15. KAPITEL

Was ist mit dir los? Du schiebst die Nudeln hin und her und isst keinen Bissen. Ich dachte, du magst italienisches Essen.“

Zoe lächelte freudlos über den vorwurfsvollen Ton der Freundin. „Das tue ich auch – normalerweise“, stimmte sie ihr zu. „Mir bekommt in letzter Zeit bloß so vieles nicht.“ Kläglich verzog sie das Gesicht. „Praktisch von allem, was ich esse, wird mir schlecht. Manchmal …“

„Aha“, unterbrach Ann sie lächelnd. „Du willst mir doch nicht beibringen, dass du schwanger bist?“

Schwanger? Entsetzt starrte Zoe die Freundin an. „Nein, natürlich nicht. Das sind die Nachwirkungen von dieser Lebensmittelvergiftung, die ich neulich hatte.“

Sie hielt inne, denn sie bemerkte Anns schelmischen Blick.

„Hör mal, nur weil du es nicht erwarten konntest, ein Kind in die Welt zu setzen …“, begann sie und redete nicht weiter, weil Ann sie gekränkt ansah.

„Entschuldige“, sagte sie verdrießlich. „Diese ständige Übelkeit macht mich langsam fertig. Auch die Tatsache, dass Bens Chef derart anspruchsvoll und kleinlich ist … Ben muss so viel arbeiten, dass ich ihn die letzten beiden Wochen kaum gesehen habe.“

„Das ist das Problem, wenn man in einem Restaurant arbeitet“, meinte Ann mitfühlend. „Daran würde sich höchstens etwas ändern, wenn ihr beide selber ein Lokal aufmacht.“

Zoe antwortete nicht. Normalerweise hätte sie jetzt ihrer ältesten und besten Freundin sofort ihre Pläne anvertraut und wäre beinahe geplatzt von der Anstrengung, ihre freudige Erregung zu unterdrücken. Aber seit der Rückkehr aus Wiltshire war sie so elend und erschöpft, dass sie kaum noch Begeisterung für etwas aufbrachte. Nicht einmal für Sex, wie Ben zu Recht bemerkte, als sie sich gestern Abend aus seinen Armen gelöst und behauptet hatte, zu müde zu sein. Unmittelbar darauf war sie so weinerlich und sentimental geworden, dass sie am liebsten wieder zu ihm gekrochen wäre und sich schützend von ihm in die Arme hätte nehmen lassen.

Schützend wovor? Vor ihren plötzlichen Launen und Gefühlsausbrüchen?

Schwanger! Zoe verzog das Gesicht, während sie das Restaurant verließ und zu ihrer Wohnung zurückkehrte.

Ann war eine liebe enge Freundin. Aber seit der Geburt ihres Babys vor einem halben Jahr hatte sie nur noch Kinder im Kopf.

Normalerweise hörte sich Zoe gern an, welche Fortschritte der kleine William machte, dessen Patin sie war. Wenn sie allein war, staunte sie allerdings manchmal über Anns Verwandlung, und sie war froh, dass sie nicht in deren Haut steckte. Aus dem früheren Wildfang war eine umweltbewusste, fürsorgliche Mutter geworden.

Trotzdem hatte Anns Gerede Zoe nervös gemacht.

Das musste an ihrer Sorge wegen Broughton House liegen und der Tatsache, dass sie keine richtigen Pläne machen konnten, solange die Bestätigung des Bauausschusses nicht vorlag. Sie wurde leicht ungeduldig, wenn es um Verzögerungen ging.

Schwanger … Zum Glück war das unmöglich. Sie vergaß nie die Pille, denn sie wollte ebenso wenig wie Ben für eine ungewollte Schwangerschaft verantwortlich sein. Darin waren sie sich beide einig: Ein Kind konnten sie in diesem Stadium ihres Lebens nicht gebrauchen.

Ben hatte ihr eindeutig klargemacht, dass er keinesfalls Vater werden wollte. Wie ernst es ihm damit war, hatte sie an der Reaktion auf Sharons Schwangerschaft gemerkt.

