Sir John warf seinen Mantel zurück und schob sich den Biberhut in den Nacken.
»Komm, Bruder«, donnerte er und zwinkerte Benedicta zu. »Man braucht uns im Tower. Anscheinend schert der Mord sich nicht ums Wetter.«
Ausnahmsweise war Athelstan froh über Cranstons dramatischen Auftritt. Er musterte ihn eingehend.
»Ihr wart am Rotwein, Sir John?«
Cranston tippte sich an die fleischige Nase. »Ein bißchen«, antwortete er zungenschwer.
»Was wird mit dem Friedhof?« jammerte Watkin. »Sir John, unser Priester muß sich darum kümmern.«
»Hau ab, du stinkiges Männchen!«
Watkins Frau stand auf und starrte den Coroner vorwurfsvoll an. »Lord Coroner, ich bin gleich bei Euch«, schaltete sich Athelstan ein. »Watkin, ich kümmere mich um die Sache, sowie ich zurück bin. Inzwischen sorgst du dafür, daß Bonaventura sein Futter bekommt und die Fackeln gelöscht werden. Cecily, stellst du den Aussätzigen Essen hin?«
Das Mädchen starrte ihn töricht an und nickte.
»Vergiß nicht«, fügte Athelstan hinzu, »tagsüber wandern sie ja meist umher und sorgen selbst für sich.«
Er lächelte selig in die Runde seiner Lieblinge und lief dann rasch die vereiste Kirchentreppe hinunter zum Pfarrhaus. Dort schnitt er sich eine Scheibe Brot ab, spuckte aber schon den ersten Bissen wieder aus, denn es schmeckte sauer und abgestanden. »Dann esse ich unterwegs«, dachte er und packte Pergament, Federkasten und Tintenhorn in seine Satteltasche. Philomel, sein altes Schlachtroß, wieherte leise und stupste ihn, was ziemlich lästig war, weil Athelstan gleichzeitig versuchte, den Sattelgurt unter dem gewichtigen Bauch des betagten Rosses zu befestigen.
»Deine Ähnlichkeit mit Cranston wird jeden Tag größer«, brummelte Athelstan.
Er führte Philomel vor die Kirche und lief die Treppe hinauf. Cranston lehnte an einem Pfeiler, gaffte Cecily an und versuchte gleichzeitig, Bonaventura zu vertreiben, der ihm um die Beine strich. Seit seinem Frankreichfeldzug konnte der Coroner Katzen nicht ausstehen; die Franzosen hatten damals ihre Kadaver in eine kleine Festung, die er hatte halten sollen, hineinkatapultiert, um ansteckende Seuchen zu verbreiten. Bonaventura betete den Coroner an; er schien zu wissen, wann dieser in der Nähe war, und erschien jedesmal.
Athelstan wechselte leise ein paar Worte mit Benedicta und lächelte Watkin und den anderen zu. Dann holte er seinen Kapuzenmantel aus dem Chorraum und kam gerade rechtzeitig zurück, um Cranston festzuhalten, der sonst über Ursulas fette Sau gestolpert und kopfüber die Treppe hinuntergefallen wäre. Der Coroner stürmte hinaus. Mit warnendem Blick bestieg er sein Pferd und fluchte dröhnend über Schweine in Kirchen, und daß ihm jetzt nichts besser schmecken würde als ein Stück saftiger Schweinebraten. Athelstan schwang seine Satteltasche über Philomels Rücken, saß auf und führte Cranston davon in den Fennel Alleyway, ehe er noch mehr Unheil anrichten konnte.
»Warum zum Tower, Sir John?« fragte er eilig, um den Coroner abzulenken.
»Später, Mönch!« schnarrte Cranston.
»Ich bin Ordensbruder und kein Mönch«, widersprach Athelstan leise.
Cranston rülpste und nahm einen Schluck aus seinem Weinschlauch. »Was war denn?« wollte er wissen.
»Eine Versammlung des Gemeinderates.«
»Nein, ich meine den Friedhof.«
Athelstan berichtete, und der Coroner wurde ernst.
»Glaubst du, es sind Satansanbeter? Die Schwarzen Fürsten der Friedhöfe?« fragte er leise und lenkte sein Pferd dichter an Athelstan heran.
Der verzog das Gesicht. »Kann sein.«
»Wer sonst«, versetzte Cranston, »würde sich für verwesende Leichen interessieren? Ich würde die Bande gern ausrotten«, erklärte er mit schwerer Zunge. »In meiner Abhandlung über die Londoner Verwaltung …« Zwei blaue Augen musterten Athelstan, ob er etwa Langeweile zeigte, wenn der Coroner sich über sein Lieblingsthema verbreitete. »In meiner Abhandlung«, fuhr er fort, »schreibe ich, daß jeder beim ersten solchen Vergehen eine schwere Buße und beim zweiten Mal die Todesstrafe zu erwarten hat.« Er zuckte die Achseln. »Aber vielleicht ist es ja auch ein nicht so schlimmer Frevel.«
Athelstan schüttelte den Kopf. »So etwas ist nie nicht so schlimm«, antwortete er. »Ich habe einmal in einer kleinen Kirche bei Blackfriars einen Exorzismus miterlebt. Ein Junge war von Dämonen besessen. Er redete in fremden Zungen und schwebte über dem Boden. Er behauptete, die Dämonen seien nach einer Zeremonie in ihn eingedrungen, bei der der Leichnam eines Erhängten als Altar gedient habe.«
Cranston schauderte es. »Wenn du Hilfe brauchst…«, bot er zögernd an.
