Cranston drehte Daumen und schaute strahlend in die Runde. Athelstan sah mit stiller Belustigung, daß Sir John unter seinem Mantel Wams und Hose in dunklem Flaschengrün mit silbernen Fransen und dazu passenden Knöpfen trug. Das war einer der besten Anzüge des Coroners, ein sicheres Anzeichen dafür, daß er in bester Verfassung war. Die anderen indessen wirkten niedergedrückt: Hammond starrte auf den Boden, Rastani ins Feuer. Sir Fulke nagte an seiner Unterlippe und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Colebrooke zappelte, während Philippa wütend auf ihre Stickerei einstach. Draußen waren Schritte zu hören; die Tür ging auf, und Parchmeiner trat ein. Athelstan sah die Wachen draußen und war froh, daß Colebrooke so vernünftig gewesen war, bewaffnete Soldaten herbeizubefehlen. Der junge Mann hatte rote Wangen und war außer Atem. Er lächelte Philippa zu, ging hinüber und küßte sie sanft auf den Mund, bevor er sich erwartungsvoll umsah.
»Sir John! Bruder Athelstan! Was soll dieser plötzliche Aufstand?«
Der Ordensbruder erhob sich. »Schalom, Geoffrey!«
»Friede sei mit Euch, Bruder.« Plötzlich errötete der junge Mann.
Athelstan lächelte. »Woher kennt Ihr das arabische Wort für Frieden?«
Der junge Mann zuckte die Achseln. »Ich kaufe und verkaufe. Ich kenne mehr als eine Sprache.«
»Schlagt Eure Manschetten zurück, Master Parchmeiner.« Parchmeiner machte ein verblüfftes Gesicht. »Wieso?«
»Schlagt sie zurück.«
»Ich begreife nicht…«
»Schlagt sie zurück!« befahl Cranston. »Sofort!«
Parchmeiner knöpfte die bestickte Manschette auf, klappte sie zurück, und Athelstan sah die weißen Streifen, die sich wie Ringe um die braunen Handgelenke des Mannes zogen.
»Wie kommt Ihr an die Spuren von Sklavenketten?« fragte Athelstan. »Durch Handel?« Mit einer raschen Bewegung zog er dem Mann das Messer aus dem Gürtel und warf es Cranston zu. »Und wie geht es Euren Verwandten in Bristol? Habt Ihr wieder von ihnen gehört?«
Die Augen des jungen Mannes wurden schmal, und Athelstan sah den entschlossenen Zug um Mund und Kinn. Die Maske fiel. In Zukunft, nahm Athelstan sich insgeheim vor, würde er Gesichter aufmerksamer betrachten.
»Lügt jetzt nicht, Geoffrey. Ihr habt keine Schwester in Bristol. Sie hat Euch keinen Brief geschickt. Das West Country ist wegen des Schnees vollkommen abgeschnitten. Wie könnt Ihr mit jemand in Bristol in Verbindung stehen, wenn die Straßen nach Westen unpassierbar sind?« Athelstan lächelte Cranston ohne Heiterkeit zu. »Ist es nicht eigenartig, wie eine so unschuldige Bemerkung die ganze Sache zum Höhepunkt treiben kann?« Athelstan trat näher; die Atmosphäre im Raum hatte sich plötzlich verändert. Philippa war aufgestanden und preßte die Faust vor den Mund. Die anderen waren angespannt und regungslos wie Statuen.
»Euer Name ist nicht Parchmeiner, stimmt’s?« fragte Cranston. Athelstan trat noch näher. »Wer seid Ihr?« fragte er leise. »Seid Ihr Mark Burghgesh?«
Ein Lächeln zuckte über Parchmeiners Gesicht, während er versuchte, sich zu fassen. »Was soll der Unfug?« fauchte er. »Philippa, wir kennen uns seit drei Jahren. Ich komme aus Bristol. Meine Schwester wohnt dort. Sie wird in ein paar Tagen hiersein.«
Athelstan schüttelte den Kopf. »Nein, das wird sie nicht, junger Mann. Aber Ihr habt uns immer noch nichts über die Ringe an Euren Handgelenken erzählt.«
Der junge Mann wandte den Blick ab. »Ich habe früher Armbänder getragen«, antwortete er geschmeidig.
»Das ist doch alles Unsinn«, schaltete sich Philippa ein. »Wollt Ihr Geoffrey beschuldigen, meinen Vater ermordet zu haben?«
»Jawohl, das will ich«, erklärte Athelstan.
»Aber jemand ist von außen an der Nordbastion hinaufgeklettert!«
»Nein.« Athelstan sah Colebrooke an. »Master Lieutenant, habt Ihr alles vorbereitet?«
Colebrooke blinzelte nervös und nickte.
»Dann laßt uns anfangen!« rief Cranston. »Master Lieutenant, Ihr habt bewaffnete Wachen und Bogenschützen im Gang und unten?«
»Jawohl, Sir John.«
»Gut. Sie werden alle bewachen. Wenn irgendjemand versucht zu fliehen, sollen sie schießen.«
Cranston an der Spitze, verließen sie das Gemach, gingen die Treppe hinunter und über das Tower Green bis vor die erste Festungsmauer zur einsamen, trostlosen Nordbastion. Sie traten durch die Tür, im Vorraum standen zwei Soldaten erwartungsvoll auf ihrem Posten. An der hinteren Wand hing ein Holzgestell mit verschiedenen Schlüsseln.
»So«, sagte Athelstan zu den beiden Wachen. »Jener Morgen, als Sir Ralph tot gefunden wurde … Erzählt mir noch einmal, was da passiert ist.«
Der eine der beiden Soldaten zog eine Grimasse. »Na, ich bring den jungen Parchmeiner rauf«, sagte er. »Nein, erst nehm ich den Schlüssel vom Haken. Dann bring ich ihn rauf. Ich schließ die Tür zum Gang auf, laß ihn rein, schließ die Tür wieder ab und komm runter.«
»Und dann?«
»Na«, unterbrach der zweite Soldat, »wir hören Master Geoffrey nach Sir Ralph rufen.«
»Und dann?« fragte Athelstan.
