* 16

 

»Sie haben aber einen beschwingten Schritt«, sagte Superintendent Gervaise, als Banks am späten Dienstagvormittag an ihre Tür klopfte und ihr Büro betrat. »Was ist? Gab's einen Durchbruch?«

  »Könnte man so sagen«, erwiderte Banks.

  »Schließen Sie die Tür«, sagte Gervaise.

  »Erst würde ich Ihnen gerne etwas zeigen. Können Sie mit mir kommen?«

  Gervaise kniff die Augen zusammen. »Hoffentlich lohnt sich das auch. Ich wollte mich gerade an die Kriminalitätsstatistik vom letzten Monat setzen.«

  »Ich bekam heute Morgen einen Anruf aus der Technik«, sagte Banks, als sie nach unten in den Vorführraum im Erdgeschoss gingen. »Ich hatte die Kollegen gefragt, ob sie die Bänder aus den Überwachungskameras ein wenig für mich bearbeiten könnten.«

  »Die Hayley-Daniels-Bänder?«

  »Genau.« Banks hielt seiner Vorgesetzten die Tür auf. Der Raum lag im Halbdunkel, und Don Munro von der Technik wartete bereits auf sie. Gervaise setzte sich und strich ihren Rock glatt. »Ich bin ganz Ohr«, sagte sie. »Fahren Sie's ab!«

  »Es fährt eigentlich gar nicht, Ma'am«, erklärte Munro. »Obwohl, ich schätze mal -«

  »Ach, machen Sie's einfach an, Mann!«, unterbrach Gervaise ihn.

  Munro betätigte den Apparat, und es erschienen die Szenen von Hayley und ihren Freunden, die das Fountain verließen und sich auf dem Marktplatz sammelten.

  »Da ist es«, sagte Banks und zeigte auf einen flackernden Lichtstreifen.

  »Aha«, ließ Gervaise verlauten.

  »Also, Ma'am«, erklärte Munro. »DCI Banks fragte uns, ob wir dieses grelle Licht beseitigen könnten.«

  »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Gervaise. »Erinnert mich an Casablanca.«

  Munro warf ihr einen bewundernden Blick zu. »Einer meiner Lieblingsfilme, Ma'am.«

  Gervaise schenkte ihm ein Lächeln. »Gut, weiter bitte.«

  »Nun, als ich versuchte, das Problem zu lösen, fand ich heraus, dass es sich nicht um Mängel oder Blitzeffekte handelt, sondern dass es Teil des Bildes ist.«

  »Teil des Bildes?« Gervaise schaute zu Banks hinüber. »Was meint er damit?«

  »Nun, wenn Sie genau hinsehen«, sagte Banks, »können Sie erkennen, dass es sich tatsächlich um einen Lichtstreifen handelt. Natürlich flackert und blendet er, weil er so hell ist und das Videoband so sensibel. Aber es sieht nur aus wie ein Fehler.«

  »Was ist es dann?«

  Banks blickte Munro an. »Das ist ein Lichtstreifen, der durch eine leicht angelehnte Tür fällt«, erklärte der Techniker.

  »Will sagen?«

  »Will sagen«, übernahm Banks, »dass die Tür zum Fountain angelehnt war, als Hayley und ihre Freunde draußen standen und überlegten, was sie machen sollten, und was wichtiger ist, als Hayley verkündete, sie würde jetzt ins Labyrinth gehen, um zu ... na ja ...«

  »Um zu pinkeln«, sagte Gervaise. »Ich weiß. Und?«

  »Jamie Murdoch hat uns erzählt, er hätte die Tür abgeschlossen, sobald die Truppe gegangen war, und er hätte keine Ahnung, wo Hayley hinwollte, aber das hier« - Banks zeigte auf den Bildschirm - »beweist uns, dass er lauschte und die jungen Leute draußen vor der Tür wohl auch beobachtete. Jamie Murdoch hat gelogen. Er wusste ganz genau, wo Hayley Daniels hinwollte und dass sie allein sein würde.«

  »Ich verstehe immer noch nicht, wie uns das weiterbringen soll«, sagte Gervaise. »Es gibt keinen Zugang vom Pub zum Labyrinth, der nicht mit Kameras überwacht wird, und Jamie Mur-doch taucht nirgends auf.«

  »Ich weiß«, sagte Banks. »Aber das hat mich zum Grübeln gebracht.«

  Munro stellte den Bildschirm aus und machte das Licht an. »Brauchen Sie mich noch?«, fragte er.

