12. Kapitel

Athelstan war wütend. Er fühlte den Zorn in seinen Gedärmen brennen, bis ihm das Blut in den Ohren rauschte. Für einen Augenblick war dem Bruder alles egal - die Lehren seines Ordens über die Sanftmut oder die Verpflichtung zur Güte, die das Evangelium enthielt. Jetzt zählte nur noch der Zorn, der in ihm tobte, als er auf dem Friedhof vor der Kirche von St. Erconwald stand. Der Schnee hatte sich in eisigen Matsch verwandelt, der von Gräbern, Bäumen, Büschen und niedrigen Friedhofsmauern tropfte; bei klarem Himmel und kraftloser Wintersonne hielt das Tauwetter an. Athelstan fluchte und benutzte jedes Schimpfwort, das er von Cranston gelernt hatte. Mit dem Stab schlug er gegen das lose Mauerwerk und hätte am liebsten die Ziegel zu Staub zermahlen.

Oh, bei seiner Rückkehr war alles in bester Ordnung gewesen:

Bonaventura hatte wohlig zusammengerollt wie ein fetter Bischof in der Kirche geschlummert. Cecily hatte das Kirchenschiff gefegt und gewischt; Benedicta und Watkin hatten in einem Seitengang die Krippe aufgestellt - mit Figuren, die Huddle geschnitzt hatte. Gleich über dem Taufbrunnen am Eingang der Kirche hatte der Maler auch ein leuchtend buntes Bild Christi in der Krippe vollendet. Sogar Ursulas Schwein hatte diesmal die üblichen Raubzüge durch seinen Garten unterlassen, und Pike, der Grabenbauer, hatte den Kiesweg vor der Kirche gereinigt.   

Athelstan war zufrieden gewesen und hatte über Pfarrangelegenheiten geschwatzt, während er Philomel in den Stall gebracht, getränkt und gefüttert hatte. Aber schon da war ihm die bange Sorge in den Gesichtem derer aufgefallen, die ihn begrüßt hatten: Benedicta, Pike, Watkin, Cecily und Tab, der Kesselflicker. Sie waren ihm um die Kirche herum gefolgt, hatten seine Fragen beantwortet und dabei verstohlen ängstliche Blicke gewechselt.

Anfangs hatte Athelstan ihre Unruhe nicht so ernst genommen. Vielleicht hatte Cecily wieder geflirtet, oder einer von Pikes Söhnen hatte in die Kirche gepinkelt. Oder hatte Ranulf sich Bonaventura ausgeliehen? Hatten Watkins Kinder aus dem Weihwasserbecken getrunken? Die Mitglieder seines Gemeinderates umgaben ihn wie gackernde Hühner. Schließlich hatte Athelstan genug von ihrer Heimlichtuerei.

»Also, heraus damit!« verlangte er und baute sich vor ihnen auf. »Was ist passiert?«

Sie scharrten mit den Füßen und schauten zu Boden. Benedicta kümmerte sich plötzlich eingehend um einen unsichtbaren Fleck auf ihrem Kleid.

»Es ist wegen dem Friedhof, Pater!« platzte Watkin heraus. »Tosspots Grab ist aufgemacht worden.«

»Wann?«

»In der Nacht, nachdem Ihr weggeritten seid.«

Athelstan war so wütend geworden, daß er Ausdrücke benutzte, die selbst Pike erbleichen ließen.

»Vielleicht unternimmt Sir John jetzt etwas«, unterbrach Benedicta ihn taktvoll. »Oder wir schreiben eine Petition an den Bezirksamtmann.«

»Aye!« fauchte Athelstan. »Und vielleicht können Schweine fliegen, und morgen finden wir Koteletts auf den Bäumen! Leute, die etwas so Schreckliches tun, sind Dreckskerle! Sie sind böse und fürchten weder Gott noch die Menschen. Selbst die Heiden ehren den Leib eines Toten. Nicht einmal ein Hund würde so etwas tun!«

Seine Schäfchen wichen zurück; die schreckliche Wut ihres sanftmütigen Priesters schreckte sie mehr als die grausige Nachricht, die sie ihm gebracht hatten. Athelstan stürmte in sein Haus und leerte einen Becher Wein mit einer Geschwindigkeit, die Cranston bewundert hätte.