»Er kommt zurück und klopft an die Tür.« Der Bursche deutete die Treppe hinauf. »Wie schließen auf, er kommt runter und schickt nach dem Lieutenant.«
»Nein«, widersprach Athelstan. »Da war noch etwas. Das habt ihr uns zumindest erzählt.«
Der eine Soldat kratzte sich das Stoppelkinn.
»Ah«, meldete sich sein Kamerad, »ich weiß schon. Der junge Geoffrey sagt, er will Sir Ralph selbst wecken, und wir geben ihm den Schlüssel. Er geht die Treppe rauf, überlegt sich’s dann anders, kommt wieder runter, gibt uns den Schlüssel und geht Master Colebrooke holen.«
»Gut.« Athelstan lächelte. »Und jetzt, Sir John, werde ich Parchmeiners Weg zurückverfolgen.« Er warf einen raschen Blick auf den jungen Mann, der mit bleichem Gesicht und schmalen Augen wachsam dastand. Philippa starrte ihn an wie ein Kind, das sich den plötzlichen Stimmungswandel eines Erwachsenen nicht erklären kann. Sir Fulke und der Kaplan machten verwirrte Gesichter, aber Athelstan bemerkte, daß der stumme Rastani, die Hand am Messer, sich näher an Parchmeiner herangeschoben hatte.
»Mylord Coroner«, rief Athelstan, »ehe wir fortfahren, sollten alle, außer Lieutenant Colebrooke, lieber ihre Waffen abliefem.«
Leiser Protest erhob sich, aber Cranston wiederholte Athelstans Befehl, und Messer und Schwerter fielen klappernd auf einen unordentlichen Haufen.
»Nun fangen wir an«, sagte Athelstan. »Sir John, wollt Ihr bitte zählen?«
Er nickte einem der Wachposten zu. »Schließt oben die Tür auf!« Cranston begann laut zu zählen, und Athelstan lief die Treppe hinauf. Die Tür schwang auf und wurde hinter ihm abgeschlossen. Cranston verharrte ein paar Augenblicke bei Zwanzig, als Athelstan oben Sir Ralphs Namen rief; dann zählte er weiter. Er war gerade bei Fünfzig angelangt, als Athelstan oben an der Treppe gegen die Tür hämmerte. Einer der Wachen lief hinauf und schloß auf. Athelstan kam hervor und folgte dem Soldaten die Treppe herunter.
»Und jetzt«, rief der Bruder, »will ich den Schlüssel zu Sir Ralphs Kammer!«
Athelstan nahm einen Schlüssel vom Haken und lief die Treppe hinauf; auf halber Höhe blieb er stehen, schüttelte den Kopf und kam wieder herunter.
»Andererseits«, sagte er, »wollen wir doch lieber Master Colebrooke kommen lassen.« Er gab dem Soldaten den Schlüssel zurück. »Sag mir«, forderte er ihn dann auf, »habe ich länger gebraucht als der junge Geoffrey?«
»Nein, ungefähr genauso lange. Er war ’n bißchen länger oben im Gang. Aber nicht viel.«
Sir Fulke drängte sich nach vom. »Was hat das alles zu bedeuten?« fragte er.
Athelstan lächelte. »Das werde ich Euch gleich zeigen. Master Lieutenant, schließt die Tür oben an der Treppe auf.«
Der Lieutenant ging die Treppe hinauf, schloß die Tür wieder auf, und alle folgten ihm in den kalten Gewölbegang. Colebrooke schloß Whittons Kammer auf, und nacheinander traten alle ein. Sir Fulke fluchte. Philippa stieß einen kurzen Schrei aus. In der Kammer war es eiskalt. Die Fensterläden standen weit offen, und das Federbett auf der schmutziggrauen Matratze des vierpfostigen Bettes war aufgeschlitzt worden. Gänsefedern quollen hervor - eine grausige Erinnerung an den Mord an Sir Ralph. »Wer war das? Was ist das für ein übler Unsinn?« fragte Kaplan Hammond.
Athelstan kümmerte sich nicht um ihn und stellte sich vor Parchmeiner.
»Ihr wißt, was ich getan habe«, sagte er ruhig. »Genau das, was Ihr an jenem Morgen tatet, als Ihr Sir Ralph ermordet habt. Und ich sage Euch, wie es sich abgespielt hat. Erstens: Als Sir Ralph in die Nordbastion zog, spieltet Ihr die Rolle des unterwürfigen Schwiegersohnes. Ihr halft ihm, ein paar Dinge hinüberzuschaffen. Die Kammer war ja erst bewacht, als Sir Ralph eingezogen war, nicht vorher; deshalb öltet Ihr sorgfältig Angeln und Türschloß, was die Ölflecke draußen im Gang erklärt. Zweitens: Das Stockwerk darüber ist abgeriegelt; das Ende des Korridors ist durch eingestürztes Mauerwerk versperrt. In diesem Geröll habt Ihr einen Dolch versteckt, wie es Colebrooke jetzt auf meine Bitte mit Sir Johns Dolch getan hat. Ich habe das Federbett aufgeschlitzt und den Dolch wieder dort versteckt. Am Abend vor Sir Ralphs Tod habt Ihr mit ihm gegessen und habt dafür gesorgt, daß er viel trank. Wahrscheinlich habt Ihr noch ein ziemlich starkes Schlafmittel hinzugegeben, um ihn benommen zu machen. Drittens: Ihr habt Sir Ralph bis zur Treppe gebracht, die Wachen halfen ihm zu seiner Kammer hinauf, und wahrscheinlich habt Ihr bei dieser Gelegenheit den Schlüssel vertauscht: Ihr habt den weggenommen, den Sir Ralph für die Wache dagelassen hatte, und einen anderen an den Haken gehängt. Als wir vorhin in Philippas Gemach waren, hat er mir den richtigen Schlüssel zugesteckt.« Athelstan machte eine Pause. »Am nächsten Morgen kommt Ihr herüber, die Wachen durchsuchen Euch, aber Ihr habt nichts bei Euch als Eure eigenen harmlosen Habseligkeiten, zu denen« - Athelstan griff dem jungen Mann vorsichtig an die Seite - »wie bei jedem Kaufmann ein Schlüsselbund gehört. Ihr geht die Treppe hinauf, die Wache macht Euch auf, und Ihr geht durch den Gang zu Sir Ralphs Kammer. Während Ihr klopft und brüllt, schließt Ihr lautlos die Tür auf; schließlich sind Schloß und Türangeln so gut geölt. Der Rest ist einfach.«
»Aber …« Colebrooke wollte etwas sagen.
