Mittags besaß der Marktplatz eine ganz andere Atmosphäre, dachte Banks, als er mit Winsome zum Fountain ging, besonders an einem Freitag, wenn das Wetter gut war. Dann waren all die hübschen jungen Mädchen, die bei Banken und Immobilienmaklern arbeiten, unterwegs beim Schaufensterbummel. Die Namensschildchen an der Bluse, gönnten sie sich ein Sandwich und einen Kaffee mit ihren Freunden oder saßen zu dritt oder viert im Pub beim Mittagessen, lachten und redeten über ihre Pläne fürs Wochenende. In Horden fielen die Schüler in die Stadt ein, Hemden hingen aus der Hose, Krawatten saßen schief, sie lachten und schubsten sich, futterten Kuchen und Pasteten von Greggs.
Sie fanden Jamie Murdoch hinter der Theke im Fountain, er hatte gut zu tun. Die Speisekarte war interessant: Außer den üblichen Burgern, Fish and Chips und riesigen Yorkshire Puddings mit Hackfleisch- oder Würstchenfüllung waren Currys und thailändische Gerichte im Angebot. Banks hatte Hunger, fand aber, dass es besser wäre, später irgendwo anders zu essen, vielleicht im Queen's Arms. Jamie hatte Hilfe hinter der Theke und in der Küche und konnte daher kurz Pause machen, als Banks ihn an seinen Tisch in der Ecke rief. Im Radio lief »Sultans of Swing«. Es roch nach Currysauce, Qualm und Hopfen.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte Jamie und schob seine Brille mit dem Daumen die Nase hoch. »Sehen Sie denn nicht, dass wir zu tun haben?«
»Nur noch ein paar Fragen«, sagte Banks.
»Fragen, Fragen, Fragen. Ich habe Mr Templeton letztens alles gesagt. Außerdem stand doch heute Morgen in der Zeitung, es wäre irgendein Exfreund gewesen.«
Banks hatte den Artikel gelesen. Verantwortungsloser Journalismus, dachte er. Anscheinend hatte ein Kollege durchsickern lassen, dass sie mehrere Exfreunde von Hayley befragt hatten. Dann hatte die Geschichte sich verselbständigt.
»Wenn ich Sie wäre, würde ich nicht alles glauben, was in der Zeitung steht«, sagte Banks. »So wie Sie es DS Templeton geschildert haben, kam Hayley Daniels spät mit einer Gruppe pöbelnder Freunde herein -«
»Sie haben nicht groß rumgepöbelt.«
»Dann sagen wir mal, sie waren ausgelassen. Sie hatten vorher schon Ärger gehabt mit einer Clique aus Lyndgarth, die die Toiletten verstopft hatte.«
»Das stimmt.«
»So weit, so gut. Hayley und ihre Freunde waren die Letzten, richtig?«
»Ja.«
»Was machten Sie, als die weg waren?«
»Ich schloss die Tür zu.«
»Sobald die draußen waren?«
»Klar. Ich habe gehört, dass Pubs in dem Moment oft überfallen werden.«
»Sehr vernünftig«, sagte Banks. »Wussten Sie, wo sie hinwollten?«
»Wer?«
»Hayley und ihre Freunde.«
»Einer hatte von der Bar None gesprochen. Das ist sowieso der einzige Laden, der um die Zeit noch auf hat, abgesehen vom Taj.«
»Gut«, meinte Banks. »Erwähnte Hayley, dass sie nicht mitgehen würde?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Wir haben gehört, sie wurde pampig zu Ihnen.«
»Ach, das war nicht so schlimm.«
»Aber sie motzte herum, als sie sah, dass die Toiletten abgesperrt waren, oder?«
»Ja, sie regte sich etwas auf«, sagte Jamie und rutschte betreten auf seinem Stuhl herum. »Warum? Ich meine, das ist doch nicht wichtig, oder?«
»Es könnte wichtig sein«, sagte Banks. »Was sagte sie denn?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Angeblich hat sie Sie ganz schön runtergeputzt.«
»Na, sie war nicht gerade erfreut. Kann sein, dass sie gesagt hat, sie würde auf die Erde pinkeln.«
»So wie ich gehört habe, sind Sie nicht gerade Gottes Geschenk an die Frauen, und dann kommt diese arrogante kleine Pute daher und sagt Ihnen, Sie sollten auf allen vieren die Klos schrubben, sonst würde sie bei Ihnen auf den Boden pissen. Wie fühlten Sie sich da?«
»So war das nicht«, sagte Jamie.
»Wurden Sie nicht vielleicht sauer und folgten ihr nach draußen, damit sie bekam, was sie verdiente?«
Jamie wich auf dem Stuhl zurück. »Was soll das heißen? Sie wissen genau, dass ich das nicht getan habe. Sie haben mich doch auf den Bändern gesehen. Es war so, wie ich gesagt habe. Ich habe abgeschlossen und in den nächsten zwei Stunden die Toiletten saubergemacht, Glühbirnen ausgetauscht, Glasscherben aufgefegt.«
»Ich habe gehört, dass die Aushilfskellnerin Sie am Samstag versetzt hat«, warf Banks ein.
»Jill. Ja, das stimmt. Angeblich war sie erkältet.«
»Glaubten Sie ihr nicht?«
»Ich hatte ja keine große Wahl, oder?«
»Macht Jill das öfter, sich krankmelden?«
»Hin und wieder.«
Am Nebentisch saß eine Gruppe von Büroangestellten, die sich lautstark unterhielten. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir kurz hinten mit Ihnen reden?«, fragte Banks.
