8. Kapitel

Sie verließen den Tower und ritten durch Eastchepe und Gracechurch, vorbei am Commarket, wo St. Peter on Comhill stand, und in die Cheapside. Der Krach auf dieser Hauptstraße war ohrenbetäubend: Händler, Kaufleute und Lehrjungen schrien sich heiser und versuchten, das entgangene Geschäft aufzuholen. Auch die Gemeindediener und Büttel hatten alle Hände voll zu tun: Zwei Trunkenbolde mit Fässern auf den Köpfen wurden über den Marktplatz geführt, und eine Horde schmutziger, zerlumpter Straßenjungen bewarf die Unglücklichen mit Eis und Schneebällen.

An der Ecke der Threadneedle Street war ein Bettler gestorben. Der Leichnam war inzwischen steif und vor Kälte blau geworden. Ein kleiner Junge versuchte, mit einem Stock zwei hungrig aussehende Hunde zu vertreiben, die verdächtig an den blutigen Füßen des toten Bettlers schnupperten. Cranston warf dem Jungen einen Penny zu, stieg auf ein umgestürztes Faß und brüllte so laut, daß der halbe Markt ihn hören konnte, er sei der Coroner der Stadt, und warum niemand dem armen Bengel helfe, den Toten wegzuschaffen?

»Und wenn du der verfluchte Bürgermeister selbst bist, das ist mir doch egal!« schrie einer der Händler zurück. »Verpiß dich und laß uns in Ruhe!«

Athelstan zog sich die Kapuze über den Kopf und die Ärmel herunter. Er wußte, was jetzt kam. Cranston, ganz in seinem Element, sprang vom Faß herunter und packte den unglücklichen Händler an der Kehle.

»Ihr seid verhaftet, Sir!« donnerte er. »Wegen Hochverrats! Denn dieses Verbrechen habt Ihr begangen. Ich bin der Coroner des Königs. Verspottet mich, und Ihr verspottet die Krone.« Der Mann wurde bleich und riß die Augen auf.

»Und jetzt, Sir«, fuhr Cranston ruhig fort, während die anderen Händler unauffällig verschwanden, »kann ich den Bezirksvorsteher auffordem, ein Standgericht einzuberufen, oder wir können uns auf ein Bußgeld einigen.«

»Ein Bußgeld! Ein Bußgeld!« ächzte der Mann mit jetzt puterrotem Gesicht.

Sir John packte fester zu. »Zwei Shilling!« verkündete er und schüttelte den Kerl so heftig, daß Athelstan einen Schrecken bekam und sich einmischen wollte; aber der Coroner winkte ab. »Zwei Shilling, zahlbar sofort«, wiederholte er.

Der Mann wühlte in seiner Börse und drückte dem Coroner die Münzen in die Hand. Sir John ließ ihn los, und der Mann ließ sich würgend und hustend auf alle viere fallen.

»War das nötig, Sir John?« fragte Athelstan leise.

»Ja, Bruder, das war nötig«, erwiderte Cranston. »In dieser Stadt regiert die Furcht. Wenn ein Händler mich verspotten darf, wird es binnen einer Woche jeder Bastard in London ihm gleichtun.« Cranston runzelte die Stirn, als zwei Büttel, durch den Aufruhr aufmerksam geworden, herankamen. Ihre wichtigtuerischen Mienen veränderten sich, als sie Sir John erkannten.

»Mylord Coroner!« rief einer von ihnen atemlos. »Was wünscht Ihr?«

Cranston deutete auf den toten Bettler. »Laßt den entfernen!« befahl er. »Ihr kennt eure Aufgabe. Wer weiß, wie lange der arme Teufel hier schon liegt. Jetzt bewegt euch ein bißchen, sonst trete ich euch beiden in den Arsch!«

Die Büttel zogen sich unter Verneigungen und Kratzfüßen zurück, als wäre der Coroner der Regent persönlich. Cranston wandte sich dem Jungen zu und schnippte mit den Fingern. Der Junge kam heran; seine Arme und Beine waren dünn wie Reisig, seine Augen groß und rund in einem langen, bleichen Gesicht. Er steckte den Daumen in den Mund.