»Noch nicht«, unterbrach Athelstan ihn und betrachtete Parchmeiner aufmerksam. »Drinnen handelt Ihr blitzschnell. Die Fensterläden geöffnet, die kalte Luft hereingelassen. Dann hinüber zu Whittons Bett, den Kopf zurückgerissen. Sir Ralph, immer noch schwer benommen, schlägt vielleicht für einen Moment die Augen auf, als Ihr ihm die Gurgel durchschneidet. Ihr wischt das Messer am Bettzeug ab, schließt wieder ab, schiebt die Waffe in den Schutt und hämmert an die Tür zum Gang.« Athelstan sah leise Belustigung in Parchmeiners Blick; das Gesicht des jungen Mannes blieb kalt und unbewegt.
»Jetzt«, fuhr Athelstan fort, »macht Ihr den Schlüssel zu Sir Ralphs Kammer von Eurem Ring los. Ihr geht nach unten, laßt Euch den falschen Schlüssel geben, steigt die Treppe hinauf und vertauscht die beiden Schlüssel, während Ihr den Soldaten den Rücken zukehrt. Dann gebt Ihr den Wachen den richtigen Schlüssel zurück; ich habe eben bewiesen, daß zwei Schlüssel sehr ähnlich aussehen können. Und dann macht Ihr Euch auf die Suche nach Colebrooke.«
»O nein!« Philippa sank bleich und bestürzt gegen Sir Fulke, ohne Geoffrey aus den Augen zu lassen. »Oh, bitte, lieber Gott, nein!«
»Ja, so ist es gewesen«, verkündete Cranston obenhin. »Mein Schreiber hat es bewiesen. Die beiden Wachen haben nur gesehen und gehört, was sie sollten.«
»Bruder Athelstan?«
»Ja, Sir Fulke?«
»Der Leichnam meines Bruders war kalt, als Colebrooke kam.«
»Ja, selbstverständlich«, erwiderte Cranston bissig. »Kohlebecken und Kaminfeuer waren erloschen; das läßt vermuten, daß Whitton von Drogen berauscht war. Der Mörder stieß die Fensterläden auf, und die eiskalte Luft strömte herein. Bedenkt, es war ein frostiger Morgen. Daß Master Parchmeiner nicht gleich nach Colebrooke schickte, dürfte mit dazu beigetragen haben.«
Aus dem Augenwinkel sah Athelstan plötzlich eine schnelle Bewegung. »Sir John! Rastani!«
Trotz seiner Körpermassen bewegte der Coroner sich flink. Er packte den Stummen, der sich gerade auf den Mörder seines Herrn stürzen wollte, am Wams und hob ihn hoch wie ein kleines Kind.
»Ihr, Sir«, sagte er leise, »werdet auf Eurem Platz bleiben, bis diese Angelegenheit erledigt ist.« Er schüttelte Rastani wie eine Lumpenpuppe. »Habt Ihr verstanden?«
Der Stumme warf Parchmeiner einen haßerfüllten Blick zu. »Ob Ihr verstanden habt?« Cranstons Griff wurde härter.
Der Stumme klappte den Mund auf und zu und nickte dann. Cranston ließ ihn sanft zu Boden gleiten, und zwei von Colebrookes Soldaten postierten sich rechts und links von dem Mauren.
»Bewacht ihn gut!« befahl Cranston knapp. »Zieht eure Schwerter!«
Während dieses Auftritts hatte Parchmeiner nicht mit der Wimper gezuckt, sondern den Ordensbruder mit kühlem Blick betrachtet; dieser wußte, daß er einem Mann gegenüberstand, für den Mord etwas Natürliches war und der die Gelegenheit genutzt hatte, furchtbare Rache zu üben.
»Master Colebrooke!« rief Athelstan, ohne den Mörder aus den Augen zu lassen. »Ich möchte, daß man Master Parchmeiner die Hände fesselt und ein Seil um den Leib bindet.«
Colebrooke erteilte Befehle; einer der Soldaten drehte Parchmeiner die Arme auf den Rücken und fesselte Handgelenke und Daumen aneinander. Ein anderer Soldat löste seinen Gürtel, schob das eine Ende durch Parchmeiners Gürtel und schnallte das andere fest an die Ledermanschette an seinem Handgelenk. Athelstan entspannte sich und schaute sich in der kalten Todeskammer um.
»Wir müssen nicht hierbleiben«, erklärte er. »Wir können in Mistress Philippas Gemach zurückkehren.«
Das junge Mädchen sprach kaum ein Wort und stöhnte leise, als ihr Onkel sie in die Arme nahm. Die Gruppe verließ die Nordbastion. Auf dem Tower Green befahl Colebrooke, dem die Gefahr bewußt geworden war, einem Wachoffizier, die Trommel zu schlagen und die Garnison zu den Waffen zu rufen. Befehle erschallten, Tore schlossen sich, und während sie die Treppe zu Philippas Gemach hinaufgingen, hörte Athelstan, wie Soldaten und Bogenschützen unten in Stellung gingen. Er drehte sich um und lächelte Cranston an.
»Ich muß mich entschuldigen. Euer Dolch liegt noch in dem Schutthaufen in der Nordbastion.«
»Keine Sorge«, knurrte Cranston. »Was ich gesehen habe, ist mehr wert als tausend Dolche.«
Oben angekommen, blieb Parchmeiner zwischen den beiden Wachen stehen. Athelstan sah ihn neugierig an, denn der junge Mann lächelte wie über einen geheimen Scherz. Die anderen waren ein stilles, gebanntes Publikum. Rastani hockte mürrisch und verschlossen zwischen zwei vierschrötigen Wachen auf einem Schemel. Philippa seufzte leise; sie war ganz in ihren Schmerz versunken. Ihr Onkel und der Kaplan standen ihr zur Seite. Cranston goß sich einen Becher Wein ein. Athelstan ging zum Kamin und wärmte sich die Hände am Feuer.
