ZWÖLF

Mit dieser Überraschung war die Versammlung aufgelöst, und die Gemeindemitglieder schlenderten hinaus. Athelstan verschloß den Eingang zum Chor, ließ die Kirche aber offen. Huddle stand bereits im Chor und betrachtete verträumt die kahle Wand.

»Überlege es dir sorgfältig«, rief Athelstan ihm zu. »Keine Angst, Pater. Ich grüble seit Monaten darüber.« Athelstan nickte und lief die Gasse hinunter zu einer Garküche; er wußte, daß er dort eine frische Pastete und einen Krug Ale bekommen würde. Als er zurückkam, hatte Watkin bereits das Seitenschiff ausgeräumt und mit einem dicken purpurroten Vorhang, der an einem langen Eschenholzstab befestigt war, eine Ecke abgetrennt. Außerdem hatte er den Chorstuhl mit dem gesteppten Sitz- und Lehnenpolster hinter den Vorhang geschleppt, so daß Athelstan dort sitzen konnte, während der einzige Betstuhl der Kirche auf der anderen Seite die Büßer erwartete. Eine Zeitlang kniete Athelstan auf den Stufen vor dem Altar und betete um die Gnade, ein guter Beichtvater zu sein. Vor den großen Festen der Kirchenliturgie pflegte er immer die Beichte zu hören: vor Weihnachten, Ostern und Pfingsten und vor Fronleichnam im Mittsommer. Diejenigen, die Absolution wünschten, knieten im Eingang der Kirche und warteten, bis sie an die Reihe kamen; daraufhatte Athelstan bestanden, damit niemand belauschen konnte, was der Beichtende drinnen zu sagen hatte. Mugwort kam herein, und Athelstan versicherte, es sei alles bereit. Die Glocke läutete und lud alle, die von ihren Sünden freigesprochen werden wollten, ein, herbeizukommen.   

Den ganzen Vormittag und einen Teil des Nachmittags hörte Athelstan nun die Bekenntnisse seiner Pfarrkinder. Es war die übliche Litanei von Sünden, seinen eigenen gar nicht unähnlich, wie Athelstan im stillen erkannte: schmutzige Reden, obszöne Gedanken, Diebstahl auf dem Markt, Schlafen während der Messe, Trunkenheit. Hin und wieder hörte er etwas Neues: Einen Vater gelüstete es nach der Frau seines Sohnes, und jemand hatte im Geschäft eine falsche Waage benutzt. Er lehnte sich zurück und hörte alle an; hin und wieder stellte er sanft und leise eine Frage. Am Ende beugte er sich vor und ermahnte sie, barmherziger zu sein, gütiger und reiner in Herz und Sinn. Er gab ihnen eine kleine Buße auf, meist ein mildtätiges Werk oder ein paar Gebete, die sie in der Kirche sprechen sollten. Dann erteilte er die Absolution, und der Büßer zog sich zurück.   

Erholung boten nur die Beichten der Kinder, die Athelstan immer am liebsten hatte, weil sie ihn zum Schmunzeln brachten - piepsende kleine Stimmen mit einer Liste von belanglosen Sünden. Eine der Töchter des Kesselflickers ließ ihn laut lachen: Die arme Kleine hatte einem von Pikes Söhnen erlaubt, sie zu küssen, und jetzt litt sie arge Gewissensqualen. So erpicht war sie darauf, ihren Fehltritt hervorzusprudeln, daß sie sich auf den Betstuhl stützte und nicht sagte: »Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt«, sondern statt dessen fieberhaft begann: »Küsse mich, Vater, denn ich habe gesündigt.«

Athelstan beruhigte sie und erklärte ihr, ein Kuß auf die Lippen, ganz gleich, wie lange er dauere, sei keine ernste Angelegenheit; glücklich zog das Mädchen davon. Er hörte neues Getrippel, und dann zirpte ein dünnes Stimmchen hinter dem Vorhang: »Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt.« Athelstan bedeckte lächelnd das Gesicht mit den Händen, denn er erkannte die Stimme Crims, seines Altardieners.

