht jeden Mann für einen potentiellen Vergewaltiger. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Keith«, sagte sie. »Sie waren mir eine große Hilfe. Und wenn es irgendein Trost für Sie ist, ich glaube auch nicht, dass Sie so ein Mensch sind.«
»Gern geschehen«, sagte Keith. »Falls Sie mal in Sydney sind, kommen Sie doch vorbei! Ich lade Sie zu den besten Meeresfrüchten ein, die Sie je gegessen haben.«
Annie lachte. »Mach ich«, sagte sie. »Alles Gute.«
Als sie auflegte, drückte sie die lauwarme Teetasse auf ihre Haut und starrte aufs Meer. Sydney. Das wäre mal was! Bilder von der Harbour Bridge und der Oper, die sie vom Fernsehen kannte, standen ihr vor Augen. Der Nebel verdunstete über dem Meer, stieg in dünnen Schwaden hoch und löste sich auf, die Sonne schien heller, man konnte nicht mehr hineinsehen, und ein grüner Fischtrawler näherte sich der Küste. Wenige Minuten später klingelte Annies Telefon erneut.
Kevin Templeton hatte eine Zweizimmerwohnung in einer ehemaligen Schule in der Nähe der Dorfwiese, direkt gegenüber vom Fluss, nicht weit entfernt von dem Haus, in dem die Profilerin Jenny Füller immer wohnte, wenn sie in der Stadt war. Aus seinem Zimmer im dritten Stock führte eine Tür auf einen kleinen Balkon, der einen herrlichen Blick nach Westen auf die terrassierten Gärten bis hoch zu der majestätischen Burgruine hoch oben auf dem Hügel bot. Auf der anderen Seite der Dorfwiese war die East-Side-Siedlung, der Schandfleck Eastvales, ein unerschöpflicher Quell der Beschäftigung für Banks und den Rest des Präsidiums der Western Area. Sie wurde von Bäumen verdeckt, aber durch die nackten Zweige konnte man die Reihen identischer roter Backsteinhäuser sehen.
Die Wohnung war nicht mehr als ein leeres Gehäuse, dachte Banks, als er im Wohnzimmer stand. Sie verriet nicht viel über ihren Bewohner. Die Möbel waren modern, wahrscheinlich von Ikea oder einem ähnlichen Billigmöbelfabrikanten, mit Sicherheit an einem Wochenende in großer Hast und Eile mit einem Inbusschlüssel, einem Sixpack billigen Biers und unter lautem Fluchen zusammengebaut.
Templeton hatte ein Digitalradio, aber keine Stereoanlage oder CDs. Ein Widescreen-Fernseher dominierte die Wand, daneben stand ein Bücherregal mit DVDs. Eine Menge Sport, registrierte Banks, ein paar Kassenschlager und amerikanische Fernsehserien wie Die Simpsons, 24 und CSI. Einige Bücher standen dort auch, hauptsächlich zerlesene Taschenbücher von Ken Follett, Jack Higgins, Chris Ryan und Andy McNab, dazu Texte über Strafrecht und dicke amerikanische Wälzer über Ermittlungsmethoden. Auf dem Kamin waren keine Familienfotos, und die einzige Dekoration an der Wand war ein billig gerahmtes Poster von Vertigo, das im letzten Jahr als Gratisbeilage mit der Zeitung gekommen war.
Das Badezimmer verriet nichts Außergewöhnliches: Shampoo, Zahnpasta, Paracetamol, Haargel, Rasierer, Rasiercreme und so weiter. Keine verschreibungspflichtigen Medikamente. Das Handtuch, das über dem Rand der Badewanne hing, war noch feucht, und Wasserperlen standen auf den Fliesen und in der Badewanne.
Templetons Gefrierschrank in der Küche war bis auf ein Tablett mit Eiswürfeln leer, und im Kühlschrank fand Banks Milch, Eier, Käse, HP-Sauce, Tomatensauce, die Reste einer Bestellung vom Inder und eine Tupperware-Dose mit einem Rest Spaghetti Bolognese. In einem Weinregal lagen Weine von Tesco und Sainsbury's, sogar ziemlich gute, wie Banks sah. Außerdem hatte Templeton eine relativ teure Espressomaschine.
Blieb nur noch das kleine Schlafzimmer mit dem Doppelbett und dem Nachttisch mit Lampe, dazu ein großer Kleiderschrank voller Kleidung und Schuhe. Die Anzüge waren von guter Qualität, nicht gerade Armani oder Paul Smith, aber wenn Templeton bei seinem Gehalt so teure Klamotten besessen hätte, wäre Banks auch misstrauisch geworden. Das einzige Foto in der ganzen Wohnung stand auf der Kommode unter dem Fenster. Es zeigte ein junges Mädchen, etwa achtzehn, neunzehn Jahre alt, dessen langes blondes Haar im Wind wehte. Mit der Hand hielt sie es von den Augen fern und lächelte blinzelnd in die Kamera. Herbstlaub wirbelte um sie herum. Banks hatte keine Ahnung, um wen es sich handelte und warum Templeton das Bild im Schlafzimmer stehen hatte. Vielleicht seine Freundin? Er hatte nie von seinem Privatleben gesprochen.
In der Nachttischschublade waren lediglich Kleingeld, Kondome, Papier und Stift. Darauf stand ein Digitalwecker, der auf sechs Uhr gestellt war.
Banks ging ins Wohnzimmer zurück und setzte sich an Templetons Schreibtisch. Das Laptop war mit einem Passwort geschützt, das würde zur Analyse an die Technik gehen. Banks durchsuchte die Schubladen und fand einen Stapel großer Notizblöcke, die mit Templetons ordentlicher, aber unleserlicher Schrift gefüllt waren. Sie waren wie in einem Tagebuch datiert, aber die Einträge beschränkten sich auf die Fälle, an denen Templeton arbeitete. Banks suchte den letzten Block heraus und sah, dass Templeton notiert hatte, was er Freitagabend getan hatte:
00:00 Uhr. Über den Parkplatz ins Labyrinth. Schlecht beleuchtet. Hohe Häuser, viele hängen über. Unmöglich, allein alles im Auge zu behalten. Ferne Geräusche vom Marktplatz, als die Pubs schließen. Niemand kommt vorbei. Keine Schritte.