Jamie wirkte nervös. »Warum? Was wollen Sie?«
»Schon gut«, versicherte Winsome ihm. »Wir schlagen Sie schon nicht zusammen.« Sie schaute sich in dem gut gefüllten Pub um. »Hinten ist es bloß ruhiger und ungestört, mehr nicht. Wir möchten doch nicht, dass hier jeder mithören kann.«
Widerwillig ging Jamie zu seinem Kollegen an der Theke, sagte Bescheid und führte die beiden Beamten nach oben in das Zimmer mit dem Fernseher und der Couch. Es war eng und muffig, aber immerhin ungestört. Von unten erklang »Shake Your Moneymaker« von Fleetwood Mac. »Es geht um Folgendes, Jamie«, begann er, »wir haben uns umgehört, und wir glauben, dass Sie sich von Freunden und Angestellten Alkohol und Zigaretten aus Frankreich rüberschmuggeln lassen.«
»Das ist nicht mehr verboten«, erwiderte er. »Man kann mitbringen, soviel man will. Wir gehören jetzt zu Europa.«
»Aber es ist verboten, sie in einem Schanklokal zu verkaufen«, sagte Banks. »Steckt das dahinter? Hat das irgendwas mit dem Mord an Hayley zu tun?«
Jamie war fassungslos. »Was sagen Sie da? Sie können doch nicht -«
»Wusste Hayley Bescheid? Jill wusste es auf jeden Fall. Sie haben Jill sogar gebeten, Ihnen was mitzubringen. Das ist einer der Gründe, warum sie hier nicht gerne arbeitet.«
»Aber das ist doch, ich meine, gut, dann verkaufen wir halt die eine oder andere Flasche Lager oder Zigarettenpackung. Das ist doch kein Grund, irgendjemanden umzubringen, oder? Schon gar nicht, na ja, auf diese Art -«
»Sie meinen die Vergewaltigung?«
»Ja.«
»Das war vielleicht nicht das wirkliche Motiv. Vielleicht sollten damit die Spuren verwischt werden. Allerdings gibt es nicht viele Männer, die die Ware nicht wenigstens mal testen, bevor sie sie loswerden, oder?«
»Das ist ja krank«, sagte Jamie. »Sie sind krank.« Er sah Winsome an, als hätte sie ihn verraten. »Sie beide.«
»Ach, kommen Sie, Jamie«, sagte Banks. »Wir kennen uns aus. Lief es so? Hayley wollte Sie verpfeifen. Sie mussten sie loswerden, da konnten Sie sich das Mädchen ja ruhig vorher noch zu Gemüte führen.«
»Das ist nicht nur krank, sondern lächerlich«, sagte Jamie.
»Wo sind die Sachen?«, fragte Banks.
»Was?«
»Der Alkohol und die Zigaretten.«
»Was für Alkohol und Zigaretten? Ich habe hier nichts außer dem normalen Vorrat, den Sie schon gesehen haben.«
»Wo verstecken Sie es?«
»Ich sage die Wahrheit. Ich habe nichts.«
Das leuchtete Banks ein. Murdoch hatte mit Sicherheit die gesamte Schmuggelware beiseitegeschafft, da er damit rechnen musste, dass die Polizei nach dem Mord an Hayley bei ihm herumschnüffelte. Außerdem hatte er wohl befürchtet, dass Jill nicht so verschwiegen sein würde, wie es ihm lieb gewesen wäre. Es war sowieso keine besonders tolle Theorie gewesen, dachte Banks. Niemand wurde wegen so unbedeutender Betrügereien umgebracht. Er hatte nur mal sehen wollen, wie Jamie Murdoch reagierte. Nicht sehr aussagekräftig. Banks gab Winsome ein Zeichen, und beide standen auf. Kurz bevor sie nach unten gingen, fragte Banks Jamie: »Haben Sie am Samstag, kurz bevor Sie zuschlossen, irgendwo Musik gehört?«
»Musik? Das weiß ich echt nicht mehr. Was für Musik?«
»Ich weiß nicht, was.«
»Ein Auto fuhr vorbei, aber die restliche Zeit war ich hinten und machte die Toiletten sauber.«
»Hatten Sie das Radio oder die Musikbox laufen?«
»Nein. Als ich abschloss, habe ich alles ausgestellt. Die Macht der Gewohnheit.«
»Gut«, sagte Banks und dachte, wenn er zwei Stunden damit verbracht hätte, vollgesogene Papierrollen aus Kloschüsseln zu ziehen, hätte er sich Musik angemacht. Er steuerte auf die Treppe zu. »War nett, mit Ihnen zu reden. Wenn Ihnen noch was einfällt, wir sind auf der anderen Seite vom Marktplatz.«
Direkt hinter der Skulptur vom Engel des Nordens, die wie eine verrostete Spitfire auf ihrem Heck auf dem Hügel stand, begann der Verkehr auf der A1 zu stocken. Wie bescheuert von mir, dachte Annie, an einem Freitagnachmittag nach Newcastle hochzufahren, wenn alle früh Feierabend machten und zum Outlet-Center Team Valley oder zum MetroCentre rausfuhren. Der Tag hatte mit Sonnenschein und hohen Wolken begonnen, doch nördlich von Scotch Corner war der Himmel schnell trübgrau geworden und hing tief über Weardale auf der linken Seite. Zwischendurch regnete es immer wieder. Es gab das Sprichwort, wenn einem das Wetter im Norden nicht gefalle, müsse man zehn Minuten warten, aber keiner fügte hinzu, wenn es einem dann immer noch nicht gefalle, brauche man nur zehn Meilen weiterzufahren.
Annie hatte den Vormittag mit ihrem Team verbracht. Ergebnislos hatten sie die Befragung von den Angehörigen der Paynes-Opfer rekapituliert. Keiner der Befragten hatte das geringste Mitleid mit Lucy, manche waren unnachgiebiger als andere, aber niemand bot sich auch nur ansatzweise als verdächtig an. Die Alibis mussten noch überprüft werden, aber das Ergebnis war deprimierend. Gegen Ende der Besprechung war Superintendent Brough aufgetaucht, und selbst seine ermutigenden Worte hatten irgendwie hohl geklungen. Wenn sie wenigstens den Durchbruch schafften und herausfänden, über welches Leck die Identität und der Aufenthaltsort von Lucy Payne bekanntgeworden war, wären sie ein ganzes Stück weiter, dachte Annie immer wieder. Ginger beschwerte sich unablässig, wie schwierig es sei, am Freitag jemanden in einem Verlagshaus an die Strippe zu bekommen, der Auskunft geben konnte, wartete aber jetzt auf den Rückruf von Maggie Forrests ehemaligem Art Director und hoffte das Beste.