Er schlief unruhig in dieser Nacht, denn er kochte noch immer vor Wut über die Entweihung seines Friedhofes. Am nächsten Morgen stand er früh auf, öffnete die Kirche, fütterte Bonaventura flüchtig, leierte hastig die Morgengebete herunter und konzentrierte sich mit Mühe auf die heilige Messe. Der Kater Bonaventura, schlau, wie er war, schien die Wut seines Herrn zu spüren und schlich sich leise davon. Am Ende des Gottesdienstes, vor dem Schlußsegen, sagte Athelstan in scharfem, knappem Ton:

»Unser Friedhof ist wieder einmal geschändet worden. Ich, Athelstan, Pfarrer dieser Gemeinde, sage, und Gott sei mein Zeuge: Hier wird niemand mehr beerdigt werden, ehe die Erde neuerlich geweiht und dieses Problem aus der Welt geschafft ist!« Mit funkelnden Augen sah er seine kleine Gemeinde an. »Ich werde zu den Höchsten des Landes gehen, und wenn es der junge König selbst ist oder der Erzbischof von Canterbury.        

Man wird Wachen aufstellen und - Gott verzeihe mir! - ich werde diese Schurken hängen sehen!«

Seine Gemeinde ging still hinaus, und Athelstan bekam, als er sich allmählich beruhigte, leise Gewissensbisse, als er auf Tosspots verwüstetes Grab schaute.

»Dein Temperament, Priester«, brummte er bei sich, »ist so wenig gezähmt wie vor zwanzig Jahren, und deine Zunge ist so scharf wie eh und je.«

Er atmete tief. Ja, er war zu hart gewesen, dachte er, war viel zu schroff mit Benedicta und den anderen umgegangen, aber vor allem mit der Witwe. Sie war nach der Messe noch einen Augenblick geblieben - nicht, um zu plaudern, sondern nur, um ihm zu sagen, daß der Oberbüttel des Bezirks, Master Bladdersniff, sie auf dem Weg zur Kirche angesprochen habe. Er wünsche Athelstan in einer dringenden Angelegenheit zu sehen.

»Ah ja«, knurrte Athelstan, »Master Bladdersniff will, wie gewöhnlich, die Stalltür verriegeln, wenn das Pferd fortgelaufen ist!« Er fühlte, wie die Wut von neuem in ihm aufwallte. Wäre St. Erconwald eine der reichen Stadtkirchen gewesen, dann hätte man sofort Wachen aufgestellt, und nichts dergleichen wäre geschehen. Nicht einmal Cranston, dieser Fettarsch von Coroner, hatte ihm geholfen, weil er wie eine jammernde Magd in seine eigenen Sorgen vertieft war.

Athelstan schaute sich auf dem Friedhof um; es war so kalt, so trostlos. Pater Peter fiel ihm ein, und er beneidete den Pfarrer von Woodforde um seine stille Häuslichkeit. »Verdammter Cranston!« murrte Athelstan. »Diese verfluchten Morde! Der verflixte Tower! Die verfluchten Herzen der Menschen und ihr böses Treiben! Ich bin ein Priester!« zischte er bei sich. »Nicht irgendein Gehilfe des Sheriffs!«

»Pfarrer Athelstan?«

Der Ordensbruder drehte sich um und funkelte den jungen Boten an, der in Mantel und Kapuze hinter ihm stand.

»Ja, Mann, was gibt’s?«

»Ich komme aus dem Tower. Sir John Cranston schickt mich. Er erwartet Euch in der Taverne Zum Heiligen Lamm an der Cheapside.«

»Sag dem Coroner«, versetzte Athelstan, »daß ich komme, wenn ich komme, und ich rate ihm, nüchtern zu sein!«

Der junge Mann sah ihn überrascht und gekränkt an. Athelstan zog eine Grimasse und spreizte die Hände.

»Mein Gott, Mann, es tut mir leid. Paß auf, du sagst Sir John, ich komme, sobald ich kann.«

Er trat einen Schritt näher und sah das bleiche, verkniffene Gesicht und die tropfende Nase. »Du frierst ja. Geh hinüber in mein Haus; da steht ein Krug Wein auf dem Tisch. Nimm dir einen Becher voll - du findest einen auf dem Bord über dem Kamin. Trink etwas von dem gewürzten Wein, damit du was Warmes in den Bauch kriegst, bevor du zurückläufst.«

Der Bote lief davon wie ein Windhund.

