27. KAPITEL
Fern, meine Liebe, wie geht es Ihnen?“
„Danke, gut“, antwortete Fern vergnügt und trat an das Schaufenster zurück, um einen Käufer an sich und Roberta vorüberzulassen.
Inzwischen wussten alle von ihrer bevorstehenden Scheidung und vermutlich auch von Venices Schwangerschaft. Nick lebte offen mit der Witwe zusammen. Fern hatte das Paar neulich mit einem teuren neuen Geländewagen in der Stadt gesehen.
„Der Sicherheitsstandard der deutschen Autos gefällt uns zwar sehr“, hatte Venice zu jemandem gesagt. „Aber wir finden, dass wir die Pflicht haben, die britische Industrie und den britischen Facharbeiter zu unterstützen.“
Fern ärgerte sich zunehmend über die Schau, die Venice öffentlich abzog. Ständig versicherte sie allen, die es hören wollten, welch ein schlechtes Gewissen sie hätte. Sie allein wäre schuld daran, dass die „arme Fern“ jetzt so unglücklich sei. Anschließend drehte sie den Spieß jedes Mal um und machte aus dem Laster eine Tugend. Sie senkte den Kopf und fügte scheinbar beschämt hinzu, dass sie jetzt natürlich in erster Linie an das Baby denken müssten.
Fern war die unerwünschte Rolle einer trauernden Märtyrerin restlos leid. Wohl zum dutzendsten Mal versuchte sie, Roberta davon zu überzeugen, dass Nicks Fehltritt sie weder an den Rand eines Selbstmords getrieben noch anderweitig seelisch vernichtet hätte.
Es war ausgesprochen ärgerlich, dass sie nicht mit der Wahrheit herausrücken konnte. Wer hätte ihr schon geglaubt?
Ja, wenn sie nicht zu Cressy geflüchtet wäre, als sich die Nachricht von ihrer Scheidung herumsprach. Aber damals hatte sie es für sinnvoll gehalten. Nicht zuletzt, weil sie insgeheim wirklich befürchtet hatte, Nick könnte es sich anders überlegen und zu ihr zurückkehren. Sie hatte ihrem Glück noch nicht recht getraut.
Bei ihrem zweiten Besuch bei Cressy hatte sie auch Graham kennengelernt und sich davon überzeugt, dass die beiden ideal zusammenpassten. Der Anblick der glücklichen Freunde hatte sie ein bisschen traurig gestimmt. Doch sie hatte den kleinen Anflug von Neid rasch überwunden.
Nach ihrer Rückkehr war Fern einige Male in Bristol gewesen. Sie hatte sich nach den Kursen erkundigt und sich nach einer Wohnmöglichkeit sowie einer Teilzeitarbeit umgesehen.
Auf Cressys Drängen hatte sie allen Mut zusammengenommen und war auch zum Sozialwerk gegangen. Zu ihrer Freude war man dort sehr aufgeschlossen gewesen und hatte ihr einige gute Ratschläge über die erforderliche Ausbildung gegeben, um später angestellt werden zu können.
Zuerst hatte es ein bisschen wehgetan, dass viele Leute, die sie, wenn nicht als Freunde, so doch als gute Bekannte betrachtet hatte, sie plötzlich mieden.
Natürlich gab es Ausnahmen, zu denen auch Roberta gehörte. Doch selbst in deren Verhalten hatte Fern eine Veränderung bemerkt, ein leichtes Zögern und den eindeutigen Versuch, jede Anspielung auf Nicks Ehebruch und sein Verhältnis mit Venice zu vermeiden.
Fern nahm es ihr nicht übel. Was sollte sie Roberta antworten, falls die Arztfrau das Thema anschnitt? Dass sie schon vorher entschlossen gewesen wäre, die Ehe mit Nick zu beenden? Würde Roberta ihr das glauben?
Wahrscheinlich nicht. Trotzdem verletzte es Ferns Stolz, dass sie der Gegenstand von so viel Neugier und gut gemeintem Mitleid war.
„Sehen wir uns heute Abend bei der Anhörung über Broughton House?“, erkundigte Roberta sich.
„Was für eine Anhörung?“, fragte Fern verblüfft.
„Es stand letzte Woche in der Zeitung … Sie müssten es eigentlich gelesen haben“, sagte die Arztfrau. „Ach nein, Sie waren ja verreist. Das hatte ich einen Moment vergessen. Es war ein sehr interessanter, informativer Artikel. Der Verfasser wies darauf hin, was die Stadt verlieren würde, wenn der Bauausschuss das Vorhaben genehmigte. Ich hatte gar nicht gewusst, dass die Pläne für die Gärten von Gertrude Jekyll stammen. Auch nicht, dass sich eine Gesellschaft speziell um die Erhaltung ihrer Werke bemüht. Ich …“
„Nur ein Teil der Gärten stammt von Gertrude Jekyll“, unterbrach Fern die Arztfrau. Irgendetwas machte sie stutzig. Doch sie kam nicht darauf, was es war.
„Ach ja? Nun, trotzdem … Tatsache ist, dass Städte wie unsere immer weiter zerstört und ausgehöhlt werden. Vor unserer Nase reißt man Häuser und Gebäude von historischem Wert ab, und bis die Ersten von uns erkannt haben, was geschieht, ist es meistens zu spät. Manchmal sind es dieselben Leute, die unser Erbe eigentlich schützen sollten, die …“ Sie sprach nicht weiter. „Unsere Ratsherren sind nicht immer in der Lage, ihre privaten Interessen von den öffentlichen Verpflichtungen zu trennen. Vor allem nicht in wirtschaftlich schwachen Zeiten wie diesen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass jemand bei der Aussicht auf einen großen lukrativen Vertrag seine Verantwortung gegenüber denjenigen vergisst, die ihn gewählt haben.“
Roberta sprach jetzt ziemlich schnell, und ihre Stimme klang beinahe trotzig.
Plötzlich merkte Fern, worauf die Arztfrau anspielte.
„Sie sprechen von Adam, nicht wahr?“, unterbrach sie Roberta. „Von Adam und dem Konsortium, das den Supermarkt plant.“
„Nun, Sie müssen zugeben, dass das alles ziemlich merkwürdig ist“, erklärte Roberta kühl. „Adam weiß garantiert, was in der Stadt geredet wird. Aber er tut nichts, um das Gerücht zu widerlegen, er wäre in den Plan verwickelt, Broughton House in einen Einkaufspark zu verwandeln. Persönlich bin ich der Meinung, dass der Schreiber den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Sein Name wurde übrigens nicht erwähnt. Im letzten Absatz lud er alle, die gegen die Genehmigung durch den Bauausschuss und für die Erhaltung des Hauses und der Gärten als historischen Teil unserer Stadt sind, für heute Abend zu einer Versammlung ins Rathaus ein. Sie mögen das Haus doch sehr, Fern. Wollen Sie nicht ebenfalls kommen?“
„Vielleicht“, antwortete Fern unverbindlich. Sie wollte noch nicht bekannt geben, dass sie die Stadt bald verlassen würde. Roberta hatte recht: Sie mochte Broughton House und seine Gärten sehr. Eigentlich hätte sie erfreut sein müssen, dass die Bürger etwas unternehmen wollten, um beides zu erhalten.
Und weshalb war sie es nicht? Lag es daran, dass Adam etwas damit zu tun hatte?
Nachdenklich verabschiedete Fern sich von Roberta und ging weiter.
Adam war einer der beliebtesten und bekanntesten Ratsherren der Stadt, sicher auch einer der vertrauenswürdigsten. Trotzdem stellten sogar Leute wie die Arztfrau, die ihn gut kannte, seine Ehrenhaftigkeit infrage. Und alles wegen eines anonymen Artikels in der Lokalzeitung.
Vielleicht sollte ich tatsächlich zu dieser Versammlung gehen, überlegte Fern.
Plötzlich erstarrte sie, denn sie entdeckte Adam auf der anderen Seite. Er wollte die Straße gerade überqueren.
Die Zeit schien stehen zu bleiben, und ein eisiger Schauer durchrieselte ihre Adern. Adam zögerte einen Moment und vergewisserte sich, ob die Straße frei war. Seine Haut war immer noch gebräunt von dem Urlaub mit Lily und deren Eltern in der Toskana.
Fern stand stocksteif da und konnte sich nicht rühren. Erst als Adam sie entdeckte und auf sie zukam, löste sich der Schock.
Panik erfüllte sie, und sie rannte mit gesenktem Kopf in die entgegengesetzte Richtung. Ihre Muskeln verkrampften sich, und ihr Herz raste so wild, dass sie es tief in der Brust hämmern fühlte.
Während ihr eben noch eiskalt gewesen war, schwitzte sie jetzt entsetzlich. Ihr Körper war schweißgebadet. Ihre Beine zitterten, und ihre Augen waren beinahe blind von den Tränen, die darin brannten.
Adam rief ihren Namen. Sie merkte, dass die Leute sie beobachteten. Doch sie hatte nur den Wunsch zu fliehen.
Ein großer Mann mittleren Alters in einem dunklen Anzug wich ihr aus und rief: „Adam! Ich war gerade auf dem Weg zu Ihrem Büro!“
Erschöpft lehnte Fern sich an ihre Wagentür. Sie brauchte nicht weiterzuflüchten, Adam verfolgte sie nicht mehr.
Erst jetzt, nachdem sie wieder klar denken konnte, wurde ihr bewusst, wie dumm sie sich verhalten hatte.
Es war schon schlimm genug, dass sie Angst hatte, mit Adam zusammenzutreffen, sein Mitleid zu hören und zu wissen, dass seine Worte keine persönliche Bedeutung hatten. Adam wäre jedem gegenüber höflich und besorgt gewesen. Absolut unverzeihlich war es jedoch, derart den Kopf zu verlieren, dass sich die Leute fragen mussten, was sie so verstört hatte. Und nicht nur die Leute, auch Adam.
Ihr Körper schmerzte entsetzlich. Wie war es möglich, dass allein der Anblick von Adam solch eine Sehnsucht und solch ein Verlangen in ihr auslöste?
Fern lächelte grimmig. Dafür brauchte sie Adam nicht einmal anzusehen. Schon der Gedanke an ihn genügte.
Das ist vorbei, ermahnte sie sich heftig. Ein neues Leben wartete auf sie.
Fern kam ziemlich spät zu der Versammlung im Rathaus. Sie hatte sich nicht entscheiden können, ob sie gehen sollte oder nicht.
Am Ende hatte der winzige Zweifel, den sie schon bei dem Gespräch mit Roberta gespürt hatte, den Ausschlag gegeben. Außerdem war sie neugierig, wer sich hinter dem Verfasser des Zeitungsartikels verbarg, der solch ein Interesse erregt hatte. Offensichtlich gab er die Ansicht der Mehrheit der Einwohner wieder. Viele glaubten, dass nicht alle, von denen man es erwarten sollte, stets im Sinne ihrer Wähler handelten.
Der Schreiber war sehr klug vorgegangen. Er hatte genau den Nerv getroffen und all jene Zweifel und Verdächtigungen aufgegriffen, die sonst nicht öffentlich ausgesprochen wurden. Er kannte die dunklere Seite der Menschen und machte sie sich zunutze.
Fern hatte das dumpfe Gefühl, dass hinter der heutigen Veranstaltung weit mehr steckte als die Frage nach der Zukunft von Broughton House.
Der Rathaussaal war längst gefüllt, als sie eintraf. Nur hinten befanden sich noch einige Stehplätze. Das war ein weiteres Anzeichen dafür, wie geschickt die öffentliche Meinung und Neugier geschürt worden waren.
Eine Stunde später wusste Fern, weshalb sie solch ein seltsames Gefühl gehabt hatte. Es war ein richtiger Schock gewesen, als Nick plötzlich das Podium betrat und die Anwesenden begrüßte. Noch mehr hatte der Inhalt seiner Rede sie verblüfft.