»Die anderen Morde«, fuhr er ruhig fort, »waren ein Kinderspiel. Als Mowbray starb, war er oben auf dem Wehrgang beim Salt Tower, während Ihr anderen hier zum Abendessen bei Philippa versammelt wart. Master Parchmeiner, nehme ich an, kam als letzter. Mowbray war, wie jeder Soldat« - er drehte sich um und lächelte Colebrooke zu -, »ein Gewohnheitstier. Wir wollen annehmen, daß die Geschichte von Master Parchmeiners Höhenangst gelogen ist. Er wußte, daß Mowbray am anderen Ende der Brustwehr auf seinem gewohnten Platz stand; er schlich sich hinauf, legte den Schaft eines Speeres oder einer Axt oben über die Treppe und verkeilte ihn fest in einer der Schießscharten. Dann begab er sich in Mistress Philippas Gemach, und das Essen konnte beginnen.«
»Aber er ist dann nicht wieder weggegangen«, gab Sir Fulke zu bedenken. »Er ist nicht weggegangen, um die Sturmglocke zu läuten.«
»Natürlich nicht«, sagte Cranston. »Master Colebrooke, ist alles bereit? Ist die Garnison gewarnt? Nun …« Cranston stellte seinen Weinbecher auf den Tisch. »Ich muß mich erleichtern. Wenn ich recht verstanden habe, gibt es einen Abtritt unten am Gang?«
Sir Fulke nickte verblüfft. Cranston ging zur Seitentür hinaus. Die anderen blieben regungslos sitzen wie Figuren auf einem Fresko. Plötzlich sprang alles auf, denn die große Sturmglocke läutete los. Befehle wurden gebrüllt, Männer rannten, und das Geläut verstummte. Cranston kam grinsend wieder hereingeschlendert.
»Wer hat die Glocke geläutet?« quiekte der Kaplan.
»Ich«, sagte Sir John.
»Wie denn?«
Athelstan wandte dem Feuer den Rücken zu und ergriff das Wort. »Sir John ging zum Abort«, sagte er ruhig. »Ein Bogenschütze mit einer kleinen Armbrust begleitete ihn. Mir war aufgefallen, daß man durch das Fenster über dem Abtritt auf das Tower Green schaut. Der Bogenschütze brauchte sich nur hinter den Vorhangzu stellen, der den Abtritt verbirgt, einen Bolzen abzuschießen und die Glocke zu treffen.« Athelstan zuckte die Achseln. »Ihr kennt den Mechanismus. Wenn die Glocke einmal ins Schwingen gebracht wird, läutet sie endlos.«
»Aber es war doch dunkel«, wandte Sir Fulke ein.
»Nein, Sir Fulke. Wie Ihr Euch vielleicht erinnert, stehen Fackeln um die Glocke.«
»Aber der Bolzen wurde nicht gefunden!«
»Natürlich nicht. Der Schnee rings um die Sturmglocke lag dick und unberührt. Der Bolzen traf die Glocke und fiel in den Schnee. Als die Soldaten nachschauten, weshalb die Glocke geläutet hatte, suchten sie nach Fußabdrücken und nicht nach einem Armbrustbolzen, kleiner als Eure Hand, der tief im Schnee steckte.«
»Und die Armbrust?« Zum ersten Mal sprach Parchmeiner jetzt; seine Stimme klang schroff und abgehackt.
Athelstan schüttelte den Kopf. »Wie den Dolch konntet Ihr sie im Korridor liegenlassen und später beiseite schaffen oder durch das Abtrittloch werfen. Außerdem: Wer würde etwas merken? Als Ihr hastig den Abort verließt und ins Gemach zurückranntet, war alles in Aufruhr, weil die Alarmglocke läutete. Niemand sah einen Zusammenhang zwischen Eurer Abwesenheit und dem Läuten der Glocke. Ihr wart ja auf dem Abort und nicht unten, und die Wachen hatten niemanden in der Nähe der Glocke gesehen. Der Rest war dann einfach«, fuhr Athelstan fort. »Im nächtlichen Wirrwarr konntet Ihr zum Wehrgang hinauflaufen und den Schaft über die Brustwehr in den Wassergraben werfen. Wenn Euch jemand auf der Treppe bemerkt hätte, hättet Ihr als Held gegolten, der herausfinden wollte, weshalb der arme Mowbray zu Tode gestürzt war.« Athelstan sah Cranston an. »Als Sir John mir erzählte, daß ein Armbrustbolzen im Fleisch des Bären gesteckt habe, fiel mir plötzlich ein, wie das geheimnisvolle Läuten der Sturmglocke bewerkstelligt sein konnte.« Athelstan war plötzlich müde. Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht.
»Gott allein weiß«, dröhnte der Coroner und baute sich breitbeinig vor dem Gefangenen auf, »wie Ihr den armen Horne in den Tod gelockt habt. Allerdings war der Mann so voller Angst, daß es kein Problem gewesen sein dürfte, damit zu spielen.« Er umspannte Parchmeiners Gesicht mit Daumen und Zeigefinger und drückte die Wangen zusammen. »Ich habe die grausigen Überreste Eurer Tat gesehen.«
Parchmeiner bog den Kopf zurück, lächelte und spuckte dem Coroner mitten ins Gesicht. Der Coroner wischte sich den Speichel mit dem Mantelsaum von der Wange; dann holte er aus und schlug Parchmeiner schallend ins Gesicht. Der junge Mann sträubte sich gegen die Wachen, die ihn festhielten, und Cranston schaute Athelstan an.