»Ach, übrigens«, rief Athelstan ihm nach, »ich habe gemeint, was ich gesagt habe: Sir John soll nicht so viel trinken.« Langsam ging Athelstan zurück zu seiner Kirche, stieg die Treppe hinauf und betrat den Vorraum.

»Pater?«

Athelstan schrak zusammen, als Master Luke Bladdersniff, der Oberbüttel des Bezirks, aus dem Schatten hervortrat; sein hageres, gelbliches Gesicht und das dünne Blondhaar verschwanden fast unter einer zerdrückten Bibermütze.

»Guten Morgen, Büttel.«

Athelstan betrachtete den Bezirksdiener; seine eng zusammenstehenden Augen waren dunkel umrändert und glichen tatsächlich Pißlöchem im Schnee, wie Cranston sie treffend beschrieb. Die Nase des Mannes hatte Athelstan schon immer fasziniert. Sie war gebrochen und leicht verbogen und verlieh Bladdersniff ein etwas komisches Aussehen, das schlecht zu der bombastischen Wichtigtuerei paßte, mit der der Bursche aufzutreten pflegte. Athelstan winkte ihn müde in die Kirche.

»Master Bladdersniff, Ihr seid bestimmt gekommen, um zu besprechen, weshalb mein Friedhof geschändet und die Gräber beraubt werden, ohne daß Ihr und der Bezirksrat irgend etwas dagegen unternehmt?«

Bladdersniff schüttelte den Kopf und spähte über die Schulter in die Dunkelheit des Kirchenvorraums.

»Was ist, Mann? Was gibt’s da drüben?«

Der Büttel klappte den Mund auf und zu wie ein gestrandeter Karpfen, und Athelstan schaute aufmerksamer hin. Der Kerl sah aus, als wolle er sich gleich übergeben. Sein bleiches Gesicht war grünlich überhaucht, und die dunklen Augen waren wäßrig, als ob Bladdersniff heftig gewürgt hätte.

»Um Himmels willen, Mann, was ist los?«

Wieder schaute der Büttel nach hinten ins Dunkel.

»Es ist wegen Tosspot«, flüsterte er.

»Was?«

»Tosspot! Oder wenigstens ein Teil von ihm.« Bladdersniff bedeutete dem Priester, ihm zu folgen.

Athelstan nahm sich einen Kienspan und ging hinter dem Büttel her, der in einer dunklen Ecke des Kirchenvorraums vor einem schmutzigen Stück Leinwand stehenblieb. Bladdersniff zog den Stoff beiseite, und Athelstan wandte sich angeekelt ab. Da lag das Bein eines Mannes, ein Teil davon wenigstens, so säuberlich und glatt über dem Knie abgeschnitten wie ein Stück Stoff von einem erfahrenen Schneider. Athelstan starrte den blutigen Stumpf und die fleckige Haut an.

»Gütiger Gott!« hauchte er, und der Gestank der Verwesung von dem etwas aufgedunsenen Fleisch drang ihm in die Nase. »Deckt das zu, Mann! Deckt es zu!«

Athelstan löschte seinen Kienspan, ging zur Kirche hinaus und blieb an der Treppe stehen; er atmete die frische Morgenluft in tiefen Zügen. Hinter sich hörte er Bladdersniff.

»Wie kommt Ihr darauf, daß das Tosspot gehörte?«

»Ihr erinnert Euch bestimmt, Pater, daß Tosspot seiner Kundschaft in der Schenke immer von seiner alten Kriegsverletzung erzählt hat, einer Pfeilwunde im Bein. Dauernd zeigte er seine Narbe herum wie eine Reliquie.«

Athelstan nickte. »Aye. Das tat der alte Tosspot immer, wenn er betrunken war.« Er sah den Büttel an. »Und dieses Bein trägt die gleiche Narbe?«

»Ja, Pater, unter dem Knie.«

»Wo wurde es gefunden?«

»Wollt Ihr es sehen?«

»Ja.«

Bladdersniff führte ihn die Bridge Street hinunter, über die Jerwald hinweg und in die Longfish Alley, die hinunter zur Broken Wharf am Fluß führte. Unterwegs sprach Athelstan kein Wort, und die Leute, die ihn kannten, traten beiseite, als sie den wildentschlossenen Ausdruck in dem sonst so sanften Gesicht des Priesters sahen.