Der leidenschaftliche Wunsch, ein so bedeutendes historisches Erbe wie Broughton House zu bewahren, und die geschickt vorgetragene Frage, wie weit man den offiziellen Vertretern des Ortes noch trauen durfte, deren Aufgabe, die Umwelt zu schützen, manchmal den eigenen Interessen zuwiderliefe, passten absolut nicht zu Nicks Denkweise.
Jemand anderer hatte ihm diese Worte, diese Ideale, diese moralische Auffassung in den Mund gelegt. Aber wer?
Was Nick mit seiner Ansprache beabsichtigte, war klar. Zwar erwähnte er Adam nicht namentlich. Trotzdem wussten alle, wessen Ehrenhaftigkeit er infrage stellte. Und er erhielt erheblich mehr Zustimmung, als Fern erwartet harte.
Das ist nicht zuletzt meine Schuld, erkannte sie. Sie hatte Venice beiläufig von den Originalplänen der Gertrude Jekyll erzählt. Außerdem hatte sie selber an Adam gezweifelt. Doch während sie Nick zuhörte und die Gesichter der um sie herum Versammelten beobachtete, erkannte sie, dass sie Adam unrecht getan hatte. Gleichgültig, was er mit Broughton House vorhatte, es konnte nichts Unehrenhaftes sein.
Mutlos schlüpfte Fern aus dem Saal, bevor die Veranstaltung zu Ende war.
Nick war heute Abend ein überzeugender Redner gewesen. Selbst wenn sie das Podium betreten und allen erzählt hätte, wie sehr Nick seinen Halbbruder verabscheute, wie viel Missgunst und Bosheit er schon gesät hätte, kaum einer hätte ihr geglaubt.
Adam stand in der Nähe der Tür und sah Fern weggehen. Er war ebenfalls zu spät gekommen, weil die Besprechung mit Clive sehr lange gedauert hatte.
Es war ein erheblicher Schock für ihn gewesen, als er bei seiner Rückkehr von einer Dienstreise nach Gloucestershire das Gerücht von Ferns Scheidung gehört hatte. Er konnte sich vorstellen, wie es in ihr aussah.
Liebte sie ihren Mann immer noch, nachdem Nick sie verlassen hatte und sie demütigte, indem er offen mit einer anderen Frau zusammenlebte? Wahrscheinlich. Das passte zu ihr.
Ob sie gehört hatte, was die Leute über sie redeten? Nick, behaupteten sie, hätte sich größte Mühe gegeben, eine gute Ehe zu führen. Doch Fern wäre kühl, ja frigide geblieben. Mehr an dem Haushalt als an ihrem Mann interessiert, hatte einer gemeint.
War Venice für diesen Klatsch verantwortlich, wie sie zweifellos auch hinter Nicks neuester Verwandlung in einen besorgten Umweltspezialisten und leidenschaftlichen Denkmalschützer steckte?
Nicks nicht gerade feinfühliger Angriff war Adam natürlich nicht entgangen. Doch er machte sich deshalb keine Sorgen. Er hatte sein Amt nie als ein Privileg betrachtet, das er für private Zwecke missbrauchen konnte, sondern als seine Bürgerpflicht. Wenn die Leute ihn nicht im Rat wollten, würde er eben zurücktreten. In einen öffentlichen Streit mit Nick, auf den sein Stiefbruder vermutlich hoffte, würde er sich gewiss nicht einlassen.
Angesichts seiner wachsenden Arbeit als Architekt fiel es ihm ohnehin zunehmend schwerer, Zeit für alles zu haben, was er gern tun wollte.
Die Ferien mit der Familie James letzten Monat in Italien hatte er sich im Grunde zeitlich gar nicht leisten können. Doch Lilys Vater wollte eine zweite Villa auf dem Grundstück bauen, das er in der Toskana besaß, und hatte ihn um Rat gebeten. Falls etwas daraus wurde, konnte sich das Honorar für den Bau sehen lassen.
Auch für das Projekt, Broughton House in ein Hotelrestaurant zu verwandeln, hätte er gutes Geld bekommen. Doch er hatte Clive heute mitgeteilt, dass er einen so weitreichenden Umbau moralisch nicht verantworten könnte. Eindringlich hatte er dem Mann abgeraten, bei dem Verkauf des Landsitzes mitzubieten. Das Objekt konnte nutzlos für Clive werden, falls er die notwendige Baugenehmigung nicht erhielt.
Clive hatte ihm für seine Aufrichtigkeit gedankt und ihm gestanden, dass er angesichts der wirtschaftlichen Lage selber Bedenken bekommen hätte. Sie hatten sich in aller Freundschaft getrennt.
Während Nick seine Rede beendete, dachte Adam wieder an Fern. Sie hatte so bedrückt ausgesehen, als sie ging, so einsam und verlassen. Niemand war auf den Gedanken gekommen, sie zu begleiten. Sie durfte in diesem Zustand nicht allein sein. Er wusste, wie verletzlich sie war. Natürlich würde sie seinen Trost nicht wollen und hätte wahrscheinlich Angst, dass er – dass sich wiederholen könnte, was …
Trotzdem ertrug Adam den Gedanken nicht, dass Fern jetzt allein in jenem Haus war, in dem sie mit seinem nichtswürdigen Stiefbruder gelebt und trotz gegenteiliger Beweise geglaubt hatte, dass Nick sie liebte.
Oder hatte sie die Wahrheit gewusst und beschlossen, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen? Hatte sie gehofft, dass ihre Liebe ausreichen würde, um die Ehe aufrechtzuerhalten?
Leise ging Adam hinaus. Sein Wagen stand nicht weit entfernt.
Fern öffnete automatisch die Tür, als es läutete. Sie war zu verblüfft, als sie Adam auf der Schwelle entdeckte, um ihn aufzuhalten.
„Ich sah, dass du die Versammlung frühzeitig verlassen hast, und wollte mich erkundigen, ob es dir gut geht. Du solltest hier nicht allein sein“, sagte er leise und sah sich in der schattigen Diele um. „Ich kann mir denken, wie es in dir aussieht und wie verletzt du bist. Dass du heute Abend zu dieser Versammlung gekommen bist … Begreifst du nicht, dass Nick nicht …“
Plötzlich reichte es Fern. Sie wollte Adams Mitleid nicht. Er sollte nicht wie die anderen glauben, dass sie Nicks Auszug bedauerte und nichts mehr wünschte, als dass er zu ihr zurückkehrte.
„Dass Nick was nicht?“, fragte sie heftig. „Dass er mich nicht will, dass er mich nicht liebt, dass er Venices Bett und ihre zweifellos vorhandenen Künste meinem eindeutigen Mangel daran vorzieht?“ Ihre Augen blitzten vor Zorn. „Natürlich habe ich es begriffen, Adam. Das und noch vieles mehr. Zum Beispiel die Tatsache, dass Nick schwach, eitel und leicht zu manipulieren ist … Dass er mich geheiratet hat, obwohl er mich nicht liebte, und mich selbst in diesem Punkt belog. Ich weiß, dass Venice und er mich zum Gegenstand öffentlicher Neugier und allgemeinen Spotts gemacht haben. Ich bin jemand, der lieber die Haushälterin spielt, als eine Ehefrau – eine Frau – zu sein. Oh ja, ich habe diesen Klatsch gehört, Adam. Aber es macht mir nichts mehr aus. Ebenso wie Nick mir gleichgültig geworden ist.“
„Soll das heißen, du liebst ihn nicht mehr?“
Es war unübersehbar, dass Adam ihr nicht glaubte. Unübersehbar und demütigend.
„Meinst du, das könnte ich noch? Irgendeine Frau in meiner Lage könnte es? Glaubst du, ich hätte so wenig Selbstachtung? Ich habe Nick nie geliebt.“
Es war eine ungeheure Erleichterung, die Worte auszusprechen. Endlich konnte Fern das Etikett abstreifen, zu empfindlich und zu verschüchtert zu sein, um der Wahrheit über ihre Ehe ins Auge zu schauen.
Adam starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. „Das ist nicht dein Ernst, Fern.“
Seine Stimme klang heiser, ja barsch. Zorn und Ablehnung waren darin zu erkennen. Fern straffte sich unwillkürlich, als er plötzlich ihre Oberarme packte. „Das ist nicht dein Ernst“, wiederholte er scharf.
Fern ließ sich nicht einschüchtern. Was ging es Adam an, ob sie je etwas für Nick empfunden hatte? Nicht mehr lange, und sie würde aus dem Leben beider Männer verschwunden sein. Sie hatte keinen Grund mehr, die Täuschung länger aufrechtzuerhalten.
Stolz hob sie den Kopf, stemmte sich zurück und sah Adam an. „Es ist mir ernst. Ich habe Nick nie geliebt. Weder vor noch während unserer Ehe – niemals.“
Während sie sprach, verlor ihre Stimme alles Trotzige und wurde ausdruckslos. Plötzlich konnte Fern Adam nicht mehr ins Gesicht sehen.
„Ich habe Nick geheiratet, weil er es wollte. Weil er sagte, dass er mich brauchte – dass er mich liebte. Aus demselben Grund bin ich mit ihm verheiratet geblieben. Und weil ich es für meine Pflicht hielt, nicht zuletzt gegenüber meinen Eltern und meiner Erziehung. Ich hatte wohl vergessen oder nie gewusst, dass ich zuerst an mich hätte denken sollen. Dann wäre Nick und mir eine Menge Kummer erspart geblieben. Wenn du es genau wissen willst“, fuhr sie fort, bevor sie den Mut dazu verlor: „Ich hatte Nick bereits gesagt, dass ich mich von ihm trennen würde, bevor er mich wegen Venice verließ. Natürlich wirst du mir das nicht glauben“, fügte sie erschöpft hinzu. „Weshalb solltest du? Wir wissen beide, dass du im tiefsten Herzen lieber annehmen würdest, dass ich Nick geliebt hätte.“
Schweigend machte sie sich von Adam los. Sie war unendlich erschöpft. Nicht nur von dem, was sie gerade hinter sich hatte, sondern auch von den Spannungen und dem Druck der letzten Wochen.
„Ja, du hast recht. Das würde ich lieber“, stimmte Adam ihr mit schwerer Stimme zu.
Fern hatte es natürlich die ganze Zeil gewusst. Aber es ausgesprochen zu hören, tat stärker weh, als sie vermutet hatte. Sie hatte angenommen, dass sie inzwischen gegen diesen Schmerz immun wäre – längst darüber hinweg. Doch jetzt merkte sie, dass sie sich geirrt hatte. Unwillkürlich stöhnte sie auf. Der Laut drang durch die Stille und erfüllte die Diele mit einer solchen Spannung, dass sie kaum noch Luft bekam.
Sie trat einen Schritt zurück auf die Schwelle ihres Wohnzimmers und hielt sich taumelnd am Türrahmen fest.
Sie erstarrte, weil Adam nach ihr griff. Er hielt sie viel zu fest und viel zu nahe an seinem Körper. Ihr Herz begann wie wild zu rasen, und sie schloss die Augen, um sein Gesicht nicht sehen zu müssen.
Fern roch den erschreckend vertrauten Moschusduft seiner Haut und wagte kaum zu atmen, weil sie wusste, welche Wirkung dies auf sie haben würde.
„Lass mich los!“, forderte sie Adam fieberhaft auf.
Zu ihrer Verwunderung erfüllte er ihre Bitte nicht. Stattdessen antwortete er mit belegter Stimme: „Nein … Ich habe dich schon zweimal aus meinen Armen gelassen und zugesehen, wie du weggegangen und zu Nick zurückgekehrt bist, Fern. Zum dritten Mal passiert mir das nicht.“
Fern öffnete die Augen und sah Adam an. Sie bemerkte den Ausdruck in seinem Gesicht und begann zu zittern. Leise wollte sie seinen Namen sagen. Doch Adam nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände, senkte den Kopf und strich mit den Lippen federleicht über ihren Mund.