»Pater«, fuhr Crim mit gedämpfter Stimme fort, »ich habe mich geweigert, meine Zwiebeln zu essen.«

Athelstan nickte ernst.

»Meine Mutter hatte sie extra gekocht.«

Athelstan holte tief Luft, um nicht laut zu lachen.

»Was gibt es sonst noch, mein Junge?«

Aber Crim war seltsam stumm geworden. »Pater«, stammelte er, »ich habe sechsmal Unzucht begangen.« Athelstans Unterkiefer klappte herunter, und er merkte, wie seine Nackenhaare sich sträubten. In den bischöflichen Regeln für den Beichtvater war die Verderbtheit von Kindern nichts Unbekanntes und galt als höchst betrübliches Moralvergehen. Athelstan zog den Vorhang beiseite und schaute Crim in sein schmutziges, erschrockenes Gesicht. »Crim«, flüsterte er. »Komm herüber.« Der Junge kam zu ihm getappt.

»Crim, was redest du da? Weißt du, was Unzucht ist?« Der Junge nickte.

»Und du hast sie sechsmal begangen?« Wieder ein Kopfnicken. »Was ist Unzucht, Crim?«

Athelstan schaute dem Jungen ernst in die bekümmerten Augen. War der Junge deshalb manchmal so still und zurückgezogen? Crim schloß die Augen. »Unzucht«, piepste er, »ist ein schmutziger Akt!« Athelstan ließ die Hand des Jungen los und lehnte sich zurück. »Erzähle mir genau, was passiert ist, mein Junge.«

»Nun, Pater, Ihr wißt, daß ich für meine Mutter zum Markt gehen muß. Ich kann am schnellsten rennen, und zur Belohnung gibt sie mir immer einen Becher Wasser mit Honig.« Athelstan verstand jetzt überhaupt nichts mehr. »Was hat denn das damit zu tun, Crim?«

Der Junge wurde rot und blickte zu Boden. »Wenn ich vom Markt zurückkomme, muß ich pissen, und das tue ich draußen im Freien.«

Athelstan lachte und nahm den Jungen wieder bei der Hand. »Ist das alles, Crim?« Der Junge nickte.

»Und wieso glaubst du, das sei Unzucht?«

»Nun, Pater, meine Mutter sagt immer, Cecily treibt Unzucht und andere schmutzige Akte.«

Athelstan schüttelte den Kopf. »Aber, Crim, du pißt doch oft draußen im Freien. Was ist denn so Besonderes daran?«

Der Junge errötete noch heftiger.

»Na los, mein Junge!«

»Ich tue es auf heiligem Boden, Pater.«

»Du meinst, hier in der Kirche?«

»Nein, Pater, immer gerade dann, wenn ich an Eurem Haus vorbeikomme, muß ich, und da gehe ich dann hinter Eure Mauer und pisse in das Zwiebelbeet. Ich weiß, es ist unrecht, in den Garten eines Priesters zu machen, aber ich kann nichts dafür.«

Athelstan konnte nicht länger an sich halten; er senkte den Kopf, schlug beide Hände vors Gesicht und lachte, daß seine Schultern bebten. »Pater, es tut mir wirklich leid.«

Athelstan hob den Kopf, wischte sich die Tränen ab und packte den Jungen bei den Schultern. »Ich spreche dich los von deinen Sünden«, sagte er. »Und dies soll deine Buße sein.«