»Keine Angst«, sagte er. »Ich schlage ihn nicht noch einmal. Aber er hatte es verdient, weil er seine üble Tat unter mein Dach und in mein Haus getragen hat.«
Er schenkte sich Wein nach und trug den Becher zu Philippa hinüber, die neben ihrem Onkel saß. Sie hob nicht einmal den Kopf. Sir Fulke wandte sich ab, und so stellte Cranston sich mitten ins Zimmer und nahm selbst einen Schluck. »Schließlich Fitzormondes Tod.« Er verzog das Gesicht. »Das war leicht.« Er deutete auf Parchmeiner. »Unser junger Mordbube hier tut so, als verlasse er den Tower. Bei dem starken Tauwetter sind so viele Leute auf den Beinen, daß kaum jemand bemerken dürfte, wie er sich, vielleicht in einem anderen Mantel oder mit einer Kapuze, wieder herein schleicht. In dieser Festung gibt es genug finstere Winkel, um eine ganze Armee zu verstecken. Jeden Abend ging Fitzormonde zum Bären, und Parchmeiner nutzte diese Gelegenheit. Wieder mit seiner kleinen Armbrust bewaffnet, schießt er auf das Tier. Die Bestie gerät in Raserei und stürzt sich auf Fitzormonde. Die schlecht gesicherte Kette reißt, und der Hospitaliter stirbt. Geoffrey nutzt das Chaos und verschwindet durch das Haupttor oder durch eine der Seitenpforten. Man kann ihm nichts zur Last legen.«
»Ihr habt keinen Beweis!« schnarrte Parchmeiner. »Nicht den kleinsten Beweis für das alles.«
»Nein, aber den bekommen wir noch«, erwiderte Athelstan. »Erstens kann ich beweisen, daß ein Mann durchaus im kältesten Winter nachts an der Außenmauer der Nordbastion hinaufklettern kann. Aber würde er auch wieder heil herunterkommen? Ich kann den Schutt vor Sir Ralphs Kammer nach Blutflecken von dem Dolch absuchen, den Ihr dort versteckt und später zweifellos wieder geholt habt. Master Colebrooke kann feststellen, wer das Schloß und die Türangeln von Sir Ralphs Kammer geölt hat. Man kann die Sturmglocke nach Spuren eines Bolzenschusses absuchen und ebenso den Boden darunter, denn das Geschoß liegt bestimmt noch im Schneematsch. Wir können ermitteln, wer wo war, als Adam Horne umgebracht wurde.« Athelstan trat auf den bleichen Mann zu. »Wir können Euch auch hier in einen Kerker sperren, bis der Schnee schmilzt, und uns dann nach Euren Verwandten in Bristol erkundigen.«
»Aber wamm? Warum?« Philippas eingefallenes Gesicht war vom Schmerz verdüstert, und dunkle Schatten lagen unter ihren geröteten Augen. »Warum?« kreischte sie.
»Vor fünfzehn Jahren«, antwortete Cranston, der sie vor lauter Mitleid nicht anschauen konnte, »dienten Euer Vater und die anderen, die Parchmeiner ermordet hat, unter Führung von Sir Bartholomew Burghgesh als Ritter in Outremer. Ihr habt den Namen schon einmal gehört? Euer Vater«, fuhr er fort, ohne auf eine Antwort zu warten, »und die anderen verrieten Sir Bartholomew auf grausame Weise, um einen Schatz an sich zu bringen, den er dem Kalifen von Ägypten weggenommen hatte. Sir Bartholomew verließ Zypern und wollte nach Genua reisen, aber die anderen, angestiftet von Sir Ralph, informierten insgeheim den Kalifen, und das Schiff, auf dem Sir Bartholomew reiste, wurde überfallen.« Cranston kratzte sich am Kopf. »Man hatte allgemein angenommen, daß Bartholomew auf diesem Schiff sein Leben aushauchte, aber wie wir jetzt wissen, kam er vor drei Jahren zu Eurem Vater in den Tower. Sir Ralph nahm Sir Bartholomew gefangen - entweder durch einen Trick oder mit Gewalt - und sperrte ihn in ein Verlies unter diesem Turm hier. Er befahl dem Narren Rothand, die Zelle zuzumauern. Wer würde nachher schon auf das Geschwätz eines Idioten hören?« Parchmeiner begann, zwischen seinen beiden Wächtern zu toben.
»Er ist hier?« schrie Geoffrey. »Bartholomews Leiche ist hier?« Plötzlich erschlaffte er. »O Gott!« flüsterte er. »Wenn ich das nur gewußt hätte!«
Athelstan kam zu ihm. Aller Hochmut und Haß waren verschwunden, dem jungen Mann kamen die Tränen, und Mitgefühl durchströmte den Ordensbruder.