Natürlich war das alles nicht wahr. Adam konnte sie unmöglich mit solch einer Liebe, solch einem Begehren und solch einem unendlichen Bedauern ansehen. Ebenso undenkbar war es, dass er sie jetzt in den Armen hielt, sie küsste und an ihren Lippen flüsterte, wie sehr er sie liebte, begehrte und sich nach ihr sehnte.
Benommen berührte Fern sein Gesicht, fühlte den rasenden Puls an seinem Hals und schob die Hände in sein dichtes kräftiges Haar. Gewiss bildete sie sich alles nur ein.
Adam begann zu zittern, und sein Körper wurde fest. Ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte Fern.
„Adam … Adam.“ Ohne es zu merken, wiederholte sie immer wieder liebevoll seinen Namen.
Adam reagierte sofort. Er versicherte ihr, wie sehr er sich die ganze Zeit nach diesem Augenblick gesehnt hätte. Mit den Lippen liebkoste er ihr Kinn und ihre Ohren, und Fern schmiegte sich instinktiv enger an ihn und wollte mehr als nur die Nähe seiner bekleideten Haut.
„Weshalb … Weshalb hast du es mir nicht schon viel früher gesagt?“, fragte er zwischen seinen Küssen. „Du wusstest doch, was ich für dich empfinde … Wie sehr ich dich liebe.“
Fern erstarrte. Sie lehnte sich zurück, sah Adam in die Augen und erkannte, dass er die Wahrheit sprach.
„Nein, nein!“, antwortete sie mit bebender Stimme. „Das wusste ich nicht. Ich dachte, ich hätte dir nur leidgetan. Nick hatte mir einmal erzählt, dass du – dass ich deiner Ansicht nach viel zu naiv wäre, um dich sexuell zu erregen.“
„Und du hast ihm geglaubt? Meine Güte, Fern. Hast du es nicht gemerkt? Habe ich es dir nicht gezeigt?“
„Ich glaubte, es wäre einfach – männliche Lust gewesen. Ich hätte dir leidgetan.“
„Und ich nahm an, du wärst nur zu mir gekommen, weil Nick dich betrogen hatte. Du hattest mich in dem Glauben gelassen, dass du ihn immer noch liebtest.“
„Weil ich verhindern wollte, dass du ein schlechtes Gewissen bekämst – oder das Gefühl hättest, mir etwas schuldig zu sein. Ich hatte Nick damals schon verlassen wollen, aber er ließ mich nicht gehen. Und ich hatte Angst, dass du glauben würdest …“ Fern schüttelte den Kopf und war für einen Moment zu aufgewühlt, um weiterzusprechen. „Ich dachte, du hättest gemerkt, was in mir vorging“, sagte sie hilflos. „Nachdem ich derart …“ Sie ballte die Fäuste und wandte sich ab. „Schließlich war ich diejenige gewesen, die darauf bestanden hatte … Ich habe dich angefleht und dich gezwungen …“
„Glaubst du das wirklich?“, fragte Adam so verblüfft, dass Fern ihn wieder ansehen musste. „Oh Fern, Fern … Ich begehrte und liebte dich so sehr, dass … Selbst wenn du mich nicht berührt hättest, hätte ich mit dir geschlafen. Hast du eine Vorstellung davon, wie sehr die Erinnerung an jenen Nachmittag mich die ganze Zeit gequält hat? Nicht nur mit Schuldgefühlen oder schlechtem Gewissen, auch mit Lust und Verlangen, mit Liebe, Begehren und tausend weiteren Gefühlen, die ich beim besten Willen nicht beschreiben kann.“
„Liebe mich jetzt, Adam“, flüsterte Fern mit bebender Stimme. Sie spürte seine Spannung und sah zu ihm auf.
„Nicht hier“, antwortete Adam entschlossen. „Auf keinen Fall hier. Komm mit zu mir.“
Er streckte die Hand nach ihr aus, und sie legte ihre hinein.
„Wir fangen wieder ganz von vorn an“, sagte Adam leise, während er Fern die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinaufführte. „Bei jener Liebe, die uns verbunden hätte, wenn Nick nicht zwischen uns gekommen wäre. Er sagte mir, es wäre dir peinlich, selber mit mir zu sprechen … Du fändest mich zu alt und zu langweilig.“
Er schob die Tür auf, zog Fern in die Arme und küsste sie zärtlich.
„Oh Adam, das ist nicht wahr. Ich liebte dich schon damals. Aber ich war zu schüchtern, zu unreif und unwissend. Ich dachte, du wärst nur nett zu mir. Nicht im Traum …“
„Pst“, machte er leise. „Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Nichts von den schlimmen Dingen, die inzwischen geschehen sind, ist noch wichtig. Aber eines sollst du wissen, Fern: Die Zeit, die Stunden, die ich mit dir verbracht habe, gehören zu den kostbarsten meines Lebens. Die Erinnerung daran hat mich davon abgehalten, mich mit dem Zweitbesten zufriedenzugeben.“
Fern weinte, während Adam sie küsste und zu seinem Bett führte.
Das Schlafzimmer lag in sanftem Dämmerlicht. Das Bett war groß und bequem und bestand aus altem, poliertem Eichenholz. Der Duft von Adams Haut haftete noch an den frischen weißen Laken.
Regungslos lag Fern da, beobachtete Adam und genoss die intime Nähe. Eine ungeheure Freude erfüllte sie bei dem Gedanken, dass Adam sie liebte. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Zärtlich berührte sie sein Gesicht und ließ ihn stumm wissen, wie sehr sie ihn begehrte.
Adam verstand sofort. Er nahm ihre Hand, küsste die Innenseite und zog sich rasch aus.
Fern sah ihm fasziniert zu und hatte immer noch das verwirrende Gefühl, alles wäre nicht wahr. Adam könnte ihr noch entrissen werden.
Sie hatte geglaubt, sich an jede Sekunde ihrer ersten Liebe zu erinnern, an jeden Winkel seines Körpers, jeden Muskel und jede Sehne. In Wirklichkeit war Adam noch viel, viel männlicher. Fern spürte, dass ihr Körper sich unwillkürlich straffte angesichts seiner überwältigenden sexuellen Ausstrahlungskraft.
Plötzlich wollte sie so schnell wie möglich die eigenen Kleider abstreifen und fasste nach dem ersten Knopf ihrer Bluse. Doch Adam beugte sich über sie und hielt ihre Hände zärtlich fest.
„Nein“, antwortete er leise. „Wir wollten ganz von vorn anfangen. Erinnerst du dich?“
Später schmiegte sie sich an ihn und zitterte von der ungewohnten Lust. Adam liebkoste zärtlich die sanften Rundungen ihrer Brüste und schloss die Lippen über der rosigen Knospe. Sie legte den Kopf an sein dichtes Haar und stöhnte sinnlich, während seine liebevollen Küsse in rhythmisches Saugen übergingen. Sie bog den Rücken durch, und ihr Körper begann zu beben angesichts des Anschlags auf ihre Sinne, der von seinem Mund ausging. Der lustvolle Schauer erfasste ihren ganzen Körper, bis sie es vor Verlangen kaum noch aushielt.
Adam schien genau zu spüren, was sie brauchte. Er wusste stets, was sie empfand und wonach sie sich sehnte.
Fern lag nackt neben ihm und wurde von Gefühlen überwältigt, die sie bisher nie gekannt hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfuhr sie, wie es war, geliebt zu werden.
Adam beugte sich über sie und küsste langsam ihren ganzen Körper. Seine Hand lag locker auf dem Zentrum ihrer Weiblichkeit. Wollte er Rücksicht auf ihre Scham nehmen? Das war eigentlich nicht nötig. Wäre sie allerdings noch das junge Mädchen von damals gewesen …
„Oh Adam …“ Überwältigt von der Heftigkeit der eigenen Erregung und den unzähligen Gefühlen, die sie durchströmten, streichelte Fern zärtlich seinen Kopf.
Adam nahm seine Hand fort und begann, langsam mit dem Mund die Innenseite ihres Schenkels zu liebkosen. Ihr ganzer Körper bebte – der Körper einer Frau, nicht der eines jungen Mädchens, denn Fern war sich der eigenen Sexualität und Erregung aufs Höchste bewusst.
Tränen brannten in ihren Augen, während sie durch eine Welle der Lust Adams Zärtlichkeit und Fürsorge erkannte und seine beinahe ehrfürchtigen Liebkosungen genoss.
Sie spürte seine Beherrschung ebenso wie sein Begehren, seine Liebe und seine Achtung, aber auch sein männliches Verlangen, sie in Besitz zu nehmen, sie ganz auszufüllen und sich neu in ihr entstehen zu lassen.
„Adam!“, schrie sie vor ängstlichem Verlangen auf, als sie seine heißen Lippen fühlte, und überließ sich der verheißungsvollen Lust. „Jetzt, Adam, bitte jetzt“, flehte sie heiser vor Erwartung und krallte die Finger in sein Haar.
„Nein … Nein, das nicht“, bat sie leidenschaftlich, als er immer besitzergreifender das Zentrum ihrer Weiblichkeit liebkoste. „Dich will ich, Adam … ganz in mir.“
Hin und her gerissen zwischen Ungeduld und Erregung erstarrte sie plötzlich, als Adam die Lippen von ihrer Haut löste, um ihre Bitte zu erfüllen.
Später würde sie ihm dieselbe Lust bereiten. Sie würde seinen Körper mit den Lippen liebkosen und seine Haut mit kleinen liebevollen Schlägen ihrer Zunge erregen. Sie würde Adam auf ihre besondere Weise zeigen, wie sie ihn liebte, und ihn dabei ebenso vollständig kennenlernen wie er sie.
Später, aber nicht jetzt. Im Moment sehnte sich ihr ungeduldiger Körper nur danach, von Adam in Besitz genommen zu werden. Alle ihre Sinne verlangten, dass sie sich endlich voll und ganz dem urältesten Bedürfnis aller Frauen überließ und sich dem geliebten Mann restlos hingab.
Das Bedürfnis, Adam tief in sich zu spüren, ganz und gar die Seine zu werden und zu wissen, dass er einzig und allein ihr gehörte, dass sie wirklich völlig eins waren und jeden Gedanken, jedes Gefühl, jeden Atemzug und jeden Herzschlag teilten, überwältigte sie zutiefst.
Das ist also jenes geheimnisvolle, berauschende, beinahe ehrfürchtige Gefühl, einen Menschen aufrichtig zu lieben und von ihm geliebt zu werden, überlegte Fern benommen. Ekstatisch schrie sie auf und klammerte sich an ihn. Zeit und Raum spielten keine Rolle mehr, während sie sich von dem unerträglichen Strudel der Lust davonreißen ließ.
Später, als sie etwas ruhiger geworden war, errötete sie ein wenig bei der Erkenntnis, dass sie sich Adam nicht nur körperlich, sondern auch seelisch absolut überlassen hatte.
Hatte sie wirklich gerufen, sie könnte jeden Moment sterben, weil das Gefühl, Adam in sich zu spüren, so wunderbar war? Hatten seine Liebkosungen, seine Hitze und sein Geruch sie derart erregt, dass sie seinen Namen am liebsten in alle Welt hinausgeschrien hätte?
Hatte sie ihr drängendes Verlangen, in seinen Rhythmus einzufallen, tatsächlich nicht mehr kontrollieren können und die Nägel tief in die glatte Haut seines Rückens gekrallt?
Fern blickte an Adams Körper hinab und bemerkte die Male, die sie auf seinen Pobacken hinterlassen hatte.
Adam zog sie wieder an sich und strich ihr das feuchte Haar aus dem Gesicht. Er küsste sie zärtlich und sah sie besorgt an. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er. „Ich habe dir doch nicht wehgetan?“
Fern schüttelte den Kopf. Sie legte die Fingerspitze auf seinen Mund, zog seine Lippen nach und streifte auch die letzte Befangenheit ab. „Nein, ich wollte es so. Ich brauchte es so. Es war so befreiend – so notwendig.“
Adams und ihre Leidenschaft und die Art und Weise, wie er sie in Besitz genommen hatte und sie sich ihm hatte hingeben können, fegten die Erinnerungen an Nicks armselige Liebkosungen oder das, was er dafür gehalten hatte, davon. Sie hatten keinen Platz mehr in ihrem Leben und konnten sie nicht mehr quälen.