00:23 Uhr. Höre ein Stück von »Fit But You Know it« von den Streets aus einem vorbeifahrenden Auto oder weil kurz eine Tür geöffnet wird. Dann ist es wieder still. Gedämpfte Tanzmusik aus der Bar None. Warten. Nichts. Bin trotzdem sicher, dass ich recht habe. Der Mörder wird erneut zuschlagen, und wie würde er sich über uns lustig machen, wenn er es eine Woche später wieder täte, am selben Ort!
Fazit: War bis zwei Uhr da, nichts passiert. Als es eine halbe Stunde lang still war und feststand, dass weder Mörder noch Opfer vorbeikommen würden, beschloss ich, die Überwachung für den Abend zu beenden.
Banks hatte also recht gehabt mit seiner Theorie, dass Templeton privat im Labyrinth Streife ging. Nicht dass es angesichts des Mordes an dem jungen Kollegen ein großer Trost gewesen wäre. Er sah sich noch einmal in der Wohnung um, schloss ab und ging zurück zur Dienststelle. Den Notizblock nahm er mit.
Die Fahrt nach Eastvale zog sich hin, und Annie war nicht völlig überzeugt, dass es sich lohnen würde, aber was Banks ihr am Telefon gesagt hatte, war verstörend und fesselnd genug gewesen. Nach dem Gespräch mit Keith McLaren hatte sie sich sowieso nicht mehr hinlegen wollen, so müde sie auch war. Und so fuhr sie am Sonntagmorgen durch das Moor, ohne durch viel Verkehr aufgehalten zu werden. Durch die Sonnenwärme war der morgendliche Nebel inzwischen vollständig verdunstet, es war ein frischer, klarer Frühlingstag.
Als Annie gegen halb elf das Präsidium der Western Area betrat, spürte sie die angespannte, melancholische Stimmung.
Selbst wenn Banks es ihr nicht erzählt hätte, wäre ihr auf der Stelle klar gewesen, dass ein Kollege ermordet worden war. Nichts war mit dieser Atmosphäre vergleichbar. Die Beamten saßen mit zusammengebissenen Zähnen an ihren Aufgaben, waren gereizt, und über allem hing eine Wolke aus Empörung und Schock.
Banks war in seinem Büro, Winsome stand neben ihm. Er wühlte durch den Stapel von Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Als Annie eintrat, stand er auf und begrüßte sie. Sie spürte keinerlei Feindseligkeit bei ihm, was sie nach ihrer letzten Begegnung durchaus erwartet hätte. Dadurch fühlte sie sich noch schlechter. Er müsste sie eigentlich hassen. Winsome war diejenige, die kühl wirkte. Nach einem kurzen Hallo war sie sofort verschwunden. Banks bedeutete Annie, sich hinzusetzen, und bestellte Kaffee.
»Tut mir leid, dass ich so früh angerufen habe«, sagte er. »Ich hoffe, du hattest gestern keine anstrengende Nacht in der Stadt.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Annie.
»Nur so. War ja schließlich Samstagabend. Da gehen die Leute gerne mal aus. Oder vielleicht warst du auch bei deinem Freund.«
»Welcher Freund?«
»Der, von dem du letztens erzählt hast. Der junge Typ.«
Annie lief rot an. »Ach, der. Tja, hast du schon mal von einer wilden Kneipentour in Whitby gehört?«
»Oh, ganz oft«, sagte Banks grinsend.
»Dann weißt du mehr über den versteckten Charme dieser Stadt als ich. Nein, ich war schon beim Arbeiten, als du anriefst.« Annie überlegte. »Es tut mir echt leid, das mit Kev. Ich war kein Fan von ihm, weißt du ja, aber egal was ich von ihm als Mann oder Kollege gehalten habe, ist es ganz furchtbar, was mit ihm geschehen ist.«
»Er war kein richtiger Mann«, sagte Banks. »Der arme Kerl war noch ein Junge. Das haben wir alle immer wieder vergessen.«
»Was meinst du damit?«
»Er war unreif, eigensinnig, impulsiv.«
Annie brachte ein schwaches Grinsen zustande. »Das sind jetzt auf einmal die Vorrechte der Jugend, was?«
»Erwischt«, erwiderte Banks. »Egal, ich würde jedenfalls gerne mit dir darüber sprechen, was mit Kev geschehen ist.« Banks fasste kurz zusammen, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte. Das meiste hatte er sich aus der Zeugenaussage von Chelsea Pilton und den Informationsfetzen von PC Kerrigan, Stefan Nowak und Dr. Burns zusammengereimt. »Bist du auch der Meinung, dass es Ähnlichkeiten mit dem Mord an Lucy Payne gibt?«
»Du lieber Himmel, ja!« Annie fuhr sich mit der Hand durch die Locken. »Ich hatte ja keine Ahnung.« Sie erzählte Banks von ihren Gesprächen mit Sarah Bingham und Keith McLaren und wies darauf hin, dass immer wieder der Name der geheimnisvollen Kirsten Farrow auftauchte. »Was ist hier eigentlich los, Alan?«, fragte sie.