»Hier, mein Junge.« Cranston drückte die zwei Shilling in die ausgemergelte Hand. »Und jetzt gehst du nach Greyfriars. Das kennst du? Das Kloster zwischen Newgate und St. Martin’s Lane. Frag nach Bruder Ambrose und sag ihm, Sir John hat dich geschickt.«

Der Junge ballte die Faust um das Geld, starrte Sir John an, spuckte ihm sauber zwischen die Stiefel und flitzte davon.

Der Coroner sah ihm nach. »Der Prediger Ball hat recht«, brummte er. »Sehr bald werden in dieser Stadt die Feuer des Aufstands lodern, wenn die Reichen nicht ihre fetten Ärsche bewegen und mehr tun, um den Armen zu helfen.« Er wandte sich ab, und sein Gesicht war ernst und bekümmert. »Glaub mir, Bruder, der Engel des Herrn steht auf der Schwelle, den Dreschflegel der göttlichen Vergeltung in der Hand. Und wenn dieser Tag kommt«, flüsterte er rauh, »dann werden mehr Menschen umkommen, als jetzt hier auf dem Markt sind.«

Athelstan nickte und schaute sich um. Der Marktplatz war voll von reichen Händlern, in Pelze gehüllten Kaufleuten und den wohlhabenden Handwerkern in ihren Jacken aus Kaninchen- und Maulwurfsfell. Die meisten sahen gut genährt, ja, rundlich aus; aber in den Gassen abseits des Marktes sah Athelstan die Armen - nicht solche wie die in seiner Pfarrgemeinde, sondern die Landlosen, die aus ihren Katen vertrieben worden waren und in die Stadt gezogen waren, um Arbeit zu finden, obwohl es hier keine gab. Die Zünfte beherrschten alles, und bald würden die Streuner hinausgeworfen werden; man würde sie über die London Bridge scheuchen, in die Elendsquartiere und die gewalttätige Unterwelt von Southwark.

»Kommt, Sir John«, murmelte er.

Sie ritten die Mercery hinauf und wichen aus, als eine Gruppe von Schuldhäftlingen aus dem Gefängnis Marshalsea, mit Ketten aneinandergefesselt, um Almosen für sich und die anderen Häftlinge bettelten. Die Schenke Zu den Drei Kranichen lag an der Ecke eines Gäßchens gegenüber von St. Mary Le Bow. Benedicta saß vor dem lodernden Feuer und erwartete sie schon. Neben ihr auf dem Boden hockte Orme, einer der Söhne von Watkin, dem Mistsammler. Athelstan steckte ihm einen Penny zu, tätschelte ihm den Kopf, und der Junge wieselte davon.

»Nun, Benedicta, hast du meine Kirche in ordentlichem Zustand verlassen?«

Die Witwe lächelte und öffnete die Spange ihres Mantels. Athelstan fragte sich plötzlich, wie sie wohl in einem Taftkleid in leuchtendem Scharlachrot aussehen würde anstatt der dunklen Braun-, Grün- und Blautöne, die sie immer trug.

»Ist alles in Ordnung?« wiederholte er hastig.

Benedicta lächelte. »Cecily und Watkins Frau haben sich ordentlich beschimpft, aber davon abgesehen werdet Ihr betrübt sein zu hören, daß die Kirche noch steht. Sir John, Euch geht es gut?« Sie verdrehte den Kopf, um den Blick des Coroners auf sich zu lenken; aber der spähte finster zum Wirt hinüber, der bei den großen Weinfässern geschäftig mit anderen Gästen schwatzte.

»Mylady«, gab Cranston zurück, »mir würde es besser gehen« - und er hob die Stimme zum Gebrüll -, »mir würde es besser gehen, wenn ich Bedienung hätte und die Aufmerksamkeit, die einem Beamten des Königs gebührt!«

Der Wirt schwatzte weiter. Cranston ging hinüber und forderte brüllend einen Becher vom spanischen Weißen und Wein für seine Gefährten.