Athelstan bemerkte kaum etwas außer dem schmutzigen Schlamm auf den Straßen, durch die sie kamen. Er ignorierte jeden Gruß und schien die Händler und Höker, die hinter ihren wackligen Ständen nach Kundschaft schrien, gar nicht wahrzunehmen. Selbst die stramm in den Block geschlossenen Gauner am Pranger erregten diesmal nicht sein Mitgefühl, und auch Bladdersniff behandelte er, als sei der Büttel nicht vorhanden. Athelstan fühlte sich von Herzen krank. Wer konnte dem Leichnam des armen Tosspot so etwas antun?

Sie erreichten die Broken Wharf oberhalb des Flußufers; Bladdersniff nahm den Ordensbruder beim Arm und deutete hinunter auf die schmutzigen Schlickbänke, wo Möwen und Krähen sich um den angeschwemmten Müll balgten. Athelstan schaute auf die Themse. Das Wasser war so schmutzig und dunkel wie seine eigene Stimmung. Immer noch trieben große Eisschollen vorbei, krachten kreiselnd aneinander und prallten donnernd gegen die Bogenpfeiler der London Bridge.   

»Wo habt Ihr es gefunden?«

»Da unten, Pater«, antwortete Bladdersniff knapp. »Im Schlick, in ein Stück Leintuch gewickelt. Ein Bengel, der nach Treibholz suchte, hat es gefunden und zu einem der Händler gebracht, der Tosspots Narbe wiedererkannte.« Der Büttel hustete nervös. »Ich habe von den Grabräubereien auf Eurem Friedhof gehört.«

»Ach ja? Das freut mich aber«, sagte Athelstan mit falschem Lächeln. »Glaubt Ihr, das Bein wurde angeschwemmt?«

»Ja. Zu jeder anderen Zeit hätte der Fluß es fortgetragen. Aber der schwere Eisgang hat die Strömung verändert, und deshalb ist der Beutel ans Ufer gedrückt worden.«

»Mit anderen Worten, es ist hier hineingeworfen worden?«

»Ja, Pater. Entweder hier oder irgendwo in der Nähe.« Athelstan schaute auf die Schlickbänke und Mauern, die sich zur Linken bis zur London Bridge erstreckten. Das Gelände war zu offen, überlegte er. Kein Verbrecher würde sich auch nur im Traum einfallen lassen, eine so schreckliche Tat an einem Ort zu begehen, wo er gesehen werden konnte. Sein Blick ging nach rechts, zu der langen Reihe großer Häuser, deren Gärten bis zum Fluß reichten. Eine Erinnerung regte sich. »Könnte das sein?« murmelte er, »ich frage mich wirklich …?«

»Was denn, Pater?«

»Nichts, Master Bladdersniff. Geht zurück zu meiner Kirche, nehmt, was von dem armen Tosspot übrig ist, und begrabt alles, wie Ihr es für richtig haltet.«

»Aber, Pater, es ist nicht meine …«

»Tut, was ich sage!« bellte Athelstan. »Tut es oder verantwortet Euch vor dem Coroner der Stadt, Sir John Cranston!«

»Der ist hier nicht zuständig.«

»Nein, aber das kann er leicht ändern«, versetzte Athelstan. »Um Himmels willen, Mann, tut es für mich. Tut es für den armen Tosspot. Bitte.«

Bladdersniff starrte ihn an, nickte dann und marschierte davon. Athelstan kehrte nach St. Erconwald zurück. Er hatte eines der Häuser am Fluß wiedererkannt und zugleich daran gedacht, wie sauber und glatt das Bein abgetrennt worden war. Erinnerungen an seine Zeit als Soldat in den Notlazaretten bei den Truppen des alten Königs in Frankreich waren erwacht. Und Athelstan dachte an den Friedhof. Wo waren die Leprakranken? Wieso hatten sie nichts bemerkt? Athelstan dachte an die Aussätzigen, die er in der Nähe von St. Paul gesehen hatte, als er mit Cranston bei Geoffrey Parchmeiner gewesen war. Ihre Bettelschalen! Athelstan blieb mitten auf der Lad Alley stehen. »O mein Gott!« wisperte er. »Oh, um der himmlischen Barmherzigkeit willen!« Der weiße Kalkstaub, den er nach der Messe an seinen Fingern bemerkt hatte, nachdem er die heilige Hostie durch die Lepraspalte nach draußen geschoben hatte … Dem Bruder wurde plötzlich schwindlig, und er lehnte sich an eine urinfleckige Mauer. Andere Erinnerungen kamen ihm. »Natürlich!« flüsterte er. »Deshalb wurde der Friedhof eine Zeitlang in Ruhe gelassen. Der Frost! Erst als der Fluß wieder auftaute, konnten sie das, was sie gestohlen hatten, verschwinden lassen!« Athelstans Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Diese Schweine«, zischte er. »Diese verkommenen Schweine!«        