»Wenn ich das wüsste«, seufzte Banks. »Egal, was es ist, es gefällt mir nicht.«
»Dir nicht und mir auch nicht. Hast du eine Ahnung, wer diese geheimnisvolle Frau sein könnte?«
»Ich schätze, es könnte diese Kirsten sein. Hast du schon etwas über Maggie Forrest?«
»Ja. Ginger hat sie über ihren Verlag ausfindig gemacht. Sie ist wieder in Leeds. Ich dachte, ich statte ihr heute Nachmittag mal einen Besuch ab. Aber wieso kommst du gerade auf sie? Ich meine, sie hat vielleicht ein gutes Motiv für den Mord an Lucy Payne, aber mit Templeton hatte sie doch überhaupt nichts zu tun, soweit ich weiß.«
»Stimmt«, sagte Banks. »Es könnten zwei verschiedene Täter sein. Wir wollen kein vorschnelles Urteil fällen, aber ich denke genau wie du, dass es Kirsten Farrow sein könnte, dass sie aus irgendeinem Grund zurückgekehrt ist, unter anderem Namen. Aber wie oder warum und wer oder wo sie ist, das entzieht sich mir. Ich weiß nicht mal, wo wir anknüpfen sollen. Sie ist vor Jahren verschwunden. Schade, dass der Australier sich nicht besser erinnern konnte.«
»Das Einzige, was ich vorschlagen kann«, sagte Annie, »ist, wieder beim Leck anzusetzen.«
»Beim Leck?«
»Ja. Das war einer unserer ersten Gedanken, als wir entdeckten, dass Karen Drew in Wirklichkeit Lucy Payne war. Wer wusste es? Und woher?«
»Und?«
»Wir haben es noch nicht herausgefunden. Unsere Leute haben die Angestellten in Mapston Hall befragt, die Kollegen aus Nottingham haben uns drüben im Krankenhaus und beim Sozialdienst geholfen. Ich meine, es ist wirklich vertrackt. Jeder könnte lügen, es ist sehr schwer zu beweisen.«
»Was wir brauchen«, meinte Banks, »ist eine Verbindung zwischen einer der Personen, die die Identität von Karen Drew kannten, und jemandem, der Kirsten Farrow oder Maggie Forrest sein könnte oder eine von beiden kennt.«
»Stimmt«, sagte Annie, »aber wie finden wir das heraus? Und woran würden wir die Person erkennen? Wir wissen ja nicht mal, wo wir nach Kirsten suchen sollen. Herrgott noch mal, wir wissen nicht mal sicher, ob sie vor achtzehn Jahren wirklich diese Männer umgebracht hat.«
»Aber dein Gefühl sagt dir doch auch, dass sie es war, oder?«
»Ja.«
»Was ist deiner Meinung nach mit ihr passiert?«
Annie überlegte eine Weile. Ihr Kopf arbeitete nur langsam, doch sie rief sich Les Ferris' Geschichte in Erinnerung und was sie seither von Keith McLaren und Sarah Bingham erfahren hatte. Dann versuchte sie, ihre Gedanken in eine halbwegs logische Folge zu bringen. »Soweit ich das zusammenpuzzeln kann«, sagte sie, »muss Kirsten irgendwie die Identität des Vergewaltigers herausbekommen haben, gab diese Information jedoch nicht an die Polizei weiter, sondern sann selbst auf Rache. Irgendwann spürte sie ihn in Whitby auf - keine Ahnung, wie - und nach einem Fehlversuch - Jack Grimley, das arme Schwein - brachte sie ihn um.«
»Und der Australier?«
»Weiß ich nicht. Wir haben darüber gesprochen. Es könnte sein, dass er kurz davorstand aufzudecken, was mit ihr los war. Wenn er wusste, dass sie zum Zeitpunkt von Grimleys Tod in Whitby war, und wenn er sie mit ihm in Verbindung bringen konnte ...? Keith McLaren erzählte mir, er hätte im Lucky Fisherman gesehen, wie Kirsten einen Mann beobachtete. Das ist ihm erst vor kurzem wieder eingefallen - deshalb empfand Kirsten ihn vielleicht als Bedrohung. Oder ...«
»Ja?«
»Also, es ist bekannt, dass er im Wald bei Staithes gefunden und vorher zusammen mit einer Frau gesehen wurde. Sagen wir, er ging mit ihr in den Wald, aber es wurde Kirsten zu viel - vergiss nicht, durch ihre Vergangenheit war sie stark traumatisiert und auch verstümmelt -, und sie brachte ihn um oder hatte es zumindest vor.«
»Selbstverteidigung ?«
»In ihren Augen ja. In unseren wohl eher eine Überreaktion. Ich glaube nicht, dass Keith McLaren ein Vergewaltiger ist.«
»Gut«, sagte Banks. »Und weiter?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie es in ihr aussah, als sie ihr Vorhaben endlich in die Tat umgesetzt und Eastcote getötet hatte, aber auf keinen Fall konnte sie mit ihrem bisherigen Leben weitermachen. Eine Zeitlang hielt sie noch Kontakt, traf sich noch mehrmals mit Sarah, ihren Eltern, tat vielleicht ganz normal, aber ein paar Jahre später tauchte sie endgültig unter. Denk dran, sie war damals nicht ernsthaft verdächtig. Sie hatte ein Alibi, und soweit alle wussten, konnte sie nicht ahnen, dass es Greg Eastcote war, der sie vergewaltigt hatte. Das kam erst später heraus, als die Polizei sein Haus durchsuchte. Erst jetzt ist sie in vier Mordfällen verdächtig, von denen zwei vor achtzehn Jahren stattfanden. In der Zwischenzeit kann alles Mögliche passiert sein. Kirsten kann überall sein, alles geworden sein, alles getan haben.«
»Was wissen wir mit Sicherheit über sie?«, fragte Banks. »Dass sie jetzt - wie alt? - so um die vierzig ist.«
»Ungefähr, wenn sie 1988 gerade mit der Uni fertig wurde.«
»Und sie könnte alles Mögliche sein, in jedem Beruf?«
»Schon. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie einen Universitätsabschluss hat. Zwar nur in Englischer Literatur, aber dennoch ... Anscheinend war sie ein kluges Mädchen mit einer großen Zukunft. Ich würde sagen, wir haben es mit einer Akademikerin zu tun.«
»Es sei denn, die Vergewaltigung richtete ihren Ehrgeiz völlig zugrunde«, argumentierte Banks. »Aber da ist schon was dran. Wenn sie wirklich das getan hat, was wir vermuten, dann ist sie unglaublich konzentriert, entschlossen und einfallsreich. Das schränkt das Ganze schon etwas ein. Wir können natürlich im Universitätsarchiv nachschauen. Wir suchen höchstwahrscheinlich eine Akademikerin, die gewusst haben kann, dass Karen Drew Lucy Payne war.«
»Da wäre zum Beispiel Julia Ford, Lucys Anwältin. Ginger war am Freitagnachmittag noch mal bei ihr und glaubt nicht, dass sie uns alles gesagt hat, was sie weiß.«
»Anwälte sind von Natur aus verschlossen, wenn es um Informationen geht.«
»Ich weiß«, sagte Annie. »Aber Ginger meint, bei Julia Ford sei es ganz extrem gewesen. Ich vertraue ihrem Instinkt.«
»Vielleicht sollte ich mal hingehen und mich mit Miss Ford unterhalten«, sagte Banks. »Ist schon eine Weile her, dass wir die Klingen gekreuzt haben.«
»Sarah Bingham ist auch Anwältin, behauptet aber, Kirsten seit Jahren nicht mehr gesehen zu haben.«
»Glaubst du ihr?«
»Ich denke schon«, sagte Annie.