»Was ist mit ihm?« flüsterte Benedicta.

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, Lady Maude hat ihn beunruhigt. Sie benimmt sich geheimnisvoll und verschlossen.«

»Merkwürdig«, sagte Benedicta nachdenklich. »Ich wollte es Euch schon sagen, Bruder. Lady Maude ist vor gut einer Woche in Southwark gesehen worden. Man vergißt sie ja nicht leicht - so zierlich und niedlich, wie sie ist.« Benedicta kniff die Augen zusammen. »Ja, ich bin sicher, man hat mir erzählt, daß sie aus Doktor Vincentius’ Haus kam.«   

»Ist er ein Frauenheld?« fragte Athelstan hastig, und im selben Moment hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Benedicta sah ihn kühl an.

»Bruder Athelstan«, antwortete sie, »könnt Ihr mir einen Mann zeigen, der keiner ist?«

Cranstons Rückkehr bewahrte Athelstan vor weiteren Peinlichkeiten. Der Coroner riß sich die Bibermütze vom Kopf, kratzte sich den kahlen Schädel, zwinkerte Benedicta wollüstig zu und sah dann zu, wie der jetzt ganz verschüchterte Wirt eine große Zinnschale mit Sherry und Rotweinbecher für seine Gefährten herübertrug.

»Ihr wollt nichts essen, Sir John?«

»Nein!« knurrte Cranston. »Ich bin nicht hungrig, und der Wirt würde nach meinem Auftritt bestimmt das verdammte Essen vergiften.«

Benedicta lachte fröhlich. »Sir John, Ihr müßt Euch beruhigen!«

»Nein«, erwiderte Cranston und hob seine Schale. »Heitere Gelassenheit finde ich erst auf dem Boden dieses Bechers!« Benedicta sah ungläubig zu, wie Cranston das Gefäß in einem einzigen Zug leerte, dröhnend nach mehr verlangte und dabei schmatzte, ächzte und leise rülpste. Sie biß sich auf die Unterlippe, um nicht zu lachen.

»Nun, Bruder …« Cranston klopfte sich auf den fetten Wanst. »Mit meiner Entschuldigung an Lady Benedicta - aber was hältst du von Mowbrays Tod … oder von Sir Ralphs?« Athelstan lehnte sich vor und strich mit der Fingerspitze über den Rand seines Weinbechers. »Erstens: Wir haben festgestellt, daß Sir Ralph wahrscheinlich von jemandem ermordet wurde, der den Tower über den zugefrorenen Wassergraben betreten hat. Zweitens: Mowbray wurde durch die Alarmglocke in den Tod gelockt. Drittens: Beide Todesfälle hängen sicher mit dem schrecklichen Verrat zusammen, den Sir Ralph vor so vielen Jahre auf Zypern an Bartholomew Burghgesh begangen hat.« Athelstan lächelte, als er Benedictas fragenden Blick sah. »Du bist verwirrt. Nun, wir sind es auch. Erstens: Wie kann jemand den Tower betreten, Sir Ralph ermorden und dann die Festung verlassen, ohne daß jemand ihn bemerkt? Zweitens: Warum ist Sir Ralph einfach liegengeblieben und hat sich die Kehle so brutal durchschneiden lassen, daß ihm fast der Kopf vom Körper getrennt worden wäre? Ihr habt die Leiche gesehen, Sir John, und auch die Kammer: Da war keine Spur eines Kampfes, und die Wachen haben auch nichts gehört. Drittens: Wer hat die Sturmglocke geläutet und gleichzeitig so feinsinnig dafür gesorgt, daß Mowbray von der Mauer stürzte?«

Das Gesicht des Coroners wurde bei jedem Wort länger.

