VII

Bittere Ernte

A.D. 514

 

Die jährlichen Abgaben an Gold und Korn waren am Ende des Sommers fällig, nachdem die Ernte eingebracht war. Seit der Abreise des Königs erschien Gwendivar der Gesamtbetrag jedes Jahr geringer. Logen die Fürsten in ihren Berichten, oder hatte Artors Abwesenheit das Land tatsächlich seiner Fruchtbarkeit beraubt?

Im Norden hielt man daran fest, dass die Ergiebigkeit der Erde von der Königin abhing. Was keine Hilfe darstellte, dachte sie, während sie an den rauchgeschwärzten Verputz der Wände starrte. Wie konnte das Land fruchtbar sein, wenn es eine unfruchtbare Königin hatte?

»Habt Ihr die Aufstellung aus Dumnonia?«, fragte Medrod von der gegenüberliegenden Seite des Raumes aus.

»Die habe ich«, antwortete sie. »Nach deren Angaben gibt es in Kernow kaum einen Kornstängel und kaum einen Fisch im Meer.« Sie beugte sich im Stuhl vor und reichte ihm die Schriftrolle.

Dadurch, dass man im Zimmer einen weiteren Tisch für ihn aufgestellt hatte, waren recht beengte Verhältnisse entstanden, doch Gwendivar störte sich nicht daran. Medrod besaß einen scharfen Verstand, zudem hatte ihn seine Mutter, was immer Gwendivar auch über sie denken mochte, gut ausgebildet. Im vergangenen Jahr hatte er sich zu einem fähigen Mitarbeiter entwickelt.

Und nun brauchte sie ihn dringender denn je zuvor. Die Königin spürte, wie ihre Augen sich mit den Tränen aufwallenden Kummers füllten. Das ganze letzte Jahr hindurch hatte Gai weiter darauf bestanden zu arbeiten, obwohl unverkennbar war, dass er Schmerzen hatte, und kurz nach dem Mittsommer hatte sein Herz schließlich versagt. Sie vermisste seine ernsthafte, zuverlässige Unterstützung, aber wenigstens übernahm Medrod einen Teil seiner Arbeit.

»Ihr könnt den Dumnoniern keinen Vorwurf daraus machen, dass sie ihre Ernte lieber für sich selbst behalten wollen, wenn sie wissen, dass alles, was sie uns geben, dazu dient, einen Krieg jenseits des Meeres zu unterstützen«, meinte er.

»Verstehen sie denn nicht, dass er notwendig ist?«, rief Gwendivar aus.

»Für einen Bauern in Kernow oder einen Schafhirten im Seenland ist Gallien sehr weit entfernt.«

»Ich bin sicher, die Gallier dachten auch, die Franken wären weit weg«, entgegnete Gwendivar barsch, »aber nun stehen sie vor ihren Toren. Man braucht keinen Merlin, um vorherzusehen, dass die Franken eines Tages mit ihren Schiffen vor den Klippen von Dubrae auftauchen werden, wenn man ihnen nicht auf gallischem Boden Einhalt gebietet.«

»Aber nicht heute«, wiederholte Medrod. »Und dieser Tag, diese Ernte zählt für die Menschen. Sie verstehen nicht, weshalb ihr König sie aufgegeben hat. Sie sind nicht imstande, seine Träume zu teilen.«

»Was kann ich nur tun?«

Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. Die Veränderungen setzten zwar langsam, in kleinen Schritten ein, doch jeder Tag, den der König in der Ferne verbrachte, ließ das Netz von Pflichtgefühl und Treue, das Britannien zusammengehalten hatte, weiter zerfasern. »Wie kann ich es ihnen nur begreiflich machen?«

»Es ist Artors Traum!«, rief Medrod aus und erhob sich. »Soll er sie doch überzeugen. Es ist ungerecht, Euch diese Bürde aufzulasten!«

»Wenigstens ist das etwas, was ich für ihn tun kann«, sagte Gwendivar traurig.

»Und das ist etwas, was ich für Euch tun kann…«, erwiderte Medrod. Gwendivar spürte eine zärtliche Berührung an der Schulter, dann fühlte sie, wie seine starken Finger sie zu massieren begannen und die Spannung vertrieben, die ihre Muskeln an der Stelle verknotete. Unwillkürlich seufzte sie und lehnte sich gegen den Druck seiner Hände. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie viel Kraft sie gegen die Anforderungen des Alltags hatte aufwenden müssen.

»Besser so?«, fragte er leise.

»Wunderbar… wo hast du das gelernt?«

Stille trat ein, während er auf jene Stellen drückte, an denen sich die Spannung am Halsansatz lösen würde.