  »Nein«, entgegnete Banks. »Vielen Dank, Don, das war eine große Hilfe.«

  Munro errötete, verbeugte sich leicht vor Gervaise und ging. »Dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft«, flüsterte Gervaise ihm nach. Munros Schultern bebten vor Lachen. »So, DCI Banks, was wollten Sie eben sagen?«

  »Eine Theorie, die ich Ihnen mal vorstellen wollte.«

  Sie setzte sich auf dem Stuhl um. »Ich bin ganz Ohr.«

  »Wie schon gesagt: Jamie Murdoch hat uns gegenüber ausgesagt, er hätte die Kneipe sofort zugeschlossen und sich an die Säuberung der übergelaufenen Toiletten gemacht, sobald die letzten Gäste gegangen waren - nämlich Hayley und ihre Freunde.«

  »Na ja, vielleicht hat es ein bisschen länger gedauert, bis er die Tür zu hatte, aber das muss doch nichts zu bedeuten haben.«

  »Es dauert über eine Minute«, sagte Banks. »Das ist ziemlich lange. Außerdem hat Hayley in diesem Zeitraum verkündet, was sie vorhatte, und verschwand, während die anderen, die versucht hatten, sie von ihrer Idee abzuhalten, in die Bar None gingen. Wir wissen, dass Stuart Kinsey sich direkt wieder hinten rausschlich und aller Wahrscheinlichkeit nach hörte, wie Hayley angegriffen wurde.«

  »Was wollen Sie damit nun sagen? Oder bin ich begriffsstutzig?«

  »Nein, Ma'am. Ich habe auch eine Weile gebraucht, um es herauszufinden.«

  »Na, dann fühle ich mich ja deutlich besser. Und? Ich verstehe immer noch nicht, wie Jamie Murdoch, ohne gesehen zu werden, in das Labyrinth gelangt sein soll, Hayley Daniels vergewaltigte und tötete und dann wieder in den Pub zurückkehrte, um die Toiletten sauberzumachen.«

  »Habe ich zuerst auch nicht«, sagte Banks. »Bis mir klar wurde, dass das Fountain niemals gründlich durchsucht wurde. Das ist schon ein kleines Labyrinth für sich. Da gibt es alle möglichen Räume, Zwischengeschosse, Keller und so weiter, und es ist ein altes Haus. Achtzehntes Jahrhundert. Wenn man drüber nachdenkt, leuchtet es ein, dass es durchaus noch einen anderen Ausgang geben könnte.«

  »Einen Geheimgang? Sie scherzen, oder?«

  »Es wäre nicht das erste Mal in diesem Teil der Welt«, sagte Banks. »Vielleicht eine Möglichkeit, unbemerkt zu verschwinden, wenn ungewollte Gäste eintreten?«

  »Schon gut. Ich kenne die Geschichte. Priesterlöcher und so weiter. Vielleicht haben Sie ja recht.«

  »Und da fiel mir noch was ein.«

  Gervaise hob eine Augenbraue. »Was denn bitte?«

  »Als Winsome Jill Sutherland befragte, das Mädchen, das im Fountain kellnert, erzählte Jill, sie würde dort unter anderem nicht gerne arbeiten, weil Jamie Murdoch mit geschmuggelten Zigaretten und Alkohol handelt und sogar versucht hatte, sie zu überreden, was aus dem Urlaub in Frankreich mitzubringen.«

  »Das macht doch jeder«, sagte Gervaise. »Ich weiß, es ist verboten, aber der Versuch, das zu unterbinden, ist genauso, als würde man einen Finger in ein Loch im Deich stecken.«

  »Das meine ich gar nicht«, sagte Banks. »Ich meine, dass Kev Templeton nichts fand, als er sich im Fountain umsah. Winsome und ich genauso wenig.«

  »Von nichts kommt nichts. Hat das nicht mal ein kluger Kopf gesagt?«

  »Shakespeare, Ma'am.«

  »Schlaues Kerlchen.«

  »War nur geraten. Man hat normalerweise in neunundvierzig Prozent der Fälle recht, wenn man bei jedem Zitat behauptet, es wär von Shakespeare, vielleicht sogar öfter.«

  »Und die anderen einundfünfzig Prozent?«

  »Der Großteil - neunundvierzig Prozent - gehen auf die Bibel, und der Rest ... na, da können wir nur raten. Wahrscheinlich Oscar Wilde.«

  »Interessante Theorie. Weiter!«

  »Also, zuerst dachte ich, dass die Anwesenheit der Polizei Jamie vielleicht veranlasst hätte, sich der Sachen zu entledigen oder sie woanders zu lagern, aber dann kam mir der Gedanke, falls er von Anfang an ein gutes Versteck hatte, und wenn die Sachen nicht -«

  »- da sind, wo Templeton gesucht hat, dann müssen sie irgendwo versteckt sein. In irgendeinem Kabuff oder so?«