»Ja, Pater?«

»Wenn deine Mutter das nächste Mal Zwiebeln kocht, sollst du jede einzelne aufessen. Nun geh und sündige nicht mehr.« Crim rannte aus der Kirche, als sei er soeben von der allerschlimmsten Todsünde losgesprochen worden. Athelstan sah ihm nach, und immer noch schüttelten ihn Lachanfälle. Er war froh, daß die Kirche leer war; wenn jemand Crims Beichte gehört hätte, wäre der Junge zum Gespött der ganzen Gemeinde geworden. Athelstan lehnte sich zurück und döste eine Weile; er dachte über mögliche Lösungen zu Cranstons Geheimnis nach und fragte sich, ob er in Blackfriars wohl finden würde, was er suchte. Plötzlich richtete er sich auf, und ein Gedanke überlief ihn eisig. Wenn nun der Mörder in Blackfriars bereits gefunden hatte, was er suchte? Er rückte die Stola zurecht und wollte eben aufstehen, als er leise Schritte hörte. Plötzlich angespannt, setzte er sich wieder, denn in der Kirche war es jetzt ganz still. Auch draußen war alles ruhig, denn Höker, Händler und die Bewohner der Pfarrgemeinde ruhten während der heißen Stunden des Tages. Wer kam jetzt? Er hörte, wie jemand auf dem Betstuhl niederkniete.

»Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt.« Athelstan erstarrte, als er Benedictas Stimme erkannte. Er schloß die Augen und verschränkte die Hände ineinander. Es war das erste Mal, daß Benedicta zu ihm kam. Wie auch anderen in seiner Pfarrei, war es ihr vielleicht peinlich, bei ihrem eigenen Priester zu beichten, und so ging sie immer zu einem anderen. Er entspannte sich ein wenig, als er die Litanei ihrer kleinen Vergehen hörte: unbarmherzige Gedanken und Worte, verspätetes Erscheinen zur Messe, Schlafen während der Predigt. Bei dem letzten Bekenntnis streckte Athelstan ihr hinter dem Vorhang die Zunge heraus. Dann verstummte Benedicta. »Ist das alles?« fragte er leise.

»Pater, ich bin Witwe. Eine Zeitlang dachte ich, mein Mann könnte noch leben. Darüber war ich froh, aber ich war auch traurig.«

Athelstan wappnete sich.

»Ich hätte nicht traurig sein dürfen«, fuhr Benedicta fort.

»Und wenn ich mir gewünscht habe, er möge tot sein, so bekenne ich das jetzt.«

»Dann ist dir auch vergeben.«

»Wollt Ihr nicht wissen, Pater, warum ich traurig war?«

»Du mußt beichten, wie dein Gewissen es dir befiehlt, weiter nichts.«

»Ich war traurig, Pater, weil ich … seht Ihr, ich liebe einen anderen Mann. Manchmal begehre ich ihn.«

»Jemanden zu lieben ist keine Sünde.« Athelstan war sicher, daß Benedicta weitersprechen würde.

»Ich verstehe, Pater«, sagte sie. »Wenn das so ist, dann bereue ich diese und alle meine Sünden von Herzen.« Athelstan gab ihr eine kleine Buße auf und hätte sich in den Worten der Absolution beinahe verheddert. Gespannt wie eine Bogensehne saß er da, bis Benedicta aufstand und leise hinausging. Behutsam schloß sie die Tür hinter sich. Er seufzte tief und ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken. Er wußte, was Benedicta hatte sagen wollen, und er war nur allzu froh, daß sie nicht weitergesprochen hatte. Er stand auf und streckte sich; dann ging er durch den Lettner und schaute hinauf zu dem Kruzifix über dem Altar. »Pater Paul hatte recht«, sagte er leise. »Die Liebe ist etwas Schreckliches.« Eine Weile erforschte er sein Gewissen. Er liebte Benedicta! Er starrte die verrenkte Gestalt am Holzkreuz an. Würde Christus ihn verstehen? Liebte Er, der ja jedermann lieben sollte, irgendwen besonders? Athelstan rieb sich die Augen. Er dachte an die Heilige Schrift, an die Frauen, die Christus nachgefolgt waren, an die Frauen, die bei Ihm gewesen waren, als Er starb. Athelstan nahm seine Stola ab. Wenn er diesen Gedankengang weiter verfolgte, zu welchen Schlußfolgerungen würde er dann kommen? Er beugte hastig das Knie vor dem Allerheiligsten, lief dann hinaus und verschloß die Kirchentür hinter sich. Jetzt mußte er sich auf andere Dinge konzentrieren. 