Zoes Kopf begann zu schmerzen, und die Übelkeit, die sie während des Lunchs verspürt hatte, kehrte zurück. Sie würde sich doch nicht auf der Straße übergeben?

Benommen blieb sie stehen und hielt sich am nächsten Laternenpfahl fest. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie die neugierigen Blicke der Passanten. Im großen Bogen gingen sie um sie herum. Einen Moment sah Zoe ihre Mienen ganz scharf, dann war alles wieder verschwommen. Fremde Gesichter, die mal Abscheu, mal Besorgnis, mal Neugier und mal Desinteresse ausdrückten.

„Geht es Ihnen nicht gut, meine Liebe?“

Zitternd entdeckte Zoe eine alte Frau in abgetragenen, aber sauberen Sachen, die eine schäbige Einkaufstasche aus Kunststoff in der Hand hielt.

„Es geht schon wieder“, versicherte Zoe ihr. „Mir war nur gerade ein bisschen übel.“

Die alte Frau nickte mitfühlend. „Bei meinem Ersten war es genauso. Morgens, mittags und abends war mir schlecht.“

Zoe ließ das Gerede über sich ergehen und war viel zu sehr damit beschäftigt, die Übelkeit zu unterdrücken und die Angst abzuwehren, die langsam in ihr aufstieg.

Schwanger … Das durfte nicht sein!

Derselbe Gedanke ging Zoe zwei Stunden später im Badezimmer durch den Kopf, als sie entsetzt das unstrittige Ergebnis des zweiten Schwangerschaftstests betrachtete.

Auf dem Boden lagen die Reste des Tests, den sie als ersten gemacht hatte. Auch bei ihm war das Ergebnis eindeutig gewesen.

Verzweifelt beugte sie sich hinab und hob den kleinen Plastikstreifen auf. Solch ein unscheinbares Ding, und dennoch veränderte es ihr ganzes Leben.

Vielleicht hatte sie ja etwas falsch gemacht, und das Ergebnis stimmte nicht.

Fieberhaft eilte Zoe zur für. Sie musste unbedingt einen weiteren Test kaufen und die Probe wiederholen. Sicher hatte sie einen Fehler begangen. Ja, das musste der Grund sein. Sie hatte sich von Anns dummem Gerede über die Schwangerschaft verrückt machen lassen. Das war alles.

Sie hatte den Raum schon fast durchquert, da hörte sie Bens Schlüssel im Schloss.

Entsetzt eilte sie ins Badezimmer zurück, nahm die Schachtel und den verräterischen Teststreifen und wickelte beides in ein Handtuch.

Ängstlich hörte sie, dass Ben ihren Namen rief.

Sobald sie die Tür öffnete, würde er merken, dass etwas nicht stimmte. Ein Blick in den Spiegel zeigte Zoe, dass ihre Augen ungewöhnlich glänzten und ihre Haut gerötet war.

Wovor hatte sie eigentlich Angst? Sie hatte nichts Falsches getan. Wenn sie wirklich schwanger war, würden Ben und sie das Problem gemeinsam tragen, wie sie alles andere auch teilten.

Es war gut, dass er gekommen war. Erleichtert eilte sie zu ihm und wunderte sich, wie hilflos sie plötzlich war – wie sehr sie seine Unterstützung, seine Kraft, vor allem aber seine Liebe und seinen Trost brauchte.

„Ich muss sofort nach Manchester, Zoe.“ Ben sah sie kaum an, sondern eilte an ihr vorüber ins Schlafzimmer. „Meine Mutter hat mich angerufen. Sharon ist Hals über Kopf ins Krankenhaus gekommen. Es hat eine Komplikation bei ihrer Schwangerschaft gegeben.“

„Aber Ben, ich muss unbedingt …“

Sie hielt inne, denn Ben kam aus dem Schlafzimmer wieder zurück. Er schien gar nicht zugehört zu haben.