»Und die Liste der Verdächtigen«, fuhr Athelstan erbarmungslos fort, »ist immer noch lang. Vielleicht sind wir dem Mörder schon begegnet, aber genausogut kann es jemand im Tower oder in der Stadt sein, von dem wir gar nichts wissen.«        

»Ich kenne nicht die ganze Geschichte«, unterbrach Benedicta, »aber in Southwark herrscht Freude über Sir Ralphs Tod.« Sie senkte die Stimme. »Pike, der Grabenbauer, meint, es war das Werk der Großen Gemeinde. Die geheimen Bauernführer wollen die Stadt schwächen, bevor sie ihren großen Aufstand organisieren.«

»Unsinn!« sagte Cranston schwerzüngig; er war schon bei seinem dritten Becher Sherry. »Pike, der Grabenbauer - halten zu Gnaden, Mylady Benedicta -, sollte seinen Mund halten und auf seinen Hals achten. Sir Ralph wurde von keinem Bauern umgebracht.«

Athelstan nahm einen kleinen Schluck Wein und verzog das Gesicht, denn dieser war sehr sauer. »Ein Beteiligter, den wir noch nicht kennen, Mylord Coroner, ist der Kaufmann Adam Horne. Benedicta, bevor wir zu Simon ins Fleet-Gefängnis gehen, müssen wir noch bestimmte Erkundigungen einholen. Willst du uns begleiten?«

Benedicta war einverstanden, und so erhoben sie sich und gingen, nicht ohne daß Cranston dem unglücklichen Wirt noch ein paar Beleidigungen an den Kopf warf. Draußen wurde es dunkel; nur ein roter Schimmer zeigte, wo eben die Sonne untergegangen war. Cranston balancierte vorsichtig auf dem glatten Kopfsteinpflaster und schaute zum Himmel.

»Wieso ist die Sonne abends immer rot?«

»Manche behaupten«, sagte Athelstan, »weil die Sonne in die Hölle hinabsteigt, aber ich glaube, das ist ein Altweibermärchen. Kommt, Sir John.«

Athelstan umkurvte den Coroner und hakte sich taktvoll bei ihm ein; Benedicta übernahm die andere Seite, und sie überquerten die inzwischen verlassene Cheapside. Allenthalben wurden Stände weggepackt, und die letzten eisenbeschlagenen Karren polterten in Richtung Newgate oder ostwärts nach Aldgate. Müde Lehrjungen und Händler machten ihre Läden zu und hängten Lichthörner heraus. St. Mary Le Bow begann mit dem Abendläuten, das Zeichen, daß aller Handel aufzuhören habe, und vier Jungen schleppten einen dicken Weihnachtsklotz zur Tür eines großen Kaufmannshauses. Cranston blieb stehen, um einen Marktwächter in seinem Zollhäuschen an der Ecke der Wood Street nach dem Weg zu fragen. Der Mann deutete zur Ecke Mercery und Lawrence Street.

»Dort findet Ihr Hornes Haus«, sagte er. »Ein schönes Haus mit einer großen schwarzen Holztür und einem Wappen darüber.« Sie machten kehrt und hielten sich in der Mitte der Cheapside, denn der schmelzende Schnee rutschte hier und da von den schrägen Ziegeldächern herunter. Das Hornesche Haus wirkte verlassen; keine Laterne hing über der Tür, nur ein müde aussehender Weihnachtskranz. Cranston trat zurück und schaute zu den bleiverglasten Fenstern hinauf.

»Kein Kerzenlicht«, brummte er.

Athelstan zog Benedicta näher an die Hauswand, um sie vor dem Schnee, der von dem kleinen Vordach über der Haustür herunterrutschen konnte, in Sicherheit zu bringen. Er hob den großen, wie ein Drachenkopf geformten Messingklopfer und ließ ihn krachend fallen. Nichts rührte sich, und so klopfte er noch einmal. Jetzt hörte man Schritte, und eine käsige Magd öffnete die Tür.

»Ist der Ratsherr Horne zu Hause?« fragte Cranston.

Das junge Mädchen schüttelte wortlos den Kopf.