»Wer seid Ihr?« fragte Athelstan leise. »Sagt es mir. Ich verspreche Euch, Ihr dürft Bartholomews letzte Ruhestätte sehen.« Parchmeiner schaute zu Boden. »Burghgesh war nicht mein Vater«, begann er, und seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. »Aber ich wünschte zu Gott, er wäre es gewesen. Ich war mit ihm auf dem Schiff, als es gekapert wurde. Ich war ein Waisenjunge, und ich klammerte mich an Sir Bartholomew.« Geoffrey lächelte matt. »Und er beschützte mich«, flüsterte er. »Er schob mich hinter sich und kämpfte wie ein Paladin, bis die Mauren versprachen, uns beiden das Leben zu schenken, wenn er sich ergäbe.« Der junge Mann blickte auf und blinzelte. »Sie hielten Wort, aber Bartholomew wurde mit Riemen geschlagen, bis seine Fußsohlen rohes Fleisch waren. Dann verkauften sie uns als Sklaven an einen Kaufmann in Alexandria. Sir Bartholomew arbeitete im Garten, und ich kam ins Scriptorium, wo ich Pergament bearbeiten und einlagern mußte. Die Jahre vergingen. Sir Bartholomew gab die Hoffnung niemals auf. Er kümmerte sich um mich, sorgte für mich wie für einen Sohn und beschützte mich vor denen, die mich gern wie eine Frau behandelt hätten. Und eines Nachts Schnitt er unserem Herrn die Kehle durch und plünderte seine Schatzkammer. Wir flohen durch die Wüste nach Damietta, bestachen dort einen Kaufmann, fuhren zu Schiff nach Zypern und weiter nach Genua; dann reisten wir quer durch Europa nach Southampton.«
»Wie lange ist das her?«
»Vier Jahre. Sir Bartholomew hatte mir von Whitton und dem Schatz erzählt, aber…« Fast brach ihm die Stimme. »Mein Herr war ein guter, ehrlicher Mensch. Er konnte einfach nicht glauben, daß seine Kameraden« er spuckte das Wort aus -, »daß seine Kameraden ihn verraten hatten!« Der junge Mann schüttelte den Kopf und fluchte leise. »Wir gingen nach London. Sir Bartholomew hatte noch den Schatz, den er dem Kaufmann in Alexandria gestohlen hatte, Gold- und Silbermünzen, und wir lebten wie die Fürsten in einem Gasthaus an der Barbican Street.« Geoffrey schaute Athelstan an. »Könnt Ihr das glauben, Bruder? Er wollte sich nicht damit abfinden, daß er verraten worden war. Er ließ mich im Gasthaus zurück und reiste nach Woodforde, aber von dort kam er verzweifelt zurück. Seine Frau und sein Sohn waren gestorben, das Herrenhaus war verfallen. Wir blieben im Gasthof, bis Sir Bartholomew sagte, seine Kameraden würden sich, wie verabredet, zu jedem Advent in der Nähe des Tower treffen.« Der junge Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Er erkundigte sich, was aus seinen Kameraden geworden war. Zwei waren inzwischen Hospitaliter und einer Kaufmann.« Geoffrey lachte. »Sir Bartholomew, Gott segne ihn, freute sich sogar, als er hörte, daß Whitton jetzt Konstabler des Tower war, und er erzählte von der Festung, schilderte mir jede Ecke und jeden Winkel.«
Parchmeiner stand rastlos zwischen seinen Bewachern, ganz in seine Erinnerungen versunken. »Dann ging Bartholomew zu Whitton. Er wollte um jeden Preis die Wahrheit herausfinden.« Der junge Mann zog eine Grimasse. »Aber er kam nicht zurück, und mein Verdacht bestätigte sich. Whitton hatte ihn vor fünfzehn Jahren verraten, und er hatte auch jetzt seine Stellung benutzt, um Bartholomew ermorden zu lassen.« Er funkelte Athelstan an. »Ich bin froh, daß ich sie umgebracht habe! Ich habe sie gewarnt und dazu das Zeichen benutzt, das Bartholomew und ich in unserer Gefangenschaft verwandten - das Schiff mit den drei Masten, das uns zusammenbrachte.«
»Und ich?« rief Philippa da. »Was ist mit mir?«
»Was meinst du?«
»Hast du mich nicht geliebt?«
Parchmeiner lachte. »Um jemanden zu lieben, Philippa, braucht man ein Herz. Ich habe kein Herz, keine Seele. Bartholomew war mein Leben.« Er warf dem Mädchen einen verächtlichen Blick zu. »Ich habe dich benutzt«, fuhr er fort, ohne auf ihr lautes Schluchzen zu achten. »Mit Bartholomews Gold habe ich Whittons Untergang bewerkstelligt. Ich verstehe etwas von Manuskripten und Pergament, und so wurde ich Geoffrey Parchmeiner. Ach, Geoffrey ist übrigens wirklich mein Vorname. Ihr könnt mich Geoffrey Burghgesh nennen. Ich verkaufte dem Tower bestes Pergament zu einem lächerlichen Preis; ich freundete mich mit der Tochter des Konstablers an, erschmeichelte mir ihre Zuneigung.« Der Mörder lächelte.
»Und Ihr habt den Konstabler beobachtet? Seine Handlungen? Seine Stimmungen?«
»O ja, Bruder. Ich wußte, daß er und die anderen Mörder sich jedes Jahr im Advent trafen, um ihre Sünden zu feiern und zu schmausen. Ich wurde das, was er gern in mir sehen wollte: ein reicher, junger Kaufmann, ganz vernarrt in seine ziemlich reizlose Tochter. Wer seine Jugend als Gefangener der Mauren verbringt, der lernt zu schauspielern. Das muß man, wenn man überleben will.«
»Und warum jetzt?« fragte Cranston. »Warum nicht schon vor einem Jahr?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Sir John, ich mußte planen. Ich mußte mein Wild beobachten, und als die Themse zufror, schlug ich zu. Oh, wie habe ich es genossen! Und ohne Euch wäre auch alles gelungen, Bruder. Ich habe Hornes Kopf zu Sir John geschickt, um ihm zu zeigen, daß die Gerechtigkeit ihren Lauf genommen hat.«
Parchmeiner grinste Cranston an, als ob er eine gute Geschichte erzählte, und Athelstan wurde klar, daß der junge Mann nicht mehr ganz richtig im Kopf war.
»Natürlich hätte mein Plan auch schiefgehen können«, fuhr er jetzt fort, »aber dann hätte ich mir eben etwas anderes ausgedacht. Schließlich führt ja mehr als eine Straße in die Hölle. Und ich wartete, weil die Rache, wie Ihr alle wißt, ein Gericht ist, das man am besten kalt genießt.«
»Du Dreckskerl!« schrie Sir Fulke.
»Glied des Satans!« ergänzte Kaplan Hammond.
»Kann sein«, gab Parchmeiner zurück. »Aber alle hatten sie den Tod verdient.«
»Nein, das hatten sie nicht«, widersprach Athelstan leise. »Sie hatten Unrecht getan, aber mindestens zwei von ihnen haben ehrlich bereut. Ihr hättet vor dem Oberhofgericht Klage gegen sie erheben können. Schon der Vorwurf hätte genügt, Sir Ralph zu vernichten.«
»Ich bin das Gericht Gottes!« schrie Parchmeiner auf und starrte wütend in die Runde. »Ich bin ihr Untergang! Horne hat das begriffen, als er mich in der Rüstung sah, die derjenigen von Sir Bartholomew glich.« Er spuckte zu Sir Fulke hinüber. »Gott verdamme Euch und Eure ganze Familie! Ich habe auch die Schnalle von Eurem Schuh genommen und draußen auf das Eis geworfen. Das wäre eine hübsche Wendung gewesen, wie? Euch hängen zu sehen für den Mord an Eurem Bruder!«
Sir Fulke wandte sich ab.