„Das hat mir gerade noch gefehlt“, hörte Zoe ihn vor sich hin schimpfen. „Erst meckert Aldo darüber, dass ich ein paar Tage Urlaub genommen habe, und jetzt behauptet er, die Gäste beklagten sich über das Essen. Und wessen Schuld ist das? Meine gewiss nicht“, erklärte Ben heftig. „Ich dränge ihn seit Monaten, einiges ändern zu dürfen. Aber meinst du, dass er mich lässt? Kein Gedanke daran. Und jetzt, wo das Geschäft nicht mehr so läuft wie früher, ist plötzlich alles meine Schuld.“ Er schwieg einen Moment. „Ist eine Nachricht von Clive gekommen?“, fragte er und sah sie an.

Zoe hielt die Luft an. Ben musste doch merken, dass bei ihr etwas nicht stimmte … Er musste spüren, wie dringend sie ihn brauchte, damit er ihr über die Panik und die Angst hinweghelfen konnte.

Seine Augen wurden schmal, und eine kleine Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. Zoes Herz klopfte schneller, und sie atmete erleichtert aus. Jetzt merkte Ben bestimmt, was mit ihr los war.

„Clive“, wiederholte er gereizt, und sie hörte die Verärgerung in seiner Stimme. Trotzdem dauerte es mehrere Sekunden, bis zunächst ihr Körper und dann ihr Verstand reagierten. Ihr Hals schnürte sich zusammen, und Tränen traten ihr in die Augen.

„Meine Güte, Zoe … Was ist in dich gefahren?“, fragte Ben gereizt. „Stimmt etwas nicht?“

„Nein, es ist alles in Ordnung“, antwortete sie und wandte sich ab. Jetzt war es zu spät. Diese Frage hätte Ben früher stellen sollen. Er hätte sehen müssen – erkennen …

„Ich muss schnellstens weg“, hörte sie ihn sagen. „Ich rufe dich an, sobald ich weiß, was passiert ist … Vielleicht werde ich einige Tage in Manchester bleiben. Meine Güte, dass das ausgerechnet jetzt passieren musste …“ Wieder war seine Verärgerung unüberhörbar. Doch diesmal machte es Zoe nichts mehr aus.

Was ist bloß mit mir los? überlegte sie und sah zu, wie Ben seine Sachen in die Reisetasche stopfte. Bisher war sie immer die Starke gewesen. Sie hatte diese Beziehung bestimmt und Ben unterstützt. Und was passierte jetzt, wo sie zum ersten Mal selber Hilfe brauchte? Ben merkte es nicht einmal. Ihn interessierte nur, ob Clive sich gemeldet hatte.

Begriff er nicht, was los war? Sie war schwanger. Schwanger mit einem Kind, das alle ihre Pläne, alle ihre Hoffnungen zunichtemachen konnte. Ein Kind, das nie hätte gezeugt werden dürfen. Sie hatte solche Angst und war so voller Panik und Entsetzen, dass sie dringend seine Unterstützung brauchte. Ben sollte diese Fassungslosigkeit und diese Ängste mit ihr teilen. Aber er wollte nichts davon wissen. Er sah es nicht – er wollte es nicht sehen.

Ben kam mit der Reisetasche in der einen Hand und seinem Jackett in der anderen zu ihr, blieb vor ihr stehen und senkte den Kopf. Doch Zoe drehte das Gesicht weg, sodass seine Lippen ihre Wange berührten. Ihr Körper schmerzte von der Anstrengung, ihre Gefühle nicht aussprechen zu können.

„Das hat uns noch gefehlt, nicht wahr?“, murmelte er verdrießlich und richtete sich wieder auf. „Sharon und ihr verflixtes Baby …“

Zoe hörte die Verbitterung in seiner Stimme und begann zu zittern. Ihr Herz klopfte wie wild gegen ihre Rippen.

Ben hatte ihre Not nicht erkannt, weil er sie tief im Innern nicht erkennen wollte. Ein eisiger Schauer durchrieselte sie bei dieser Erkenntnis.

Lange, nachdem er gegangen war, stand Zoe noch in der Mitte des Wohnzimmers und starrte ins Leere.

Sie hatte immer gewusst, dass Ben ebenso wenig wie sie Kinder haben wollte. Sie hatten darüber gesprochen, was sie vom Leben erwarteten, und gemeinsam begeistert Pläne für die Zukunft geschmiedet.