  »Genau«, meinte Banks. »Und dieses Kabuff könnte ohne weiteres einen Ausgang zum Labyrinth haben.«

  »Da ist aber viel Spekulation dabei«, bemerkte Gervaise. »Ich weiß nicht, ob ich das gut finde.«

  »Aber wir können es ja überprüfen, oder?«, schlug Banks vor. »Wenn Sie einen Durchsuchungsbeschluss besorgen, zuerst für Murdochs Wohnung, damit wir sicherstellen, dass er die geschmuggelte Ware nicht dort lagert, und dann für eine gründliche Durchsuchung des Fountain, Wände, Böden und alles, dann haben wir ihn.«

  »Ich weiß nicht, ob wir genug Beweise für einen Durchsuchungsbeschluss haben.«

  »Aber versuchen können wir es, oder?«

  Gervaise stand auf. »Wir können es versuchen«, sagte sie.

  »Außerdem habe ich heute Morgen noch ein wenig herumgeforscht und hätte noch einen Test, den ich gerne mit Ihrer Hilfe durchführen würde. Wer weiß, vielleicht verstärkt er unsere Beweislast sogar.«

  »Im Moment würde eine Feder das Gleichgewicht kippen«, erwiderte Gervaise. »Schießen Sie los!«

 

»Maggie Forrest hat verdammt viel mitgemacht«, erzählte Annie Ginger, als sie in einem Pub am Flowergate verspätet zu Mittag aßen. »Das kann nicht folgenlos geblieben sein.«

  »Das kommt davon, wenn man durch die Gegend läuft und sich mit Sexualmördern anfreundet«, meinte Ginger und aß eine Pommes. »Aber wenn Liam den Haarvergleich gemacht hat, ist sie sowieso raus aus der Nummer, oder?«

  »Nicht unbedingt. Wir legen uns besser nicht zu früh fest«, sagte Annie. »Außerdem gab es damals gewisse Zweifel, was Lucy Paynes Rolle als Sexualmörderin betraf.«

  »Sie wollen doch nicht etwa sagen, sie wäre es nicht gewesen, oder?«

  Annie aß noch etwas Salat und schob ihren Teller dann beiseite. »Wir haben nie so richtig geglaubt, dass sie die Opfer umgebracht hat«, sagte sie, »aber beim Foltern und Erniedrigen war sie sicherlich bereitwillig dabei. Terence Payne hat die Mädchen getötet, das sagten uns zumindest die Beweise. Aber Lucy half ihm bei der Entführung. Meiner Ansicht nach sind sie dadurch beide gleich schuldig.«

  »Man ist nicht so argwöhnisch, wenn man von einer Frau oder einem Pärchen angesprochen wird.«

  »Stimmt«, antwortete Annie. »Wir sind liebe kleine Mädchen.«

  Ginger verzog das Gesicht und wischte sich den Bierschaum von der Oberlippe. Der Pub war gut besucht, an den meisten Tischen saßen Angestellte aus Geschäften und Büros, die ihre Mittagspause genossen. »Egal«, fuhr sie fort, »Sie haben recht, dass wir uns besser nicht zu früh festlegen. Diese Sache mit den Haaren ist nicht ganz schlüssig. Und nur weil wir das Haar auf der Decke gefunden haben und es zu dem von Kirsten Farrow passt, heißt es noch lange nicht, dass Maggie Forrest Lucy Payne nicht umgebracht hat, oder?«

  »Genau«, stimmte Annie zu. »Zum einen hat Maggie Forrest kein Alibi.«

  »Vielleicht sollten wir uns mal mit ihrem Psychologen unterhalten.«

  »Psychologen verraten nie etwas«, sagte Annie. »Die sind noch schlimmer als Priester und Anwälte. Aber versuchen können wir es ja trotzdem. Ich möchte auch mit der Psychologin von Kirsten Farrow sprechen. Die sie hypnotisiert hat. Ich habe den Namen aus den Akten: Laura Henderson. Mal sehen, ob ich sie irgendwann heute Nachmittag ans Telefon bekomme. Was ist denn mit Templeton? Wie passt er dazu?«

  »Ihr Kumpel?«

  »Nicht mein Kumpel, sondern ein furchtbarer Polizist, um die Wahrheit zu sagen. Trotzdem: ein armes Schwein. Kein schöner Abgang.«

  »Wenigstens ging es schnell.«

  »Das kann sein«, sagte Annie. Sie empfand einen Stich der Trauer für Templeton mit seinen schicken Anzügen, dem gegelten Haar und seiner Einbildung, Gottes Geschenk an die Frauen zu sein. Der arme Kerl war verrückt nach Winsome gewesen, seit sie zur Mannschaft gestoßen war, aber sie hatte ihm nie die geringste Chance gegeben. Nicht dass sie es hätte tun sollen, Annie hätte es auch nicht getan, wenn er es bei ihr versucht hätte. Trotzdem, manchmal war es hart gewesen, ihn so leiden zu sehen. Es hatte bestimmt so manchen Abend gegeben, an dem er kaum noch laufen konnte.