»Auch meine Mutter war eine herrschende Königin, wenngleich sie, anders als Ihr, nach Macht dürstete. Aber nach einem Tag bei den Steuerlisten wurde auch sie steif und wund. Sie hat mir beigebracht, wie man den Schmerz wegmassiert. An den Abenden stand ich hinter ihr, so wie ich jetzt hinter Euch stehe, während ihr Harfner spielte.«

»Das hat sie dir gut beigebracht…«

»In der Tat!« Er hörte sich verbittert an. »Sie hat mir viele Dinge beigebracht…«

Einen Augenblick fühlte sich sein Griff beinahe schmerzlich an. Gwendivar gab einen unterdrückten Laut des Widerstands von sich, und er wurde wieder sanfter.

»Was hat Morgause getan, dass sie dich so verletzt hat?«, erkundigte Gwendivar sich schließlich.

»Manchmal glaube ich, ihre erste Sünde war, mich überhaupt auf die Welt gebracht zu haben. Aber kein Kind hasst sein Leben. Damals war sie für mich die Welt.« Er seufzte. »Und ich dachte, ich wäre für sie dasselbe. Ich wusste, dass sie mich meinen Brüdern vorzog. Sie behielt mich ständig bei sich, lenkte jeden meiner Schritte, meiner Gedanken, jedes meiner Worte. Ich liebte sie – ich hatte niemanden sonst, den ich lieben konnte.«

»War das denn so schlimm? Oder hat sie sich verändert?«

»Verändert? Erst, als es zu spät für mich war«, gab Medrod zurück. »Als ich begann, die Bedürfnisse eines Mannes zu verspüren, brachte sie mich zu den Pikten. Dort waren mehrere Jungen meines Alters – man hat uns eine wunderschöne Maid gezeigt und gesagt, sie sollte denjenigen zu ihrem Geliebten küren, der sich bei den Spielen am besten bewährte. Sie hatte bernsteinfarbenes Haar, so wie Ihr«, fügte er mit leiser Stimme hinzu. »Aber sie trug eines der Kleider meiner Mutter. Mittlerweile weiß ich, dass alles geschickt eingefädelt war, damals hingegen hielt ich sie für eine Prinzessin, deren Gunst ich in einem gerechten Wettstreit gegen die anderen Jungen erringen sollte.

Und vielleicht hätte ich das sogar!«, brach es aus ihm hervor. »Ich war begabt und stark. Ich habe mich wacker geschlagen! Aber nach jener Nacht, in der ich entdeckte, welches Vergnügen Männer in den Armen einer Frau finden, gestand sie mir, dass sie nur eine Sklavin und ihr gesagt worden sei, welchen Jungen sie auswählen sollte. Sie weinte in meinen Armen, meine kleine Kea, denn inzwischen hatte sie sich in mich verliebt, und auch ich dachte, dass ich sie liebte.

Ich habe meine Mutter angefleht, sie für mich zu kaufen, doch sie meinte, das Mädchen sei anderweitig vergeben. Es dauerte mehr als ein Jahr, bis ich herausfand, dass meine Mutter Kea bereits gekauft und befohlen hatte, sie zu erwürgen, noch bevor wir zu Hause in Dun Eidyn eintrafen.«

»Aber weshalb?«, rief Gwendivar aus.

»Der Grund, der mir genannt wurde, war, dass sie niemals jemand anderem den Leib darbieten durfte, der meinen ersten Samen empfangen hatte! Ich hingegen glaube, dass meine Mutter sah, wie sehr ich Kea liebte, und eine Nebenbuhlerin fürchtete… Aber als ich endlich herausgefunden hatte, was geschehen war, kümmerte es Morgause nicht mehr, ob ich sie liebte. Sie hatte mich verlassen und die Ränke aufgegeben, in denen sie mich benutzen wollte, um zurück zu ihrer Mutter auf die Insel der Maiden zu flüchten. Ich kam nach Süden, da ich hoffte, bei meinem Vater besser aufgehoben zu sein. Doch auch er hat mich im Stich gelassen, genau wie Euch!«

»O Medrod!«, entfuhr es Gwendivar, die sich halb umdrehte. »Es tut mir so leid!«

Einen Augenblick lang hielten seine knetenden Finger inne. »Arme kleine Königin… so wunderschön und klug. Um jeden sorgt sie sich, doch wer sorgt sich um sie?« Abermals begann er zu massieren, streichelte ihre Arme hinab, knetete die Muskeln ihrer Unterarme und Hände, insbesondere der rechten, die ob der langen Stunden mit Griffel und Feder äußerst verspannt war.

»So eine schöne, weiße Hand – sie verdient etwas Besseres als solch schwere Arbeit.« Medrod drehte die Hand um und begann, zärtlich die Konturen ihrer Innenfläche zu erforschen.