»Wer ist da?« fragte eine Stimme aus der Dunkelheit hinter ihr. »Lady Horne?« rief Cranston. »Ich bin Sir John Cranston, der Coroner. Ihr habt heute den Sheriffs im Rathaus eine Nachricht geschickt?«

Eine Frau trat aus der Dunkelheit, und die brennende Kerze in ihrer Hand ließ ihr kummervolles Gesicht noch bleicher erscheinen. Ihre Wangen waren tränenfeucht, ihre traurigen Augen von dunklen Schatten umringt, und ihr stahlgraues Haar hing unordentlich unter einem weißen Schleier.

»Sir John!« Sie lächelte gezwungen. »Kommt doch herein. Mädchen, zünde die Fackeln auf dem Söller an. Und bring Kerzen her.«

Lady Horne führte sie über einen Gang in einen bequemen, aber kalten Söller. Im Kamin flackerte ein schwaches Feuer. Lady Horne ließ sie Platz nehmen, während das Mädchen Kerzen entzündete. Athelstan sah sich um. Der Raum war luxuriös eingerichtet mit farbenfrohen Wandbehängen und exquisit bestickten Leinentüchem auf Tischen, Truhen und Stuhllehnen. Trotzdem glaubte er, den Gestank der Angst fast zu riechen: Das Haus war zu still. Er sah Lady Horne an, die an der anderen Seite des Kamins saß und einen Rosenkranz aus Elfenbein und Perlen um die Finger geschlungen hatte.

»Möchtet Ihr eine Erfrischung?« fragte sie mit leiser Stimme. Cranston wollte antworten, aber Athelstan schnitt ihm das Wort ab.

»Nein, Mylady. Die Sache ist dringend. Wo ist Euer Mann?«

»Ich weiß es nicht«, wisperte sie. »Diese schreckliche Nachricht kam heute morgen, und Sir Adam ist gleich darauf gegangen. Er sagte, er wolle den Fluß hinauf zu den Speichern.« Sie preßte die Hände zusammen. »Ich habe einen Boten hingeschickt, aber der Junge kam zurück und sagte, mein Mann sei schon weg. Sir John, was ist nur los?« Ihre müden Augen flehten den Coroner an. »Was hat das alles zu bedeuten?«

»Ich weiß nicht«, log er. »Aber Euer Gatte, Lady Horne, ist in schrecklicher Gefahr. Weiß jemand, wohin er gegangen ist?« Die Frau senkte den Kopf, und ein Schluchzen ließ ihre Schultern beben. Benedicta stand auf, kauerte sich neben sie und streichelte sanft ihre Hände.

»Lady Horne, bitte«, drängte Athelstan. »Wißt Ihr etwas über die Nachricht? Wovor hatte Euer Gemahl solche Angst?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber Adam kannte keinen Frieden.« Sie blickte auf. »Er war ein Mann von großem Reichtum, aber nachts wachte er oft auf und schrie etwas von einem feigen, blutigen Mord und war schweißgebadet. Manchmal zitterte er danach noch eine Stunde lang. Aber nie hat er sich mir anvertraut.«

Cranston schaute zu Athelstan herüber und verzog das Gesicht. Der Bruder schaute auf die Stundenkerze, die hinter ihm auf dem Tisch stand.

»Sir John«, sagte er und erhob sich, »es ist fast sieben. Wir müssen gehen.«

»Lady Horne.« Die Kaufmannsfrau wollte aufstehen, aber Cranston legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Bleibt hier und haltet Euch warm; das Mädchen wird uns hinausbringen. Wenn Euer Mann zurückkommt, sagt ihm, er soll mich zu Hause aufsuchen. Das ist nicht weit. Versprecht Ihr mir das?«

Die Frau nickte, bevor sie sich abwandte und in die verlöschende Glut schaute.

Draußen stampfte Cranston mit den Füßen und klatschte in die Hände.