Athelstan lächelte. »Das ist sehr gütig von Euch, Lord Coroner. Wie immer verschlägt mir Eure Großzügigkeit die Sprache.«
»Jeder Freund unseres Herrn ist auch der meine«, witzelte Cranston. »Selbst, wenn es ein Mönchlein ist.«
»Ich bin Ordensbruder«, erwiderte Athelstan. »Kein Mönch.« Er schaute Cranston wütend an, der warf den Kopf in den Nacken und und lachte brüllend über seine ewigen Witzeleien auf Athelstans Kosten.
Endlich verließen sie die engen Gassen, wo sie stets dem Schnee ausweichen mußten, der von den steilen Dächern herunterrutschte. Sie bogen in die Hauptstraße ein, die zur London Bridge führte. Die gepflasterte Straße war vereist und von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die im beißend kalten Wind unversehens hochwirbelte. Ein paar Stände waren offen, aber die Händler schützten sich mit Segeltuchplanen gegen den scharfen Wind, der tiefdunkle Schneewolken über den Himmel trieb.
»An einem solchen Tag sollte man zu Hause bleiben«, knurrte Cranston.
Ein Reliquienhändler stand vor dem Gasthaus Zum Abt von Hydes und wollte einen Stab verkaufen, der angeblich Moses gehört hatte. Zwei Gefangene, aneinandergekettet und aus dem Gefängnis Marshalsea entlassen, wo man die Schuldner einkerkerte, bettelten um Almosen für sich selbst und andere arme Unglückliche. Athelstan warf ihnen ein paar Pennies zu; ihre blaugefrorenen Füße hatten sein Mitleid erregt.
Ihre beiden Pferde waren gut beschlagen, aber die wenigen Leute, die unterwegs waren, drohten auf dem tückischen Glatteis das Gleichgewicht zu verlieren. Sie tasteten sich behutsam voran und klammerten sich an jede Häuserkante. Trotz allem, bemerkte Cranston, war die Justiz nicht untätig; vor dem Hospital des Heiligen Thomas war ein Bäcker auf einen Bock gebunden, weil er verschimmeltes Brot verkauft hatte. Athelstan mußte an das alte Brot denken, das er ausgepackt hatte, und sah zu, wie der Unglückliche von einem Esel durch die Straßen gezogen wurde. Ein betrunkener Dudelsackpfeifer schlitterte hinterdrein und spielte eine schrille Melodie, um das Gestöhn des Bäckers zu übertönen. Am Pranger zwang man einen schiefmäuligen Schankwirt, sauren Wein zu saufen, und eine Dirne, der die Fesseln tief ins Fleisch schnitten, wurde von einem schwitzenden Gerichtsdiener ausgepeitscht; mit langen, dicken Stechpalmenzweigen prügelte er auf den Rücken der armen Frau ein.
»Sir John«, sagte Athelstan leise, »das arme Weib hat genug.«
»Zum Teufel mit ihr«, zischte Cranston. »Wahrscheinlich hat sie’s verdient.«
Athelstan schaute dem Coroner in das runde, rote Gesicht. »Sir John, um des Erbarmens willen - was ist los?«
Athelstan spürte, daß der Coroner unter seiner gespielten Vitalität und Weinseligkeit entweder sehr erbost oder sehr besorgt war. Cranston blinzelte und grinste gezwungen. Er zog sein Schwert, trieb sein Pferd zur Seite hinüber zu dem Pfahl und schlug die Seile durch, mit denen die Dirne festgebunden war. Die Frau sank in einem blutigen Haufen zu Boden. Der Gerichtsdiener kam drohend auf Cranston zu; er bleckte die Zähne, und sein häßliches Gesicht wirkte noch grotesker. Sir John schwenkte sein Schwert und zog sich den Schal vom Gesicht.
»Ich bin Cranston, der Coroner der Stadt!« donnerte er.
Der Mann wich hastig zurück. Sir John wühlte unter seinem Mantel herum, zog ein paar Pennies hervor und warf sie der Hure zu.
»Verdiene dir ein ehrliches Stück Brot!« knurrte er.
Ein wütender Blick riet seinem Begleiter, lieber keinen Kommentar abzugeben. Sie ritten weiter, vorbei an den Fischteichen und auf die riesige London Bridge. Die Brücke war vereist und von Nebel verhüllt. Athelstan hielt an und legte Cranston eine Hand auf den Arm.