Zuvor war Ginger damit beschäftigt gewesen, Sarah Bingham ausfindig zu machen, mit der sich Kirsten Farrow nach ihrem Jurastudium angefreundet hatte. Ginger hatte Erfolg gehabt. Besser noch, Sarah arbeitete an jenem Nachmittag zu Hause. Am Telefon hatte sie zu Annie gesagt, sie könne eine halbe Stunde für sie erübrigen. Sarah wohnte in einem der schicken Apartmenthäuser am Fluss, die seit Annies letztem Besuch im hohen Norden völlig saniert und in hochwertigen Wohnraum umgewandelt worden waren. Teure Restaurants und Boutique-Hotels in funkelnden neuen Gebäuden säumten das Ufer des Tyne, scharfkantige moderne Entwürfe aus Stahl, Beton und Glas, die über dem Wasser aufragten. Während Anni den Gästeparkplatz suchte, klingelte ihr Handy. Es war Les Ferris, und er war ganz aufgeregt. Annie hielt am Straßenrand.
»Annie, ich habe die Haarproben gefunden!«
»Super«, sagte Annie. »Wann kann Liam damit anfangen?«
»Es gibt ein kleines Problem«, gestand Les. »Liam kann sofort loslegen, aber die Proben sind im Präsidium von West York-shire, zusammen mit den anderen Asservaten der Serienmorde von 1988, was auch Sinn macht. An sich ist das kein Problem, aber jetzt ist Freitagnachmittag, es war gerade Schichtwechsel, das Wochenende steht vor der Tür, deshalb ist niemand da, der sie austragen würde. Der Wachmann der Asservatenkammer ist ein blöder Hund, wir brauchen unbedingt jemand von weiter oben. Superintendent Brough ist -«
»Wahrscheinlich Golfspielen«, sagte Annie. »Worauf wollen Sie hinaus, Les? Tut mir leid, aber ich habe es selbst ein bisschen eilig.«
»Gut. Verstanden. Ich will auf Montag hinaus. Am Montagmorgen müssten wir die Sachen ins Labor bringen können, so dass Liam und seine Experten mit dem Vergleich anfangen können. Wenn alles gutgeht.«
»Das ist super«, sagte Annie. »Wir haben schon lange gewartet, dann macht es bis Montag auch nichts mehr. Und wenn es notwendig ist und meine Autorität reicht, dann rufen Sie mich einfach später noch mal an. Gut gemacht, Les! Herzlichen Dank!«
»Gern geschehen«, sagte Ferris und legte auf.
Bis zum Montag wollte Annie einfach weitermachen wie geplant. Wenn die Haarprobe bewies, dass Kirsten Farrow nichts mit dem Mord an Lucy Payne zu tun hatte, würde sie diesen Ermittlungsansatz abhaken können. Er war sowieso weit hergeholt. Dann hätte sie ihre Zeit mit einem fruchtlosen Unterfangen vertan, aber so war das eben manchmal. Sie würde ihre Ressourcen neu auf die anderen Theorien verteilen müssen. Zum Beispiel auf Maggie Forrest. Janet Taylors Bruder war auch eine Möglichkeit gewesen, aber Tommy Naylor hatte ihn in einer Suchtklinik in Kent aufgetrieben, wo er seit einem Monat im Entzug war. Also auch eine Sackgasse.
Annie fand den Besucherparkplatz und stellte den Wagen ab. Sie meldete sich bei dem Mann von der Gebäudesicherheit und wurde in ein Apartment im vierten Stock geschickt. Am hinteren Ende des mit dickem Teppich ausgelegten Flurs öffnete Sarah Bingham die Tür und führte Annie ins Wohnzimmer. Es war nicht groß, doch die deckenhohen Fenster mit dem Balkon davor vermittelten ein großzügiges Raumgefühl. Der Blick nach Süden auf Gateshead war nicht gerade idyllisch, man sah eher Kaianlagen als exklusive Wohnhäuser, aber wahrscheinlich war er teuer. Annie hatte das Gefühl, über dem Wasser zu schweben, und war froh, nicht an Höhenangst zu leiden.
Die Einrichtung bestand aus roten Ledermodulen, an den Wänden hing moderne Kunst, offenbar Originale. Die Wände selbst waren in einem Farbton zwischen Cremeweiß und Rosa gestrichen, dessen Bezeichnung Annie nicht kannte. Wahrscheinlich eine Kombination aus exotischem Ort und Blume, so wie »toskanische Primel« oder »peloponnesische Nelke«.
Annie lobte die Gemälde, besonders eines, das aus vielen verschiedenen Farbpunkten bestand. Sarah schien sich darüber zu freuen. Vielleicht mochten die meisten ihrer Gäste keine abstrakte Kunst. An der Wand hing ein großer Flatscreen-Fernseher, die andere Seite wurde von einer teuren Anlage von Bang & Olufsen eingenommen. In allen vier Ecken standen kleine Lautsprecher, aus denen sehr sanfte Orchestermusik drang. Annie wusste nicht, was es war, konnte aber auch keine erkennbare Melodie ausmachen, und nahm deshalb an, es sei Musik aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Dies war die sehr moderne Wohnung einer sehr modernen jungen Frau. Annie überschlug kurz, dass Sarah um die vierzig sein musste, also in ihrem Alter.
Sarah Bingham selbst war vollkommen durchgestylt - von ihrem aschblonden Haar, so fachmännisch gefärbt und geschnitten, dass es natürlich wirkte, bis zu dem weißen Seidentop und der schwarzen Designer-Cargohose. Die einzige Unstimmigkeit waren vielleicht ihre rosa Plüschpantoffeln. Aber schließlich war sie hier zu Hause. Annie kam sich ziemlich schäbig vor in ihren Levi's und dem schwarzen Rollkragenpullover. Außerdem hatte Sarah Bingham einen geschmeidigen Körper, wie man ihn nur bei einer täglichen Stunde Training im Fitnessstudio bekam. Zu so was hatte Annie gar keine Zeit, selbst wenn sie Lust dazu gehabt hätte. Ein weißes MacBook stand, umgeben von Unterlagen und Aktenordnern, auf dem Schreibtisch aus Chrom und Glas am Fenster. So viel zum Thema papierloses Büro, dachte Annie. Eine Handtasche von Hermes lag wie beiläufig auf einem Stuhl.
»Ich weiß nicht, was ich für Sie tun kann«, sagte Sarah und nahm in einem Designersessel Platz, »aber Sie haben mich auf jeden Fall neugierig gemacht.« Ihr Akzent war ein wenig vornehm, aber wie alles andere an ihr wirkte er natürlich.