Gwendivar schauderte. Er stand ganz dicht hinter ihr, die Arme um sie geschlungen. Es fühlte sich völlig natürlich an, sich gegen ihn zu lehnen und die warme Stärke des männlichen Körpers zu genießen, der den ihren stützte.

»Sie verdient es… geküsst zu werden.« Medrod hob ihre Hand und drückte die Lippen auf die empfindsame Mitte der Handfläche.

»Oh!« Gwendivar zog die Hand weg, immer noch zitternd ob des Energiestoßes, der durch ihren Körper schoss. »Das kitzelt«, stammelte sie und versteifte sich.

Medrod schwieg, aber seine starken Hände wanderten erneut hinauf zu den Schultern, beruhigten sie wie eine aufgeschreckte Stute, dann massierten sie ihren Hals, ihren Kopf. Da der Augenblick der Gefahr vorüber schien, entspannte Gwendivar sich wieder.

»Du hast von Ränke gesprochen. Was hatte Morgause vor? Ich weiß, dass sie deine Empfängnis nicht geplant hatte«, meinte sie schließlich.

Abermals hielten die geschickten Finger kurz inne. »Nicht meine Empfängnis, aber seit der Stunde meiner Geburt erzog sie mich dazu, ihre Marionette auf Artors Thron zu werden, weil er ihr Igraines Liebe gestohlen hatte und weil sie wusste, dass die Fürsten Britanniens sie nie und nimmer als Königin anerkennen würden. Nun da sie die Herrin vom See ist, würde sie nicht einmal mehr im Traum daran denken, ihm die Treue zu brechen.« Die letzten Worte drangen gedehnt, verbittert aus seiner Kehle.

»Und du?«, fragte Gwendivar leise.

»Ich wurde dazu erzogen, einer Königin zu dienen. Ihr seid nun meine Herrin…« Zärtlich streichelte er ihr Haar. Halb benommen saß sie da, während seine Hände hinabwanderten, um ihre Wangen zu liebkosen, dann drehte sie den Kopf, als er sich neben sie kniete und sich vorbeugte, um ihre Lippen zu küssen.

Sein Mund fühlte sich süß und warm an. Gwendivar schauderte, spürte, wie ihr Blut aufwallte, und der Griff seiner Hand verstärkte sich, zog sie näher. Nun forderten seine Lippen ein, was sie zuvor nur erfleht hatten. Gwendivar versteifte sich, und er ließ sie los.

»Ich bin die Gemahlin deines Vaters…«, flüsterte sie.

»Aber nicht meine Mutter«, entgegnete er mit belegter Stimme. »Das ist wenigstens keine Blutschande.«

Sie richtete sich auf und holte tief Luft, um ihr rasendes Herz zu beruhigen. »Bald kehrt Artor zurück. Ich werde ihm die Treue halten.«

»Aber was, wenn er Euch die Treue bricht? Was wenn er nie zurückkehrt?« Medrod sah sie eindringlich an.

»Er wird zurückkehren!«, rief sie verzweifelt. »Hilf mir, Medrod, ich brauche dich. Aber zwischen uns kann es nicht mehr geben.«

Medrod lehnte sich auf die Hacken zurück. Seine Miene entspannte sich und nahm den üblichen, spöttischen Ausdruck an. »Fürstin, ich werde es nicht vergessen…«

Die Königin wandte sich wieder ihren Papieren zu, obwohl ihre Aufmerksamkeit anderswo war; sie wusste, dass auch sie nicht vergessen würde.

 

Als die ersten frostigen Winde des Herbstes das Laub von den Bäumen zupften und über die Stoppelfelder strichen, begaben sich die Fürsten Britanniens auf die Jagd. In den Jahren von Artors Abwesenheit hatte Gwendivar es sich zum Brauch gemacht, in der Zeit zwischen Ernte und Mittwinter durch das Königreich zu reisen, um ihrem Haushalt Bewegung zu verschaffen, Bekanntschaften mit den Häuptlingen aufzufrischen und noch ausstehende Steuern einzutreiben. Dieses Jahr war es Dumnonia, dessen Beitrag noch fehlte, und so begab es sich, dass der königliche Haushalt sich zur Herbstwende in Caellwic befand, einer alten Hügelfeste südlich von Dun Tageil, die Constantin als Jagdunterkunft diente.

 

Die Hirsche waren bereits in der Brunft. Ihr Röhren hallte durch die Wälder. Die Menschen hielten ob der rauen Laute inne und lauschten, und Medrod erkannte die gleiche Erregung, die in seinen Adern wallte, im Glitzern der Augen anderer Männer wieder.