»Sir John, hier stimmt etwas nicht! Es ist so still.«
Cranston grinste. »Hast du’s noch nicht gemerkt, Bruder? Sieh hinunter: Der Fluß ist zugefroren.«
Athelstan starrte ungläubig über das Brückengeländer. Sonst rauschte und brodelte unten das Wasser. Jetzt hatte sich der Fluß, soweit das Auge reichte, in ein weißes Eisfeld verwandelt. Athelstan reckte den Kopf und hörte die Schreie der Kinder, die sich die Schienbeine eines Ochsen unter die Füße gebunden hatten und dort Schlittschuh liefen. Jemand hatte einen Stand eröffnet, und Athelstans Magen meldete sich unüberhörbar, als ihm der aromatische Duft heißer Rindspastete in die Nase stieg. Sie ritten weiter, vorbei an der St.-Thomas-Kapelle und auf die Bridge Street, nach Billingsgate hinein und dann die Botolph’s Lane hinauf nach Eastcheap. Die Stadt lag wie unter dem Zauberbann einer Eishexe. Nur wenige Läden waren offen, und das gewohnte Geschrei von Lehrjungen und Händlern war unter dem Klammergriff des Winters verstummt. An einem Pastetenladen machten sie halt. Athelstan kaufte sich eine heiße Hackfleischpastete, biß kräftig hinein und genoß den Saft, der herausquoll, und den köstlichen Duft der frischgebackenen Teighülle und des scharfgewürzten Fleisches. Cranston sah ihm zu. »Das schmeckt dir, Bruder?«
»Ja, Herr. Warum eßt Ihr nicht auch?«
Cranston lächelte boshaft. »Das würde ich gerne tun«, antwortete er. »Aber hast du nicht etwas vergessen, Bruder? Wir haben Advent. Da soll man sich des Fleisches enthalten.«
Athelstan schaute sehnsüchtig auf die halbverzehrte Pastete; dann grinste er, aß sie auf und leckte sich die Finger ab. Cranston schüttelte den Kopf.
»Was soll aus uns werden?« klagte er scherzhaft. »Wenn schon die Ordensbrüder das Kirchenrecht ignorieren?«
Athelstan beugte sich vor.
»Ihr irrt Euch, Sir John. Heute ist der dreizehnte Dezember, ein heiliger Tag: das Fest der heiligen Lucia, Jungfrau und Märtyrerin. Also darf ich Fleisch essen.« Er machte ein Kreuzzeichen in die Luft. »Und Ihr dürft doppelt soviel Rotwein trinken wie sonst.« Der Ordensbruder raffle die Zügel seines Pferdes. »Also, Sir John - was führt uns in den Tower?«
Cranston trieb sein Pferd zur Seite, als ein breiträdriger Karren, mit sauren grünen Äpfeln beladen, vorüberrumpelte.
»Sir Ralph Witton, der Konstabler des Tower. Du hast von ihm gehört?«
Athelstan nickte. »Wer nicht? Er ist ein grausamer Soldat, ein tapferer Kreuzritter und ein persönlicher Freund des Regenten, John von Gaunt.«
»Er war es«, verbesserte Cranston. »Heute früh wurde Whitton in seinem Gemach in der nördlichen Bastion des Tower gefunden. Seine Kehle war von einem Ohr zum anderen durchgeschnitten, und auf der Brust war mehr Blut als bei einem abgestochenen Schwein.«
»Irgendeine Spur vom Mörder oder der Waffe?«
Cranston schüttelte den Kopf und blies sich auf die blaugefrorenen Finger. »Nichts«, knirschte er. »Whitton hatte eine Tochter. Philippa. Sie ist verlobt mit Geoffrey Parchmeiner. Anscheinend mochte Sir Ralph den jungen Mann und vertraute ihm. Heute morgen wollte Geoffrey seinen künftigen Schwiegervater wecken und fand ihn ermordet.« Er holte tief Luft. »Und was noch merkwürdiger ist: Sir Ralph vermutete, daß jemand ihm ans Leben wollte. Vier Tage vor seinem Tod bekam er eine schriftliche Warnung.«
»Was stand darin?«
»Das weiß ich nicht, aber anscheinend bekam der Konstabler es mit der Angst zu tun. Er verließ seine gewohnten Gemächer im Turm des White Tower und zog aus Sicherheitsgründen in die Nordbastion. Die Treppe zu seiner Kammer wurde von zwei Gefolgsleuten seines Vertrauens bewacht. Die Tür zwischen Treppe und dem Gang war abgeschlossen. Sir Ralph hatte den einen Schlüssel, die Wachen den anderen. Für Sir Ralphs Kammer gilt das gleiche. Er hatte sie von innen verschlossen, und die beiden Wachposten hatten den anderen Schlüssel.« Cranston lehnte sich plötzlich herüber, packte Philomels Zaumzeug und riß das Pferd zur Seite. Im selben Augenblick rutschte ein dicker Schneeklumpen vom Dach und krachte auf das Eis. »Wir sollten machen, daß wir weiterkommen«, bemerkte der Ordensbruder trocken. »Sonst habt Ihr vielleicht noch einen Toten am Halse, Sir John, und dann seid Ihr der Verdächtige.«
Cranston rülpste und nahm einen großen Schluck aus seinem Weinschlauch.