  »Was ist denn so lustig?«, fragte Ginger.

  »Nichts. Habe nur gerade an Kev gedacht, mehr nicht. Erinnerungen. Heute Abend ist eine Totenwache für ihn im Queen's Arms.«

  »Gehen Sie hin?«

  »Vielleicht.«

  »Das ist alles, was bleibt, wenn man's recht bedenkt. Erinnerungen.«

  »Das ist aber eine verdammt deprimierende Vorstellung«, meinte Annie. »Was haben Sie bisher gefunden? Sind wir dem Leck näher gekommen?«

  Ginger aß die letzten Pommes und schüttelte mit vollem Mund den Kopf. Dann klopfte sie sich auf die Brust und trank noch einen Schluck Bier. Kurz brach die Sonne durch die Wolken und schien durch das Bleiglasfenster. »Ist mir egal«, sagte sie, »aber ich kann diese Julia Ford immer noch nicht leiden oder diese andere, mit der wir zuerst gesprochen haben.«

  »Constance Wells?«

  »Genau, die. Auch so eine gewiefte kleine Ziege.«

  »Na, na, Ginger! Krallen einfahren!«

  »Naja ...«

  »Keine von beiden gibt zu, irgendjemandem Karen Drews wahre Identität verraten zu haben?«

  »Natürlich nicht. Deren Lippen sind fester verschlossen als der Schließmuskel eines Schotten, wenn ich das so sagen darf.«

  »Gab es was Interessantes bei der Überprüfung ihrer Vergangenheit?«

  »Noch nicht. Der übliche Uni-Kram. Ich glaube, Constance Wells war als Studentin Mitglied der Marxistischen Gesellschaft, wohlgemerkt. Ich wette, sie möchte nicht, dass das in ihrer Firma die Runde macht.«

  Annie lächelte. »Das tun Sie doch nicht, oder?«

  Ginger grinste hinterhältig. »Vielleicht doch. Man weiß ja nie.« Sie trank ihr Bier aus. »Gut, dass das überhaupt keine Kalorien hat.«

  »Noch irgendwas? Einen Nachtisch vielleicht?«

  Ginger klopfte sich auf den Bauch. »Nein, ich bin fertig, Chefin. Eine Sache kam mir allerdings interessant vor, als ich so rumgegraben habe. Ist nicht groß von Bedeutung, sicher, aber interessant.«

  »Aha«, meinte Annie. »Was denn?«

  »Also, Julia Ford war ein Spätzünder. Sie ist erst mit Anfang zwanzig zur Uni gegangen.«

  »Ja, und?«

  »Ich meine nur, weil die meisten direkt von der Schule zur Uni gehen. Jura, Medizin, egal was. Die wollen die Ausbildung hinter sich bringen, endlich das große Geld verdienen und ihre Darlehen so schnell wie möglich zurückzahlen.«

  »Gut«, sagte Annie. »Das leuchtet ja auch ein. Ich glaube aber, damals gab es noch Stipendien, keine Darlehen. Trotzdem, das ist interessant. Wenn Maggie Forrest in Wahrheit Kirsten Far-row sein könnte, dann besteht auch die Möglichkeit, dass Julia Ford es ist, oder?«

  Ginger machte ein erstauntes Gesicht. »So habe ich das gar nicht -«

  »Aber warten Sie mal kurz«, unterbrach Annie sie. »Das könnte doch sein, oder? Sie ist ungefähr im richtigen Alter, zierlich genug gebaut, und wenn sie ihr Haar unter einem Hut versteckt, ihre schicken Klamotten gegen andere tauscht und sich nicht schminkt ... sie könnte es schon sein, oder?«

  »Julia Ford? Du heiliger Bimbam! Sie hat Lucy Payne damals verteidigt!«

  »Sie kannte ihre Identität und wusste, wo sie untergebracht war. Gut, wir haben ein kleines Problem mit dem Motiv. Da scheint es einen Widerspruch zu geben. Aber vielleicht gibt es eine Begründung dafür. Irgendetwas, das wir nicht wissen.«

  »Ich schätze, es könnte hinkommen«, sagte Ginger. »Soll ich ihren Hintergrund noch ein bisschen gründlicher durchleuchten?«