»Der Rest war so einfach!« fuhr Geoffrey fort. »Die Briefe wurden abgeschickt. Sir Ralph zog in die Nordbastion. Ich ölte die Angeln und das Schloß seiner Tür und versteckte einen Dolch in dem Schutthaufen im Gang. Die Schlüssel vertauschte ich, als ich dem betrunkenen Schwein zu seiner letzten Ruhestätte half.«
»Und die anderen?« fragte Athelstan.
»Oh, Mowbray, der so brütend im Dunkeln stand, war kein Problem. Ich war schon früher oben auf der Mauer, und er hatte mich nie bemerkt. Die Armbrust habe ich wirklich im Korridor versteckt und nach dem Schuß auf die Glocke ins Abtrittloch geworfen.« Geoffrey kicherte. »Horne war ein Opfer seiner eigenen Angst. Ein echter Trottel. Und Fitzormonde hatte ich vor dem Bären gewarnt.« Der Mörder biß sich auf die Lippe. »Ich hätte sie auch anders umbringen können, aber nachdem Whitton mich aufgenommen hatte, mußte das Spiel gespielt werden.«
Cranston trat vor ihn. »Geoffrey Parchmeiner«, intonierte er, »auch bekannt als Geoffrey Burghgesh: Ich verhafte Euch wegen Mordes. Ihr werdet ins Gefängnis nach Newgate gebracht und Euch zu einem noch zu bestimmenden Zeitpunkt für Eure schrecklichen Verbrechen vor dem Königlichen Oberhofgericht verantworten.« Er sah sich um und nickte Colebrooke zu. »Führt ihn ab.«
»Ich will Bartholomews letzte Ruhestätte sehen!«
»Ja«, sagte Athelstan. »Master Lieutenant, er darf sich ansehen, was wir heute morgen entdeckt haben. Aber fesselt ihn gut!« Der Mörder warf Fulke einen letzten wütenden Blick zu, bevor Colebrooke und seine Soldaten ihn zur Tür hinausdrängten. Athelstan seufzte und sah sich um.
»Sir Fulke, Mistress Philippa, es tut mir leid.«
Philippa barg das Gesicht an der Schulter ihres Onkels und weinte lautlos. Sir Fulke wandte den Blick ab.
»Sir John«, sagte Athelstan. »Wir sind hier fertig.« Er packte sein Schreibzeug in den Leinenbeutel, verbeugte sich vor Sir Fulke und folgte Sir John die Treppe hinunter.
Draußen holte Cranston tief Luft. »Gottlob ist es vorbei, Bruder!«
Sie gingen an den abweisenden Massen des Wakefield Tower auf und ab, während ein Diener in die Nordbastion eilte und Cranstons Dolch holte.
»Ein getreuer Mörder«, sagte Sir John leise.
»Aye«, bestätigte Athelstan. »Wahnsinnig oder besessen, getrieben von Haß und Rachsucht.« Er schaute zu den Raben hinauf, die über ihnen krächzten. »Ich bin froh, hier wegzukommen, Sir John. Dieser Ort stinkt nach Tod.«
»Er heißt Das Haus des Roten Schlächters.«
»Der Name paßt gut«, meinte Athelstan.
Sie traten beiseite, als Colebrooke vorbeimarschierte. Parchmeiner, stramm gefesselt, war inmitten seiner Bewacher kaum zu erkennen. Dann kam der Diener mit Cranstons Dolch; sie strebten der nächstbesten Schenke zu.
Sir John verlangte naturgemäß »Erfrischung« nach dem, was er eine »mühselige Plackerei« nannte. Athelstan tat es ihm Becher für Becher nach. Schließlich trennten sie sich. Sir John feierte weiter, während Athelstan den widerstrebenden Philomel nach Billingsgate und über die London Bridge heim in die dunkle Einsamkeit von St. Erconwald führte.
*
Ein paar Tage später saß Athelstan auf seiner Bank gleich hinter dem Chorgitter, den behaglich schnurrenden Bonaventura auf dem Schoß. Der Bruder sah sich im Chorraum um. Alles war bereit für das Weihnachtsfest. Auf dem Altar lag ein frisches, goldgesäumtes Tuch, der Chorraum war ausgefegt, der Altar mit Efeu und Stechpalmen umkränzt, und grüne Blätter und blutrote Beeren schimmerten im Kerzenlicht. Die Kinder hatten ihr Maskenspiel aufgeführt. Athelstan lachte leise beim Gedanken daran, wie Crim, der den Joseph spielte, das Stück für einen kurzen Faustkampf mit einem der Engel unterbrochen hatte. Cecily hatte das Kirchenschiff ausgefegt und die Simse abgestaubt, und morgen würde er drei Messen feiern, eine im Morgengrauen, eine am Vormittag und eine am Mittag. Er schloß die Augen. Er würde seiner eigenen Toten gedenken, seiner Eltern und seines Bruders Francis, aber auch der Männer, die im Tower umgebrachtworden waren, und des jungen Parchmeiner, der sicher hängen würde.
Der Bischof hatte ihm erlaubt, seinen Friedhof neu zu weihen, und Pike hatte erzählt, daß Doktor Vincentius verschwunden sei. Benedicta war bestürzt gewesen, und Athelstan verspürte noch immer Gewissensbisse. Geistesabwesend gab er Bonaventura einen Kuß zwischen die Ohren. Er hatte sich bei allen Beteiligten für seinen Zornesausbruch nach Tosspots Grabschändung entschuldigt.