»Gut. Wen gibt es sonst noch?«
»Eine Ärztin?«, schlug Annie vor. »Vielleicht aus dem Krankenhaus bei Nottingham, wo sie gelegen hat. Oder aus Mapston Hall. Da gibt es auch Ärztinnen und Krankenschwestern.«
»Gute Idee«, sagte Banks.
»Aber eins stört mich noch«, meinte Annie. »Wenn wir auf der richtigen Spur sind, warum bringt sie dann Templeton um?«
»Auch ein Fehler?«, vermutete Banks. »Sie hielt ihn für den Mörder, der das Mädchen umbringen wollte, nicht für einen Beschützer, so wie sie vor achtzehn Jahren Grimley mit dem Vergewaltiger verwechselte? Aber du hast recht. Wir brauchen noch viel mehr bestätigendes Material als bisher, um zu beweisen, dass die Morde miteinander in Verbindung stehen. Wer ist dein Tatortkoordinator?«
»Liam McCullough.«
»Das ist ein Guter«, meinte Banks. »Er soll sich in dieser Sache mal mit Stefan zusammensetzen. Irgendein Spurenmaterial müsste identisch sein: Haare, Fasern, Blut, Maße der Wunde, irgendwas, das Lucy Payne und Kevin verbindet. Vielleicht bekommen wir es ja hin, dass sich auch die Rechtsmediziner untereinander austauschen, wenn Dr. Wallace mit Kevin fertig ist.«
»Gut«, erwiderte Annie. »Les Ferris hat die Haarproben aus dem Greg-Eastcote-Fall ausfindig gemacht, die können wir jetzt mit denen abgleichen, die Liam und seine Leute bei Lucy Payne sichergestellt haben. Er meint, dass er bis morgen Vormittag fertig ist. Das könnte uns wenigstens ein für alle Mal sagen, ob wir es mit Kirsten zu tun haben. Wir müssen auch herausfinden, warum Kirsten - wenn sie es denn ist - nach so langer Zeit wieder angefangen hat.«
»Wenn wir recht haben, was ihre Motivlage angeht«, sagte Banks, »dann würde ich mal vermuten, es liegt daran, dass sie in den letzten achtzehn Jahren nicht mit Sexualstraftätern zu tun hatte. Ich will diese Woche noch mal nach Leeds. Wenn ich da bin, unterhalte ich mich mit Julia Ford. Vielleicht kann ich sie ja in die Richtung manövrieren, und ich lese mir noch mal die alten Sektionsprotokolle vom Chamäleon-Fall durch, die Phil Hartnell rausgelegt hat. Ich muss das überprüfen, aber ich meine mich zu erinnern, dass die Wunden, die die Paynes ihren Opfern zufügten, denen gleichen, die Kirstens Vergewaltiger ihr beibrachte, so wie du sie mir geschildert hast. Ich weiß, dass es nicht derselbe Mörder sein kann - Terence Payne ist tot, und dieser Greg Eastcote war wohl wirklich für die Morde vor achtzehn Jahren verantwortlich -, aber vielleicht lösten die Ähnlichkeiten ja bei Kirsten etwas aus.«
»Aber woher sollte Kirsten wissen, dass die Paynes ihren Opfern ähnliche Wunden zufügten?«, fragte Annie.
»Es gab damals viele Berichte in den Medien, auch später wieder, als Lucy Payne freigelassen wurde. Die Presse verlor keine Minute, die Leute daran zu erinnern, was genau unser Rechtssystem ihnen vor die Tür gesetzt hatte, egal ob Lucy noch laufen konnte oder nicht. Kirsten Farrow hat übrigens Narben am ganzen Körper, das könnte uns auch weiterhelfen.«
»Ich wüsste nicht, wie«, sagte Annie. »Wir können kaum jede Frau, die mit dem Fall zu tun hat, bitten, sich obenrum freizumachen.«
»Schade«, meinte Banks. »Aber du hast recht.«
Annie verdrehte die Augen.
»Egal«, fuhr Banks fort, »wir haben mehr als genug zum Weitermachen. Sprechen wir wieder miteinander, wenn du bei Maggie Forrest gewesen bist.«
Annie stand auf. »In Ordnung.« An der Tür blieb sie stehen. »Alan?«
»Ja?«
»Ist schön, wieder zusammenzuarbeiten.«
Der Rest von Banks' Sonntag verflog in einer Abfolge von Meetings und Befragungen, doch es gab keine neuen Erkenntnisse in Bezug auf die Morde an Hayley Daniels und Kevin Templeton - beide offensichtlich von verschiedenen Personen aus verschiedenen Gründen am selben Ort getötet.
Templetons Eltern kamen aus Salford, um die Leiche ihres Sohnes zu identifizieren. Banks traf sich kurz mit ihnen in der Leichenhalle. Das war das Mindeste an Höflichkeit, die er ihnen unter diesen Umständen schuldete. Er hielt es für besser, sie in dem Glauben zu belassen, ihr Sohn sei in Ausübung seiner Pflicht gestorben, als dass er ihnen erzählte, Templeton habe auf eigene Initiative gehandelt. Templetons Mutter brach in Tränen aus und sagte, dass sie ihren Sohn im Stich gelassen hätten, dass alles damals angefangen hätte, als seine Schwester mit siebzehn von zu Hause fortlief, was ganz bestimmt nicht ihr Fehler, der Eltern, gewesen sei, denn sie konnten doch kein Mädchen in einem gottesfürchtigen Haus behalten, das sich so mit Männern herumtrieb. Sie hätten später versucht, die Tochter zu finden, erklärte der Vater, sie sogar bei der Polizei als vermisst gemeldet, aber alles ergebnislos. Und jetzt hatten sie auch noch den Sohn verloren.