Die Angelegenheit in Blackfriars war wie ein Schachspiel. Bis jetzt beherrschte sein Gegner, der im Dunkeln verborgen war, jeden Zug. Athelstan mußte sichergehen, daß ihm die Initiative, die er jetzt ergriffen hatte, nicht wieder aus der Hand genommen wurde.

In seine Küche zurückgekehrt, setzte Athelstan sich hin und schrieb hastig einen kurzen Brief. Dann holte er Wachs und Siegel aus der großen Truhe neben seinem Bett. Er las den Brief noch einmal, fand ihn angemessen, schmolz das Wachs und brachte sein Siegel an. Eine Stunde später rannte Crim, der inzwischen längst nicht mehr an Zwiebeln dachte, wie ein Hase über die London Bridge. Er hielt Athelstans Brief fest in der Hand, und seine Lippen wiederholten atemlos die Anweisungen, die der Bruder ihm mitgegeben hatte. Kurz vor Sonnenuntergang kamen Pike und Watkin nach St. Erconwald zurück. Pike hatte ein Stück Segeltuch, einen Kiefernholzsarg und etwas Seil besorgt. In einer kläglichen Zeremonie wurde das Skelett der früheren Hure Aemelia in ein Leichentuch gehüllt und vor dem Altar aufgebahrt. Athelstan kehrte, begleitet von dem neugierigen Bonaventura, in die Kirche zurück, zündete die Kerzen an und begann, mit einem purpurfarbenen Chormantel angetan, die Begräbniszeremonie. Pike und Watkin standen zu beiden Seiten der jämmerlichen Überreste, während Athelstan die Engel beschwor, hervorzukommen und die Seele dieses Menschen aufzunehmen. Sorgfältig achtete er darauf, den Namen der Frau nicht zu erwähnen. Er ließ Weihrauch über den Sarg wehen und segnete ihn mit Weihwasser; dann ging er voraus, gefolgt von Watkin und Pike, die den Sarg trugen, und sie brachten die Tote zu dem flachen Grab in der hinteren Ecke des Friedhofs. Im schwindenden Licht las Athelstan die letzten Gebete. Er segnete das Grab, hob einen Erdklumpen auf und warf ihn hinunter, daß es wie Regentropfen auf dem   

Holzdeckel prasselte. Er legte seinen Chormantel ab und half Watkin und Pike, das Grab zuzuschaufeln. »Sollen wir es so lassen?« fragte Pike.

Athelstan wischte sich den Lehm von den Händen und machte ein trauriges Gesicht.

»Nein, nein, das wäre nicht recht. Pike, frag Huddle morgen, ob er ein Kreuz machen kann. Etwas Einfaches.«

»Soll ein Name draufstehen?«

»Nein.« Athelstan schaute in den dunkler werdenden Himmel hinauf und betrachtete den Abendstern, der wie ein Diamant am Firmament funkelte. »Sag Huddle, er soll hineinschnitzen: ›Lieber Jesus, gedenke der Magdalenas«

»Da wird er aber nicht wissen, was das bedeuten soll.«

»Was macht das? Christus weiß es.«    

*

Früh am nächsten Morgen traf sich Athelstan an der Ecke der Bowyer's Road mit Cranston. Sie gingen in eine Schenke, deren Wirt sich über die städtischen Vorschriften zu den Öffnungszeiten hinwegsetzte. Cranston bestand darauf zu frühstücken, und obwohl Athelstan leise fluchte, wußte er, daß dies weder die Zeit noch der Ort war zu widersprechen. Die überschwengliche Stimmung, die der Coroner am Tag zuvor gezeigt hatte, war verflogen, und Athelstan hatte den Verdacht, daß er bereits an seinem wunderbaren Weinschlauch gewesen war. Sie speisten Bier und Haferkuchen zum Frühstück, und der Coroner kaute mürrisch auf seinem Essen, während er in mittlere Fernen starrte. »Zum Teufel mit Lord Gaunt!« flüsterte er. Athelstan berührte sanft seine Hand. »Sir John, Ihr dürft mich jetzt nicht ausfragen, aber ich glaube, ich habe eine Lösung.«