„Ich liebe dich, Fern“, sagte Adam aus vollem Herzen. „Sobald es rechtlich möglich ist, sollten wir heiraten. Ich möchte dein Ehemann, dein Liebhaber, dein Freund und der Vater deiner Kinder sein. Ich möchte all das mit dir teilen, was wir schon vor Jahren hätten teilen können, wenn ich nicht solch ein Dummkopf gewesen wäre und Nick nicht …“
„Pst“, Fern schüttelte den Kopf. „Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich bin genauso schuld daran. Cressy musste mir erst die Augen öffnen … Oh Adam, ich wage immer noch nicht zu glauben, was passiert ist.“
„Du kannst es ruhig glauben“, versicherte er ihr und fügte heiser hinzu: „Eines ist sicher: Nachdem ich dich endlich habe, werde ich dich nie wieder gehen lassen.“
„Nick wird das nicht gefallen“, meinte Fern und zitterte ein wenig. Wusste Adam, wie stark ihn sein Stiefbruder verabscheute?
„Er möchte dich vernichten, Adam. All dieses Getue um Broughton House …“
„Broughton House ist durch mich nicht gefährdet“, antwortete Adam. „Das angebliche Konsortium, das alles abreißen und das Gelände in einen Einkaufspark verwandeln möchte, besteht nur in Nicks Fantasie.“
„Ich wünschte, jemand würde das Gebäude kaufen und in ein richtiges Wohnhaus zurückverwandeln. So wie es früher gewesen sein muss.“
„Es ist viel zu groß für die meisten Familien von heute“, meinte Adam lächelnd. „Obwohl …“
„Obwohl was?“, fragte Fern. Sie setzte sich halb auf und sah ihm in die Augen, denn sie hatte den nachdenklichen Ton in seiner Stimme bemerkt.
„Mir ist gerade etwas eingefallen“, antwortete er.
Er betrachtete ihren nackten Körper, ihre vollen, vor Schweiß glänzenden Brüste, die sanfte Rundung ihres Bauches und die feuchten einladenden Locken.
„Hm … Wenn ich es genau bedenke, bringst du mich sogar auf mehr als einen Gedanken“, erklärte er aufreizend.
Fern lachte leise. Sie fühlte sich so wohl bei Adam, als wären sie schon jahrelang intim zusammen. Andererseits erregte er sie so rasch, als wäre sie noch ein junges Mädchen und hätte sich gerade erst leidenschaftlich in ihn verliebt.
„Erzähl mir erst von Broughton House“, forderte sie Adam auf. Zwischen den Küssen tat er ihr den Gefallen. „Du meinst, die Stadt sollte es kaufen und in ein Jugendgefängnis verwandeln?“
„Nicht ganz. Ich dachte eher an eine Zwischenstufe, wo die jungen Straftäter Zeit und Gelegenheit bekommen, ihrem Leben einen anderen Sinn zu geben.“
„Das ist eine großartige Idee“, sagte Fern überzeugt und schmiegte sich zufrieden in seine Arme. „Aber es wird nicht einfach werden. Nick will dich aus dem Stadtrat vertreiben und …“
„Der Stadtrat ist mir egal“, antwortete Adam heftig. „Alles, was ich vom Leben erwarte, halte ich hier in meinen Armen. Du allein bist mir wichtig. Du, dein Glück und unser gemeinsames Leben.“
EPILOG
„Wo ist denn meine Enkelin?“
Zoe lachte über die enttäuschte Miene ihrer Mutter, die sich in dem kleinen sonnigen Wohnzimmer umsah.
„Ben ist mit Katie in den Park gegangen. Der neue Chefkoch übernimmt heute zum ersten Mal allein den Lunch. Ich glaube, er ist ganz froh, dass Ben weg ist.“
„Ja. Ich sah, wie voll das Restaurant war, als ich daran vorbeikam.“
„Wir haben Glück gehabt“, antwortete Zoe. „Ben hat genau die richtige Marktlücke gefunden. Den Restaurants, die von Geschäftsleuten mit einem dicken Spesenkonto leben, geht es zurzeit ziemlich schlecht. Wir bewirten hier draußen vor allem Leute aus dem Viertel und haben ziemlich viel zu tun. Natürlich müssen wir die Kosten niedrig halten und dürfen nicht vergessen, dass die Menschen heutzutage stärker auf ihr Geld achten. Ohne Clives Unterstützung hätten wir weder dieses Haus noch das Restaurant kaufen können. Keine Miete zahlen zu müssen, ist eine gewaltige Hilfe. Ich habe ein ziemlich schlechtes Gewissen, dass ich nicht noch mehr tun kann.“
„Du hast die Einrichtung entworfen und die gesamte Finanzierung überwacht.“
„Stimmt. Inzwischen kann ich auch schon wieder halbtags arbeiten, obwohl ich nur an der Kasse stehe. Ich möchte verhindern, dass Ben glaubt, ich brauchte ihn nicht mehr, seitdem Katie auf der Welt ist.“ Zoe lachte kläglich. „Wenn hier einer überflüssig ist, dann eher ich.“
„Ich habe dich gewarnt“, erinnerte die Mutter sie lächelnd. „Viele Männer verwandeln sich in liebevolle, besitzergreifende Daddys, nachdem sie eine Tochter bekommen haben. Es stimmt einfach nicht, dass sich alle einen Sohn wünschen. Wenn sie ehrlich sind, geben die meisten zu, dass es etwas ganz Besonderes ist, Vater einer Tochter zu sein.“
„Wie wäre es mit einer Wohnung über dem Restaurant?“, hatte Zoe vorgeschlagen, als Ben und sie zum ersten Mal über einen Umzug gesprochen hatten.
Ben hatte den Kopf geschüttelt. „Nein, in einer Wohnung kann man kein Kind ordentlich großziehen. Ich habe eine bessere Idee. Ein Stück weiter ist ein kleines Haus zu verkaufen. Es hat einen großen Garten und liegt genau gegenüber dem Park.“
„Können wir uns das denn leisten?“, hatte Zoe eingewandt. Sie hatte immer noch ein schlechtes Gewissen wegen des Babys. Obwohl Ben sich äußerlich erstaunlich schnell mit ihrer Schwangerschaft abgefunden hatte, fürchtete sie, dass es in seinem Innern anders aussah.
Die letzten Monate, während Ben mit der Modernisierung des Restaurants und den Umbauten des Hauses beschäftigt war, hatte sie sich immer wieder besorgt gefragt, was Ben trotz aller Liebe und Fürsorge tatsächlich empfand.
Manchmal hatte sie sich überwältigt von Schuldgefühlen auf dem Bett zusammengerollt und heiße Tränen geweint. Was sollte werden, wenn das Baby auf der Welt war und sich herausstellte, dass Ben es nicht lieben konnte?
Kinder brauchten die Liebe ihrer Eltern ebenso dringend wie die Luft zum Atmen und die Nahrung zum Gedeihen. Zoe wusste, dass Ben über ihr Schweigen besorgt war. Aber sie hatte ihm nicht erklären können, was in ihr vorging. Sie hatte ihm schon genug aufgebürdet.
„Ich werde die Nacht nie vergessen, in der du geboren wurdest“, sagte ihre Mutter jetzt. „Auch nicht die Nacht, in der Katie zur Welt kam. Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, Hals über Kopf nach Manchester zu reisen?“
„Das weiß ich selber nicht“, gab Zoe zu. „Ich hatte nie an die Möglichkeit gedacht, dass Katie zu früh geboren werden könnte. Ben hatte eine Menge zu tun. Deshalb bin ich einfach …“
Zoe konnte sich wirklich nicht erklären, weshalb sie an jenem Morgen plötzlich das Bedürfnis gehabt hatte, mit Bens Mutter über ihre Schuldgefühle und ihre Ängste zu reden. Da sie im achteinhalbten Monat schwanger war und rasch ermüdete, hatte sie den Zug genommen. Wegen einiger Reparaturen an den Geleisen hatte die Fahrt nach Manchester über vier Stunden gedauert. Die ziehenden Schmerzen im Rücken hatte sie auf die unbequeme Reise zurückgeführt.
Bens Mutter war ziemlich erstaunt über ihr Auftauchen gewesen, hatte sie aber herzlich willkommen geheißen. Anschließend hatte sie so schnell und kompetent die Fäden in die Hand genommen, dass Ben heute noch darüber staunte.
Ben war gerade noch rechtzeitig zur Geburt gekommen. Zoes Vater hatte ihn nach Manchester gefahren. Kreideweiß war er in den Kreißsaal gestürzt.
Zoe hatte nicht gemerkt, dass er sich an die verzweifelten Stunden mit seiner Schwester im selben Krankenhaus erinnerte. Sie hatte nichts von den Ängsten geahnt, die ihn nachts nicht schlafen ließen, weil er fürchtete, dass sich alles wiederholen könnte und er sein Kind und vielleicht auch Zoe verlieren würde.
Diese Erkenntnis war ihr erst später gekommen, als sie alle drei sicher zu Hause waren. Das Baby hatte friedlich in seiner Wiege geschlafen, und Zoe hatte im Bett gelegen. Energisch hatte sie darauf bestanden, dass sie absolut gesund wäre und Ben sie nicht wie eine Invalide zu behandeln brauchte. Eine Hühnerbrühe wollte sie auch nicht.
Sie hatten beide herzlich gelacht. Anschließend hatte Ben Katie unendlich vorsichtig aus der Wiege genommen und das Baby in den Armen gehalten.
In diesem Moment hatte Zoe die tiefe Liebe erkannt, die in seinem Gesicht leuchtete.
Ben hatte sich zu ihr gedreht und gemerkt, dass sie weinte. Rasch hatte er das Baby hingelegt und war mit besorgter Miene zu ihr gekommen.
„Was hast du, Zoe?“, hatte er gefragt, und sie hatte nicht allein seine Liebe hinter seinen besorgten Worten gespürt, sondern auch die Last der Verantwortung für das Wohlergehen derer, die ihm am nächsten standen.
„Ich habe nichts“, hatte sie ihm versichert. „Ich liebe dich nur so sehr.“
Inzwischen war ihre Sorge, sowohl die Mutter- als auch die Vaterrolle übernehmen zu müssen, längst verflogen. Ben hatte eine ausgezeichnete Beziehung zu seiner Tochter entwickelt.
So gern sie Mutter war, Zoe freute sich richtig auf die Zeit, in der Ben Katie übernahm. Sie genoss die Stunden im Restaurant, in denen sie ihren Teil zum Erfolg des Unternehmens beitragen konnte. Dies fiel ihr umso leichter, als sie kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, dass Katie dabei zu kurz kommen könnte.
„Bist du fit für dein Examen?“, fragte Zoe ihre Mutter jetzt.
„Ja. Aber dein Vater ist nur noch ein nervöses Wrack“, erklärte Heather lachend.
„Wie gefällt es dir, ihn so viel zu Hause zu haben, nachdem er jetzt Halbrentner ist?“, erkundigte Zoe sich.