»Steht der junge Geoffrey unter Verdacht?« erkundigte sich Athelstan.
Cranston schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Beide Türen waren noch abgeschlossen; die Wachen schlossen eine auf, ließen ihn durch und schlossen hinter ihm wieder zu. Anscheinend ging Geoffrey den Gang hinunter zu Sir Ralphs Tür, klopfte an und versuchte, ihn zu wecken. Das gelang ihm nicht, und er holte die Wachen, die ihm aufschlossen. Sie fanden den Konstabler mit durchgeschnittener Kehle auf dem Bett, und die Holzläden vor dem Fenster standen weit offen.« Cranston räusperte sich, und dann wandte er sich ab und spuckte aus. »Noch etwas: Die Wachen haben niemanden ohne rigorose Leibesvisitation vorbeigelassen, auch nicht den jungen Geoffrey. Man fand keinen Dolch bei ihm, und auch in der Kammer war kein Messer.«
»Wovor hatte Sir Ralph solche Angst?«
Cranston schüttelte den Kopf. »Das weiß der Himmel. Aber es gibt eine ordentliche Ansammlung von Verdächtigen. Sein Vertreter, Gilbert Colebrooke, stand mit ihm auf Kriegsfuß und wollte seinen Posten haben. Dann ist da der Kaplan, William Hammond, den Sir Ralph dabei ertappt hat, wie er Lebensmittel aus den Vorräten des Tower verkaufte. Zwei Freunde von Sir Ralph, Hospitaliterritter, waren wie üblich gekommen, um das Weihnachtsfest mit ihm zu verbringen. Und dann ist da noch ein Heide, ein stummer Diener, ein Sarazene, den Sir Ralph vom Kreuzzug aus Outremer mitgebracht hat.«
Athelstan zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht, denn der kalte Wind biß ihm in die Ohren. »Cui bono?«fragte er.
»Was heißt das?«
»Ciceros berühmte Frage: Wer hat etwas davon?«
Cranston schürzte die Lippen. »Eine gute Frage, mein lieber Bruder. Sie führt uns zu Sir Ralphs Bruder, Sir Fulke Whitton. Der wird ein gut Teil vom Vermögen seines Bruders erben.« Cranston verstummte und rülpste leise mit halbgeschlossenen Augen. Athelstan rühmte sich, den dicken Coroner so gut zu kennen wie seine eigene Handfläche.
»Aber, Sir John«, bohrte er, »da ist doch noch mehr, oder?« Cranston klappte die Augen auf. »Selbstverständlich. Whitton war nicht beliebt, weder bei Hofe noch bei den Londonern, und auch nicht bei den Bauern.«
Athelstan war bestürzt. Auf diesen Pfaden waren sie schon öfter gewandelt.
»Ihr meint, dahinter steckt vielleicht die Große Gemeinde?« Cranston nickte. »Könnte sein. Und denke daran, Bruder: Auch einige deiner Pfarrkinder könnten dazugehören. Wenn die Große Gemeinde handelt und die Revolte sich ausbreitet, dann werden die Rebellen versuchen, den Tower zu erobern. Wer ihn beherrscht, beherrscht den Fluß, die Stadt, Westminster und die Krone.«
Athelstan zog die Zügel an und überdachte Cranstons Worte. Es stand nicht gut um London. Der König war ein Kind, sein Onkel John von Gaunt ein höchst unpopulärer Regent. Der Hof war verlottert, aber den Bauern wurden endlos Steuern abgepreßt, und sie waren durch grausame Gesetze an ihre Scholle gebunden. Schon seit einer Weile gab es Gemunkel, Gerüchte, die wie Blätter im Wind trieben: Bauern in Kent, Middlesex und Essex hätten eine Geheimgesellschaft gegründet, die »Große Gemeinde«. Deren Führer planten angeblich den Aufstand und den Marsch nach London. Athelstan kannte sogar einen der Anführer flüchtig - John Ball, ein Wanderpriester und Mann von solcher Beredsamkeit, daß er mit Sätzen wie: »Als Adam pflügt’ und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?« noch die friedfertigsten Bauern in Rebellen verwandeln konnte. War Whittons Tod das Vorspiel zum Drama, fragte sich Athelstan. Und waren seine Pfarrkinder beteiligt? Er wußte, daß sie sich in den Ale-Häusern und Schankstuben trafen und weiß Gott berechtigte Klagen zu führen hatten.
Und wenn der Aufstand käme, was sollte er dann tun? Sich auf die Seite der Behörden stellen oder sich, wie viele Priester, den Rebellen anschließen? Er warf Cranston einen Seitenblick zu. Der Coroner schien seinen Gedanken nachzuhängen; wieder spürte der Ordensbruder die Traurigkeit, die ihn umgab.
»Sir John, fehlt Euch etwas?«
»Nein, nein«, murmelte der Coroner.
Athelstan ließ ihn in Ruhe. Vielleicht, überlegte er, hatte Sir John am letzten Abend zu tief ins Glas geschaut.