Die Veränderung in Cranstons Gesicht war wunderbar. Seine Augen wurden lebhaft vor Aufregung, und seine mürrische Miene löste sich in einem Grinsen auf, das von einem Ohr zum anderen reichte. Er brüllte fingerschnippend nach mehr Bier und stieß Athelstan heftig in die Rippen, wollte ihn dazu bringen, daß er von seinen Schlußfolgerungen erzählte. Aber als der Ordensbruder sich nicht bewegen ließ, verfiel Cranston wieder in mißmutiges Schweigen. »Ich kann Euch noch nichts sagen; ich muß erst sicher sein. Bis dahin bestehe ich darauf, für mich zu behalten, was ich weiß. Schließlich trinkt Ihr ziemlich viel, Sir John.«

»Blödsinn!«

»Doch, Sir John, und wenn Ihr einen Rausch habt, dann beginnt Ihr zu prahlen, und das könnte die ganze Situation belasten.«

»Der junge König selbst hat die Lösung in einem versiegelten Umschlag.«

»Sir John, es soll schon vorgekommen sein, daß solche Dokumente ausgetauscht wurden.«

»Titten und Eier!« erwiderte Cranston. »Solche Bemerkungen, Sir John, sind nicht hilfreich und zeigen wenig Dankbarkeit für das, was ich getan habe.«

»Dankbarkeit! Dankbarkeit!« äffte Cranston ihn schneidend nach. Er hob seinen Humpen, trank ihn leer und setzte ihn mit lautem Schlag wieder auf den Tisch; dann kehrte er Athelstan halb den Rücken zu wie ein schmollender Junge. »Wie geht es den Kerlchen?« fragte Athelstan mild. »Herrliche, ganz herrliche Buben!« brummte Cranston. »Und Lady Maude? Liebreizend wie immer?« Cranston warf einen bösen Blick über die Schulter, und Athelstan wußte, woher Sir Johns Unbehagen rührte. »Verstehe«, sagte er.

Sir John schnaubte kurz und drehte sich wieder um. »Athelstan, tut mir leid. Aber ich komme mir vor wie ein Bär mit Kopfschmerzen.«

Athelstan widersprach lieber nicht. »Habt Ihr meine zweite Nachricht erhalten?«

»Ja, und binnen einer Stunde war der schnellste Kurier der Stadt unterwegs nach Norden, und er hatte ein Pferd zum Wechseln dabei. Ich habe getan, was ich konnte.«

»Dann, Sir John, wollen wir sehen, was wir in Blackfriars tun können.«

Den furchtbaren Todesfällen zum Trotz, die sich dort ereignet hatten, schien das Kloster zu seinem üblichen, heiter-stillen Alltagsleben zurückgekehrt zu sein. Der Pförtner ließ sie herein, und Bruder Norbert begrüßte sie freundlich, übergab ihre Pferde einem Roßknecht und führte sie zum Gästehaus. »Alle Bücher sind jetzt da«, verkündete er stolz. »Jedes einzelne. Allerdings vermute ich, die Brüder wissen inzwischen, daß Ihr etwas sucht.« Der junge Laienbruder lächelte Cranston an. »Und es gibt Met, Ale und Wein für Euch, Sir John. Ich denke, Eure Suche wird lange dauern.« Er hatte recht. Im oberen Gemach erwarteten sie noch mehr dicke, ledergebundene Bücher. Cranston stöhnte auf und sauste pfeilschnell die Treppe hinunter in die Speisekammer. Athelstan wusch sich Gesicht und Hände und machte sich sofort wieder an die Arbeit, hin und wieder unterstützt durch Sir John.