„Langsam gewöhne ich mich an diesen Zustand. Erst war ich nicht sicher, ob es klappen würde“, gab die Mutter zu. „Nach all den Jahren, in denen ich stumm die Märtyrerin gespielt hatte, weil dein Vater so viel außer Haus war und wir so wenig Zeit füreinander hatten, war mir seine Anwesenheit manchmal richtig lästig.“
„Vater ist wirklich wahnsinnig stolz auf dich“, verriet Zoe. „Als er neulich hier war, prahlte er gegenüber Ben und mir, wie gut du in deinem Kurs wärest.“
Ihre Mutter lachte. „Ja, ich weiß. Er erzählt allen Leuten, dass er sich demnächst ganz aus dem Berufsleben zurückziehen will und mich stattdessen zur Arbeit schicken wird. Ich bin froh, dass du deine Arbeit behältst, Zoe. Mir war nicht klar gewesen, wie sehr ich die restlose Abhängigkeit von deinem Vater verabscheute. Nicht nur finanziell, auch emotional – in jeder Weise. Zu einer gesunden Beziehung gehört eine erhebliche Portion gegenseitigen Respekts. Kannst du dir vorstellen, dass wir jetzt abends manchmal lange aufbleiben und richtig miteinander reden?“ Sie schwieg einen Moment. „Es ist seltsam. In einer langjährigen Beziehung kommt der Moment, wo ein Gespräch erotischer sein kann als Sex.“
„Ja?“, fragte Zoe lachend. „Diesen Eindruck hatte ich letzten Sonntag nicht, als ich anrief und ihr beide noch im Bett wart. Erzähl mir nicht, dass ihr nur Zeitung gelesen habt.“ Die Haustür öffnete sich.
„Da kommt Ben“, sagte Zoe. Durch die offene Wohnzimmertür hörte sie das vergnügte Gurren ihrer Tochter.
„Hallo! Wir sind wieder da.“ Ben kam mit Katie auf den Armen herein.
Zoe sah den beiden entgegen und fragte sich, ob sie jemals aufhören würde, dem Schicksal dankbar dafür zu sein, dass es ihr dieses kostbare Geschenk gemacht hatte, wenn sie die beiden zusammen sah.
Während Heather die fröhlich krähende Katie auf den Arm nahm, fragte Ben Zoe lächelnd: „Na, hast du mich vermisst?“
„Dich vermisst? Du warst doch nur eine halbe Stunde weg“, antwortete Zoe entrüstet. Doch ihre Augen sagten etwas anderes.
„Deine Mutter hat angerufen“, erzählte sie. „Sharon hat ihr Examen bestanden und fabelhafte Noten bekommen. Die beiden möchten einige Tage nach London fahren, um den Erfolg zu feiern.“
„Hm … Das will ich ihr auch geraten haben angesichts der Kosten, die wir für den Nachhilfelehrer bezahlt haben“, meinte Ben.
Zoe kannte ihren Mann inzwischen besser. Sie war kein oberflächliches junges Mädchen mehr, das viel zu sehr mit den eigenen Bedürfnissen beschäftigt war, um über den Tellerrand hinauszuschauen. Sie wusste, wie sehr Ben sich für seine Schwester freute.
Niemand konnte Sharon den Schmerz über den Verlust ihres Babys abnehmen. Mit etwas Glück würde sie eines Tages vielleicht einen ebenso fürsorglichen Mann wie Ben finden und im Gegensatz zu ihr, Zoe, die nötige Reife besitzen, gleich seinen wahren Wert zu erkennen.
Zoe sah zu ihrer Mutter hinüber, die mit Katie spielte, und ihr Herz wurde weich vor Liebe. Plötzlich begann sie zu frösteln, denn sie erinnerte sich, wie nahe sie daran gewesen war, dieses wunderbare Geschenk für Ben und sich zurückzuweisen.
Sie sah ihren Mann an und merkte, dass er schon nervös darauf wartete, die Kleine wieder auf den Arm zu nehmen. Lächelnd meinte sie: „Wenn ich mir vorstelle, wie du dich erst anstellen wirst, wenn sie siebzehn ist …“
Ben grinste jungenhaft. „Ich werde mir Mühe geben, mich anständig zu benehmen“, antwortete er fröhlich.
„Na, wahrscheinlich legt sich deine Begeisterung sowieso, wenn du erst drei oder vier davon hast“, meinte Zoe unbekümmert.
„Drei oder vier?“
„Du hast recht“, stimmte Zoe ihm zu und verstand ihn absichtlich falsch. „Vier Kinder sind besser als drei. Zwei von jeder Sorte. Es könnten allerdings auch alles Mädchen werden. Aber so viel Konkurrenz hielte ich nicht aus.“
„Vier …“, wiederholte Ben ein wenig verwirrt. „Vier.“
„Hm … Oder auch sechs“, antwortete Zoe und hakte sich bei ihm ein. Sie legte den Kopf auf die Seite und beobachtete Ben einen Moment aufmerksam. „Eigentlich sieht du wie ein Vater von einem halben Dutzend aus.“
„Meinst du? Dann werden wir mal sehen, was sich machen lässt.“
„Ich möchte wissen, was deine Mummy und dein Daddy da zu flüstern haben“, sagte Heather zu ihrer Enkelin.
Katie wusste es nicht. Trotzdem fühlte sie sich rundum wohl in ihrer kleinen hübschen, sicheren Welt, umgeben von Menschen, die sie liebten und schätzten. Das Leben gefiel ihr wirklich sehr.
Während Jennifer Bowers das Podium betrat und darauf wartete, dass der Beifall verebbte, überprüfte Nick verstohlen sein Spiegelbild in der halb geöffneten Glastür.
Sein neuer Anzug war von Armani und kein konservativer Maßanzug aus der Savile Row. Er wäre jung genug, um dieses moderne Image vorzuweisen, ohne seine Wähler abzuschrecken, hatte die PR-Agentur erklärt, die Venice zu seiner Unterstützung beauftragt hatte.
„Du siehst fabelhaft aus“, hatte seine Frau ihm versichert, die man zur Begutachtung hinzugezogen hatte.
Nick hatte sich darüber geärgert, dass die Agentur Venices Zustimmung für erforderlich hielt. Aber er hütete sich inzwischen, alles laut auszusprechen, was er dachte.
Bei Venices Schwangerschaft hatte es einige Komplikationen gegeben. Er hatte nie herausgefunden, worum es sich handelte. Auf jeden Fall hatte es Venice nicht davon abgehalten, überall das letzte Wort zu sprechen, angefangen bei der Auswahl seiner Garderobe bis hin zu den Verhandlungen über den Kauf des eleganten Londoner Hauses, das nach seiner Wahl zum Parlamentsabgeordneten ihr Hauptwohnsitz werden sollte.
Nichts könne sie von ihren Aufgaben abbringen, hatte sie zu Nick gesagt. Dabei hatte sie ebenso gelächelt wie bei der Nachricht, dass Lucy Ferrars bei der PR-Agentur gekündigt worden wäre. Die hübsche kleine Brünette hatte Nicks angeschlagenes Selbstbewusstsein wieder aufgerichtet, indem sie ihn eindeutig anhimmelte.
Nick wunderte sich manchmal, wie genau Venice über jeden Schritt von ihm Bescheid wusste. Dabei hatte sie sich während der letzten Wochen ihrer Schwangerschaft kaum noch aus dem Haus gerührt und behauptet, sie sähe zu schrecklich aus.
Sein Anlagebüro war inzwischen verkauft worden. Er hätte später ohnehin keine Zeit mehr dafür, hatte Venice behauptet und mit jenem gefährlichen, berechnenden Lächeln, das er langsam zu hassen begann, hinzugefügt: „Du hast doch sowieso keine richtige Berufsausbildung wie zum Beispiel Adam, nicht wahr?“
Seitdem zahlte sie ihm einen Unterhalt, einen äußerst großzügigen sogar. Doch er hatte den Blick in Peter Villiers Augen bemerkt, als sie darüber sprachen. Die Belustigung und die Verachtung des PR-Managers hatte ihn fast zum Rasen gebracht.
Er hatte versucht, mit Venice darüber zu reden.
„Es spielt doch keine Rolle, was er denkt“, hatte sie achtlos gemeint und war nicht auf seine Bemerkung eingegangen, dass der Mann eigentlich nichts bei dieser Besprechung zu suchen gehabt hätte.
Wegen der Party zu Ehren seiner Nominierung als künftiger Kandidat seiner Partei hatte es eine Verzögerung gegeben. Nick hatte ursprünglich den Verdacht gehabt, dass sie auf Jennifer Bowers zurückzuführen war. In Wirklichkeit hatte Venice ihren Willen durchgesetzt.
„Es macht doch nichts, wenn es ein bisschen später wird“, hatte sie erklärt. „Es ist viel besser, wenn ich die Geburt meines Babys vorher hinter mich bringe.“
„Ich soll gewählt werden, nicht du“, hätte Nick am liebsten geantwortet. Doch er hatte die Worte nicht über die Lippen gebracht.
Natürlich hatte er keine Angst vor Venice. Wie käme er dazu? Schließlich war sie nur eine Frau – seine Ehefrau, die jetzt in einem Kleid von der unauffälligen Eleganz eines der ersten italienischen Designer neben ihm saß, die Nägel nicht mehr scharlachrot lackiert, sondern zurückhaltend und natürlich.
„Sie sollten sich ein Beispiel an Ihrer Frau nehmen“, hatte Peter zu ihm gesagt. „Sie weiß genau, was sie zu tun hat und wie sie sich am günstigsten darstellt. Sie können sich wirklich glücklich schätzen“, hatte er hinzugefügt.
Bin ich tatsächlich glücklich? überlegte Nick verdrießlich. Manchmal hatte er den Eindruck, dass Venice ihn wie ein Spielzeug behandelte, zum Beispiel wie die teure Spieluhr, die sie für Guy gekauft hatte.
Guy … Nicht einmal den Namen für seinen Sohn hatte er auswählen dürfen. Allerdings kümmerten weder Venice noch er sich viel um das Baby. Sie posierten höchstens gelegentlich für einige sorgfältig arrangierte, „völlig natürliche“ Fotos mit dem Kleinen.
„Die Tatsache, dass Sie ein Baby haben, dass Venice sich als Vertreterin jener neuen Frauen präsentieren kann, die Mutterschaft und Karriere miteinander verbinden, muss zwangsläufig ein weiterer Pluspunkt für Sie sein“, hatte Peter begeistert erklärt.
Nick hatte bemerkt, dass sein PR-Berater leicht unter seiner gebräunten Haut errötet war, als Venice ihn daraufhin träge anlächelte.
Auf dem Podium sagte Jennifer Bowers soeben: „Und jetzt begrüßen Sie bitte unseren neuen Parlamentsabgeordneten Nicholas Wheelwright.“
Der Beifall war höflich, aber zurückhaltend.
Nick stand auf, warf einen letzten Blick in das Glas und ging in Richtung Bühne.
„Sie hätten an seiner Stelle sein sollen“, sagte Jennifer Bowers bedauernd zu Adam, während Nick mit der strahlenden Venice an der Seite die Glückwünsche entgegennahm.
Adam schüttelte den Kopf. Sein Arm lag immer noch um Ferns Taille – einer ziemlich breit gewordenen Taille, musste Fern zugeben, während sie den kräftigen Tritt eines ihrer Zwillinge spürte.
Sie war überglücklich gewesen, als Dr. Riley ihr die Nachricht verkündet hatte. Es gab neuerdings viel Glück und Liebe in ihrem Leben.
Sie lehnte sich leicht an Adams warmen Körper und beobachtete ihn, während Jennifer Bowers weitersprach.
„Sie wären ein erheblich besserer Abgeordneter als Nick, Adam. Das wissen Sie genau.“
„Ich lege keinen Wert auf diesen Posten“, antwortete Adam. „Er würde entschieden zu viele Opfer verlangen. Alles, was ich mir wünsche, habe ich hier“, fügte er hinzu und lächelte zu Fern hinab.
„Ja, das sehe ich“, stimmte Jennifer ihm leise zu. „Venice war nicht gerade erfreut, als die Partei sich weigerte, ihr freie Hand bei der Ausrichtung dieses Festes zu lassen“, fuhr sie fort. „Am liebsten hätte sie ein Zelt auf dem Rathausgelände aufstellen lassen, den teuersten Londoner Partyservice beauftragt und natürlich dafür gesorgt, dass die Presse davon erfuhr.“
„Stimmt es, dass Nick nur mit einer sehr kleinen Mehrheit gewählt worden ist?“, fragte Fern.