Zoe erinnerte sich, wie leid ihr Ann getan hatte, die früh schwanger geworden war. Sie, Zoe, war stets für das Recht der Frau eingetreten, über die Fortsetzung einer ungewollten Schwangerschaft selber zu entscheiden. Für sie hatte es nicht den geringsten Zweifel gegeben, dass sie in solch einem Fall die einzig logische Entscheidung fällen würde.

Weshalb sollte sie dann noch mit Ben darüber reden? Sie wusste genau, was er von ihr erwarten würde. Sie war eine moderne, unabhängige Frau und brauchte sich nicht hilflos an einen Mann zu klammern.

Jetzt steht es also fest, dachte Zoe. Ihre Diagnose hatte sich bestätigt. Sie war tatsächlich schwanger.

In der Klinik hatte man sie gefragt, ob sie ein Beratungsgespräch wünschte. Doch sie hatte abgelehnt. Schließlich wusste sie, was sie zu tun hatte.

Ihre Panik und ihre Angst hatten sich gelegt. Sie hatte Zeit gehabt, in Ruhe nachzudenken und ihren nächsten Schritt zu planen.

Weshalb sollte sie Ben mit der Verantwortung für eine Entscheidung belasten, die sie nun einmal treffen musste? Vielleicht war es ganz gut, dass er zu viele eigene Probleme hatte, um zu erkennen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Zum Glück war sie rechtzeitig zu Verstand gekommen.

Was würde es nützen, wenn sie Ben etwas vorheulte? Was könnte er tun, was sie nicht allein erledigen konnte?

Es war ihre Entscheidung, ihr Körper – ihr Kind.

Zoe stand auf, legte die Arme fest um sich und vertrieb den gefährlichen sentimentalen Gedanken. Nein! Ihr Entschluss war gefasst. Je schneller sie die Sache hinter sich brachte, desto besser.

Sie straffte die Schultern und schob entschlossen das Kinn vor. Sie brauchte Ben nicht in diese Angelegenheit hineinzuziehen. Sie war durchaus in der Lage, allein damit fertig zu werden. Schuldbewusst erinnerte sie sich, wie besorgt und erschöpft er gewesen war, bevor er abreiste.

Was mochte mit Sharon los sein? Das Mädchen wäre Hals über Kopf ins Krankenhaus gekommen, hatte Ben erzählt. Weil Gefahr für ihre Gesundheit bestand? Oder weil ihr Baby …

Erschrocken presste Zoe die Hand auf ihren flachen Bauch und spreizte die Finger schützend über die Stelle, die ihr Kind einnehmen würde.

Nur würde es dieses Kind nie geben.

Das Telefon läutete und lenkte Zoe von ihren Gedanken ab. Sie hob den Hörer ab, und ihre Laune besserte sich, sobald sie Bens Stimme hörte.

„Wie geht es Sharon?“, fragte sie sofort, um ihn für ihre schlechte Laune von vorhin zu entschädigen. Vor allem wollte sie ihm beweisen, dass sie sich nicht an ihn klammerte und ihm nicht die Verantwortung für sich aufbürdete – im Gegensatz zu seiner Schwester.

„Im Augenblick ist ihr Zustand stabil. Sie muss aber noch zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben.“ Ben klang müde und gereizt. „Meine Mutter ist restlos mit den Nerven fertig. Sharon und sie hatten einen Streit, und sie fühlt sich für das verantwortlich, was anschließend passiert ist. Der Arzt sagt allerdings, dass es sich um ein organisches Problem handelt und nichts mit dem Streit zu tun hat. Ich muss über Nacht hierbleiben, Zoe. Würdest du bitte meinen Chef anrufen und ihn verständigen?“

„Ja, natürlich“, versprach Zoe. „Bisher ist noch keine Nachricht von Clive gekommen. Aber wir hören sicher bald von ihm.“

„Ich hoffe es.“ Ben war ziemlich niedergeschlagen. „Wenn es nicht klappt, werde ich vermutlich bald arbeitslos sein. Aldo scheint Verdacht geschöpft zu haben, dass ich irgendetwas vorhabe.“

„So weit wird es sicher nicht kommen“, tröstete Zoe ihn. „Und wenn er dich wirklich rauswirft, können wir ohne Weiteres einige Monate von dem leben, was ich verdiene.“

Sie hörte, wie Ben verächtlich schnaufte, und wusste genau, was er von ihrem Vorschlag hielt. Manche Ansichten waren so tief verwurzelt, dass sie sich einfach nicht ausrotten ließen.