»Es geht um Kirsten Farrow.«
»Ja, das sagten Sie schon am Telefon.« Sarah machte eine unbestimmte Handbewegung. »Aber das ist alles so lange her.«
»An was können Sie sich noch erinnern?«
»Ah, warten Sie. Also, Kirsty und ich lernten uns an der Uni kennen. Wir studierten beide englische Literatur. Ich war ganz versteift auf feministische Literaturkritik und so, Kirsty machte eher Traditionelles: F. R. Leavis, I. A. Richards und so weiter. Sehr unmodern in den wilden Tagen des Dekonstruktivismus.«
»Wie war das mit dem Überfall?«, fragte Annie, die ihre kostbare Zeit nicht mit Literaturkritik verschwenden wollte.
»Das war furchtbar«, sagte Sarah. »Ich besuchte sie damals im Krankenhaus, und sie war ... Ich meine, es dauerte Monate, bis sie wieder einigermaßen zurechtkam. Wenn überhaupt.«
»Was meinen Sie damit?«
»Vielleicht kommt man über so was nie richtig hinweg. Ich weiß es nicht. Sie?«
»Nein«, sagte Annie, »aber man kann lernen, trotzdem zu funktionieren. Verbrachten Sie damals viel Zeit mit ihr?«
»Ja«, erwiderte Sarah. »Ich fand es wichtig, bei ihr zu sein, auch wenn alle anderen schnell weitermachen wollten.«
»Und was war mit Ihrem Leben?«
»Das stand auf Pause. Ich wollte meine Doktorarbeit über viktorianische Prosa schreiben. Ich wollte Professorin für Englisch werden.« Sie lachte.
»Tatsächlich?«
»Ja. Aber schon im ersten Jahr langweilte mich das alles. Ich brach ab und reiste eine Zeitlang durch Europa, wie man das so machte, und als ich zurückkam, schrieb ich mich auf Vorschlag meiner Eltern für Jura ein.«
Annie sah sich um. »Ihnen scheint es gutzugehen.«
»Ja, es läuft nicht schlecht. Ich habe ein paar Jahre verloren, aber das hatte ich schnell wieder aufgeholt. Jetzt bin ich einer der jüngsten Teilhaber in einer der größten Anwaltskanzleien im Nordosten. Möchten Sie etwas trinken? Sie sind so weit gefahren. Wie unhöflich von mir, Ihnen nichts anzubieten.«
»Schon gut«, sagte Annie. »Ich würde etwas Kaltes, Prickelndes nehmen, wenn Sie so was haben, danke.« Nach Banks' Besuch am Vorabend hatte sie mehr Wein getrunken, als sie vorgehabt hatte, dadurch hatte Annie jetzt einen trockenen Mund. Sie bedauerte, Banks wegen Eric angelogen zu haben, aber manchmal war es die einzige Möglichkeit, sich jemanden vom Leib zu halten. Banks und Winsome mochten ja gute Absichten haben, aber was Annie im Moment am wenigsten brauchte, waren Leute, die sich in ihr Leben einmischten.
Sarah stand auf. »Also etwas Kaltes, Prickelndes«, sagte sie und ging zum Barschrank. Sie kehrte mit einem gekühlten Perrier auf Eis für Annie und einem Gin Tonic für sich selbst zurück, nahm wieder im Sessel Platz und schlug die Beine unter.
»Verheiratet?«, fragte Annie. Sie hatte gesehen, dass Sarah keinen Ring trug, aber das musste ja nichts zu bedeuten haben.
Sarah schüttelte den Kopf. »War ich mal«, sagte sie, »aber es lief nicht.« Sie lachte. »Er meinte, er käme nicht damit zurecht, dass ich rund um die Uhr arbeiten würde und wir uns nie sähen, aber in Wirklichkeit war er ein fauler Hund und ein Nassauer. Und Sie?«
»Habe noch nicht den Richtigen gefunden«, sagte Annie lächelnd. »Zurück zu Kirsten. Ich hoffe, die Erinnerungen sind nicht zu schmerzhaft für Sie?«
Sarah winkte ab. »Nein. Wie gesagt, das ist schon lange her. Kommt mir vor wie ein anderes Leben. Die Geschichte mit Kirsten war im Juni 1988. Wir hatten gerade die Abschlussprüfungen hinter uns gebracht und waren feiern gewesen. Wir wurden aus irgendeinem Pub geschmissen und landeten schließlich auf einer Party im Wohnheim, ich glaube, wir waren zu sechst. Wir waren schon alle ziemlich betrunken, um ehrlich zu sein, nur Kirsten nicht so. Sie wollte früh am nächsten Morgen zu ihren Eltern fahren, deshalb hielt sie sich zurück. Sie ging, bevor die Party zu Ende war. Niemand dachte sich etwas dabei. Ich meine, es kamen und gingen ständig Leute, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und genau da passierte es, auf dem Heimweg durch den Park.«
»Aber der Täter wurde gestört?«
»Ja. Von einem Mann, der mit seinem Hund spazieren ging. Gott sei Dank dafür.«
»Und der Täter konnte entkommen?«
»Ja. Die Polizei glaubte, es sei derselbe gewesen, der schon fünf andere Mädchen vergewaltigt und getötet hatte, einen Serienmörder nennt man das ja wohl. Die arme Kirsty konnte sich an nichts erinnern, was vielleicht ein Segen war. Können Sie sich vorstellen, so was noch mal zu durchleben?«
Annie trank einen Schluck Wasser. »Hat sie oft darüber gesprochen?«
»Manchmal. Ich habe sie ein paar Mal im Krankenhaus besucht und Weihnachten mit ihr und ihren Eltern verbracht, als sie entlassen wurde. Sie hatten ein großes Haus in der Nähe von Bath. Ich glaube, Kirsty war damals in Hypnosetherapie. Ich kann mich noch erinnern, dass es sie wirklich frustrierte, nichts mehr von dem Überfall zu wissen. Sie sagte, sie würde aber noch dahinterkommen und herausfinden, wer es war, und dann würde sie ihn aufspüren.«
»Das sagte sie?«
»Ja, aber damals war sie wirklich noch ziemlich durch den Wind. Sie meinte das nicht so. Ich denke, die Hypnose war frustrierend für sie. Es könnte eine Idee der Polizei gewesen sein.«
»Haben Sie der Polizei erzählt, was Kirsten sagte?«
»Nein. Ich meine, warum sollte ich? Sie sagte es doch nur im Zorn. Sie hatte keine Ahnung, wer der Mann war.«
»Können Sie sich vielleicht an den Namen des Hypnosetherapeuten erinnern?«
»Nein, tut mir leid. Ich wüsste auch nicht, dass Kirsty ihn je erwähnt hätte.«
»Und das war 1988 in Bath?«
»Ja, im Winter.«
»Weiter, bitte!«
»Kirstys Eltern gingen Silvester auf eine Party. Kirsten und ich betranken uns mit dem Cognac des Vaters, und da erzählte sie mir alles.«
Annie setzte sich auf. »Was meinen Sie damit?«
»Alles, was er mit ihr gemacht hatte. Dieses Schwein.« Zum ersten Mal schienen die Erinnerungen Sarah zu erschüttern.