Er stapfte die Lad Alley hinunter zu einer der belebten Hauptstraßen, die parallel zum Fluß verliefen. Ein kleiner Junge, der einem Ball nachlief, rutschte in dem eisigen Matsch aus und prallte gegen ihn. Athelstan packte ihn so fest bei der Schulter, daß der Junge schmerzlich das Gesicht verzog.

»Pater, Pater, das wollte ich nicht! Ehrlich!«

Athelstan sah das bleiche Gesicht des Kleinen. »Es tut mir leid«, antwortete er sanft. »Ich wollte dir nicht weh tun. Hier, mein Junge - für einen Penny bringst du mich zum Haus des Doktor Vincentius. Du kennst den Arzt?«

Der Junge schüttelte den Kopf, lief aber zu einem Ladenbesitzer, der ihm den Weg erklärte. Dann führte er Athelstan durch eine Gasse auf eine stille Straße mit großen Fachwerkhäusern, an denen allerdings inzwischen die Farbe abblätterte; ihre schmutzigen Fassaden erinnerten an bessere Zeiten und vergangenen Wohlstand. Der Junge deutete auf das dritte Haus; die Fensterläden waren verschlossen, aber die große Haustür war frisch gestrichen und mit glänzenden Stahlbändern verstärkt. Athelstan gab dem Jungen den Penny und klopfte an die Tür, bis er von drinnen schnelle Schritte hörte und der Riegel zurückgezogen wurde. Ein junger Mann mit glatten, strähnigen Haaren öffnete; er trug eine blaue cote-hardie mit einem Besatz aus Eichhörnchenfell. Als er den Priester sah, riß er erschrocken die Augen auf.

»Bruder Athelstan!«

»Woher kennst du meinen Namen, du Mistkerl?« schrie der Ordensbruder und stieß ihn gegen die Wand. »Wo ist Doktor Vincentius?«

»In seiner Kammer.«

Athelstan wartete nicht, bis der Bursche ihn hinführte, sondern lief den weißgekalkten Steinkorridor hinunter und riß die Tür am Ende auf. Vincentius saß hinter einem großen Eichenholzschreibtisch in einem warmen, dunklen, holzgetäfelten Zimmer. Athelstan sah Regale voller Pergamentrollen und eine Tierkreiskarte an der Wand; es duftete nach Kräutern und Gewürzen, und ein kleines Holzfeuer knisterte munter im Kamin. Der Doktor erhob sich. Seine dunklen Augen blickten wachsam, aber ein Lächeln überzog das braune Gesicht.

»Bruder Athelstan! Was gibt es? Was wünscht Ihr …?«

»Zuerst dies!« Athelstan gab dem Doktor einen heftigen Stoß; Vincentius flog rückwärts gegen die Wand, stieß einen kleinen Tisch um, und ein gelber Schädel fiel krachend auf den von Karten übersäten Boden. Der Doktor rappelte sich auf und betupfte eine Wunde am Mundwinkel. Seine dunklen Augen machten sich über den Priester lustig.

»Ihr wirkt erzürnt, Pater?«

Athelstan hörte den jungen Mann hinter sich.

»Es ist schon gut, Gidaut«, murmelte Vincentius. »Aber wir sollten wohl wieder einmal packen.«

Athelstan funkelte den Arzt an, während sich hinter ihm leise die Tür schloß.