Sie ritten die verschneite Tower Street herunter, vorbei an der Kirche, vor der ein Almosenempfänger kniete und für irgendeine Sünde Buße tat; seine Hände, die den Rosenkranz umklammerten, waren hart vom Frost. Athelstan grauste es bei dem Gedanken an die Bußen, die manche seiner Brüder im Priesteramt ihren Gemeindekindern auferlegten. Sir Johns Atem hing wie Weihrauch in der kalten Luft.
»In drei Teufels Namen«, murrte er. »Wann kommt endlich die Sonne wieder?«
Sie waren in Petty Wales angelangt, als plötzlich eine Frauenstimme klar und melodisch ein Weihnachtslied zu singen begann, das Athelstan besonders mochte. Sie blieben einen Augenblick stehen, um zuzuhören, und überquerten dann den eisglatten Platz. Vor ihnen ragten die schneebedeckten Mauern des Tower empor, die Türme, Bastionen, Bollwerke und Zinnen - ein Berg aus behauenem Stein. Die gewaltige Festung schien London weniger zu verteidigen als einzuschüchtern. »Ein bedrückender Ort«, sagte Cranston leise. »Das Haus des Roten Schlächters.« Er warf Athelstan einen eigenartigen Blick zu. »Unsere alten Freunde Mord und Totschlag lauern hier.« Athelstan überlief ein Schauer, nicht nur wegen der Kälte. Sie überquerten die Zugbrücke. Der Graben unter ihnen, das Wasser und auch der grüne Schleim, der es stets bedeckte, waren gefroren. Sie ritten durch den schwarzen Torbogen des Middle Tower. Das große Tor klaffte wie ein aufgerissenes Maul, und das halb herabgelassene Fallgitter waren die Zähne. Von oben grinsten die abgeschlagenen Köpfe zweier im Kanal gefaßter Piraten herunter. Athelstan flüsterte ein Gebet. »Gott schütze uns vor allen Teufeln, Dämonen, Skorpionen und den bösen Geistern, die hier hausen.«
»Gott schütze mich vor den Lebenden«, witzelte Cranston zurück. »Ich fürchte, sogar Satan weint über das Böse, dessen die Menschen fähig sind.« Das Tor war von Soldaten bewacht, die, in braune Wollmäntel gehüllt, unter dem engen Torgewölbe standen.
»Sir John Cranston, der Coroner!« verkündete Cranston mit dröhnender Stimme. »Ich habe die Vollmacht des Königs. Und dies ist mein Schreiber, Bruder Athelstan, der seiner unbestreitbaren Sünden wegen auch Pfarrer von St. Erconwald in Southwark ist. An einem Ort also«, fuhr der Coroner grinsend fort, als er die Empörung in Athelstans Gesicht sah, »wo Tugend und Laster sich aneinander reiben und die Hände schütteln.«
Die Wachen nickten; in der durchdringenden Kälte war jede Bewegung zuviel. Athelstan und Cranston ritten am Byward Tower vorbei und einen gepflasterten Damm hinauf; ihre Pferde rutschten und stolperten auf den eisigen Steinen. Am Wakefield Tower wandten sie sich nach links, und durch einen konzentrischen Kreis von Befestigungsanlagen gelangten sie auf das Tower Green, eine Wiese, die jetzt von dickem Schnee bedeckt war. Auch die großen Kriegsmaschinen waren davon verhüllt: Katapulte, Rammböcke, Steinschleudern und schwere, eisenbeschlagene Karren. Rechts stand eine mächtige, aus Fachwerk erbaute Große Halle, an die weitere Gemächer angebaut waren. Ein Wachposten saß dösend auf der Treppe und blickte nicht einmal auf, als Cranston brüllte. Ein schniefender, rotnasiger Pferdeknecht kam schließlich gerannt und nahm ihnen die Pferde ab. Ein anderer führte sie die Treppe hinauf in die Große Halle. Zwei struppige Jagdhunde schnüffelten in der schmutzstarrenden Binsenstreu am Boden. Einer von ihnen wollte das Bein an Sir Johns Stiefeln heben und knurrte, als der Coroner nach ihm trat.
Die Halle war ein großer, düsterer Raum mit schmutzigem Steinboden und wuchtigen Deckenbalken. Ein Kamin am hinteren Ende war groß genug, um einen Ochsen zu braten. Auf dem Feuerrost türmten sich die Scheite, aber der Kamin war offenbar verrußt, denn der Rauch wurde zum Teil in die Halle zurückgedrückt, wo er wie Nebel unter den Deckenbalken wirbelte. Die Frühmahlzeit war gerade zu Ende; Küchenjungen räumten Zinnbecher und hölzerne Teller von den Tischen. In einer Ecke foppten zwei Männer einen Dachs mit einem Hund; andere drängten sich ans Feuer. Athelstan schaute sich um. Das Leichentuch des Todes lag schwer über dem Saal. Er kannte den Gestank, das Mißtrauen und das unausgesprochene Grauen, das stets auf einen gewalttätigen, geheimnisvollen Mord folgte. Eine der Gestalten am Feuer erhob sich und kam eilig herüber, als Cranston zum zweiten Mal seinen Titel durch die Halle brüllte. Es war ein langer, dünner Kerl mit roten Haaren; seine Augenlider waren rosig und wimpernlos. Eine Adlernase beherrschte das halbrasierte, eckige Gesicht.