»Was hatte er denn getan?« Annie wusste, dass sie den Arztbericht suchen konnte, der irgendwo im Archiv lag, doch sie wollte gern Sarahs Version hören.
»Er verletzte sie mit einem scharfen Messer. Hier.« Sie zeigte auf ihre Brüste. »Und zwischen den Beinen. Sie hat es mir natürlich nicht gezeigt, aber sie sagte, es wäre alles voller Narben. Aber das war nicht das Schlimmste. Sie erzählte auch, dass ihre Scheide und die Gebärmutter so stark beschädigt seien, dass sie keine Kinder bekommen könnte. Auch der Sex würde ihr nur Schmerzen bereiten.« Mit dem Handrücken wischte sich Sarah eine Träne ab. »Tut mir leid. Ich dachte nicht, dass es so schlimm wäre, darüber zu sprechen. Ich dachte, es würde schon gehen, es liegt ja lange genug zurück.«
»Ist alles in Ordnung?«
Sarah schniefte und holte sich ein Taschentuch. Sie putzte sich die Nase. »Alles klar«, sagte sie. »Die Wucht der Erinnerung hat mich gerade ein bisschen überrascht. Ich sehe sie noch da sitzen, mit diesem verzweifelten Gesichtsausdruck. Ich meine, können Sie sich vorstellen, was das mit einem macht? Für den Rest des Lebens zu Kinderlosigkeit und Enthaltsamkeit verurteilt zu sein? Verdammt noch mal, sie war erst einundzwanzig! Ich glaube, in dem Moment hätte ich ihn selbst gerne umgebracht, wenn ich gewusst hätte, wer es war.«
»Gab es irgendeinen Hinweis darauf, dass sie den Täter kannte?«, fragte Annie. »Vielleicht jemand, der die Party etwas früher verlassen hatte?«
»Die Polizei hat mich natürlich nicht in ihre Mutmaßungen eingeweiht, aber alle, die dabei waren, wurden in die Mangel genommen, auch alle Freunde von der Uni.«
Das war Standard, wie Annie vermutet hatte. Trotzdem war es möglich, dass den Kollegen von damals etwas entgangen war. »Haben Sie Kirsten nach Silvester noch einmal gesehen?«
»Ja, ein paar Mal noch. Aber so detailliert hat sie nie wieder davon erzählt. An einen Abend kann ich mich besonders gut erinnern«, fuhr Sarah fort. »Komisch, nicht, wie manches im Gedächtnis bleibt? Es war das erste Mal, dass Kirsty nach dem Übergriff wieder im Norden war. Über ein Jahr später. Sie war länger im Krankenhaus gewesen, dann hatte sie sich zu Hause bei ihren Eltern erholt. Jedenfalls wohnte ich damals in einem winzigen möblierten Zimmer - vorher hatte Kirsten da gewohnt -, und sie blieb eine Zeitlang bei mir. Ich glaube, das war im September 1989, kurz vor Semesterbeginn. Am ersten Abend tranken wir eine Menge, und sie sagte ein paar sehr seltsame Dinge. Sie machte mir ziemlich Angst.«
»Was für seltsame Dinge?«
»An die Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern, nur dass es wirklich unheimlich war. Sie redete von >Auge um Auge< und dass sie sich wie das Opfer eines Vampirs oder wie ein Aidskranker fühlen würde.«
»Aids?«
»Das meinte sie nicht wörtlich. Sie redete wirklich Blödsinn. Sie hatte kein Aids, jedenfalls nicht, soweit ich wusste. Nein, sie meinte das so, als hätte sie sich bei dem Vergewaltiger irgendwie angesteckt. Ich sagte, sie rede Blödsinn, und sie hielt den Mund. Das ist alles, was ich noch weiß. Aber mir ist es echt kalt den Rücken runtergelaufen. Trotzdem dachte ich, es wäre besser, alles rauszulassen, als es runterzuschlucken.«
»Kirsten sprach von Rache?«
»Auge um Auge, ja. Sie sagte noch einmal, wenn sie wüsste, wer es war, würde sie ihn umbringen.«
»Ließ sie irgendwie erkennen, dass sie es wusste?«
»Nein. Wie sollte sie auch?«
»Schon gut, weiter bitte.«
Sarah lachte nervös. »Es lag wirklich am Alkohol, dass sie so redete. Wir waren schon bei der zweiten Weinflasche. Jedenfalls lief es erst mal ganz normal weiter, und dann begann das Semester.«
»Das heißt, Kirsten wohnte die ganze Zeit bei Ihnen, als sie im September im Norden war?«
»Ja. Ich glaube sogar, bis Mitte Oktober.«
»Sie klingen nicht ganz überzeugt. Sind Sie sicher?«
Sarah wandte sich ab. »Das habe ich der Polizei gesagt.«
»Stimmt es denn nicht?«
Sie betrachtete ihre Fingernägel. »Nun ja, genau genommen, war sie manchmal da und dann wieder nicht.«
»Wie das?«
»Nun, sie war ein paar Tage Wandern in den Dales, ja?«
»Waren Sie dabei?«
»Nein. Sie wollte allein sein.«
»Wann war das genau?«
»Das weiß ich nicht mehr. Es ist schon so lange her. Aber ich glaube, im September. Kurz nachdem sie herkam.«
»Haben Sie das der Polizei erzählt?«
»Ich ... nein. Sie bat mich darum.«
»Haben Sie eine Vorstellung, warum?«
»Nein. Ich meine, sehen Sie, es tut mir leid, aber damals hatte ich keine besonders hohe Meinung von der Polizei. Krach mit den Bullen war das Letzte, was Kirsten gebrauchen konnte. Sie hatte genug gelitten.«
»Hatten Sie aus einem besonderen Grund etwas gegen die Polizei?«
Sarah zuckte mit den Achseln. »Ich war einfach radikal, mehr nicht, und eine Feministin. Für mich war die Polizei nur daran interessiert, archaische, von Männern gemachte Gesetze durchzusetzen und den Status quo zu erhalten.«
»So habe ich früher auch gedacht«, sagte Annie. »Sicher mag das damals eher zugetroffen haben als heute, aber es gibt immer noch ein paar Dinosaurier.«
»Ich kann bis heute nicht behaupten, dass mir die Polizei besonders lieb wäre«, sagte Sarah, »aber im Laufe der Jahre habe ich deutlich mehr Respekt bekommen und schere jetzt nicht mehr alles über einen Kamm wie damals. Ich praktiziere kein Strafrecht, aber auch auf meinem Gebiet habe ich ein paar sehr gute Polizeibeamte kennengelernt. Es ist so, wie Sie sagen: Es gibt einige Dinosaurier. Und dazwischen ein paar faule Äpfel.«
»Oh ja«, sagte Annie und dachte an Kev Templeton. Wenn er auch kein fauler Apfel im Sinne von ungesetzlichen Aktivitäten war, so war er doch auf jeden Fall ein Arschloch erster Güte.