  Annie nickte. »Ja. Versuchen Sie herauszufinden, wo Julia Ford zwischen 1985, als Kirsten mit der Uni angefangen haben muss, und 1991 oder '92 war, als sie das letzte Mal gesehen wurde. Aber vorsichtig, ja?«

  »Was ist mit Alibis?«

  »Das wird schwierig, ohne dass sie es mitbekommt, aber wenn Sie herausfinden können, wo sie war, als Lucy und Templeton ermordet wurden, wäre das eine große Hilfe.«

  »Mal sehen, was ich tun kann. Aber was ich Ihnen eigentlich erzählen wollte -«

  »Ja?«

  »Julia Ford machte noch einen anderen Abschluss, vor dem in Jura. Aber nicht in Englischer Literatur. In Psychologie. In Liverpool.«

  »Das spricht sie trotzdem nicht frei. Und das Jurastudium?«

  »In Bristol.«

  »Kirsten Farrow war aus Bath. Das ist ganz in der Nähe.«

  »Unsere Miss Ford lebte damals in einer Wohngemeinschaft. In den ersten beiden Jahren.«

  »Das tun Studenten oft.«

  »Ich wurde rein zufällig mit einer sehr auskunftswilligen, hilfsbereiten jungen Frau vom Studentenwerk verbunden, die hatte alle Unterlagen, auch die alten. Jedenfalls wohnte Julia Ford mit einer gewissen Elizabeth Wallace zusammen, die damals Medizin studierte. Korrigieren Sie mich bitte, falls ich mich irre, aber ist Elizabeth Wallace nicht die Rechtsmedizinerin der Western Area?«

  »Allerdings«, sagte Annie. »Dr. Elizabeth Wallace.«

  »Das fand ich einfach interessant, mehr nicht«, sagte Ginger. »Die beiden waren befreundet, Julia Ford und sie. Und -«

  »Und was?«

  »Ich habe noch etwas weiter gesucht, und sie wohnen jetzt beide in Harrogate.«

  »Große Stadt.«

  »Sind beide Mitglieder im örtlichen Golfclub.«

  »Befreundete Akademikerinnen. Leuchtet ein. Aber Sie haben recht, Ginger, das ist wirklich interessant. Denken Sie, Julia Ford könnte Dr. Wallace vielleicht erzählt haben ... ?«

  »Und Dr. Wallace hat es woanders erwähnt? Also, das wäre doch möglich, oder? Das heißt, wenn Julia Ford nicht diejenige ist, die wir suchen.«

  »Ob Dr. Wallace uns vielleicht irgendwas sagen kann?«

  »Sie wird mit Sicherheit genauso wenig aus dem Nähkästchen plaudern wie Julia Ford, oder?«, meinte Ginger. »Ich meine: eine Ärztin! Die sind doch noch schlimmer als Anwälte. Falls es was aus dem Nähkästchen zu plaudern gibt.«

  »Vielleicht ja nicht«, sagte Annie. »Aber überprüfen Sie Julia Fords Vergangenheit noch genauer, wenn wir wieder auf dem Revier sind. Diskret natürlich. Rufen Sie noch mal diese Frau vom Studentenwerk in Bristol an und schauen Sie, ob sie noch andere Namen aus der fraglichen Zeit ausgraben kann. Andere Frauen, die dort gewohnt haben, die in den gleichen Clubs waren, so was. Es könnte sich lohnen, wenn ich mich später mal mit Dr. Wallace unterhalte, falls Sie irgendwas finden. Ich habe sie schon ein paar Mal getroffen. Sie ist ganz in Ordnung.«

  »Was denken Sie?«

  Annie nahm ihr Portemonnaie und stand auf. Sie gingen hinaus zum Flowergate und reihten sich in die Fußgänger ein. »Ich denke, ein paar Glas Alkohol am neunzehnten Loch - in letzter Zeit war das Wetter ganz anständig zum Golfen -, da wird die Zunge locker. >Rate mal, wer unsere Klientin ist und was wir mit ihr gemacht haben<, sagt Julia. >Ach, ja?<, fragt Dr. Wallace. Und so weiter.«

  »Frauentratsch ?«

  »So ähnlich. Und Dr. Wallace wiederum verplappert sich selbst irgendwo, bei einer alten Freundin von der Uni oder ... Wer weiß? Wie heißt die Psychologin von Maggie Forrest?«

  »Simms. Dr. Susan Simms.«

  »Wo ging sie zur Uni?«

  »Weiß ich nicht.«

  »Schauen Sie nach. Hatte sie mal mit forensischer Psychiatrie zu tun?«

  »Überprüfe ich.«

  »Gut. Sie könnte über das Gericht Kontakt zu Julia Ford gehabt haben. Dr. Simms hat mit Maggie Forrest zu tun. Da gibt's Möglichkeiten.«

  »Gut, Chefin«, sagte Ginger.