»Ihr seid ein Hund, Doktor! Ein Ketzer! Ein Grabschänder! Ich habe gerade gesehen, was vom Leichnam des armen Tosspot übrig ist. Wenn der Bezirksaufseher einen Funken Verstand hätte, wäre er mit der Stadtgarde schon hier. Nur ein erfahrener Arzt könnte ein Bein so sauber abtrennen.« Er trat näher an das Schreibpult heran. »Und lügt jetzt nicht! Ihr und Eure Kreatur da draußen …« Athelstan deutete auf die Tür. »Ein gerissenes Paar. Gekleidet wie Aussätzige, mit Gesichtsmasken aus kalkbestäubter Tierhaut - so habt Ihr bei Tag auf meinem Friedhof gehaust und gesehen, was da vor sich ging. Und nachts kamt Ihr dann natürlich zurück und habt Euch geholt, was Ihr wolltet.« Athelstan atmete schwer. »Gott verzeihe mir«, sagte er leise, »ich bin nicht besser als andere Menschen. Wißt Ihr, daß einer, der für aussätzig erklärt wird, an seiner eigenen Totenmesse teilnimmt? Wir betrachten ihn dann schon als tot, und ich habe es genauso gemacht. Die Aussätzigen in meinem Kirchhof waren Schatten für mich, wandelnde Lumpenbündel. Nur eines fehlte: Ich habe sie nie mit einer Bettelschale gesehen, und das ist mir erst heute morgen klargeworden.« Er funkelte den Arzt an. »Ihr hättet wirklich besser aufpassen sollen, Vincentius. Ihr habt die Leichen gestohlen, und wenn Ihr fertig wart, habt Ihr, was von ihnen übrig war, in die Themse geworfen. Aber der Fluß ist träge. Heute morgen sind die grausigen Überreste Eures makabren Treibens wieder ans Ufer getrieben worden.«

Der Arzt stand immer noch mit dem Rücken zur Wand und beobachtete den Priester wachsam. »Ihr seid höchst scharfsichtig, Bruder. Das hat Benedicta mir schon erzählt.«

Athelstan zuckte zusammen, als er den Blick des Arztes sah. »Aye«, sagte er und ließ sich auf einen Schemel fallen. »Aber ich hätte noch schärfer hinschauen müssen. Ich habe Kreide an meinen Fingern gefunden, nachdem ich die Hostie durch den Lepraspalt gereicht hatte.« Zornig starrte er den Arzt an. »Das ist ein Sakrileg, wißt Ihr das? Die Heilige Eucharistie zur Tarnung für Euer gotteslästerliches Tun zu benutzten. Ja«, seufzte er, »ich hätte aufmerksamer sein müssen. Nie habe ich Euch mit einer Bettelschale gesehen, und ich kann mich auch nicht erinnern, Euch je auf den Straßen rings um die Kirche begegnet zu sein.« Er stand auf. »Ihr habt gegen das Gesetz Gottes und das des Königs verstoßen. Ich gehe, aber ich komme mit der Stadtgarde zurück. Heute abend seid Ihr in Newgate und bereitet Euch auf Euren Prozeß vor dem Oberhofgericht in Westminster vor.«

»Benedicta hat mir außerdem erzählt, Ihr wäret ein toleranter Priester. Wollt Ihr mich überhaupt nicht fragen, warum, Pater?« erwiderte Vincentius leise. Er wirkte plötzlich erschrocken und voller Angst. »Ich habe Unrecht getan«, sagte er leise und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Aber wem habe ich denn geschadet? Nein, nein.« Er brachte Athelstan mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Hört mir zu. Ich habe in Bologna Medizin studiert, bei den Arabern in Spanien und Nordafrika und an der großen Schule der Medizin in Salerno. Aber wir Ärzte wissen gar nichts, Pater, außer wie man Blutegel ansetzt und einen Menschen ausbluten läßt.« Vincentius verschränkte die Finger und stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch. »Über den menschlichen Körper können wir nur dann etwas lernen, wenn wir ihn öffnen.