„Ja, leider. Allerdings ist dies ein sehr sicherer Wahlkreis für unsere Partei. Sonst hätte ich es nicht gewagt, in der Mitte der Wahlperiode zurückzutreten. Bei Zwischenwahlen fällt das Ergebnis immer etwas niedriger aus. Angesichts des Wirbels, den Venice und Nick veranstalten, und der Rede, die er heute Abend hielt, könnte man allerdings annehmen, er feiere einen Erdrutschsieg.“
Sie verzog das Gesicht. „Tut mir leid, Adam, ich bleibe bei meiner Meinung. Ich wünschte, Sie wären unser Mann, auch wenn ich verstehe, weshalb Sie nicht angetreten sind.“
Später, als Jennifer weitergegangen war, beobachtete Fern Adams Gesicht, der zu seinem Stiefbruder hinübersah. „Bedauerst du es wirklich nicht?“, fragte sie leise.
Adam drehte sich zu ihr und strich ihr leicht über die Wange. „Musst du mich das wirklich fragen? Ich bleibe bei dem, was ich zu Jennifer gesagt habe. Alles, was ich mir wünsche, habe ich hier, Fern. Das und noch viel mehr. Ich habe keinen politischen Ehrgeiz.“
„Du willst zwar nichts für dich, wohl aber für die anderen“, verbesserte Fern ihren Mann. „Der Plan für Broughton House ist zum Beispiel …“
Sie sprach nicht weiter, denn Jennifer Bowers ging noch einmal zum Podium. Sie wusste, was jetzt kommen würde und wie viel es Adam bedeutete.
Fern war zunächst besorgt gewesen, wie man ihre Heirat mit Nicks Stiefbruder aufnehmen würde. Zu ihrer Erleichterung war alles viel besser gelaufen, als sie befürchtet hatte. Nick war keineswegs so beliebt, wie er behauptete. Zu ihrer Überraschung hatte Fern festgestellt, dass man ihr erheblich mehr Sympathie entgegenbrachte.
Natürlich hatte es zunächst einige Neugier und Mutmaßungen gegeben. Aber das Gerede war bald verstummt.
Adam hatte darauf bestanden, dass sie so schnell wie möglich heirateten. Als Fern behutsam angedeutet hatte, es wäre vielleicht besser, erst die Gemeindewahlen abzuwarten, hatte er sie in die Arme gezogen und erklärt, der Stadtrat und die anderen könnten ihm gestohlen bleiben. Wenn sie glaube, dass ihm die Mitgliedschaft im Gemeinderat auch nur ein Tüpfelchen bedeutete, kenne sie ihn und seine Liebe zu ihr viel weniger, als er vermute.
Trotzdem war Adam zu Ferns ungeheurer Erleichterung beinahe triumphierend wiedergewählt worden. Als sie einen Monat später feststellte, dass sie schwanger war, hatte ihr Glück fast keine Grenzen gekannt.
Adam und sie suchten jetzt nach einem größeren Haus für sich und die Zwillinge. Sie hatten bereits eine frühviktorianische Villa mit einem großen Garten am Stadtrand entdeckt, die ihnen sehr gefiel. Der gegenwärtige Besitzer war Witwer und wollte in die Nähe seiner verheirateten Tochter ziehen. Fern hatte schon eine ganze Woche lang fröhlich mit Adam Pläne für das Kinderzimmer geschmiedet.
„Was hast du?“, hatte er sie gestern Abend erschrocken gefragt. Fern hatte zusammengerollt auf dem Sofa gesessen, und dicke Tränen waren ihr langsam die Wangen hinuntergerollt.
„Ich kann es immer noch nicht glauben“, hatte sie gesagt. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich so viel Glück nicht verdiene.“
„Unsinn“, hatte Adam widersprochen. Er hatte ihr das Haar aus dem Gesicht gestrichen und sie geküsst. „Du hast es mehr als alle anderen verdient. Du machst mich so glücklich, wie ich es mir nie erträumt hätte.“
Jennifer stand inzwischen auf dem Podium. Die Anwesenden verstummten und drehten sich zu ihr.
Sie hob den Hammer und schlug damit auf das Pult.
„Meine Damen und Herren, offiziell habe ich vielleicht nicht mehr das Recht, Sie um Ihre Aufmerksamkeit zu bitten. Doch bevor ich mich endgültig aus dem öffentlichen Leben zurückziehe, muss ich noch eine Sache erledigen. Und es ist weit mehr als nur eine Pflicht. Ich weiß, dass wir uns heute hier versammelt haben, um unseren neuen Parlamentsabgeordneten zu begrüßen und zu feiern. Aber ich bin sicher, Nick hat nichts dagegen, wenn ich die Gelegenheit nutze, jemand anders zu danken und ihm zu gratulieren.
Wir wissen alle, was Adam Wheelwright für unsere Gemeinde getan hat. Er wäre der Letzte, der Lob und Dank für eine Tat erwartete, die er als seine Bürgerpflicht betrachtet – ein Projekt, das nicht nur ihm, sondern unserer ganzen Gemeinde zur Ehre gereicht. Ich meine natürlich Broughton House.
Wie Ihnen bekannt ist, hat es zunächst erhebliche Einwände gegen das Vorhaben gegeben. Die Leute befürchteten verständlicherweise, dass ihr Besitz und ihr Seelenfrieden gefährdet werden könnten, wenn Broughton House in ein Schulungszentrum für straffällig gewordene männliche Jugendliche verwandelt würde.
Weshalb sollten wir, eine kleine, ruhige, friedliche Mittelstadt, die Verantwortung und die möglichen Probleme mit jungen Leuten auf uns nehmen, die bereits bewiesen haben, wie wenig sie die Gesetze achten. Welche Gemeinde würde solch eine Art offenes Gefängnis in ihrer Mitte begrüßen?“ Sie machte eine kurze Pause.
„Adam ist es in seiner ruhigen Art gelungen, uns umzustimmen. Er hat uns klargemacht, dass wir die Pflicht haben, diesen jungen Menschen zu helfen. Er hat uns gezeigt, dass nicht nur sie, sondern auch wir davon profitieren, wenn die Täter ihre Strafe nicht nur abbüßen. Broughton House wird ein Ort sein, wo sie einen Beruf erlernen werden, mit dem sie später ihren Lebensunterhalt verdienen können. Gleichzeitig sollen sie die notwendigen seelischen und sozialen Grundlagen erhalten, um sich wieder in unsere Gesellschaft zu integrieren.
Nicht durch Ausgrenzung, sondern durch unser Beispiel helfen wir ihnen, hat Adam gesagt. Ich weiß, dass einige von Ihnen immer noch Zweifel hegen und insgeheim hoffen, dass er scheitern wird. Doch glücklicherweise wird deren Anzahl täglich geringer. Adam hofft gewiss, dass er nicht nur die jungen Straftäter bekehren kann, sondern auch unsere ‚ungläubigen Thomase‘.
Adam ist ein äußerst bescheidener Mann, einer, den unsere Presseleute als ‚wenig ergiebig‘ bezeichnen würden. Doch wer ihn die letzten Monate beobachtet hat, kann keinen Zweifel daran haben, dass er entschlossen und zielbewusst vorgeht und bereit ist, Berge zu versetzen, wenn es zur Erreichung seiner Ziele erforderlich ist.
Ich werde Adam jetzt nicht bitten, das Wort an uns zu richten. Sicher wird er uns bei der offiziellen Eröffnung von Broughton House im nächsten Monat eine Menge zu sagen haben. Heute möchte ich ihm nur in unser aller Namen danken, dass er unsere Augen für die Bedürfnisse anderer geöffnet und uns gelehrt hat, dass unsere Angst vor dem Nächsten und seiner potenziellen Gewalt zerstörerischer und gefährlicher sein kann als unser Abscheu vor ihm.
Adam …“ Sie lächelte ihm aufmunternd zu.
Fern ließ Adams Hand los und sah zu, wie er zum Podium schritt. Wo waren sie geblieben, seine Verleumder, all jene, die gewettert hatten, er hätte den Verstand verloren, solch einen Plan auch nur vorzuschlagen? Er werde mit seinen unausgegorenen Ideen die ganze Gemeinde zerstören.
Nun, einer war gewiss noch da.
Ferns Lächeln erstarb, als sie zu Nick hinübersah. Trotz seines Armani-Anzugs, trotz all des Geldes, das Venice in seinen Wahlkampf gesteckt hatte, trotz der Tatsache, dass er jetzt alles hatte, was er wollte, machte er einen unglücklichen, verbitterten Eindruck. Armer Nick. Er tat ihr beinahe leid.
„Das kann er doch nicht tun!“, schimpfte Nick, während Adam das Podium bestieg. „Damit lasse ich ihn oder diese dumme Kuh von Jennifer Bowers nicht durchkommen. Ich bin der Abgeordnete, nicht er. Er ist nichts – gar nichts. Nur der Ratsherr einer Kleinstadt. Ich werde …“
„Du wirst überhaupt nichts tun“, forderte Venice ihren Mann auf und hielt seinen Arm fest. „Mach dich nicht lächerlicher als nötig, Nick. Peter und ich haben uns solche Mühe mit deinem Image gegeben. Verdirb jetzt nicht alles. Überlass Adam den kleinen Triumph. Wenn Broughton House erst eröffnet ist und seine kostbaren Bewohner sich in der Stadt herumtreiben …“
„Du hast gesagt, Adam würde nicht wiedergewählt werden“, unterbrach Nick sie verbittert. „Und er bekäme niemals die Genehmigung für die Nutzung des Hauses als Rehabilitationszentrum. Du meintest …“
„Ich habe gesagt, er würde nicht wiedergewählt, als wir noch davon ausgingen, dass er den Landsitz in einen Einkaufspark verwandeln wollte. Nachdem Adam sich jetzt den Mantel eines öffentlichen Wohltäters umgehängt hat, können wir nichts mehr gegen ihn ausrichten. Zumindest im Moment nicht.“ Sie sah ihren Mann an. „Meine Güte, hör auf, dir seinetwegen Sorgen zu machen, Nick. Wer ist Adam schon? Nur ein Stadtrat, wie du selber gesagt hast. Du hast erheblich Wichtigeres zu tun. Zum Beispiel den Parteiapparat zu überzeugen, dass du das Zeug zu mehr als einem Abgeordneten in dir hast. Ich habe schon mit Peter darüber gesprochen. Wir werden nächsten Monat ein Essen geben. Nicht zu früh in der Saison, der Zeitpunkt ist sehr wichtig. Peter kennt einige Leute, die er dafür gewinnen kann – ein oder zwei Adelige, außerdem einen ehemaligen Abgeordneten. Der alte Knabe ist zwar fast verblödet. Aber solch ein Gast macht immer Eindruck. Oh, da fällt mir ein: Ich muss nächste Woche ein paar Tage nach London, um mich von dem Fortgang der Arbeiten an unserem neuen Haus zu überzeugen. Du brauchst nicht mitzukommen. Aber du hättest ja sowieso keine Zeit, nicht wahr? Du musst zu diesem Essen … Peter wird mich fahren.“
Lächelnd hörte Venice sich Nicks verdrießlichen Protest an. Sie hatte Glück und wieder genau dieselbe Figur wie vor der Schwangerschaft. Peter hatte ihr erst neulich versichert, wie glatt und elastisch ihre Haut wäre. Ihr Lächeln wurde breiter. Peter war ein hingebungsvoller Liebhaber, amüsant für den Augenblick, aber nichts für länger. Das Ende ihrer Affäre würde ihr den Vorwand liefern, die PR-Agentur zu wechseln. Sie brauchten jetzt einen erfahreneren Mann, einen mit mehr politischem Scharfsinn.
Nachdenklich betrachtete sie Nick und verzog den Mund. Es war noch einfacher gewesen, ihn auf Vordermann zu bringen, als sie vermutet hatte.