»Diese Frau hat schreckliche Angst«, stellte er fest. »Ich vermute, sie weiß, woher der Reichtum ihres Mannes stammt. Aber was können wir tun? Horne kann überall in der Stadt sein.« Athelstan zuckte die Achseln. »Sir John, Benedicta und ich müssen jetzt ins Gefängnis von Fleet. Wir haben der Pfarrgemeinde versprochen, Simon, den Zimmermann, zu besuchen.«

»Ah ja«, erwiderte Cranston bissig. »Den Mörder.«

»Ihr geht nach Hause?«

Sir John starrte in die Dunkelheit. Gern hätte er das getan, aber wozu? Er würde nur dasitzen und sich um den Verstand saufen. »Sir John«, wiederholte Athelstan, »Lady Maude wartet schon auf Euch.«

»Nein«, antwortete Cranston störrisch. »Ich gehe mit zum Gefängnis. Vielleicht kann ich helfen.«

Athelstan warf Benedicta einen Blick zu und verdrehte dann die Augen gen Himmel. Gern wäre er Sir John losgeworden; er hatte die dauernde schlechte Laune und die jähen Tobsuchtsanfälle des Coroners satt. Er liebte den fetten Edelmann, aber jetzt hätte er ihn zu gern von hinten gesehen. Trotzdem willigte er ein.   

Sie stapften durch den blutbespritzten Schneematsch der Shambles und hielten sich vor dem ekelhaften, fauligen Gestank aus dem Schlachthaus die Nase zu. Dann ging es nach links in die Old Deans Lane, eine schmale Gasse, wo der Spülicht knöcheltief zwischen den dunklen, überhängenden Häusern dahinfloß. In der Feme bellte traurig ein Hund. An der Ecke der Bowyers Row mußten sie einem großen Holzkarren ausweichen, der von vier Pferden mit gestutzten Mähnen und Scheuklappen gezogen wurde. Ihre Nüstern blähten sich im Verwesungsgeruch des Todes. Die Hufe der Pferde und die Räder des Karrens waren mit Stroh umwickelt, und das Gespann schien vorüberzugleiten wie ein grausiger Spuk. Auf einer Ecke des Karrens steckte eine lodernde Fackel und beleuchtete den Kutscher wie ein gespenstisches Relief; vermummt und verhüllt hockte er da, eine grimmige Todesmaske vor dem Gesicht.

»Was ist das?« fragte Benedicta.

Sie hob ihren Mantelsaum vor die Nase. Athelstan schlug ein Kreuz und betete, der Karren möge weiterfahren, aber er blieb neben ihnen stehen. Der Kutscher versuchte, die Pferde zu beruhigen, als zwei kreischende Katzen, die sich um irgendwelches Ungeziefer balgten, aus dem Schatten hervorschossen. Cranston wußte, was auf dem Karren war; er hatte in dem Kutscher den Henker von Tyburn erkannt.

»Nicht hin schauen«, flüsterte er.

Aber Benedictas Neugier war geweckt; sie stützte sich auf Athelstans Arm, stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte über den Rand des Karrens. Entsetzt erblickte sie weiße, gefrorene Kadaver unter einer zerfetzten Segeltuchplane. Die Glieder waren merkwürdig verdreht; um den Hals hatte jeder einen dicken, purpurroten Strich, und ihre ebenso leuchtendroten Gesichter waren verzerrt. Geschwollene Zungen klemmten zwischen eiskalten Lippen, und von den Augen war nur das Weiße zu sehen. »Oh, gütiger Gott!« hauchte sie und lehnte sich an die Hauswand. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, und der Karren rollte weiter.

»Was war das?«

»Die Gehenkten von The Elms«, sagte Cranston. »Nachts werden die Leichen abgeschnitten und in die großen Kalkgruben am Kartäuserkloster gekippt.« Er funkelte die Witwe erbost an. »Ich habe Euch doch gesagt, Ihr sollt nicht hinsehen!« Benedicta würgte und folgte Cranston, auf Athelstans Arm gestützt, durch Ludgate zum Gefängnis.