»Ich bin Gilbert Colebrooke, der Lieutenant. Sir John, Ihr seid höchst willkommen.« Seine trüben Augen richteten sich auf Athelstan.
»Mein Schreiber«, verkündete Cranston. Dann deutete er auf die Gruppe am Feuer. »Der Haushalt des Konstablers, nehme ich an?«
»Jawohl«, antworte Colebrooke knapp.
»Ja, Mann, dann macht uns bekannt!«
Als sie hinübergingen, standen die Leute, die auf Schemeln am Feuer hockten, auf und begrüßten sie. Man wurde einander vorgestellt, und Cranston beherrschte unweigerlich das Geschehen. Wie immer hielt Athelstan sich zurück und studierte die Leute, die er bald befragen würde. Er würde ihre Geheimnisse ausgraben, vielleicht sogar Skandale aufdecken, die besser verborgen geblieben wären. Da war der Kaplan, Master William Hammond, mager und ernst in seinem schwarzen Gewand. Seine Bewegungen waren wie die eines angreifenden Vogels, sein Gesicht sah ungesund aus, und fettige graue Haarsträhnen zogen sich schütter über den kahlen Schädel. Ein bitterer Mann, schloß Athelstan, mit einer Nase, so spitz wie ein Dolch, kleinen schwarzen Äuglein und einem schmallippigen Mund, so fest verschlossen wie die Börse eines Geizkragens. Zur Rechten des Kaplans stand Sir Fulke Whitton, der Bruder des Toten: glatt und fett, mit freundlichem Gesicht und strohblondem Haar. Sein Händedruck war fest, und er bewegte sich trotz seines beträchtlichen Leibesumfangs mit der Anmut und Geschwindigkeit eines Athleten.
Neben ihm stand die Tochter des toten Konstablers, Philippa. Keine große Schönheit mit ihrem breiten Gesicht, aber sie hatte angenehme braune Augen und hübsches, kastanienbraunes Haar. Sie war ziemlich rundlich und erinnerte Athelstan an einen übermästeten Kapaun. An ihrer Seite stand - oder besser: schwankte - ihr Verlobter Geoffrey Parchmeiner. Sein Haar war schwarz wie die Nacht und geölt und frisiert wie das einer Frau. Er schien ein ganz angenehmer Bursche zu sein; seine Gesichtszüge wirkten kraftvoll, auch wenn sein glattrasiertes Gesicht leicht gerötet war vom blutroten Wein, den er in einem tiefen Becher kreisen ließ. Ein heiterer Bursche, dachte Athelstan, und belustigt schaute er auf Geoffreys enge Hose mit dem vorgewölbten Hosenlatz. Unter einem sarazenischen Wams schaute ein rüschenbesetztes Hemd hervor, und die Spitzen seiner Schuhe waren so lang und dünn, daß sie mit einer roten Kordel an der Wade festgebunden waren. Weiß Gott, wie der sich auf Eis fortbewegt, dachte Athelstan. Er kannte diesen Typus: ein junger Mann, der die Gecken des Hofes nachäffte. Als Pergamenthändler mit einem Laden in Londons Straßen würde Geoffrey Geld genug haben, um sich aufzuführen wie ein Höfling.
Die beiden Hospitaliterritter, von denen Cranston gesprochen hatte, Sir Gérard Mowbray und Sir Brian Fitzormonde, hätten Brüder sein können. Beide trugen das graue Gewand ihres Ordens. Auf den Mänteln prangten dicke, weiße Kreuze. Athelstan kannte den furchterregenden Ruf dieser Mönchsritter und war gelegentlich sogar als Beichtvater in ihrer Festung in Clerkenwell gewesen. Gérard und Brian waren mittleren Alters und, mit ihren sauber getrimmten Bärten, scharfen Augen und kurzgeschorenen Haaren, Soldaten vom Scheitel bis zur Sohle. Sie bewegten sich wie Katzen, Männer im Bewußtsein ihrer Überlegenheit. Krieger, dachte Athelstan, Männer, die töteten, wenn sie ihre Sache für gerecht hielten.
Zwischen ihnen stand ein dunkelhäutiger Mann von geschmeidiger Gestalt, dessen Haar und Bart üppig eingeölt waren. Er trug blaue, weite Hosen und über dem Wams einen Militärmantel. Seine Augen waren ständig in Bewegung, und er beobachtete Cranston und Athelstan, als wären sie Feinde. Der Coroner stellte ihm barsch eine Frage, aber der Bursche starrte ihn nur wortlos an, öffnete den Mund und deutete mit dem Finger. Athelstan wandte den Blick mitleidig ab, als er das schwarze Loch sah, wo die Zunge des Mannes hätte sitzen müssen. »Rastani ist stumm«, sagte Philippa mit überraschend dunkler, heiserer Stimme. »Er war Moslem, hat sich aber zu unserem Glauben bekehrt. Er ist…« Sie biß sich auf die Lippe. »Er war der Diener meines Vaters.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie klammerte sich an den Arm ihres Verlobten, obwohl der junge Mann weniger sicher auf den Beinen war als sie.