  »Ich weiß nicht, wohin uns das alles führt«, sagte Annie,

  »aber wir könnten hier auf etwas gestoßen sein.« Sie holte ihr Handy hervor. »Ich sage wohl besser auch Alan Bescheid.«

  »Wenn Sie meinen.«

  »Ach ja, Ginger?«

  »Ja, Chefin?«

  »Seien Sie bitte ganz vorsichtig! Wir schnüffeln hier nicht nur bei der gesellschaftlichen Zielgruppe des Super rum - Ärzte und Anwälte -, sondern da läuft irgendwo eine Mörderin frei herum, und Sie wollen ihr auf keinen Fall auf den Schwanz treten und sie aufschrecken, ohne es selbst zu merken.«

 

Am späten Nachmittag ging Banks vom Präsidium der Western Area zum Fountain und ließ sich durch den Kopf gehen, was er gerade von Annie auf dem Handy gehört hatte. Julia Ford und Elizabeth Wallace hatten mal zusammengewohnt und spielten jetzt zusammen Golf. Nun, das leuchtete durchaus ein. Wenn sie sich noch aus der Studienzeit kannten, beide Single waren, als Akademikerinnen arbeiteten und in Harrogate lebten, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie befreundet waren und demselben Golfclub angehörten.

  Die Verbindung zu Maggie Forrest interessierte ihn aber eigentlich viel mehr. Annies Bericht zufolge beauftragte sie Constance Wells aus Julia Fords Kanzlei mit ihren juristischen Belangen und kannte auch Julia Ford selbst flüchtig, sie konnte also bei einem Besuch im Büro durchaus etwas über Karen Drew mitbekommen oder ein aufschlussreiches Dokument gesehen haben. Julia Ford war die Anwältin von Lucy Payne gewesen, und Maggie ihre Fürsprecherin und Marionette. Sicherlich war alles durcheinandergeraten, aber die Verbindung war nun mal da.

  Dann das Haar. Annie hatte Banks erzählt, dass ihre Expertin Famke Larsen eine Übereinstimmung gefunden hatte zwischen Kirsten Farrows Haaren, die 1989 in Greg Eastcotes Haus gefunden wurden, und einem Haar von der Decke, die Lucy Payne zum Zeitpunkt ihres Todes über den Beinen hatte. Das war natürlich kein schlüssiger Beweis, aber er reichte aus, um den Verdacht zu untermauern, dass Kirsten wieder aufgetaucht war und mit dem Mord an Lucy zu tun hatte. Wer sie war, blieb ein Geheimnis. Das Haar auf der Decke, hatte Annie ebenfalls erklärt, würde ein mitochondriales DNA-Profil liefern, das ihnen helfen könnte, die Mörderin zu identifizieren. Es würde allerdings einige Tage dauern, und aus Ausschlussgründen brauchten sie Proben von allen Verdächtigen. Trotzdem, es war definitiv ein Fortschritt.

  Fürs Erste musste sich Banks auf den Hayley-Daniels-Fall konzentrieren. Er war bald am Ziel, das hatte er im Urin.

  »Hallo, Jamie«, sagte Banks, als er den Pub betrat und sich an die Theke stellte. »Hallo, Jill.«

  Jill Sutherland lächelte ihn an, Jamie nicht. Ein Jugendlicher in einem langen Gabardinemantel, der am Spielautomaten stand, sah sich um und schaute sofort wieder nach vorn. Banks kannte ihn von der Gesamtschule. Minderjähriger Schulschwänzer. Aber dafür interessierte er sich im Moment nicht. Wenn er später noch dran dachte, würde er den Direktor anrufen. Banks kam gut zurecht mit Norman Lapkin, hin und wieder tranken sie ein Bier zusammen. Norman verstand die Probleme im Umgang mit eigensinnigen Heranwachsenden.

  »Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte Murdoch. »Könnt ihr mich nicht mal eine Minute lang in Ruhe lassen? Ich habe einen Pub zu führen.«

  »Ich werde Ihnen nicht im Weg stehen«, sagte Banks. »Ganz im Gegenteil, ich tue noch was für Ihren Umsatz. Ich nehme ein Pint Black Sheep, wenn das in Ordnung ist.«

  Jamie schaute zu Jill hinüber, die das Glas aus dem Regal nahm und das Pint zu zapfen begann. »Wie läuft das Geschäft?«, fragte Banks.