Der Kerker verbesserte ihre Stimmung nicht. Hinter grauen, düsteren Mauern lugten ein paar finstere Gebäude hervor, und ein schwarzes Tor gähnte vor ihnen wie ein Rachen, der jeden Unglücklichen verschlucken wollte. Cranston zog am Glockenseil, und man ließ sie zu einem Pförtchen herein, das in das mächtige Tor eingelassen war. Ein Wärter führte sie zum Pförtner, der, als er Sir John erkannte, katzbuckelte und einen Kratzfuß nach dem anderen machte. Jetzt war Athelstan doch froh, daß der Coroner dabei war. Sie durchquerten eine große Halle, wo die Schuldhäftlinge eingesperrt waren; Bänke und zwei lange Tische aus Eichenholz waren mit fettigem Schmutz überzogen.        

Die Leute, die an diesen Tischen saßen, waren dreckig und stanken; Männer wie Frauen trugen fadenscheinige Wämse und zerlumpte Mäntel.

Die drei eilten durch die Halle und einen mit Stein ausgelegten Gang hinauf, vorbei an vergitterten Fenstern, wo arme Schuldner ihre Bettelschalen schüttelten und um Almosen winselten. Schließlich ging es über eine schmierige, geborstene Treppe hinunter in die Halle der Verdammten, einen massiven Gewölbekeller, in dessen hintere Wand die Kerkerzellen für die Todgeweihten eingelassen waren.

»Wen wollt Ihr sprechen?« fragte der Pförtner.

»Simon, den Zimmermann.«

Der Pförtner kramte einen Schlüssel hervor und schloß eine der Kerkertüren auf.

»Los, Simon!« brüllte er hinein. »Eine seltene Gunst! Der Coroner der Stadt London, ein Ordensbruder und eine schöne Dame! Was kann man mehr verlangen?«

Simon kam aus der Zelle gekrochen. Athelstan erkannte ihn kaum wieder: Sein Gesicht war voller Geschwüre, sein Haar lang und verfilzt und voller Ungeziefer. Seine Kleider hingen in Fetzen, und er trug schwere Ketten. Mühsam kam er auf sie zugeschlurft und hob die gefesselten Hände, um sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Seine Lippen waren blau vor Kälte, und die Augen über den gelben, eingefallenen Wangen glänzten fiebrig.

»Pater, bringt Ihr mir einen Gnadenbescheid?« fragte er hoffnungsvoll.

Athelstan schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Ich bin nur gekommen, um dich zu besuchen, Simon. Kann ich etwas für dich tun?«

Der Zimmermann sah erst ihn, dann Benedicta an; plötzlich warf er den Kopf in den Nacken und lachte hysterisch, bis der Kerkermeister ihm ins Gesicht schlug. Der Verurteilte sackte zu Boden und kauerte dort wie ein geprügelter Hund. Athelstan kniete neben ihm.

»Simon!« murmelte er. »Simon!«

Der Zimmermann hob den Kopf.

»Willst du die Absolution? Ich nehme dir die Beichte ab.«

Der Mann sah ihn verzweifelt an.

»Es ist nicht mehr zu ändern«, flüsterte Athelstan. »Morgen um diese Zeit, Simon, bist du bei Gott.«

Der Zimmermann nickte und begann zu weinen wie ein Kind. Athelstan drehte sich um.

»Sir John, Benedicta - bitte, laßt mich einen Augenblick mit ihm allein.«

Die beiden zogen sich zurück; der Coroner befahl dem Wärter, ihnen zu folgen, und zum zweitenmal an diesem Tag nahm Athelstan einem zum Tode Verurteilten die Beichte ab. Zu Anfang sprach Simon sehr langsam, und Athelstan hatte große Mühe, Haltung zu bewahren, denn die Kälte des Verlieses drang durch seine Kutte und verwandelte seine Beine in Eisblöcke. Aber dann ließ Simon seinen Gefühlen freien Lauf. Er sprach alles aus - eine jammervolle Litanei des Scheitems, deren Höhepunkt die Vergewaltigung eines Kindes war. Athelstan hörte ihm zu, erteilte ihm die Absolution und erhob sich. Er rieb sich die steifen Beine, um das Leben zurückzubringen, und der Wärter kam heran.