Als es Nacht wurde, bat Athelstan Norbert um weitere Kerzen und versenkte sich in seine Studien; nur gelegentlich machte er eine kleine Pause, um einen Happen zu essen oder einen Schluck verdünnten Wein zu trinken. Irgendwann schlief er über den Büchern ein, wachte mit schmerzendem Rücken und verkrampften Schultern wieder auf und setzte seine Suche fort. Am nächsten Morgen las er gleich nach dem Morgengrauen die Messe; ins Gästehaus zurückgekehrt, bemühte er sich, Cranstons Schnarchen zu ignorieren, und griff nach dem nächsten Band, um die Pergamentseiten durchzublättern. Cranston wachte auf und behauptete, er habe rasenden Durst. Athelstan nickte geistesabwesend, und Sir John wusch sich, zog sich an und ging hinüber ins Refektorium. Als er zurückkam, beschrieb er in allen Einzelheiten, was er gegessen hatte. Athelstan hörte nicht zu, und schließlich nahm der Coroner mißmutig und widerspenstig einen der kleineren Bände zur Hand und knurrte lautstark: »Hildegarde! Hildegarde! Zum Teufel mit Hildegarde!« Am Mittag kamen der Prior und die anderen Mitglieder des Generalkapitels zu Besuch. Alle hatten sich vom Schrecken der Entdeckung im Chor erholt und standen jetzt kühl und einigermaßen distanziert beieinander in der Küche; sie wollten sich nicht setzen und auch nichts essen oder trinken. William de Conches und Eugenius schauten Athelstan verächtlich an, und Henry von Winchester legte bemühte Geduld an den Tag, um seinen Verdruß zu verbergen, während die Brüder Niall und Peter aus ihrem Ärger über die lange Verzögerung der Angelegenheit keinen Hehl mehr machten. »Wir können nicht ewig hierbleiben, Bruder Athelstan«, erklärte Peter nachdrücklich. »Die Sache muß zu einem Ende gebracht und über Bruder Henrys These ein Urteil gefällt werden. Bruder Niall und ich müssen heimkehren, und der Großinquisitor und sein Gehilfe haben eine weite Reise vor sich.«

Athelstan schaute den Prior an, aber auch Anselm zeigte sich kühl und ungerührt.

»Ich will nichts weiter, als daß diese Angelegenheit aufgeklärt wird, Athelstan«, sagte er, »damit das Haus zu seinem gewohnten Alltag zurückkehren kann.«

»Und was ist mit denen, die gestorben sind?« bellte Cranston. »Bruno, Alcuin, Callixtus, Roger? Ihr Blut besudelt die Erde und schreit zum Himmel um Rache.« Anselms Blick wurde milder. »Sir John, Ihr habt recht, und ich gebe es zu. Ich habe Euch gebeten herzukommen. Ich habe Athelstan um seine Hilfe gebeten, aber, bei Gott, ehrlich gesagt, fange ich an, diese Entscheidung zu bereuen. Vielleicht ist dies ein Geheimnis, das nicht gelöst werden kann. In der Bibel steht geschrieben: ›Mein ist die Rache, spricht der Herr; ich will vergelten.«‹ Müde hob er die Schultern. »Vielleicht sollten wir es in den guten Händen des Herrn lassen.«