  »Miserabel«, sagte Jamie. »Besonders seit letztem Wochenende.«

  »Ja, ganz schön rücksichtslos von Kev Templeton, sich einfach hier um die Ecke die Kehle durchschneiden zu lassen, was? Ich meine, ein Mord kann das Geschäft ja eventuell noch ankurbeln, zieht die Neugierigen an, aber ein zweiter ...?«

  Murdoch erblasste. »Das habe ich nicht gemeint. Das wissen Sie genau. Sie drehen mir das Wort im Mund um. Es tut mir leid, was mit Mr Templeton passiert ist, wirklich. Er war ein guter Polizist.«

  »Wir wollen es mal nicht übertreiben, Jamie. Außerdem haben Sie ja nichts damit zu tun, oder?«

  »Natürlich nicht.«

  Jill lächelte, als Banks ihr einen Fünf-Pfund-Schein gab und sagte, sie solle selbst etwas trinken. Jamie vertiefte sich wieder in seine Bücher und Speisekarten, und Jill fuhr mit dem Polieren der Gläser fort. Eigentlich waren sie schon sauber.

  Auf einer alten Kassette oder im Satellitenradio lief »I Only Want to Be With You« von Dusty Springfield. Banks dachte an Sophia und fragte sich, wie es wohl mit ihnen weitergehen würde. Am Morgen hatten sie sich die CD von Thea Gilmore angehört, und Banks hatte endlich Sophias Anspielung auf das Lied »Sugar« verstanden, es sei ein bisschen anzüglich. Die Sängerin lud einen Mann ein, er könne sie mit nach Hause nehmen und aufs Bett legen, nur solle er sie nicht »Sugar« nennen. Banks hatte Sophia nicht »Sugar« genannt. Wenn er doch nur alles stehen und liegen lassen und mit ihr irgendwohin gehen könnte, so wie er es am liebsten getan hätte. Jetzt war sie wieder in London, zurück in ihrem Leben mit Freunden, Arbeit und überfülltem Terminkalender. Vielleicht würde sie ihn vergessen. Vielleicht käme sie zu dem Schluss, die Sache mit Banks sei eine törichte Liebelei mit einer nicht sehr vielversprechenden Zukunft gewesen, die man am besten vergaß. Und vielleicht stimmte das auch. Doch warum musste Banks immerzu an Sophia denken und warum war er auf einmal so neidisch auf alle, die jünger und freier waren als er?

  Er sah sich im Pub um. Es waren nur fünf, sechs Gäste da, doch bald würde es voller werden, wenn die Büros im Stadtzentrum Feierabend hatten. Jamie Murdoch hatte recht. Seit dem Mord an Templeton hatte sich eine düstere Stimmung über Eastvale gelegt, die sich erst dann verziehen würde, wenn der Mörder gestellt war. Und wenn Banks ihn nicht schnell fand, würden Experten aus allen Teilen des Landes kommen und die Sache übernehmen, so wie es Scotland Yard früher immer tat. Die Presse hatte bereits Schaum vor dem Mund, warf der Polizei in der einen Minute Inkompetenz vor und schürte dann in der nächsten wieder die Wut auf den Mörder eines Beamten.

  Banks trank sein Bier. Nach Dusty kam »Theme For Young Lovers« von den Shadows, noch ein Tribut an die Nostalgie. Bei diesem Lied hatte Banks seinen ersten Kuss bekommen, damals am Fluss an einem herrlichen Sonntagnachmittag im Frühjahr 1964. Anita Longbottom war ihr Name gewesen, doch er hatte nicht ihre Brust berühren dürfen.

  »Können Sie es ein bisschen leiser machen, Jill?«, fragte Banks. »Ich höre meine eigenen Gedanken nicht mehr.«

  Jill stellte die Musik leiser. Niemand beschwerte sich. Banks fragte sich, ob jemand die Musik vermissen würde, doch er wusste, dass manche Menschen keine Stille ertrugen. Er nippte an seinem Pint und dachte voller Staunen, dass er jetzt nicht mal Ärger bekommen würde, wenn DS Gervaise hereinkäme. Sie war auf seinen Vorschlag eingegangen und sogar einverstanden gewesen, dass er sich so normal wie möglich geben solle. Das war so ungefähr das einzig Gute, was Templetons Tod nach sich zog, abgesehen davon, dass Banks seine Termine beim praktischen Arzt und Zahnarzt noch einmal hatte verlegen müssen.

  »Sie wirken nervös, Jamie«, sagte Banks. »Liegt Ihnen was auf der Seele?«

  »Ich habe ein reines Gewissen, Mr Banks«, sagte Jamie.

  »Wirklich? Haben Sie nicht vielleicht irgendwo einen Raum mit spanischem Brandy und französischen Zigaretten? Ich meine, ich hätte eben Gauloises gerochen.«

  »Sehr komisch. Sie machen Witze, was?«

  »Ganz und gar nicht.«

  »Gut, nein, habe ich nicht.« Böse schaute Jamie zu Jill hinüber, die sich wieder mit den Gläsern beschäftigte.