Zehn Minuten, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, übergab Zoe sich erneut. Anschließend lehnte sie sich an die Wand und schloss die Augen.

Natürlich tat sie das Richtige. Sie hatte gar keine andere Wahl … Erst recht nicht, wenn Ben tatsächlich arbeitslos wurde und sie von ihrem Gehalt leben mussten.

Sie durfte nicht sentimental werden wegen eines Babys, das sie nicht geplant hatten. Trotzdem rannen ihr heiße Tränen die Wangen hinab, und ein unsägliches Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit erfasste sie.

Das wäre bestimmt nicht passiert, wenn Ben bei ihr wäre. Dann hätte sie gar keine Gelegenheit gehabt, sich in Selbstmitleid zu ergehen, sondern müsste aufpassen, dass er nichts merkte.

Aber Ben war nicht da. Er war in Manchester bei seiner hilflosen schwangeren Schwester.

Ich muss jetzt unbedingt Menschen um mich haben, überlegte Zoe. Gleich morgen früh würde sie die Klinik anrufen und einen Termin für den Abbruch ausmachen. Aber jetzt … Ich fahre zu meiner Mutter, beschloss sie.

Sie war kein Kind mehr. Ben brauchte nicht ihre Hand zu halten und sie zu trösten. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie hatte keine Wahl zu treffen, sondern musste den Dingen ihren logischen Lauf lassen.

Keine Wahl … Zoe erschauerte ein wenig, als sie die Wohnung verließ. War die Tatsache, dass sie keine Wahl hatte, der Grund für diese nebulösen, undefinierbaren Empfindungen, die sie durchströmten?

Der Wagen des Vaters stand in der Einfahrt zu ihrem Elternhaus. Zoe freute sich sehr darüber. Statt zu läuten, wie sie es gewöhnlich tat, beschloss sie, ihren Schlüssel zu benutzen und Vater und Mutter zu überraschen.

Zum ersten Mal seit der Entdeckung ihrer Schwangerschaft lächelte sie wieder und betrat die Diele. Dann erstarrte sie plötzlich, denn sie hörte laute Stimmen. Ihre Eltern stritten sich. Das war noch nie passiert.

Die Küchentür stand halb offen. Verbittert erklärte die Mutter: „Begreifst du nicht, dass ich etwas anderes mit meinem Leben anfangen möchte, als herumzusitzen und darauf zu warten, dass du nach Hause kommst? Das geschieht in letzter Zeit ohnehin nicht häufig.“

Der Küchenstuhl schabte über die Bodenfliesen. Dann antwortete ihr Vater ungewöhnlich scharf: „Arbeiten willst du? Dass ich nicht lache. Was willst du denn tun? Du hast doch gar nichts gelernt!“

„Und wessen Schuld ist das? Wer hat denn immer behauptet, dass er mich hier brauchte? Jetzt beklagst du dich, dass ich zu abhängig von dir bin. Dass du nicht genügend Zeit hast, deine Arbeit zu machen und mich außerdem zu unterhalten. Dabei hast du darauf bestanden, dass ich zu Hause bleibe. Zu Hause …“ Sie lachte freudlos. „Dies ist schon lange kein Zuhause mehr, das wissen wir beide genau. Nur Zoe hat uns noch zusammengehalten, solange sie bei uns wohnte. Oh ja, ich habe den Schein gewahrt und alle Welt glauben lassen, dass wir glücklich wären.“

„Zum Teufel, wir waren glücklich. Und wir sind es …“

„Du bist vielleicht glücklich, ich bin es nicht. Ich erwarte etwas mehr vom Leben als einen Ehemann, der behauptet, er wäre zu beschäftigt, um sich um mich zu kümmern. Der angeblich zu müde ist, um mit mir zu schlafen, der mich darüber belügt, wo er sich aufhält und mit wem …“