Nun wusste Banks, wen das Foto auf Templetons Nachttisch zeigte und warum Kevin bei Befragungen mit Familien so hart umgesprungen war. Du lieber Himmel, dachte er, welche Geheimnisse und Belastungen die Leute mit sich herumtrugen.
Er musste noch einmal mit Stuart Kinsey über die Musik reden, die er am Abend, als Hayley getötet wurde, im Labyrinth gehört hatte. In Templetons Aufzeichnungen stand etwas Ähnliches. Banks hatte eine Theorie, die er auf die Probe stellen wollte.
Dementsprechend war es schon nach sechs Uhr, als ihm einfiel, dass er Sophia nicht wegen des geplanten Spaziergangs angerufen hatte. Er hatte durchaus öfter am Tag an sie gedacht - für eine Person, die er gerade erst kennengelernt hatte, war sie sogar äußerst präsent in seinen Gedanken -, doch die Zeit und der Lauf der Dinge hatten sich verschworen und gemeinsam den Anruf aus seinem Bewusstsein verdrängt. Jetzt war es zu spät für eine Wanderung, wurde ihm klar, als er zum Telefon griff, aber er konnte sich ja immerhin entschuldigen. Er wählte die Nummer, die Sophia ihm gegeben hatte. Nach dem vierten Klingeln nahm sie ab.
»Sophia? Hier ist Alan. Alan Banks.«
»Ah, Alan. Danke für den Anruf. Ich hab in den Nachrichten gehört, was gestern Abend passiert ist. Ich dachte mir schon, dass du viel zu tun haben würdest.«
»Tut mir leid mit der Wanderung«, sagte Banks.
»Egal, dann ein andermal.«
»Fährst du am Dienstag zurück?«
»Ja. Aber ich komme wieder.«
»Hör zu«, sagte Banks, »selbst unter diesen Umständen muss ich irgendetwas essen. Außer ein paar Plätzchen habe ich heute noch nichts gehabt. Auf Castle Hill gibt es ein nettes Bistro. Café de Provence. Hast du Lust, stattdessen mit mir essen zu gehen?«
Es gab eine kurze Pause, dann sagte Sophia: »Ja. Ja, das wäre schön. Würde ich gerne. Wenn du wirklich Zeit hast.«
Banks spürte, wie sich seine Brust vor Aufregung verengte. »Hab ich. Ich kann vielleicht nicht lange bleiben, aber es ist besser als gar nichts.« Er sah auf die Uhr. »Was ist mit sieben Uhr? Ist das zu früh?«
»Nein, sieben ist gut.«
»Soll ich dich abholen?«
»Ich gehe zu Fuß. Ist nicht weit.«
»Gut. Dann bis gleich. Sieben Uhr.«
»In Ordnung.«
Als Banks auflegte, hatte er verschwitzte Hände, und sein Herz schlug schnell. Werde erwachsen, sagte er sich und griff nach seiner Jacke.
Maggie Forrest arbeitete nicht nur immer noch als Kinderbuchillustratorin in Großbritannien, sondern lebte auch nach wie vor in Leeds. Drei Jahre war sie in Toronto gewesen, dann zurückgekommen, hatte eine Wohnung im Hafenviertel gemietet, unten am Kanal, und in ihrem alten Beruf weitergearbeitet.
Auf einem Areal verfallener alter Lagerhäuser am Fluss Aire und am Leeds and Liverpool Canal war Ende der achtziger Jahre hinter dem Bahnhof das Viertel Granary Wharf entstanden. Inzwischen war es ein blühender Stadtteil mit eigenen Geschäften, Märkten, Wohnungen, Restaurants, Unterhaltungseinrichtungen und einem kopfsteingepflasterten Pfad entlang dem Kanal. Als Annie am Sonntagnachmittag auf den Parkplatz am Kanal fuhr, war es ruhig. Sie traf Maggie Forrest in ihrer Wohnung in der dritten Etage. Während des Chamäleon-Falls hatten sie sich kurz kennengelernt, doch Maggie schien sich nicht zu erinnern. Annie zeigte ihr den Dienstausweis, und Maggie ließ sie herein.
Die Wohnung war großzügig geschnitten und in warmen Orange- und Gelbtönen gehalten. Durch ein großes Oberlicht fiel zusätzliches Licht, das Maggie bestimmt für ihre Illustrationen brauchte, vermutete Annie.
»Worum geht's?«, fragte Maggie, als Annie auf einer beigen Sitzgruppe Platz nahm. Maggie ließ sich im Schneidersitz auf einem großen Ohrensessel ihr gegenüber nieder. Aus dem Fenster sah man auf die Baustelle hinter dem Yorkshire Post Building, wo noch mehr Wohnungen errichtet wurden. Nach näherer Betrachtung fand Annie, dass Maggie Forrest durchaus schmal und zart aussah, wie es Chelsea Pilton vom Täter behauptet hatte und Mel Danvers aus Mapston Hall an Mary aufgefallen war. Ihre Nase war eher länglich, das Kinn ziemlich spitz, aber abgesehen davon war sie eine attraktive Frau. Sie hatte kurzes, graumeliertes Haar und einen nervösen, gehetzten Blick. Annie fragte sich, ob irgendjemand - Mel, Chelsea - sie bei einer Gegenüberstellung wiedererkennen würde.
»Eine schöne Wohnung«, bemerkte sie. »Wie lange leben Sie hier schon?«
»Achtzehn Monate«, antwortete Maggie.