Als alle einander vorgestellt waren, rief Colebrooke nach weiteren Schemeln, und als er den gierigen Blick sah, den Sir John auf den Becher des jungen Mannes warf, ließ er auch noch heiße Milch mit Rotwein bringen. Cranston und Athelstan setzten sich in die Mitte. Sir John zeigte keine Hemmungen; er warf den Mantel zurück, streckte seine stämmigen Beine von sich und genoß die Wärme des Feuers. Seinen Becher hatte er in einem Zug geleert, ließ sich nachschenken und schlürfte geräuschvoll. Er schmatzte und ließ seinen Blick über die Runde wandern, als seien alle seine engsten Busenfreunde. Athelstan sprach ein stummes Gebet, während er sein Schreibtablett auf den Knien ordnete: Mochte der Herr dafür sorgen, daß Cranston nüchtern und wach blieb. Geoffrey kicherte, und die beiden Ritter starrten den Coroner ungläubig an.
»Ihr seid der Coroner des Königs?« fragte Sir Fulke.
»Ja, das ist er«, schaltete Athelstan sich ein. »Und Sir John ist nicht immer so, wie er zu sein scheint.«
Cranston schmatzte wieder.
»Nein, nein, das bin ich nicht«, knurrte er. »Und ich schätze, das gilt auch für jeden anderen hier im Raum. Es gibt einen nützlichen Spruch, den Ihr stets bedenken solltet: Ein jeder aus dem Weibe geborene Mann ist dreierlei: Was er zu sein scheint, was er zu sein behauptet, und« - strahlend blickte er in die Runde - »was er in Wahrheit ist.« Lüstern grinste er Philippa an. »Das gleiche gilt auch für das schönere Geschlecht.« Plötzlich fiel ihm Maude ein, und der Gedanke ernüchterte ihn schneller als ein Schwall kalten Wassers. »Und das gleiche«, fuhr er unwirsch fort, »gilt für den Mörder des Konstablers Sir Ralph Whitton.«
»Ihr verdächtigt einen der Anwesenden?« fragte Sir Fulke; jegliche Gleichgültigkeit war jetzt aus seinem Gesicht verschwunden.
»Ja, das tue ich«, knurrte Cranston.
»Das ist eine Beleidigung!« platzte der Kaplan heraus. »Lord Coroner, Ihr seid betrunken. Ihr kommt hier hereingeschwankt, Ihr kennt uns nicht…«
Athelstan legte dem Coroner eine Hand auf den Arm. Er spürte, daß Sir John in gefährlicher Stimmung war, und er sah auch, daß die beiden Hospitaliterritter ihre Mäntel geöffnet, die Dolche in ihren Gürteln freigelegt hatten. Cranston nahm die Warnung an.
»Ich beschuldige niemanden«, sagte er sanft. »Aber es erweist sich meist, daß der Mord - wie die Barmherzigkeit - zu Hause wurzelt.«
»Wir haben es mit drei Problemen zu tun«, warf Athelstan diplomatisch ein. »Wer hat Sir Ralph getötet, warum und wie?« Der Lieutenant schnalzte unhöflich. Cranston beugte sich vor. »Ihr wollt etwas sagen, Sir?«
»Ja, allerdings. Sir Ralph könnte von einem Rebellen aus London ermordet worden sein, von einem Bauern aus den vielen hundert Dörfern der Umgebung oder von einem getarnten Attentäter, der geschickt wurde, um die grausige Tat zu begehen.«
Cranston nickte ihm lächelnd zu.
»Vielleicht«, antwortete er liebenswürdig. »Aber ich werde später auf Eure Theorie zurückkommen. Einstweilen wird keiner von Euch den Tower verlassen.« Er schaute sich in der düsteren Halle um. »Wenn ich den Leichnam gesehen habe, will ich Euch alle noch einmal sprechen, aber in angenehmerer Umgebung.«
Der Lieutenant nickte. »In der St.-John’s-Kapelle im White Tower«, schlug er vor. »Dort ist es warm, sicher und einigermaßen ungestört.«
»Gut. Gut.« Cranston grinste falsch in die Runde. »Dort werde ich Euch treffen. Jetzt wünsche ich Sir Ralphs Leiche zu begutachten.«
»In der Nordbastion«, antwortete Colebrooke, stand abrupt auf und ging ihnen voran aus der Halle.
Sir John folgte ihm schwankend wie eine Galeone, während Athelstan hastig Feder, Tintenhorn und Pergament einpackte. Der Ordensbruder war zufrieden: Er hatte Namen und einen ersten Eindruck, und Cranston hatte seinen üblichen Lieblingstrick angewandt und jedermann befremdet. Der Coroner war gerissen wie ein Fuchs.