Ungläubig hörte Zoe, wie ihr Vater mit der Faust auf den Tisch schlug. „Ich habe dir doch gesagt, dass es sich um einen Irrtum handelte“, wehrte er ab. „Ich war dort. Die Sekretärin am Empfang hatte die Schicht gerade erst übernommen und …“

„Die dumme Ehefrau erfährt so etwas immer als Letzte, nicht wahr? Die klassische Situation … Ein Verhältnis …“

„Ich habe kein Verhältnis!“

„Das ändert nichts an meinen Plänen. Ich werde an diesem Lehrgang teilnehmen. Ich brauche das einfach. Ich muss das Gefühl haben, jemandem noch etwas zu bedeuten.“

Zoe drehte sich um, öffnete vorsichtig die Tür und verließ leise das Haus. Mit steifen Gliedern eilte sie zu ihrem Wagen zurück.

Ihre Eltern stritten sich. Sie hatten ihr soeben eine Seite ihrer Ehe gezeigt, von der sie, die Tochter, bisher nicht das Geringste geahnt hatte. Im Gegenteil. Sie hatte die beiden wegen ihrer unverbrüchlichen Treue geneckt und nicht im Traum daran gedacht … Mit bebenden Händen startete Zoe den Motor und bog wieder auf die Straße.

Auf der Rückfahrt zu ihrer Wohnung verwandelten sich ihre Angst und ihre Verwirrung langsam in Wut und Verzweiflung.

Ihre Eltern … Ben … Sie, Zoe, war immer da, wenn man sie brauchte. Und wo waren die anderen, wenn sie selber einen Rat oder eine Schulter zum Anlehnen nötig hatte?

Zum Anlehnen? Dafür hatte sie noch nie jemanden gebraucht. Was war mit ihr los? Warum war sie so ängstlich? Weshalb wurde sie hin und her gerissen zwischen der logischen Tatsache, dass sie ihr Wissen mit niemandem teilen musste und es viel einfacher war, wenn sie das Unvermeidliche so bald wie möglich hinter sich brachte, und diesem beängstigenden, unlogischen Gefühl von Ungerechtigkeit, dass ausgerechnet jene Menschen, die ihr angeblich am nächsten standen, nichts von ihrem Zustand bemerkten?

Hatte sie wirklich erwartet, Ben und ihre Eltern könnten in sie hineinschauen und würden instinktiv spüren, was mit ihr los war?

Nein, natürlich nicht.

Worüber ärgerte sie sich dann? Darüber, dass ihre Eltern sich stritten?

Dass Ben zu seiner Mutter nach Manchester geeilt war, obwohl sie, Zoe, ihn dringend gebraucht hätte?

Und weshalb brauchte sie ihn? Schließlich stand ihr keine gefährliche Operation bevor. Sie korrigierte nur einen Irrtum, das war alles. Diese Schwangerschaft hatte keine echte Bedeutung für sie.

Trotzdem war sie voller Wut und Selbstmitleid, weil niemand je erfahren würde, welch ein Opfer sie brachte … Sie zerstörte Leben … Um Bens willen – und ihrer Pläne willen.

Sie brachte ein Opfer? Unsinn! Es war ihr Kind, das …

Nein! Erschrocken über die Richtung, die ihre Gedanken einnahmen, schlug Zoe auf das Lenkrad. Das war die reinste Dummheit. Schlimmer noch, es war gefährlich und selbstzerstörerisch.

Morgen würde sie einen Termin mit der Klinik ausmachen. Mit etwas Glück war alles vorbei, bevor Ben zurückkehrte, und sie konnte sich wieder auf die Zukunft konzentrieren.

Sie musste den nötigen Optimismus aufbringen, um Ben über seine Zweifel und seinen Pessimismus hinwegzuhelfen. Sie konnte kein Kind aufziehen und gleichzeitig ihm und ihrer Arbeit genügend Zeit und Aufmerksamkeit widmen.

Es war alles so ungerecht. Sie wollte diese Probleme nicht, die die Schwangerschaft ihr bereitete. Weshalb tat ihr das Leben so etwas an? Weshalb stellte es sie derart auf die Probe?

Broughton House - Haus der Sehnsucht
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