»Besuchen Sie gar nicht mehr Ihre Freunde an The Hill? Ruth und Charles? Ist doch nicht weit. Die beiden wussten nicht mal, dass Sie wieder in der Stadt sind.«
Maggie schaute zur Seite. »Das tut mir leid. Ich habe Ruth und Charles vernachlässigt«, sagte sie. »Sie waren so gut zu mir.«
»Was ist mit Claire Toth? Sie vermisst Sie.«
»Das Mädchen hasst mich. Ich habe sie im Stich gelassen.«
»Sie braucht Hilfe, Maggie. Sie ist jetzt erwachsen, und was damals mit ihrer Freundin geschah, macht ihr bis heute zu schaffen. Da könnten Sie vielleicht etwas Gutes tun.«
»Ich bin keine Psychiaterin, verdammt noch mal! Meinen Sie nicht, dass ich genug Schaden angerichtet habe? Dieser Abschnitt meines Lebens ist vorbei. Ich kann nicht zurück.«
»Warum ziehen Sie dann nicht weiter weg, machen einen klaren Schnitt?«
»Weil ich von hier komme. Ich muss da sein, wo meine Wurzeln sind. Und der Abstand ist groß genug.« Maggie zeigte aufs Fenster. »Das könnte jedes moderne Wohnprojekt in jeder Stadt sein.«
Das stimmte, dachte Annie. »Verheiratet?«, fragte sie.
»Nein. Nicht dass Sie das irgendwas anginge«, erwiderte Maggie. »Und einen Freund habe ich auch nicht. Es gibt keinen Mann in meinem Leben. Damit bin ich ganz glücklich.«
»Schön«, sagte Annie. Vielleicht könnte sie auch ohne Mann in ihrem Leben glücklich werden. Selbst mit Mann war sie kaum je richtig glücklich gewesen. Andererseits, vielleicht war sie dazu verdammt, ihre alten Fehler auf ewig zu wiederholen.
Maggie bot ihr weder Tee noch Kaffee an, und Annie hatte einen Riesendurst. Sie würde sich später in einem der Cafes im Stadtzentrum etwas gönnen. »Haben Sie ein Auto?«, fragte sie.
»Ja. Einen roten Megane. Was habe ich denn getan?«
»Das versuche ich ja herauszufinden«, erwiderte Annie. »Wo waren Sie letzten Sonntagmorgen, am achtzehnten März? Muttertag.«
»Hier natürlich. Wo sollte ich sonst sein?«
»Zum Beispiel in der Gegend von Whitby? Schon mal da gewesen?«
»Ein paar Mal, ja, aber nicht letzten Sonntagmorgen.«
»Kennen Sie eine Einrichtung namens Mapston Hall?«
»Nur aus den Nachrichten«, entgegnete Maggie. »Es geht um Lucy Payne, nicht wahr? Hätte ich wissen müssen.«
»Davon bin ich eigentlich ausgegangen«, sagte Annie. »Aber es stimmt. Es geht um Lucy Payne.«
»Glauben Sie etwa, ich hätte sie umgebracht?«
»Das habe ich nicht behauptet.«
»Aber Sie glauben es, oder?«
»Haben Sie es getan?«
»Nein. Ich war hier. Habe ich doch gesagt.«
»Allein?«
»Ja. Allein. Ich bin immer allein. Das ist mir am liebsten. Wenn man allein ist, kann man niemanden verletzen und von niemandem verletzt werden.«
»Nur sich selbst.«
»Das zählt nicht.«
Eine Diesellok pfiff laut bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof von Leeds. »Sie können also nicht beweisen, dass Sie hier waren?«, fragte Annie.
»Das konnte ich ja nicht wissen.«
»Was machten Sie?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Es ist erst eine Woche her«, sagte Annie. »Versuchen Sie es! Haben Sie nicht Ihre Mutter besucht?«
»Meine Mutter ist tot. Wahrscheinlich habe ich die Sonntagszeitung gelesen. Das mache ich immer sonntagmorgens. Bei gutem Wetter nehme ich sie mit runter in das Café mit den Tischen draußen, aber ich glaube, an dem Morgen war es windig und kalt.«
»Das wissen Sie also doch noch?«, bemerkte Annie.
»Deshalb blieb ich zum Zeitunglesen zu Hause.«
»Schon mal von einer Karen Drew gehört?«
Maggie schien sich über die Frage zu wundern. »Nein«, sagte sie. »Kann ich nicht behaupten.«
»Sonderbar«, meinte Annie. »Der Name stand in der Zeitung, als die Sache mit Lucy Payne bekannt wurde. Das war ihr Deckname.«
»Das wusste ich nicht. Muss mir entgangen sein.«
»Was empfinden Sie für Lucy?«
»Die Frau hat versucht, mich umzubringen. Als sie vor Gericht sollte, erzählte mir die Polizei, die Staatsanwaltschaft würde sie nicht mal anklagen. Was glauben Sie wohl, was ich empfinde?«
»Groll?«
»Damit können Sie anfangen. Lucy Payne missbrauchte mein Vertrauen und meine Hilfsbereitschaft, als sie Hilfe nötig hatte, und dann drehte sie sich um und verriet mich nicht nur, sondern hätte mich auch umgebracht, wenn die Polizei nicht dazwischengekommen wäre. Das weiß ich genau. Was glauben Sie wohl, was ich für sie empfinde?«
»Genug Zorn, um sie umzubringen?«
»Ja. Aber ich hab's nicht getan. Zum einen wusste ich gar nicht, wo sie war.«
»Kennen Sie Julia Ford?«
»Ich habe sie kennengelernt. Sie war Lucys Rechtsanwältin.«
»Haben Sie Kontakt gehalten?«
»Ich wende mich an ihre Kanzlei, wenn ich juristische Unterstützung brauche, aber das kommt nicht oft vor. Ob wir zusammen Golf spielen oder in den Pub gehen? Nein. Ich brauche auch keinen Strafrechtsanwalt. Ich habe meistens mit Constance zu tun. Constance Wells. Wir sind locker befreundet, würde ich sagen. Sie hat mir geholfen, diese Wohnung zu finden.«
Natürlich, dachte Annie und erinnerte sich an den gerahmten Druck an der Wand bei Constance Wells. Mit Sicherheit war er von Maggie. »Sie haben ihr die Illustration aus Hänsel und Gretel geschenkt.«
Maggie staunte. »Ja. Haben Sie die gesehen?«
»Ich war letzte Woche in ihrem Büro. Sie ist sehr gut.«
»Sie brauchen gar nicht so herablassend sein.«
»So war das nicht gemeint. Ich meine es ehrlich.«
Maggie zuckte abweisend mit den Schultern.