Adam verließ das Podium und zog Fern an sich.
Es war geradezu lächerlich, dass ein Mann wie er so verliebt sein konnte, noch dazu in diese langweilige Fern. Die reinste Verschwendung. Schade, dass sie, Venice, Adam das nicht hatte beibringen können.
Sie blickte zu Nick zurück. Er war gereizt und verärgert, und sein Gesicht war vor Entrüstung gerötet.
Sie würde ihn heute Nacht in ihr Bett lassen müssen, denn sie hatte gemerkt, mit welchem Blick er Peters Sekretärin vorhin betrachtet hatte. Es war nicht schwer, Nick bei der Stange zu halten. Mit Sex ließ er sich jederzeit bestechen.
„Gehen wir nach Hause?“
Fern sah zu Adam auf. „Wir können jetzt noch nicht weg“, wandte sie ein. „Niemand ist bisher gegangen.“
„Jemand muss ja der Erste sein. Außerdem bin ich es leid, dich nur ansehen und nicht berühren zu dürfen – dir nicht zeigen zu können, wie sehr ich dich liebe.“
„Das zeigst du mir die ganze Zeit“, antwortete Fern und lächelte sanft. Es war die reine Wahrheit.
„Bist du sicher, dass ich ordentlich aussehe?“ Unbehaglich zerrte Marcus an seiner Krawatte und hatte das Gefühl, sie säße zu eng.
„Du siehst ausgezeichnet aus“, versicherte Eleanor ihrem Mann.
„Und du meinst wirklich, dass ich allein fahren soll? Wird Vanessa uns nicht alle zusammen erwarten?“
„Du tust genau das Richtige, Marcus. Deine Tochter wird begeistert sein.“
„Ich weiß nicht einmal, ob ich sie wiedererkenne“, stöhnte Marcus. „Nicht nach sechs Wochen mit Jade in New York.“
Eleanor lache leise. „Beeil dich, sonst kommst du zu spät zu ihrer Ankunft.“ Sie küsste ihr erst kurz, dann etwas sehnsüchtiger und sah ihm zärtlich in die Augen.
„Es wird bestimmt alles gut, Marcus“, fügte sie liebevoll hinzu.
„Du hast gut reden. Aber …“
„Es wird alles gut“, wiederholte Eleanor.
„Weshalb durften wir nicht mitfahren und Vanessa abholen?“, klagte Gavin, nachdem Marcus gegangen war. „Ich wollte sehen, wie das Flugzeug landet, und …“
„Du weißt, weshalb das nicht geht“, sagte Tom zu seinem jüngeren Bruder, bevor Eleanor antworten könnte, „Es soll eine Überraschung für Vanessa sein.“
„Ich möchte ihr von dem Teich und dem Fisch erzählen.“
„Sie weiß doch schon davon, du Blödmann“, erklärte Tom ungeduldig. „Sie hat das Haus gesehen, bevor sie nach New York geflogen ist.“
„Aber sie kennt den Fisch noch nicht.“
„Von dem hast du ihr doch geschrieben, oder?“
„Hört auf, ihr beiden“, unterbrach Eleanor ihre Söhne entschlossen. „Ihr werdet Vanessa noch früh genug sehen. Du wirst das Mädchen nicht gleich heute Abend zu dem Teich zerren, Gavin. Vergiss bitte nicht, dass dies ebenso Vanessas Zuhause ist wie eures. Vielleicht möchte sie sich erst einmal in Ruhe zurechtfinden.“
Es ist unglaublich, was wenige Monate ausmachen können, dachte sie, während ihre Söhne sich widerstrebend zu ihren Hausaufgaben hinsetzten. Wahrscheinlich hatte Julias Nachricht, dass sie für immer in Amerika bleiben würde, für den ersten Riss in dem Panzer gesorgt, mit dem Vanessa sich umgab.
Marcus hatte seiner Tochter beigebracht, dass ihr Zuhause von nun an bei ihnen sein würde. Er hatte ihren steifen Körper in den Armen gehalten, als Vanessa wütend erklärte, sie wolle keine Almosen und wisse genau, wie unerwünscht sie sei. Geduldig hatte er ihr versichert, dass sie sich irrte.
Doch ausgerechnet Tom, der einfühlsame, übersensible Tom hatte den ersten echten Durchbruch geschafft. Aus freien Stücken hatte er von seinem Geld ein Brett gekauft, daraus eine Pinnwand gebastelt und ein bisschen schief in dem Zimmer aufgehängt, das Gavin und er für Vanessa geräumt hatten.
„Du hast etwas vergessen, Tom“, hatte Vanessa gereizt verkündet.
„Nein, die ist für dich“, hatte Tom trotzig geantwortet. „Gavin und ich haben auch eine Pinnwand. Diese haben Grandpa und ich für dich gebastelt. Sie ist für Fotos und so was. An unserer sind Bilder von Dad und Karen und … Von Baby Hannah kriegen wir ein neues. Sie ist nämlich kein Baby mehr, weil sie nächste Woche ihren ersten Geburtstag hat. Sie wollen ihn aber erst in den Ferien feiern, damit wir dabei sein können.“
Das war alles gewesen. Trotz der Verbitterung und der Verachtung, die Eleanor in Vanessas Augen bemerkt hatte, war die Pinnwand an der Wand geblieben.
Sie werde auf keinen Fall die Schule wechseln, sondern könne ebenso gut im Internat wohnen, hatte Vanessa erklärt. Außerdem wüsste sie ja, dass sie hier unerwünscht sei. Trotzdem hatte sie sich einen Fotoapparat zum Geburtstag gewünscht und Bilder von den Jungen gemacht, angeblich um die Kamera und den Film zu testen. Die Fotos waren von der Pinnwand verschwunden, als sie wieder zur Schule fuhr, und erst mit ihr zu Weihnachten zurückgekehrt.
Es war immer noch nicht leicht gewesen. Doch nachdem Eleanor nicht länger zu fürchten brauchte, dass Vanessa ihre Beziehung zu Marcus gefährden könnte, kam sie besser mit der offenen Feindseligkeit des Mädchens zurecht. Inzwischen bestrafte sie Vanessa, falls nötig, als handelte es sich um ihre leibliche Tochter.
„Behandle sie wie ein eigenes Kind“, hatte Jade ihr geraten. „Sie wird dich dafür zwar nicht lieben, aber respektieren.“ Die Freundin schien recht zu behalten.
Wirklich verändert hatte die Beziehung jedoch erst ein Briefwechsel, den Jade mit Vanessa begann und der in einer Einladung des Mädchens für die Sommerferien nach New York gipfelte.
Vanessa hatte unbedingt fliegen wollen, und Marcus hatte zögernd eingewilligt. Unmittelbar vor ihrer Abreise hatten sie dieses Haus gefunden.
Es lag in Wimbledon und hatte keinen so großen Garten und nicht so viele Räume wie Broughton House, aber Eleanor fand es ausgesprochen hübsch. Zu ihrem Erstaunen schien sogar Vanessa Gefallen daran zu finden.
Sie hatte zwar die Schultern gezuckt und sich uninteressiert gegeben, als sie das Haus gemeinsam besichtigten. Doch später hatte sie gemeint, es wäre gar nicht so übel. Außerdem wäre es höchste Zeit, dass Tom sein eigenes Zimmer bekäme. Er müsse es doch leid sein, dass Gavin den gemeinsamen Raum mit seinen Sportsachen vollstopfe.
Endgültig war das Eis dann unmittelbar vor Vanessas Abflug nach New York geschmolzen. Sie müsse unbedingt vorher ihre Möbel und ihre Vorhänge aussuchen, hatte Eleanor gesagt.
„Wozu?“, hatte Vanessa geantwortet. „Ich bin ja sowieso kaum hier, sondern meistens im Internat.“
Eleanor und sie waren allein gewesen. Eleanor hatte tief Luft geholt und so beiläufig wie möglich erklärt: „Du kannst jederzeit die Schule wechseln, Vanessa. Dein Vater hat sich schon einmal erkundigt. Die Schule am Ort soll sehr gut sein. Ich weiß natürlich, dass du kurz vor dem Examen stehst und …“
„Dad möchte, dass ich bei ihm wohne?“ Vanessas Gesicht hatte sich leicht gerötet, und ihre Augen begannen zu leuchten.
„Ja, natürlich“, hatte Eleanor ihr versichert. „Du bist seine Tochter, Vanessa. Ehrlich gesagt, ich habe das Gefühl, er kommt sich bei uns manchmal wie ein Außenseiter vor.“
Das stimmte zum Glück nicht. Ihre Söhne, die sich der Liebe ihres Vaters und dessen zweiter Frau sowie ihrer Großeltern wieder sicher waren, hatten eine ausgezeichnete Beziehung zu Marcus entwickelt.
„Ich habe den Verdacht, dass er ganz gut eine Verbündete gebrauchen könnte“, hätte sie hinzugefügt und stumm beobachtet, wie Vanessa auf diese Bemerkung reagierte.
Das Mädchen hatte nichts dazu gesagt. Aber sie hatte bereitwillig die Möbel für ihr Zimmer und ihr Bad ausgesucht. Vor ihrem Abflug nach New York hatte sie noch erwähnt, eigentlich wäre es ein Jammer, dass Marcus so viel Geld für das Internat ausgebe, wenn sie ebenso gut bei ihm wohnen könnte.
Und jetzt kam sie nach Hause. Marcus war zum Flughafen gefahren, um sie allein abzuholen.
Besorgt nagte Eleanor an ihrer Unterlippe. Sie wünschte nicht nur für Marcus oder sich, dass alles gut würde. Vanessas feindseliges Verhalten bewies, wie unglücklich das Mädchen innerlich war. Vielleicht war sie, die Stiefmutter, zu sentimental oder zu idealistisch. Doch ihrer Ansicht nach durfte kein Kind mit solch einer Belastung aufwachsen, schon gar keines in ihrer Nähe.
Nervös sah Eleanor auf die Uhr. Vanessas Maschine musste inzwischen angekommen sein.
Marcus hätte seine Tochter beinahe nicht wiedererkannt. Vanessa war gewachsen. Ihr Körper nahm langsam weiblichere Formen an, und sie hatte ihre Frisur verändert. Sie ähnelte erheblich mehr einer jungen Frau als einem Kind.
Dann entdeckte sie ihn und zögerte. Besorgnis, Sehnsucht und Ängstlichkeit spiegelten sich in ihrem Gesicht und ließen sie wieder zu einem Kind werden – zu seinem Kind.
Rasch ging Marcus auf seine Tochter zu. Er zog sie an sich und wunderte sich selber, was er bei der schlanken zerbrechlichen Gestalt in seinen Armen empfand.
Dies war sein Kind – seine Tochter, sein Fleisch und Blut. „Dad …“
Sie barg den Kopf an seiner breiten Brust, und ihre Stimme zitterte ein wenig. „Huch, wie sentimental … Jade würde Zustände kriegen. Wo sind denn die anderen?“, fragte sie und hob den Kopf.
„Sie warten zu Hause. Ich wollte dich allein abholen.“
Das war die reine Wahrheit, auch wenn er es erst erkannt hatte, als Eleanor ihm den Vorschlag machte.
„Ich wette, Gavin war ganz schön sauer“, meinte Vanessa. „Ich dachte, er würde seinen kostbaren Fisch mitbringen.“
Marcus lachte leise. „Aha, du hast also schon davon erfahren. Übrigens gefällt mir deine neue Frisur. Sie steht dir gut.“
Er sah, dass Vanessa ein wenig errötete. Der alte Marcus, der nicht einmal gegenüber sich selber zugeben konnte, wie sehr er seine Tochter liebte, hätte so etwas nie gesagt.
„Gefällt sie dir wirklich?“, fragte Vanessa eifrig und begann zu kichern. „Es war Jades Idee. Sie sagte, Nell würde bestimmt der Schlag treffen.“ Fröhlich hakte sie sich bei ihrem Vater ein.