»Morgen, Simon«, flüsterte Athelstan. »Ich werde an dich denken. Und - Simon?«

Der Verurteilte blickte auf.

»Wenn du vor dem Thron Gottes stehst, denke an mich.«

Der Zimmermann nickte. »Ich wollte es nicht tun, Pater. Ich war einsam, und ich hatte zuviel getrunken.«

»Ich weiß«, sagte Athelstan leise. »Gott helfe dir und ihr!« Er drehte sich nach dem Wärter um und warf ihm eine Silbermünze zu. »Eine gute Mahlzeit für ihn, Sir.«

Der Wärter fing die Münze und nickte.

»Eine gute«, wiederholte Athelstan. »Ich frage nach, vergiß das nicht.«

Er wollte gerade gehen, als Simon ihn rief. »Pater?«

»Ja, Simon?«

»Ranulf, der Rattenfänger, war heute hier. Ein Metzger in den Shambles hatte ihn kommen lassen. Er sagte, Ihr wart im Tower wegen Sir Ralph Whittons Tod.« Der Zimmermann grinste. »Ich habe zwar gerade gebeichtet, aber es ist doch gut zu wissen, daß dieser Dreckskerl vor mir dahingefahren ist. Ein seltsamer Ort, der Tower, Pater.«

Athelstan nickte. Er hatte das Gefühl, Simon wollte den Besuch in die Länge ziehen.

»Ich habe da mal gearbeitet«, sagte der Zimmermann. »Ein seltsamer Ort. Schlimmer als dieser hier.«

»Warum, Simon?«

»Hier haben die Zellen wenigstens Türen. Im Tower gibt es Räume, Verliese, da geht man rein, und dann werden die Türen zugemauert, und man sitzt bis zum Tod hinter einer Mauer aus Stein.«

»Ist das wahr?« Athelstan lächelte. »Gott sei mit dir, Simon.«

Er ging die Treppe hinauf zu Cranston und Benedicta. Keiner sprach ein Wort, bis sie das Gefängnis verlassen hatten und die Pforte hinter ihnen ins Schloß gefallen war.

»Der Vorraum der Hölle«, murmelte Athelstan, als sie im Schatten der dunklen St.-Pauls-Kirche die Bowyers Row hinuntergingen. Bei der Friday Street wollte Sir John sich verabschieden. Athelstan nahm ihn beiseite und schaute ihm in die traurigen Augen.

»Ich danke Euch, daß Ihr mitgekommen seid, Sir John. Geht in Frieden und sprecht mit Lady Maude; ich bin sicher, es wird alles gut.«

Cranston kratzte sich am Kopf. »Wer weiß, Bruder - aber das einzig Gute, was ich heute getan habe, war, Fitzormonde zuzuhören und diesem Kind zu helfen. Du weißt schon, dem Kleinen bei dem toten Bettler.«

»Und Ihr seid mit uns ins Gefängnis gekommen.«

»Aye«, brummte Cranston. »Ein Pardon für Simon konnte ich nicht erwirken; aber eine letzte Gnade.«

»Was heißt das, Sir John?«

»Ich habe eine Münze für den Henker dagelassen. Simon wird nicht tanzen. Man wird ihn sehr hoch auf die Leiter steigen lassen.« Cranston schnippte mit den Fingern. »Es wird ihm das Genick brechen, und alles ist sehr schnell vorbei.« Der Coroner stampfte mit den Füßen und schaute in den sternenklaren Himmel. »Mach jetzt, daß du nach Hause kommst, Bruder. Die Sterne warten auf dich.« Er wandte sich ab und stapfte die Straße hinauf. »Ich wünschte bloß«, rief er im Gehen, »wir hätten den Ratsherrn Horne gefunden!«