»Aber damals haben Sie gelogen.«
»Tja. Ehrlich, ich hatte das vollkommen vergessen. Bekomme ich deswegen Ärger?«
»Ich glaube nicht, dass sich jemand für eine achtzehn Jahre zurückliegende Lüge interessiert, es sei denn, sie wird heute relevant.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Was geschah damals ?«
»Was ich gesagt habe. Kirsten ging für ein paar Tage in die Dales, dann kam sie zurück. In den folgenden Wochen war sie mal da und mal nicht, dann übernahm sie das Zimmer eine Etage über mir. Sie begann mit ihrer Doktorarbeit, genau wie ich, langweilte sich aber noch schneller.«
»Und hörte auf?«
»Ja. Ging zurück nach Hause, glaube ich. Zumindest für eine Zeitlang.«
»Und dann?«
Sarah schaute wieder auf ihre wunderschön manikürten, geschmackvoll blassrosa lackierten Fingernägel. »Wir lebten uns irgendwie auseinander, wissen Sie? Wie das so ist. Wie schon gesagt, nachdem ich meine Doktorarbeit sausen ließ, reiste ich eine Weile durch die Weltgeschichte, dann stürzte ich mich ins Jurastudium.«
»Sie haben Kirsten also nie wiedergesehen?«
»Doch, noch ein-, zweimal in den nächsten Jahren. Wir gingen was trinken, der alten Zeiten zuliebe.«
»Worüber unterhielten Sie sich?«
»Meistens über die Vergangenheit. Vor der Vergewaltigung.«
»Hat sie mal etwas von Whitby erzählt?«
»Whitby? Nein. Warum sollte sie?«
»Hat sie mal etwas von einem Eastcote gesagt, Greg East-cote?«
»Nein.«
»Jack Grimley?«
»Noch nie gehört.«
»Keith McLaren, ein Australier?«
»Nein, nie. Diese ganzen Namen habe ich noch nie gehört. Wer soll das sein?«
»Hatte Kirsten noch Kontakt zu den anderen Freunden von damals, die alte Clique von der Uni?«
»Nein, glaube ich nicht. Ihr Freund war nach Kanada oder Amerika oder so gegangen, der Rest war über das ganze Land verteilt. Sie war eine Einzelgängerin, hatte sich von allen zurückgezogen. Ich dachte, es läge vielleicht an dem, was ihr zugestoßen war. Sie konnte sich einfach nicht anpassen und normal sein. Ich weiß es nicht. Es war nicht so, dass wir uns nicht nett unterhalten und was zusammen trinken konnten, aber irgendwie wirkte sie immer distanziert, als würde sie sich von den anderen absetzen. Ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Sie hatte sich auch äußerlich verändert, ließ sich gehen, hatte kurzes Haar und so. Vorher war sie eigentlich ganz hübsch gewesen, aber es war ihr wohl einfach egal.«
»Wissen Sie, was aus Kirsten geworden ist?«
»Ich glaube, nichts Besonderes. Irgendwie hing sie in der Luft. Sie sprach von Reiseplänen, China, Amerika, der Ferne Osten, aber ich weiß nicht, ob sie das wirklich vorhatte oder ob es reines Wunschdenken war.« Sarah sah zum ersten Mal auf die Uhr. »Ich will ja nicht unhöflich sein«, sagte sie und blickte zu ihrem MacBook hinüber, »aber ich muss noch fertig werden, bevor ich heute Abend den Klienten treffe.«
»Schon gut«, meinte Annie. »Ich denke, ich bin mit meinen Fragen sowieso am Ende.«
»Es tut mir leid, dass Sie den weiten Weg umsonst gemacht haben.«
»Das war nicht umsonst«, sagte Annie. »Immerhin haben Sie jetzt die Wahrheit gesagt. Haben Sie in den letzten Jahren noch mal etwas von Kirsten gehört oder gesehen?«
»Nein«, sagte Sarah. »Das letzte Mal war ungefähr '91 oder Anfang '92, danach war es fast so, als sei sie vom Erdboden verschluckt.«
»Haben Sie schon mal von Lucy Payne gehört?«
»Ist das nicht die Frau, die zusammen mit ihrem Mann so viele Mädchen umgebracht hat und die gerade ermordet wurde? Geht es um den Fall? Das verstehe ich nicht.«
»Maggie Forrest?«
»Nein, noch nie.«
»Gut«, sagte Annie, erhob sich und reichte Sarah ihre Visitenkarte. »Wenn Ihnen noch irgendwas einfällt, rufen Sie mich einfach an!«
»Worum geht es überhaupt?«, fragte Sarah an der Tür. »Sie haben nichts gesagt. Warum fragen Sie nach diesen Leuten und nach Sachen, die schon lange her sind? Können Sie mir nicht wenigstens einen Tipp geben?«
»Wenn irgendwas dran ist«, erwiderte Annie, »werden Sie es schon bald erfahren.«
»Typisch Polizei«, sagte Sarah und verschränkte die Arme vor der Brust. »Manches ändert sich nie, was?«
Annies Handy klingelte, als sie am Wagen ankam. Es war Ginger.