»Unsinn!« schnarrte Cranston. »Gott wirkt durch uns in diesem Tal der Tränen! Wir sind Seine Augen, Seine Nase, Sein Mund, Seine Füße!« Er baute sich vor der Gruppe der Dominikaner auf. »Gerechtigkeit«, fuhr er fort, »muß nicht nur geschehen, sondern man muß auch sehen, daß sie geschieht. Vier Menschen sind ermordet worden. Oh, aye, Pater Prior, sie mögen Dominikaner gewesen sein, aber sie waren auch Engländer und Untertanen der Krone.« Er stieß sich mit dem Finger vor die Brust. »Und diese Angelegenheit wird erledigt sein, wenn ich sage, sie ist erledigt.« Eugenius klatschte spöttisch in die Hände. »Eine hübsche Rede, Sir John, aber ich bin nicht Euer Untertan. Meine Treue gilt dem Generaloberen in Rom und dem Papst in Avignon. Von mir aus könnt Ihr diese Angelegenheit untersuchen, bis die Hölle zufriert, aber dann werde ich nicht mehr da sein.«

Cranston lächelte ihn zuckersüß an, und Athelstan schloß die Augen.

»Hör mal zu, du kleiner Furz!« Der Coroner trat einen Schritt näher und starrte hinunter in Eugenius' braunes Gesicht. »Mir ist egal, wer du bist oder woher du kommst. Du bist in England, du bist in meiner Stadt. Du kannst nach Dover hinuntertraben, und da wirst du feststellen, daß du keine Genehmigung hast, an Bord eines Schiffes zu gehen. In diesem Lande ist das ein strafbares Vergehen!« 

»Ihr droht uns, Sir John!« fauchte William de Conches und zog Eugenius einen Schritt zurück.

»Drohen?« Cranston sah ihn mit gespieltem Erstaunen an und zog die Brauen hoch. »Habe ich gedroht? Ich habe doch nicht gedroht, Meisterfolterer.«

»Ich bin Inquisitor.«

»Du bist ein verdammter Pickel am Arsch«, fuhr Cranston fort. »Ihr zerbrecht die Körper der Menschen, damit ihr an ihre Seelen herankommt. Ihr seid Dreckstücke, alle beide.« Seine Hand fuhr zum Griff seines Dolches, und die beiden Inquisitoren beschlossen, trotz der offensichtlichen Wut auf ihren Gesichtern, daß Reden Silber, Schweigen aber Gold sei.

Cranston sah Anselm an, dann Bruder Niall und Bruder Peter. Athelstan senkte stumm den Kopf; er wußte, daß das Temperament des Coroners hitzig und unberechenbar war. Wenn Sir John einmal in Fahrt gekommen war, sagte er jedem (mit Ausnahme von Lady Maude), wohin er sich seine Meinung stecken könne. Pater Anselm trat einen Schritt vor.

»Sir John« - er sah den Coroner demütig an -, »in gewissem Sinn habt Ihr recht.« Er wandte sich um und schaute seine Mitbrüder an. »Vier unserer Brüder sind tot. Mylord Coroner, Bruder Athelstan, laßt uns einen Kompromiß schließen. Wenn die Angelegenheit nicht bis Samstag abend erledigt, wenn das Geheimnis bis dahin nicht aufgeklärt ist, dann steht uns frei, zu tun, was wir wollen.«

Athelstan ergriff rasch das Wort, bevor Cranston eine schlimme Situation noch schlimmer machen konnte. »Pater Prior, wir sind einverstanden. Nicht wahr, Sir John?«

»Am Arsch!«

Athelstan schenkte seinen Brüdern ein unechtes Lächeln. »Mylord Coroner läßt sich immer gern überzeugen.« Er rieb   

sich die Augen. »Pater Prior, ich danke Euch, daß Ihr gekommen seid.« Er öffnete die Tür. »Am besten lassen wir alles so, wie wir es jetzt entschieden haben.«

Als alle gegangen waren, ließ Athelstan sich erschöpft auf einen Schemel fallen.