»Wenn du Verdächtige grob behandelst«, hatte er einmal erklärt, »werden sie wahrscheinlich weniger Zeit mit Lügen verschwenden. Und, wie du weißt, Bruder, die meisten Mörder sind Lügner.«
Colebrooke wartete am Fuß der Treppe zur Großen Halle und führte sie schweigend am White Tower vorbei, der sich schimmernd aus dem tiefen Schnee erhob. Jeder Absatz, jedes Sims und jedes Fensterbrett waren von Eis und Schnee bedeckt. Athelstan blieb stehen und schaute hoch.
»Prachtvoll!« murmelte er. »Wie groß sind doch die Werke des Menschen.«
»Und wie schrecklich«, fügte Cranston hinzu.
Beide standen für ein paar Augenblicke da und bewunderten die kahlen, weißen Mauern des gewaltigen Turmes. Sie wollten gerade weitergehen, als unter einer Außentreppe am Fuße der Festung eine Tür aufflog. Ein phantastisches Geschöpf mit einem Buckel und dichtem weißen Haar stand plötzlich für einen Augenblick wie angefroren vor ihnen. Sein Gesicht war bleich, und sein Körper war von zahllosen bunten und schmutzigen Lumpen bedeckt; die Füße steckten in viel zu großen Stiefeln. Endlich kam er wie ein Hund auf allen vieren auf sie zu. Schneewolken stoben rechts und links in die Höhe. Der Lieutenant wandte sich fluchend ab.
»Willkommen im Tower!« kreischte das Geschöpf. »Willkommen in meinem Königreich! Willkommen im Tal der Schatten des Todes!«
Athelstan schaute hinunter in das verzerrte fahle Gesicht und die milchigen Augen des Albinos, der vor ihnen kauerte. »Guten Morgen, Sir«, entgegnete er. »Und wer seid Ihr?«
»Rothand. Rothand«, brummelte der Bursche. Seine bläulichen Lippen öffneten sich, und schmutziggelbe Zähne klapperten vor Kälte. »Mein Name ist Rothand.«
»Na, du bist mir ein komischer Halunke, Rothand«, rief Cranston.
Die irren Augen betrachteten den Coroner verschlagen. »Wahnsinn ist, was Wahnsinn treibt«, murmelte Rothand. »Doppelt so verrückt wie einige und halb so verrückt wie andere.« Er holte die Hand hinter dem Rücken hervor und schüttelte einen Stock, an dem eine schmutzige, aufgeblasene Schweinsblase festgebunden war. »Also, meine Schätzchen, wollt Ihr mit Rothand spielen?«
»Verpiß dich, Rothand«, schnarrte der Lieutenant und machte einen drohenden Schritt auf ihn zu.
Der Albino funkelte Colebrooke nur an.
»Der alte Rothand weiß so manches«, sagte er. »Der alte Rothand ist nicht so blöd, wie er aussieht.« Schmierige Klauenfinger streckten sich Athelstan entgegen. »Rothand kann dein Freund sein. Er hat seinen Preis.«
Athelstan schnürte seinen Beutel auf und legte dem Verrückten zwei Münzen in die Hand. »Da«, sagte er leise. »Jetzt kannst du Sir Johns Freund sein und der meine.«
»Was weißt du denn?« fragte Cranston.
Der Albino hüpfte auf und ab. »Sir Ralph ist tot. Hingerichtet vom Finger Gottes. Die dunklen Schatten sind hier. Die Vergangenheit eines Mannes ist immer um ihn. Sir Ralph hätte daran denken sollen.« Wütend starrte er den Lieutenant an. »Und andere sollten das auch tun! Andere auch! Aber Rothand hat zu tun. Rothand muß gehen.«
»Lord Coroner, Bruder Athelstan«, unterbrach Colebrooke, »Sir Ralphs Leichnam wartet.«
»Blut und Schleim anschauen, wie?« krähte Rothand und hüpfte auf und ab. »Ein böser Mann, Sir Ralph. Er hat verdient, was er gekriegt hat!«
Der Lieutenant trat nach ihm, aber Rothand wieselte davon, kreischend und lachend.
»Wer ist das?« fragte Athelstan leise.
»Er war früher Maurer hier. Seine Familie kam vor vielen Jahren bei einem Unfall ums Leben.«
»Und Sir Ralph hat ihn hierbleiben lassen?«
»Sir Ralph war sein Anblick verhaßt. Aber er konnte wenig machen. Rothand ist ein königlicher Günstling. Er war Maurermeister beim alten König, bekommt eine Rente und hat Wohnrecht hier im Tower.«
»Und warum Rothand?«
»Er wohnt in den Kerkergewölben und schrubbt die Folterinstrumente und den Richtblock nach der Exekution.«
Athelstan schauderte es; er zog den Mantel fester um die Schultern. Wahrlich, dachte er, dies war das Tal der Schatten, ein Ort der Gewalt und des plötzlichen Todes. Der Lieutenant wollte weitergehen, aber Cranston hielt ihn am Arm fest. »Wieso hat Rothand gesagt, Sir Ralph sei ein böser Mann gewesen und habe bekommen, was er verdiente?«
Colebrooke wandte den trüben Blick ab. »Sir Ralph war ein seltsamer Mann«, sagte er leise. »Manchmal denke ich, in seiner Seele lauerten Dämonen.«