»Ich bin's, Chefin. Ich habe Infos über diese Maggie Forrest. Der Verlag hat zurückgerufen.«
»Super«, antwortete Annie und kramte nach ihren Schlüsseln, das Telefon unters Kinn geklemmt.
»Wir haben Glück. Sie ist wieder im Land. Wohnt in Leeds. Unten am Kanal.«
»Gut«, sagte Annie. »Vielleicht sollte ich sofort vorbeifahren.«
»Wird Ihnen nichts nützen. Sie ist momentan in London - ein Treffen mit besagtem Verleger. Aber am Sonntagabend kommt sie zurück.«
»Schön«, sagte Annie. »Ich hatte sowieso noch nichts vor am Sonntag. Da kann ich genauso gut zu ihr fahren und mit ihr sprechen. Danke, Ginger. Super gemacht!«
»Keine Ursache.«
Annie legte auf und fuhr in Richtung A1.
Annie hatte nicht vergessen, wo Eric wohnte. Es war schon dunkel, als sie vor seiner Tür stand. Sie hatte eine Weile gebraucht, um ihren Mut zusammenzunehmen, und unterwegs in einem Pub eine Zwischenpause eingelegt, um sich mit einem doppelten Brandy zu stärken. Sie war zu Fuß unterwegs, so dass es egal war, wie viel sie trank. Obwohl sie sich eingeredet hatte, es wäre keine große Sache, war sie sehr nervös. Konfrontationen auf der Arbeit waren eine Sache, aber im Privatleben waren sie etwas ganz anderes. Annie wusste, dass sie schon mehr als eine Beziehung in den Sand gesetzt hatte, weil sie lieber gegangen war, statt sich den Problemen zu stellen. Bei Banks war das Problem, dass sie ihm nicht völlig aus dem Weg gehen konnte; das ließen weder der Dienst noch die Gefühle zu, die sie für ihn hegte und die durch die enge Zusammenarbeit immer wieder angefacht wurden. Auch deshalb hatte Annie der zeitweiligen Versetzung zur Eastern Area so bereitwillig zugestimmt. Sie wollte etwas Distanz zwischen ihn und sich bringen. Es schien nicht gerade gut zu funktionieren.
Eric öffnete auf das Klingeln mit einem knappen »Ah, du bist es«, wandte Annie den Rücken zu und ging wieder rein. »Ich ziehe mich gerade an, ich wollte raus«, sagte er, als sie ihm ins Wohnzimmer folgte. Danach sah es allerdings nicht aus. Im Aschenbecher brannte eine Zigarette, neben einem halbvollen Glas stand eine Bierdose auf dem Couchtisch. Im Fernsehen lief EastEnders. Eric lümmelte sich auf das Sofa, die Beine von sich gestreckt, die Arme auf der Rückenlehne. Er trug eine Jeans und ein fadenscheiniges schwarzes T-Shirt. Sein Haar war fettig, musste dringend mal gewaschen werden. Wie immer hing ihm eine Locke ins Gesicht. »Was willst du?«, fragte er.
Annie streckte die Hand aus. »Gib mir mal dein Handy.«
»Was?«
»Du hast mich genau verstanden. Gib mir dein Handy!«
»Warum?«
»Das weißt du genau.«
Eric grinste. »Wegen den Fotos? Du willst die löschen, was? Du traust mir nicht.«
»Genau. Wir fangen mit deinem Handy an und machen dann mit deinem Computer weiter.«
»Was glaubst du denn, was ich damit vorhabe? Sie ins Internet stellen?« Er rieb sich das Kinn, als würde er es tatsächlich erwägen. »Eigentlich keine schlechte Idee! Meinst du, die nehmen Nacktfotos?«
»Ich glaube nicht, dass du irgendwas mit den Fotos machen wirst«, sagte Annie. »Du gibst mir jetzt dein Handy, dann gucken wir auf deinem Computer nach, und dann löschen wir alles.«
»Hör mal, setz dich doch hin und trink was! Ich hab's nicht sonderlich eilig. Wir können doch drüber reden.«
»Ich will nichts trinken, und ich bleibe nicht lange«, sagte Annie und streckte den Arm aus. »Es gibt nichts zu reden. Los!«
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, das ist eine obszöne Geste.«
»Du weißt es aber besser. Ich meine es ernst, los!«
Eric verschränkte die Arme und sah Annie trotzig an. »Nein«, sagte er.
Annie seufzte. Sie hatte damit gerechnet, dass er Mätzchen machen würde. Dann eben auf die andere Tour. Sie setzte sich.
»Trinkst du doch was?«, fragte Eric.
»Ich setze mich, weil es offenbar doch länger dauert, als ich gedacht habe«, sagte Annie. »Nein, ich will nichts trinken. Du weißt genau, was ich will.«
»Ich weiß nur, was du neulich nachts wolltest«, sagte Eric. »Jetzt bin ich mir nicht so sicher. Es gibt noch mehr Bilder, weißt du? Die du noch nicht gesehen hast. Bessere.«
»Ist mir egal«, sagte Annie. »Lösche einfach alles, dann vergessen wir es, dann vergessen wir, dass es je passiert ist.«
»Aber das will ich nicht vergessen! Kannst du mir nicht wenigstens irgendwas zur Erinnerung an dich dalassen?«
»Ich werde dir mehr als genug zur Erinnerung dalassen, wenn du nicht tust, was ich dir sage.«
»Ist das eine Drohung?«
»Das kannst du verstehen, wie du willst, Eric. Ich habe einen langen Tag hinter mir. Langsam bin ich mit meiner Geduld am Ende. Gibst du mir jetzt das Handy?«
»Sonst?«
»Na gut«, sagte Annie. »Wenn du es unbedingt so haben willst. Du hattest recht, als du nach meinem Beruf gefragt hast. Ich bin bei der Polizei. Genauer gesagt, bin ich Detective Inspector.«
»Soll ich jetzt beeindruckt sein?«
»Du sollst tun, was ich gesagt habe.«
»Was machst du, wenn ich es nicht tue?«
»Muss ich das aussprechen?«
»Holst du deine Neandertaler, damit sie mich zusammenschlagen?«
Annie lächelte und schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich dabei Hilfe bräuchte, aber nein, das habe ich nicht vor.«
»Du bist ziemlich eingenommen von dir, was?«
»Hör zu«, sagte Annie. »Hören wir mit den Spielchen auf, ja? Was passiert ist, ist passiert. Vielleicht war es gut. Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern, und es gereicht mir nicht gerade zur Ehre, das zu sagen. Ganz egal was, es war ein Fehler. Wenn -«
»Woher willst du das wissen?«
»Was?«
Eric setzte sich auf. »Woher willst du wissen, dass es ein Fehler war? Du hast mir gar nicht die Chance gegeben, mich -«
»Für mich war es ein Fehler. Akzeptier das einfach. Und dein Verhalten in den letzten Tagen hat es nicht gerade besser gemacht.«
»Aber warum?«
»Ich will wirklich nicht darauf eingehen. Ich bin nicht hergekommen, um Ärger zu machen. Ich bin nur hergekommen, um dich freundlich zu bitten, diese Fotos zu löschen. Sie sind peinlich, und ehrlich gesagt, käme ich nicht mal im Entferntesten auf die Idee, mich auf jemanden einzulassen, der so was fotografiert.«
»In dem Moment hattest du nichts dagegen. Und vergiss nicht: Du hast auch ein paar gemacht. Kannst du nicht etwas lockerer sein, ein bisschen Nachsicht mit mir haben? Das war doch nur harmloser Spaß.«
»Gib mir jetzt das verdammte Handy!« Annie erschrak über ihre eigene Heftigkeit, aber Eric beanspruchte ihre Geduld einfach über die Maßen. Sie hatte keine Lust, ihm zu erklären, wo der Unterschied lag, wenn sie aus Spaß ein paar lustige Fotos in einem Club machte oder wenn er persönliche Bilder in der Intimsphäre des Schlafzimmers aufnahm, an die sie sich nicht mal erinnern konnte. Wenn er den Unterschied nicht sah, verdiente er keine Nachsicht.