»Wo waren Sie gestern gegen Mitternacht?«
»Gerade aus London zurückgekommen. Am Freitagnachmittag hatte ich ein Gespräch mit meinem Verleger, da beschloss ich, bis Samstag zu bleiben und noch einkaufen zu gehen. Viel länger halte ich es in London dieser Tage nicht mehr aus.«
»Wo übernachteten Sie?«
»Im Hazlitt's. Frith Street. Mein Verleger bucht mir da immer ein Zimmer. Es ist sehr praktisch.«
»Und das kann man dort bestätigen?«
»Natürlich.«
Nun, dachte Annie und brach auf, es war sowieso weit hergeholt gewesen, aber vorbehaltlich der Bestätigung des Alibis sah es nicht so aus, als hätte Maggie Forrest Kevin Templeton umgebracht. Wenn es allerdings um Lucy Payne ging, stand Maggie noch immer weit oben auf der Liste. Und für den Zeitpunkt hatte sie kein Alibi.
Banks war als Erster im Bistro, und es war noch nicht sehr voll, so dass Marcel, der französische Oberkellner, ihn überschwänglich begrüßte und an einen ruhigen, abgeschiedenen Tisch mit weißer Leinendecke und einer langstieligen Rose in einer Glasvase führte. Banks hoffte, dass es nicht zu pompös war und Sophia nicht glaubte, er wolle Eindruck auf sie machen. Er hatte keinerlei Erwartungen, aber es war ein schönes Gefühl, mit einer gutaussehenden, intelligenten Frau essen zu gehen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das zum letzten Mal getan hatte.
Sophia war pünktlich, und Banks beobachtete sie, wie sie Marcel ihren Mantel reichte und auf den Tisch zusteuerte. Er schaute ihr in die Augen und lächelte. Sie trug eine Designerjeans und eine Art gewickeltes Oberteil, das hinten geschnürt wurde. Frauen mussten ziemlich geschickt darin sein, Dinge auf ihrem Rücken zu befestigen, hatte Banks im Lauf der Jahre festgestellt. Ständig mussten sie sich mit Pferdeschwänzen, BHs, Wickelteilen und komplizierten Ösen herumplagen.
Anmutig kam Sophia auf ihn zu, mit lässiger Eleganz, und machte es sich ihm gegenüber bequem. Sie hatte das Haar wieder locker im Nacken zusammengefasst, und ein paar dunkle Strähnen fielen ihr über die Wangen und in die Stirn. Ihre Augen waren genauso dunkel, wie Banks sie in Erinnerung hatte, schwarz funkelten sie im Kerzenlicht. Sophia trug keinen Lippenstift, aber ihre vollen Lippen hatten eine natürliche Farbe, die sich hübsch von ihrer makellosen olivfarbenen Haut absetzte.
»Freut mich, dass du kommen konntest«, sagte Banks.
»Mich auch. Ich wusste schon, dass es mit der Wanderung nichts würde, als ich die Nachrichten hörte. Du hast bestimmt nicht viel geschlafen.«
»Gar nicht«, sagte Banks. Ihm fiel auf, dass er seit der letzten Begegnung mit Sophia nicht nur weder geschlafen noch gegessen hatte, sondern dass er nicht mal zu Hause gewesen war und noch dasselbe wie auf Harriets Dinnerparty trug. Er musste daran denken, auf der Dienststelle Kleidung zum Wechseln zu deponieren. Es war peinlich, aber Sophia war anscheinend zu sehr Dame, um ein Wort darüber zu verlieren. Sie studierten die Speisekarte und sprachen über einige Gerichte - es stellte sich heraus, dass Sophia eine begeisterte Hobbyköchin war und mit Enthusiasmus aß und Banks bestellte eine Flasche anständigen Rotwein.
»Du heißt also Sophia, ja?«, fragte Banks, nachdem sie bestellt hatten - Steak mit Pommes frites für ihn und einen Wolfsbarsch für sie, dazu als Vorspeise einen Salat mit Stilton, Birne und Walnuss.
»Sophia Katerina Morton.«
»Nicht Sophie?«
»Nein.«
»Kate?«
»Auf keinen Fall.«
»Also sage ich Sophia.«
»Just don't call me >sugar<.«
»Was?«
Sie lächelte. »Das ist ein Lied. Von Thea Gilmore. Ehrlich gesagt, ist es ein bisschen anzüglich.«
»Thea Gilmore kenne ich«, sagte Banks. »Die hat ein altes Lied von den Beatles auf einer der Gratis-CDs von MOJO gecovert. Gefiel mir so gut, dass ich mir eine CD mit Coversongs von ihr geholt habe.«
»Loft Music«, sagte Sophia. »Die ist gut, aber du solltest dir mal ihre eigenen Lieder anhören.«
»Mache ich. Arbeitest du in der Musikbranche?«
»Nein. Nein, ich bin Producerin bei der BBC. Kulturprogramm, deshalb habe ich manchmal mit Musiksondersendungen zu tun. Vor einiger Zeit habe ich eine Serie über John Peel gemacht, außerdem hatte ich ein paar Sendungen mit Bob Harris.«
»Der Bob Harris vom Old Grey Whistle Test?«
»Genau der. Er hat mir Thea auf seiner Geburtstagsfeier vorgestellt.«
»Ich bin beeindruckt.«
»Das glaube ich gerne. Robert Plant war ebenfalls da. Aber deinen Sohn habe ich noch nicht kennengelernt.«
»Aha, verstehe. Du schmeißt dich an mich ran, nur um an meinen Sohn ranzukommen. Das versuchen sie alle. Aber das läuft nicht, ja?«
Sophia lachte, und ihr Gesicht strahlte. »Ranschmeißen würde ich das nicht gerade nennen.«
»Du weißt, was ich meine.« Banks spürte, dass er rot wurde.
»Klar. Aber er hat erstaunlichen Erfolg, dein Sohn Brian. Und er ist ein ganz Süßer. Du bist bestimmt sehr stolz auf ihn.«
»Bin ich. Auch wenn ich sagen muss, dass es ein bisschen gedauert hat, bis ich mich dran gewöhnt hatte. Ob er süß ist, kann ich nicht sagen, du hättest ihn mal sehen sollen, als er ein mürrischer, verpickelter Teenager war, aber es ist nicht die normalste Sache der Welt, wenn der Sohn beschließt, die Fachhochschule zu schmeißen und in einer Rockband mitzuspielen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Sophia.