»Um der Liebe Gottes willen, Sir John, müßt Ihr denn so unverblümt reden?«

»Mönch, um der Liebe Gottes willen tue ich es ja.«

»Sir John, Ihr wart zu schroff.«

»Leck mich am Arsch, Pfaffe!« Cranston griff nach seinem wunderbaren Weinschlauch und stampfte zur Treppe. »Sir John!«

»Was ist denn, braves Brüderchen?«

»Danke, daß Ihr die Wahrheit gesagt habt. Ihr seid ein guter Mann, Sir John.« Athelstan lächelte. »Gott verzeihe mir, aber den Gesichtsausdruck dieser beiden Inquisitoren werde ich nie vergessen. Wenn der Pater Prior seine Fassung wiedergefunden hat, wird auch er dankbar sein.« Cranston funkelte ihn an. »Darauf kann ich dir nur eines erwidern, Mönch, nämlich die juristische Lieblingsmaxime des Justizbeamten, der vor dir steht.«   

Athelstan verzog schmerzlich berührt das Gesicht. »Und wie lautet die, Sir John?«

»Verpiß dich.«

»Oh, Sir John.«

»›Oh, Sir John‹ — am Arsch!« brüllte Cranston. »Einer von diesen Drecksäcken hat versucht, dich umzubringen; hast du das vergessen?« Und er polterte weiter die Treppe hinauf. Kurze Zeit später folgte ihm Athelstan, aber Cranston hatte die Nase in eines der Bücher gesteckt und blätterte geräuschvoll um, unterstützt von großzügigen Schlucken aus seinem wunderbaren Weinschlauch. Athelstan blätterte weiter in seinem eigenen Band.

»Bei den Zitzen der Hölle!« schnaufte Cranston. »Bruder, sieh dir das an!«

Athelstan trat eilig zu ihm. Der Coroner deutete mit seinem Wurstfinger auf eine Stelle in seinem Buch, wo sieben oder acht Seiten herausgeschnitten worden waren. »Das ist kürzlich gemacht worden«, stellte der Coroner fest. »Und zwar in Hast.«

Athelstan betrachtete die zerfetzten Reste, und er sah, daß der Rand der Seiten, der von der Bindung noch gehalten wurde, ziemlich matt und verblichen war, aber an der Schnittstelle war das Pergament rein und weiß. Er nahm das Buch, ohne auf Cranstons Proteste und Fragen zu achten, und setzte sich auf sein Bett. Es war ein altes Buch und enthielt die unbedeutenden Werke mehrerer Autoren. Er blätterte es durch, klappte es zu und schaute Cranston an, der ein ratloses Gesicht machte.

»Was immer wir gesucht haben«, murmelte Athelstan, »der Mörder hat es bereits gefunden.«

»Wann denn?« rief Cranston. »Die Bibliothek wurde in den letzten Tagen immer bewacht.«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht, als er Callixtus ermordet hat. Vielleicht hat er gesehen, wie der alte Bibliothekar sich nach einem bestimmten Buch streckte, ehe er ihn hinunterstieß. Wie auch immer«, fuhr Athelstan müde fort, »ich vermute, die Seiten aus diesem Buch liegen auf dem Grunde irgendeiner Kloake oder sind zu feiner Asche verbrannt.« Er blies die Backen auf und seufzte. »Laßt uns nur um zweierlei beten, Sir John. Erstens, daß der Kurier, den wir nach Oxford geschickt haben, erfolgreich ist, und daß zweitens das, was er uns dann bringen wird, diese Angelegenheit ein für allemal aufklärt.« Er ließ sich auf das Bett zurücksinken. »Ich schlafe jetzt ein Weilchen, Sir John. Bittet Bruder Norbert, das alles in die Bibliothek zurückzubringen. Wir können vorläufig nichts mehr tun. Laßt uns ruhen. Morgen abend müssen wir in den Palast.«

Als der Coroner nicht antwortete, stemmte Athelstan sich auf dem Ellbogen hoch und sah, daß Sir John bereits schlummerte; er saß wie ein großes Baby auf der Bettkante, nickte mit dem Kopf und schmatzte. Athelstan stand auf, machte es dem Coroner so bequem wie möglich, legte sich in sein eigenes Bett und schlief gleich ein.