Athelstan seufzte. Alles schien in Ordnung zu sein, aber war es das auch? Weihnachten würde verstreichen, das Fest der Erscheinung des Herrn würde kommen und mit ihm neue Probleme. Vielleicht würde er ein Fest veranstalten, ein Bankett für den Gemeinderat, um sich bei allen für ihre Freundlichkeit zu bedanken. Watkin hatte ihm einen neuen Löffel aus Horn geschenkt, Ursula, die Schweinebäuerin, eine Speckseite. Von Pike hatte er eine neue Hacke für seinen Garten bekommen, von Ranulf, dem Rattenfänger, ein paar Handschuhe aus Maulwurfsfell, und Benedicta, möge Gott sie segnen, war mit einem dicken Wollmantel gekommen, der ihn vor den Unbilden des Winters schützen sollte. Aber morgen, nach der Messe, würde er allein sein. Athelstan starrte in die Kerzenflammen.
Verbarg Gott sich hinter dem Feuer? fragte er sich und schloß die Augen.
»O Herr der verborgenen Flammen«, betete er, »warum ist es so schrecklich, allein zu sein?« Er sprang auf und grinste, als die Kirchentür aufgestoßen wurde. »Gütiger Gott«, flüsterte er. »Von der Macht des Gebetes habe ich ja schon gehört, aber das hier ist wirklich ein Wunder.«
»Mönch!« brüllte Cranston und stand wie ein Koloß in wehenden Gewändern in der Kirche. »Ich weiß, daß du hier bist, Athelstan. Wo versteckst du dich, verdammt? In drei Teufels Namen, es ist noch zu früh für deine verdammten Sterne!« Athelstan trat unter dem Chorgitter hervor. »Sir John, Ihr seid höchst willkommen.« Er schaute den Coroner aufmerksam an. »Doch nicht schon wieder ein Mord?«
»Das will ich nicht hoffen, verflucht!« röhrte Cranston; er kam näher und klatschte in die Hände. »Ich brauche eine Erfrischung, Bruder! Willst du mir nicht Gesellschaft leisten?«
»Natürlich, Sir John. Aber diesmal bezahle ich.«
»Ein Pfaffe, der bezahlt, was er trinkt«, neckte Cranston. »Es muß wirklich Weihnachten sein.«
Athelstan holte seinen Mantel, den er über den Taufbrunnen geworfen hatte, und zusammen traten sie hinaus in die kalte Nachmittagsluft.
»Laß uns ins Geschenkte Pferd gehen«, schlug Cranston vor. »Ein guter Rotwein und ein heißer Eintopf werden uns guttun - an Leib und Seele!«
Sie gingen die Gasse hinunter und traten in die willkommene Wärme der Schenke. Der einarmige Wirt kam geschäftig herüber, um sie zu begrüßen.
»Sir John!« rief er. »Und Bruder Athelstan!«
Er führte sie zu einem Tisch am Kamin, und Cranston bestellte lautstark. Dann räkelte er sich auf der Bank und schaute sich strahlend um.
»Ihr habt viel zu tun, Sir John?«
»Ich suche immer noch Roger Droxford, der in Cheapside seinen Herrn ermordet hat. Jetzt habe ich gehört, daß er sich in einer Taverne bei La Reole verstecken soll; vielleicht gehe ich auf dem Heimweg einmal dort vorbei. Aber, Bruder, laß uns die Mordgeschichten vergessen. Lady Maude lädt dich für morgen um drei zum Essen ein. Dich und die Lady Benedicta.« Athelstan errötete, und Cranston grinste teuflisch.
»Keine Sorge, sie wird kommen. Ich war schon bei ihr, habe einen Becher Roten getrunken und ihr in deinem Namen einen Kuß gegeben.«
»Sir John, Ihr macht Euch über mich lustig.«
»Sir John, Ihr macht Euch über mich lustig«., äffte Cranston ihn nach. »Komm schon, Bruder, es ist doch keine Sünde, wenn man Gefallen an den Werken des Herrn findet. Du kommst?« drängte er. »Ich habe nämlich ein Geschenk für dich.«
Athelstan nickte, und Cranston fragte sich, ob das Astrolabium, das er gekauft hatte, diesem wunderlichen sterneguckenden Ordensbruder wohl gefallen würde. Der Wirt brachte Wein und zwei Schüsseln mit heißem, gut gewürztem Hammeleintopf. »Tja, Sir John, nun ist alles in Ordnung. Der Mörder Sir Ralphs ist gefaßt, Doktor Vincentius ist fort, mein Friedhof ist sicher. Morgen ist Weihnachten, und alles ist gut.«
Cranston trank schlürfend aus seinem Becher.
»Aye, Bruder, aber der Frühling wird wieder einen Korb voll Sorgen bringen. Der Rote Schlächter wird wieder zuschlagen. Der Mensch hört nicht auf, seinen Bruder zu töten.« Er seufzte. »Und Lady Maude braucht Fürsorge; ihr und dem Kind darf nichts geschehen.« Er senkte den Kopf und funkelte Athelstan an. »Es wird ein Junge«, verkündete er ohne Umschweife. »Und ich werde ihn Francis nennen, nach deinem toten Bruder.« Athelstan schnappte nach Luft und stellte seinen Becher auf den Tisch.
»Sir John, das ist wunderbar. Es ist sehr gütig von Euch.«
»Er wird ein Ritter werden«, fuhr Cranston überschwenglich fort. »Ein Friedensrichter, ein Mann des Gesetzes.« Er schwieg einen Augenblick. »Glaubst du, er wird aussehen wie ich?« Athelstan grinste. »In den ersten Monaten bestimmt, Sir John.« Cranston hörte das Lachen in seiner Stimme. »Wie meinst du das, Mönch?« fragte er drohend.
»Na ja, Sir John, natürlich wird er aussehen wie Ihr. Er wird kahlköpfig sein und rot im Gesicht, er wird viel saufen, rülpsen und furzen, laut brüllen und voll heißer Luft sein.«
Die anderen Gäste in der Schenke unterbrachen, was immer sie gerade taten, und starrten verblüfft herüber, als Sir John Cranston, der Coroner des Königs in der Stadt London, sich an die Wand lehnte und vor Lachen brüllte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen.
Athelstan grinste, bis ihm klar wurde, daß er es fortan mit zwei Cranstons zu tun haben würde. Da schloß er die Augen. »O Gott«, flüsterte er, »und wenn es nun Zwillinge werden?«