»Falls ich das fragen darf«, sagte Banks, »wieso warst du eigentlich gestern Abend auf Harriets Dinnerparty? Ich fand, ehrlich gesagt, dass es irgendwie ganz und gar nicht deine Welt war.«
»War es auch nicht. Und ich wollte auch gar nicht hin.«
»Warum bist du dann gekommen?«
»Weil ich mir nicht die Gelegenheit entgehen lassen wollte, den Supercop von Eastvale kennenzulernen.«
»Nein, im Ernst!«
»Das ist mein Ernst. Ich habe im Laufe der Jahre so viel über dich gehört. Vielleicht klingt es albern, aber ich habe das Gefühl, dich seit unserem ersten Treffen damals zu kennen. Als Harriet mir erzählte, sie würde dich zum Essen einladen, sagte ich zu, wenn irgend möglich zu kommen. Dann überlegte ich es mir wieder anders. Deshalb war ich so spät. Erst als es schon angefangen hatte, dachte ich, dass ich mir später in den Hintern treten würde, wenn ich die Gelegenheit nicht wahrnähme. Es hätte natürlich furchtbar langweilig werden können, aber ...«
»Aber was?«
»War es nicht.« Sie lächelte. »Na, dir hat es jedenfalls wohl so gut gefallen, dass du dich noch nicht mal umgezogen hast. Ich muss gestehen, ich treffe mich das erste Mal mit einem Mann, der zwei Abende nacheinander die gleichen Sachen trägt.«
So viel also zum Thema Dame. Das gefiel Banks. Er grinste, und dann lachten sie beide.
Die Vorspeisen wurden serviert, sie stießen mit dem Wein an und begannen zu essen. Banks hätte lieber einen Burger mit Pommes heruntergeschlungen anstelle dieses leckeren und wunderschön angemachten Salats, doch er versuchte, sich seinen Hunger nicht anmerken zu lassen. Das Steak Frites würde ihn schon satt machen. Sophia nahm kleine Bissen und schien jeden einzelnen zu genießen. Beim Essen unterhielten sie sich über Musik, London, Wanderungen auf dem Land - alles außer Mord -, und Banks fand heraus, dass Sophia in einem kleinen Haus in Chelsea wohnte, früher mit einem erfolgreichen Plattenproduzenten verheiratet gewesen und jetzt geschieden war, keine Kinder hatte, ihre Arbeit liebte und den Luxus der väterlichen Wohnung in Eastvale genoss, wann immer ihr nach einem Kurzurlaub war.
Sie war halb griechisch und halb englisch. Banks erinnerte sich daran, dass Harriet etwas davon gesagt hatte, ihr Bruder arbeite im diplomatischen Dienst - das war Sophias Vater. Er hatte ihre Mutter während seiner Amtszeit in Athen kennengelernt, wo sie in einer Taverne arbeitete. Entgegen allen Mahnungen hatten sie geheiratet und gerade ihre Rubinhochzeit gefeiert. Im Moment waren sie in Griechenland.
Einen großen Teil ihrer Kindheit hatte Sophia damit verbracht, mit ihren Eltern von einem Ort zum nächsten zu ziehen. Nie war sie lange genug in einer Schule oder Stadt geblieben, um Freundschaften zu schließen, so dass sie die Beziehung zu ihren wenigen Freunden jetzt intensiv pflegte. Durch ihre Arbeit lernte sie viele interessante Menschen aus allen Kulturbereichen kennen - Literatur, Musik, Malerei und Bildhauerei - und besuchte häufig Events wie Konzerte, Ausstellungen, Festivals.
Für Banks klang es nach einem anstrengenden Leben, nach einem gesellschaftlichen Karussell, und ihm wurde klar, dass er schlichtweg keine Zeit für solche Dinge hatte. Seine Arbeit nahm ihn fast vollständig in Anspruch, und die wenige Zeit, die ihm blieb, nutzte er zum Entspannen bei Musik oder mit einer DVD und einem Glas Wein. Wenn er es schaffte, ging er in die Oper, und war das Wetter gut, wanderte er durch die Hügel, schaute hin und wieder beim Folkabend im Pub in Helmthorpe vorbei, obwohl er das auch nicht mehr so oft tat, seit Penny Cartwright, die Femme fatale des Ortes, ihm einen Korb gegeben hatte.
Während der Abend voranschritt und ihre Weingläser nachgeschenkt wurden, hatte Banks dasselbe Gefühl wie unter der Straßenlaterne vor Harriets Haus - als sei der kleine beleuchtete Ausschnitt des Universums, in dem Sophia und er sich befanden, der einzig reale Ort und alles darüber hinaus unwirklich wie Schatten. Diese Illusion wurde zerstört, als Marcel die Rechnung brachte. Banks bezahlte, auch wenn Sophia protestierte, und wieder standen sie draußen auf der Straße und verabschiedeten sich voneinander. Banks musste noch zurück zur Dienststelle und nachsehen, ob es neue Entwicklungen gegeben hatte. Er hatte ungeheures Glück gehabt, dass weder sein Piepser noch sein Handy sich während des Essens gemeldet hatten.
Sophia bedankte sich für das Essen, dann beugten sich beide vor, um sich unbeholfen einen Wangenkuss zu geben, wie es modern geworden war, doch ehe Banks sich versah, berührten sich ihre Lippen zu einem richtigen Kuss, lang und süß. Anschließend gingen sie in entgegengesetzte Richtungen davon. Banks machte sich auf den Weg den Hügel hinunter zur Wache, und ihm ging durch den Kopf, dass er nichts mit Sophia vereinbart hatte, kein Wiedersehen. Nach ungefähr zehn Schritten drehte er sich um. Fast im selben Moment schaute Sophia zurück, und die beiden lächelten sich an. Wie sonderbar, dachte Banks. Er sah sich sonst nie um, und er hätte auf der Stelle gewettet, dass Sophia es auch nicht tat.