Jedes einzelne Teil sezieren, die Position des Herzens studieren, den Kreislauf des Blutes, die Zusammensetzung der Magenwände. Aber das verbietet die Kirche.« Er hob eine beringte Hand. »Ich schwöre, ich wollte nicht ungehorsam sein, aber meine Sehnsucht nach medizinischem Wissen, Pater, ist genauso groß wie die Eure nach der Errettung der Seelen. Und wohin könnte ich gehen? Zu den Richtstätten oder auf die Schlachtfelder, wo die Leichen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sind? Da kam ich nach Southwark, denn es liegt außerhalb der städtischen Gerichtsbarkeit. Ja, ja.« Er sah den Ärger in Athelstans Blick. »In eine arme Gemeinde, wo niemand sich darum kümmerte - so wenig wie um die ausgehungerten Kinder auf den Straßen rings um die Kirche.« Vincentius spielte mit einem kleinen Messer. »Ich fing an, einen Leprakranken zu spielen, um auf dem Friedhof spionieren zu können. Aber ich habe nur Leichen genommen, auf die niemand einen Anspruch erhob.«   

»Ich habe Anspruch auf sie erhoben!« schrie Athelstan. »Gott hat Anspruch auf sie erhoben. Die Kirche!«

»Ja, ich habe die Leichen gestohlen«, fuhr Vincentius fort, »und ich habe sie seziert. Gidaut und ich haben sie nachts in den Fluß geworfen, aber als der große Frost kam, mußten wir aufhören.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe Unrecht getan, aber wollt Ihr mich deshalb hetzen? Ich habe hier gute Arbeit geleistet, Priester. Geht hinaus auf die Straßen von Southwark und sprecht mit der Mutter, der ich eine Zyste lanciert habe. Fragt den kleinen Jungen, der wieder klar sehen kann. Den Arbeiter, dem ich das gebrochene Bein gut gerichtet habe. Und wenn ich hänge, Bruder, was dann? Wen wird das interessieren? Die Armen werden weiter sterben, und die Ärzte in der Cheapside, die ihren Patienten Geld und Gesundheit abnehmen, werden in die Hände klatschen, wenn sie mich am Strick tanzen sehen.«

Athelstan ließ müde den Kopf hängen.

»Ich will Euren Tod nicht«, sagte er. »Ich will, daß die Toten auf meinem Friedhof so liegenbleiben, wie Gott es von ihnen erwartet. Ich will, daß Ihr verschwindet, Doktor.« Er stand auf und klopfte sich den Staub von seiner Kutte. »Es tut mir leid, daß ich Euch geschlagen habe.« Er starrte Vincentius an. »Aber Ihr müßt von hier verschwinden. Ich weiß nicht, wohin, und eigentlich ist es mir auch egal, aber ich will, daß Ihr binnen einer Woche die Stadt verlaßt.« Athelstan fühlte sich plötzlich erschöpft und matt, und er merkte, daß er seit langem nicht mehr gegessen hatte. »Es tut mir leid, daß ich Euch geschlagen habe«, wiederholte er, »aber ich war zornig.« Plötzlich fiel ihm ein, daß Cranston auf ihn wartete, und er sah den Doktor an. »Ach ja«, sagte er, »einen Gefallen schuldet Ihr mir noch.«

Vincentius lehnte sich zurück. »Welchen, Pater?«

»Genaugenommen sind es zwei. Erstens, Ihr hattet hier eine Besucherin - Lady Maude Cranston. Warum ist sie gekommen?«

Vincentius grinste. »Lady Maude ist zwar schon im dreißigsten Jahr, aber sie ist enceinte.«

Athelstan starrte ihn ungläubig an. »Sie ist schwanger?«

»Ja, Priester. Etwa im zweiten Monat. Sie und das Kind sind gesund, aber sie hat Angst, daß Sir John ihr nicht glauben könnte. Sie will ihn nicht enttäuschen. Sie haben wohl vor einigen Jahren schon ein Kind verloren.«

Athelstan nickte, und der Arzt genoß die Verblüffung des Priesters.

»Sie hat mir von Sir John erzählt. Ich habe ihr geraten, bei den Freuden des Fleisches äußerst vorsichtig zu sein. Ihr Gatte ist anscheinend ein Berg von einem Mann?«

»Aye.« Athelstan war immer noch wie vom Donner gerührt. »Das ist Sir John allerdings.«

»Und wie lautet der zweite Gefallen, Pater?«

»Ihr habt in Outremer gedient?«

»Ja. Eine Zeitlang habe ich in Krankenhäusern in Tyrus und Sidon praktiziert.«

»Wenn Ihr dort jemandem begegnet seid, wie habt Ihr ihn gegrüßt?«

Jetzt machte der Arzt ein überraschtes Gesicht. »Schalom«, antwortete er. »Das ist der übliche semitische Ausdruck für Friede sei mit Euch.«