Während sie sich einen Weg durch die Menge bahnten, fiel Marcus auf, dass Vanessa zum ersten Mal unbewusst Nell gesagt hatte, noch dazu ohne jede Bosheit. Insgeheim dankte er Jade dafür.
„Hat Jade sich endlich entschlossen, ob sie in New York bleiben will?“, fragte er.
„Sam möchte sie heiraten, aber sie ist sich nicht sicher. Ich glaube, sie wird ihn nehmen“, erklärte Vanessa mit ihrer frisch erworbenen Weisheit. „Sie liebt ihn wirklich. Und wie ist das neue Haus? Habt ihr inzwischen alles eingerichtet? Und lässt Nell dich schwer im Garten schuften?“
„Frage eins: Das Haus ist hübsch; Frage zwei: Ja, es ist alles eingerichtet; und Frage drei: Nein“, antwortete Marcus scherzhaft. „Ich glaube, das schwere Umgraben hat sie für dich zurückgestellt. Übrigens sollte ich dich warnen. Tom hat einen Metalldetektor gekauft und scheint sicher zu sein, dass du ebenso begeistert davon bist wie er. Also mach dich auf etwas gefasst.“
„Na ja, es ist ein ziemlich altes Haus. Vielleicht ist ja irgendwo was versteckt“, sagte Vanessa und war plötzlich wieder ein Kind.
„Wahrscheinlich eine Menge rostiger Nägel und sonstiger Schrott“, stimmte Marcus ihr zu.
„Trotzdem wäre es unfair, Tom mit dem Gerät aufzuziehen, meinst du nicht?“, fragte Vanessa ernsthaft. „Wenn er sein ganzes Taschengeld dafür ausgegeben hat …“
Marcus sah seine Tochter an und spürte einen bittersüßen Stich. Vanessa wurde so schnell groß und reifte so rasch heran. Mal vermittelte sie ihm einen ersten beängstigenden Eindruck von der Frau, die sie bald sein würde, und erinnerte ihn daran, dass sie ihn in Kürze verlassen und eigene Wege gehen musste. Im nächsten Moment machte sie ihm ebenso herzzerreißend klar, wie jung sie noch war, wie verletzlich – und kostbar.
Oh Nell, wie recht du hattest mit deiner Warnung, mich nicht um die Freude zu bringen, die eigene Tochter zu lieben, dachte Marcus, während er Vanessas Gepäck holte und sie zu seinem Wagen gingen.
„Schön, dass du wieder zu Hause bist“, brummte er und öffnete ihr die Tür. Als sie ihn mit großen Augen ansah, setzte er den Koffer ab, ging zu ihr und umarmte sie herzlich.
Ohne sich um den Kloß in seinem Hals zu kümmern, fügte er scherzhaft hinzu: „Ich fürchte, Jade hatte recht. Ich bin nicht sicher, ob Nell deine Frisur gefällt. Sie macht dich erschreckend erwachsen.“
Vanessa errötete vor Freude, und er merkte, dass er die richtigen Worte gefunden hatte. Ein ungeheures Triumphgefühl durchströmte ihn, wie jeden Vater, wenn seine Tochter von einem liebenswerten kleinen Mädchen zu einem hübschen, launischen, unlogischen Teenager herangewachsen ist und ihn stolz anstrahlt.
„Da sind sie! Ich höre den Wagen!“, verkündete Tom aufgeregt. Er rannte die Treppe hinunter und öffnete die Tür genau in dem Moment, als Marcus vor dem Haus vorfuhr.
Eleanor blickte ihrem Sohn nach, und ihre Nervosität legte sich ein wenig. Die Beifahrertür öffnete sich, und sie hielt unwillkürlich die Luft an.
Das junge Mädchen, das ihr entgegensah, war nicht dasselbe, das weggefahren war. Nicht Feindseligkeit bemerkte sie in Vanessas Blick, nur unmerkliches Zögern und einen leichten Argwohn.
Jetzt kam es auf sie an. „Behandle sie wie eine eigene Tochter“, hatte Jade ihr geraten.
Eleanor verdrängte das Flattern in ihrem Bauch. Lächelnd eilte sie hinaus und blieb plötzlich stehen, weil Vanessa den Kopf drehte und etwas zu Tom sagte. „Oh Vanessa, dein schönes Haar!“, rief sie.
Doch zu ihrer Erleichterung lachte ihre Stieftochter und warf ihrem Vater einen kurzen Blick zu.
„Jade war sicher, dass es dir nicht gefallen würde“, sagte Vanessa und kam auf sie zu.
„Das habe ich nicht gesagt“, antwortete Eleanor lächelnd. „Die Frisur sieht toll aus, sie steht dir sehr gut … Es ist nur … Sie macht dich so erwachsen.“
„Das sagt sie nur, weil sie eine Mutter ist“, erklärte Gavin trocken. „Mütter sagen so etwas immer. Ich soll deswegen keinen neuen Trainingsanzug bekommen.“
Vanessa und Eleanor sahen sich stumm an.
„Dein Zimmer ist fertig“, erzählte Eleanor dem Mädchen. „Du hattest recht mit den Möbeln. Das Aquamarin sieht viel hübscher aus als das Pfirsichrosa. Möchtest du …“
„Ich will dir erst mal den Fisch zeigen“, verkündete Gavin bestimmt.
„Nanu? Bevor du gesehen hast, was ich dir mitgebracht habe?“, zog Vanessa ihn auf.
Eine halbe Stunde später saßen sie gemeinsam in dem kleinen Wohnzimmer, das offiziell Eleanors Büro war. Doch obwohl sie den Fernseher daraus verbannt hatten, zog es die Familie immer wieder dorthin.
„Das ist für dich“, sagte Vanessa beinahe zögernd und reichte Eleanor ein flaches, hübsch verpacktes Päckchen. „Jade hat mir beim Aussuchen geholfen.“
Sie war so nervös, dass Eleanor am liebsten den Arm um das Mädchen gelegt und ihr versichert hätte, es spiele keine Rolle, was es wäre. Es würde ihr gefallen, weil es von ihr käme.
Vorsichtig öffnete sie das Päckchen und kümmerte sich nicht um die Anfeuerungen ihrer Söhne, sich etwas mehr zu beeilen.
Die beiden hatten ihre Geschenke schon bekommen: Gavin eine Baseballjacke und -kappe, Tom ein hübsches Lederalbum für seine Fotos. Sie waren sein neuestes Hobby. Auch das muss Vanessa aus seinen Briefen erfahren haben, stellte Eleanor fest, während sie das Papier über ihrem Geschenk zurückschob.
Tränen verschleierten ihren Blick, als sie es betrachtete.
„Was ist das denn?“, fragte Gavin neben ihr.
„Gefällt es dir? Ich … Nun, ich dachte, du magst so etwas. Jade fand, es wäre zu sentimental. Es gab auch noch andere.“
Eleanor schüttelte den Kopf. „Das ist entzückend, Vanessa … Es gefällt mir sehr.“ Ihre Lippen zitterten ein wenig, während sie das hübsche antike Sticktuch in dem Kirschholzrahmen betrachtete.
Vor sehr langer Zeit hatten junge Finger ein wenig ungeschickt den Spruch: „Heimat ist, wo das Herz ist“, hineingestickt. Die Mutter, die es damals von ihrer Tochter geschenkt bekommen hatte, hätte sich nicht mehr darüber freuen können als Eleanor jetzt.
„Das passt genau über den Kamin“, erklärte sie. „Danke, Vanessa.“
Sie versuchte gar nicht erst, das Mädchen zu küssen. Dafür war es noch zu früh. Aber sie verbarg die Tränen nicht, die ihr in die Augen stiegen.
„Ach ja, ich habe euch noch ein Poster mitgebracht“, sagte Vanessa zu ihren Stiefbrüdern und überreichte den beiden die Blätter.
„Wenn ich mir vorstelle, dass ich mich richtig auf zu Hause gefreut habe …“, protestierte sie zehn Minuten später, als Tom und Gavin sich darüber stritten, wer ihr zeigen dürfte, was alles im Haus erledigt worden war.
Eleanor freute sich, wie natürlich dem Mädchen das Wort „zu Hause“ über die Lippen gekommen war. „Ich bin sicher, Vanessa würde sich das Haus und den Garten lieber von ihrem Vater zeigen lassen“, sagte sie. „Habt ihr beiden denn keine Hausaufgaben zu machen?“
„Nein, das geht schon in Ordnung“, meinte Vanessa gutmütig. „Tom und Gavin können mir gern alles zeigen. Dad vergisst am Ende noch den Fisch.“
„Ich kann es einfach nicht glauben, wie sie sich verändert hat“, sagte Marcus später zu Eleanor.
„Vanessa wird erwachsen und ist kein kleines Mädchen mehr.“
„Nein, wirklich nicht“, stimmte Marcus ihr feierlich zu.
„Trotzdem braucht sie dich noch.“
Marcus zog Eleanor an sich. Zärtlich legte er die Arme um sie und küsste sie auf die Nasenspitze. „Sie braucht uns beide, Nell. Du bist mein Zuhause, wie du Toms und Gavins Zuhause bist – und Vanessas. Ich glaube, sie weiß es. Eines Tages, wenn sie älter ist, wird sie hoffentlich erkennen, wie viel Glück wir gehabt haben, jemanden zu finden, dessen Herz groß genug für uns alle ist.“
Oben in ihrem Zimmer packte Vanessa den Koffer aus. Als Erstes kam ein flaches Etui mit ihren Fotos zum Vorschein. Rasch sah sie sich in ihrem neuen Zimmer um. Dann hatte sie gefunden, was sie suchte.
Eleanor war zwar dagegen gewesen, dass sie es mitnahm. Aber sie hatte darauf bestanden. Entschlossen ging sie zu der Pinnwand, die Tom für sie gebastelt hatte, nahm die Fotos aus der Tasche und steckte eines nach dem anderen an seinen Platz.
Ihr Vater, ihre Mutter in einer Filmrolle, Tom und Gavin, eine Gruppe von Freunden aus der Schule, einige neue Fotos von Jade und schließlich das letzte – eines, das sie aus Eleanors Fotoalbum fünf Minuten vor der Abfahrt zum Flughafen stibitzt hatte.
Sorgfältig steckte sie es in die Mitte. Es zeigte ihre Stiefmutter. Sie stand neben Marcus und sah liebevoll zu ihm auf.
„Wer ist das denn?“, hatte ein Junge gefragt, den sie in New York kennengelernt hatte.
„Das sind mein Vater und …“, hatte sie begonnen.
Doch er hatte sie unterbrochen und übertrieben lüstern gemeint: „Deine Mutter sieht ja toll aus. Du hast eine Menge Ähnlichkeit mit ihr.“
Es war nicht nötig gewesen, ihn aufzuklären. Stattdessen hatte sie ihm jenen sehr weiblichen, altmodischen Blick zugeworfen, den sie gerade eingeübt hatte.
Vielleicht würde sie Nell später davon erzählen, wenn sie allein waren. Leise vor sich hin summend, eilte Vanessa nach unten. „Ich hab Hunger, Nell. Ist irgendetwas zu essen da?“, rief sie und öffnete die Küchentür.
Sie ist doch noch nicht ganz erwachsen, dachte Eleanor und antwortete, Vanessa solle sich gefälligst selber etwas aus dem Kühlschrank holen. Schließlich hätte sie keine 24-Stunden-Kantine.
Es war noch nicht zu spät. Vanessa und sie hatten genügend Zeit, sich besser kennenzulernen und sich am Ende vielleicht auch zu lieben. Schließlich hatten sie die beste Voraussetzung dafür, die man sich denken konnte: Sie liebten beide schon Marcus.
Es konnte nur besser oder schlimmer werden. Sie waren jetzt eine richtige Familie, und Eleanor hatte die starke Hoffnung, dass es noch viel, viel besser werden würde.