Auch Eric schien erschrocken. Eine Weile schwieg er, dann griff er in seine Jeanstasche, zog sein BlackBerry hervor und warf es Annie zu. Sie fing es auf. »Danke«, sagte sie. Als sie den Medien-Manager fand, scrollte sie durch alle Fotos, die er an dem Abend gemacht hatte. Abgesehen von denen, die sie kannte und auf denen sie zumindest wach gewesen war, gab es andere, auf denen sie schlief, das Haar zerzaust, eine Brust nackt. Nichts Anzügliches, sondern nur geschmacklos und verletzend. Annie löschte alle Bilder. »Jetzt der Computer.«
Eric winkte sie zum Schreibtisch in der Ecke. »Bitte!«
Auf dem Computer waren dieselben Fotos. Annie löschte sie ebenfalls. Zur Vorsicht leerte sie auch den Papierkorb. Sie wusste, dass es möglich war, gelöschte Dateien wiederherzustellen, doch glaubte sie nicht, dass Eric dazu imstande oder es ihm überhaupt wichtig war. Möglicherweise hatte er die Fotos auf einer CD oder einem USB-Stick gespeichert, aber daran konnte sie nicht viel ändern, da hätte sie schon seine gesamte Wohnung durchsuchen müssen. »Ist das alles?«, fragte sie.
»Ja, das ist alles. Jetzt hast du bekommen, was du haben wolltest. Verpiss dich!« Er wendete sich ab, nahm sein Bier und tat, als schaue er fern.
»Bevor ich gehe«, sagte Annie, »erkläre ich dir nur noch kurz, was passiert, falls du Kopien haben solltest und sie irgendwann im Internet auftauchen. Du hast falsch geraten: Ich rufe nicht meine Kumpel, damit sie dich zusammenschlagen. Viel zu primitiv. Aber ich habe Freunde, und du kannst mir glauben, dass wir dir das Leben wirklich schwermachen können.«
»Oh, ja«, sagte Eric, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden. »Und wie genau soll das gehen?«
»Wenn irgendeins von diesen Fotos irgendwo auftaucht, werde ich nicht nur behaupten, dass ich betrunken war, als sie gemacht wurden, was zutrifft und was jeder sehen kann, sondern dass mir K.o.-Tropfen eingeflößt wurden.«
Langsam drehte sich Eric zu Annie um, einen ungläubigen Ausdruck im Gesicht. »Das würdest du wirklich tun?«
»Ja. Und wenn es notwendig wäre, würden die Beamten, die deine Wohnung durchsuchen, hier auch Rohypnol oder GHB oder so finden. Du würdest dich wundern, wie viel davon bei uns auf der Dienststelle herumliegt.« Annie klopfte das Herz bis zum Hals. Sie war überzeugt, dass Eric es hören konnte oder es sogar zucken sah. Sie war es nicht gewohnt, so zu lügen oder zu drohen.
Eric zündete sich die nächste Zigarette an. Er war blass geworden, und Annie sah, dass seine Hände zitterten. »Langsam glaube ich wirklich, dass du das tun würdest«, sagte er. »Als ich dich kennenlernte, dachte ich, du wärst echt nett.«
»Hör mit dem Blödsinn auf! Als du mich kennengelernt hast, dachtest du, da haben wir eine nicht allzu schlecht aussehende, betrunkene alte Tussi, mit der du ohne großes Aufhebens ins Bett gehen kannst.«
Eric klappte der Mund auf.
»Was ist?«, fragte Annie. »Kannst du die Wahrheit nicht vertragen?«
»Ich ... ist nur ...« Er schüttelte staunend den Kopf. »Du bist echt hart drauf.«
»Glaub's mir«, sagte Annie. »Ich denke, ich muss nicht mehr sagen, oder?«
Eric schluckte. »Nein.«
»In diesem Sinne: auf Wiedersehen.«
Annie achtete darauf, die Tür nicht hinter sich zuzuschlagen. So wütend und durcheinander sie auch war - sie musste Eric zeigen, dass sie alles im Griff hatte, auch wenn das nicht stimmte. Als sie in die kalte Nachtluft ging, blieb sie an der Straßenecke stehen und atmete mehrmals tief durch. Sie hatte es geschafft, sagte sie sich. Problem gelöst. Alles geklärt. So viel zum Thema: Annie Cabbot, Engel der Barmherzigkeit. Doch warum hatte sie, als sie die Straße hinunterging und auf das dunkle, funkelnde Meer blickte, bloß das Gefühl, gerade mit Kanonen auf Spatzen geschossen zu haben, auch wenn Eric noch so widerwärtig war? Dann redete sie sich ein, dass er bestimmt kein Spatz war, eher schon eine Schlange, und musste grinsen.