Athelstan hob die Hand. »Doktor Vincentius, ich sage Euch Lebewohl. Wir werden uns sicher nicht Wiedersehen.«     

»Priester?«   

»Ja, Arzt?«

»Freut es Euch, daß ich fortgehe, weil ich Unrecht getan habe oder freut es Euch, daß ich die Witwe Benedicta nicht wiedersehe? Ihr liebt sie, nicht wahr? Ihr mit Euren heftigen Angriffen gegen andere!«

»Nein, ich liebe sie nicht!« fauchte Athelstan. Aber während er die Tür hinter sich schloß, wußte er, daß er, wie der heilige Petrus, die Wahrheit leugnete.

*

Sir John Cranston, Coroner der Stadt, hockte mit trübem Blick in der Schenke Zum Heiligen Lamm und starrte voller Selbstmitleid auf die Cheapside hinaus. Er hatte gut und gern eine Viertelgallone Ale getrunken. Athelstan war nicht gekommen; also würde er nach Hause gehen. Er würde sich seine Frau vornehmen, wie sich das für einen Mann gehörte, mit jähen Vorwürfen und scharfen Fragen; aber er wünschte, der Bruder wäre gekommen. Er hätte in so vielen Dingen gern seinen Rat gehört.

Cranston lehnte sich an die Wand und blinzelte durch den Schankraum. Die neueste Geschichte aus dem Tower war furchtbar. Er war hingegangen, um sich Fitzormondes übel zerfleischten Leichnam anzuschauen: Das halbe Gesicht war weggerissen und der Körper bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Cranston rieb sich die Wange. Zunächst hatte Colebrooke das Ganze für einen Unglücksfall gehalten.

»Es war kurz nach Einbruch der Dämmerung«, hatte der Lieutenant ihm berichtet. »Fitzormonde war, wie es seine Gewohnheit war, zu dem Bären gegangen. Gerade war noch alles friedlich, und im nächsten Augenblick schien Satan persönlich aus der Hölle hervorzubrechen. Der Bär riß sich los und zerfleischte den unglücklichen Hospitaliter. Ich befahl die Bogenschützen her, und der Bär wurde getötet.» Colebrooke zuckte die Achseln. »Sir John, wir hatten keine Wahl.«

»War es ein Unfall?« fragte Cranston. »Daß der Bär sich losriß, meine ich?«

»Erst dachten wir es, aber als wir das Tier untersuchten, fanden wir das hier in seinem Hinterteil.« Der Lieutenant gab Cranston einen kleinen Armbrustbolzen von der Art, wie eine Dame ihn für die Jagd benutzen würde.

»Wer war zur fraglichen Zeit im Tower?«

»Alle«, antwortete Colebrooke. »Ich, Mistress Philippa, Rastani, Sir Fulke, Hammond, der Kaplan - alle, außer Master Geoffrey, der in seinen Laden in der Stadt zurückgegangen war.« Cranston hatte dem Lieutenant gedankt und war in das schäbige, feuchte Leichenhaus neben St. Peter ad Vincula gegangen, wo Fitzormondes zerfleischte Überreste aufgebahrt lagen, bis man sie in ein leinenes Leichentuch nähte. Der Leichnam hatte einen scheußlichen Anblick geboten, er war kaum mehr als ein zerfetzter, blutiger Fleischklumpen gewesen. Cranston war so schnell wie möglich gegangen, hatte alle, die er finden konnte, vernommen, und war zu dem Schluß gekommen, daß der Armbrustbolzen von einem versteckten Schützen abgeschossen worden sein müsse: Davon zur Weißglut gereizt, hatte der Bär seine Kette zerrissen und Fitzormonde angefallen.

Cranston schaute sich noch einmal in der Schenke um und schloß dann seufzend die Augen. Gab es wirklich keine Lösung für dieses Problem? Und wo, zum Teufel, blieb Athelstan? »Mylord Coroner?«

Cranston öffnete die Augen. »Wo hast du gesteckt, Mönch? Und weshalb grinst du so?«

Athelstan lächelte und rief dem Wirt zu: »Zwei Becher von deinem besten Bordeaux. Deinem allerfeinsten.« Er setzte sich hin und strahlte Sir John an. »Mylord Coroner, ich habe Neuigkeiten für Euch.«