  »Es gibt noch was, das mir Gedanken macht«, fuhr Banks fort. »Wir haben einen Zeugen, der ungefähr zu der Uhrzeit, als Hayley Daniels umgebracht wurde, Musik im Labyrinth hörte.«

  »Das haben Sie schon mal erzählt. Ich habe aber nichts gehört.«

  »Wir waren uns nicht sicher, woher die Musik kam«, fuhr Banks fort. »Von einem vorbeifahrenden Wagen, einer kurz geöffneten Tür ... oder so ähnlich.«

  »Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen.«

  »Dann hatte ich eine Idee.«

  »Aha?«

  »Ja«, sagte Banks. »Dem Zeugen fiel ein, dass die Musik >Fit But You Know It< von den Streets war, und ich habe online herausgefunden, dass man sie herunterladen kann.«

  »Das kann ich mir gut vorstellen«, warf Murdoch ein.

  »Als Klingelton.«

  Darauf hatte Murdoch keine Antwort, doch ehe Banks etwas sagen konnte, erklang »Fit But You Know It« aus Murdochs Hosentasche. DS Gervaise rief, wie verabredet, die Nummer an, die sie vom Mobilfunkbetreiber bekommen hatten. Jede Farbe wich aus Murdochs Gesicht, er schaute zu Banks hinüber, dann sprang er über die Theke und stürmte nach draußen auf den Marktplatz.

  Banks lief ihm nach. »Jamie, machen Sie keinen Blödsinn!«, rief er, als Murdoch eine Gruppe älterer Touristen auseinandertrieb, die neben dem Marktkreuz aus einem Bus stieg. »Sie können nicht entkommen!«

  Aber Jamie lief über den Platz davon. Die uniformierten Beamten, die für genau so einen Fall vor dem Polizeipräsidium postiert waren, setzten sich in Bewegung. Als Jamie sah, dass ihm der Fluchtweg abgeschnitten wurde, änderte er die Richtung und steuerte auf das Swainsdale Centre zu. Dort polterte er die Rolltreppe hoch, Banks ihm, schwer atmend, immer hinterher. Im ersten Stock ging es weiter.

  Schreiende Frauen drückten ihre Kinder an sich, Kartons kippten um, Menschen wurden beiseite gestoßen. Banks registrierte zwei uniformierte Kollegen hinter sich und sah plötzlich, dass Winsome von links zu ihnen stieß. Es war ein überwältigender Anblick: Sie hatte den Kopf zurückgeworfen, die Arme glichen stampfenden Kolben, die langen Beine denen eines Athleten.

  Murdoch tauchte in die Lebensmittelabteilung von Marks & Spencer ab, schlug den Einkaufenden die Körbe aus der Hand. Eine Flasche Wein zersprang auf dem Boden, die rote Flüssigkeit ergoss sich in alle Richtungen. Jemand schrie auf, und fast wäre Murdoch über ein kleines Kind gestolpert, das zu weinen begann, doch er fing sich wieder und lief in die Herrenabteilung.

  Banks würde ihn auf keinen Fall einholen. Er war nicht mehr in Form und hatte noch nie schnell laufen können. Winsome jedoch lief Marathon. Elegant und mühelos folgte sie Murdoch, kam ihm mit jedem Schritt näher. Der junge Mann sah sich um und merkte, wie nah sie war. Er stieß eine alte Frau zur Seite und sprintete auf den Ausgang zu.

  Banks konnte kaum glauben, was er dann sah. Murdoch hatte noch gut anderthalb bis zwei Meter Vorsprung, als Winsome sich plötzlich mit einem Hechtsprung nach vorn katapultierte, ihn mit ihren kräftigen langen Armen an den Beinen zu fassen bekam und zu Boden warf. Kurz darauf stand Banks über den beiden, rang nach Luft, und Winsome drückte das Knie in Murdochs Rücken und machte einen auf Christie Love: »Du bist verhaftet, Schätzchen!« Dann las sie ihm seine Rechte vor wie ein amerikanischer Cop. »Sie haben das Recht zu schweigen ...«

  Banks musste unweigerlich lächeln, sosehr seine Brust auch schmerzte. Das war natürlich nicht die offizielle Rechtsmittelbelehrung und die Serie Get Christie Love! war mit Sicherheit vor Winsomes Zeit gelaufen. »Schon gut, Winsome«, sagte er, immer noch keuchend. »Gut gemacht. Hoch mit dem Kerl, er bekommt Handschellen an. Wir kümmern uns auf der Dienststelle um ihn.«