»Geht ruhig«, sagte Constantin, den ein verstauchtes Knie vom Reiten abhielt. »Mir ist klar, dass niemand von euch die Geduld aufbringen wird, zu Rate zu sitzen, ehe ihr nicht eure Ertüchtigung genossen hat. Ich wünschte nur, ich könnte mitkommen!«

Früh am nächsten Morgen brachen sie auf, geführt von einem kleinen, dunkelhaarigen Burschen namens Cuby, der Medrod an das Verborgene Volk der nördlichen Hügel erinnerte. Einige der Reiter hatten Hunde mitgebracht, schlanke, graue Jagdhunde, die an den Leinen zerrten, und Spürhunde mit krausem Fell, die einer Blutspur bis Annwyn zu folgen vermochten.

»Einen Hirsch muss man jetzt erlegen, solange er noch Fleisch auf den Knochen hat.« Der kleinwüchsige Mann lachte leise. »Durch Brunft und Kampf magert er völlig ab. Um diese Jahreszeit denken die Viecher mit ihren Eiern!«

»So wie du, Ebi«, bemerkte Martinus von Viroconium zu einem seiner Freunde.

Der angesprochene junge Mann wurde rot. Er stand in dem Ruf, was Frauen betraf, einzig Gwalchmai nachzustehen, und seit dessen Hochzeit mochte er ihn durchaus übertroffen haben.

»Warum auch nicht?«, warf jemand mit leiserer Stimme ein. »Wir müssen unsere Männlichkeit doch im Bett beweisen, wenn wir sie schon nicht im Krieg beweisen dürfen!«

Schweigend lächelte Medrod, der dem Tonfall mehr Aufmerksamkeit schenkte als den Worten. Die Männer, die mit ihm aufgebrochen waren, gehörten überwiegend zu seiner Generation – Söhne von Häuptlingen oder von Männern, die mit Artor übers Meer gezogen waren. Er beobachtete, wie sie ritten und ihre Waffen handhabten, überlegte, wer von ihnen willens sein mochte, sich der Wache anzuschließen, mit der er Camelot bemannt hatte.

Sie kamen aus dem hoch gelegenen Heideland in ein bewaldetes Tal, und ihr Führer hob eine Hand, um ihnen Ruhe zu gebieten. Medrod lehnte sich zurück und presste die Knie in die Seiten seines Reittieres, als es die Böschung hinabrutschte. Irgendwo vor sich hörte er das Gurgeln eines Baches. Schnaubend riss sein Pony den Kopf hoch, und er zügelte es heftig, als ein halbes Dutzend dunkelhaariger Köpfe aus den Haselsträuchern auftauchte. Leise tuschelnd, sprachen die Männer mit Cuby, wonach der Führer sich grinsend zu den Reitern umdrehte.

»Sie sagen, auf einer Grasniederung flussabwärts ist feines Wild. Reitet vorsichtig, mit gespannten Bögen, und sie treiben es für euch heraus.«

Einer der Hunde schlug an und wurde zum Schweigen gebracht. Ungeduldig, wissend, dass sie bald lospreschen durften, zerrten die Jagdhunde an den Leinen.

»Na schön«, brummte Medrod. Er wandte sich an die anderen Reiter. »Zielt auf was ihr wollt, aber der Königshirsch gehört mir!«

Er trieb sein Pferd an die Spitze der Kolonne. Dann setzten sie sich in Bewegung, streiften durch den Herbstwald, der mit goldenen Schatten der sich verfärbenden Blätter gesprenkelt war. Die in erdfarbene Jagdmäntel aus naturbelassener Wolle gehüllten Reiter schienen mit den Ästen zu verschmelzen. Herabgefallenes Laub dämpfte die Schritte der Pferde; einzig ein leises Rascheln, das Knarren der Ledersättel und das gelegentliche Klirren von Stahl begleitete sie.

Es folgte ein gespannter Augenblick, als Martinus heftig an den Zügeln seines Rosses zerrte und es wieherte. Mit finsterer Miene fuhr Medrod ihn an, und Martinus deutete auf das schwarz-weiße Geschlängel einer Natter, die sich durch das Laub wand. Martinus war bekannt für seine Furcht vor Schlangen; hoffentlich würden sie auf keine weitere treffen. Seufzend bedeutete Medrod ihm, weiterzureiten.

Bald darauf lichtete sich der Wald. Hinter den letzten Bäumen erblickte Medrod die Flusswiese und die rotbraunen Gestalten von Wild. Er zügelte das Pferd und hob eine Hand, um die anderen zu warnen, dann ließ er die Zügel sinken. Sein Reittier bewegte sich ein paar Schritte vorwärts, hielt inne, um eine Maulvoll Gras zu rupfen, dann ging es weiter. Durch den Schleier der Blätter sah Medrod, wie eines der Wildtiere mit angelegten Ohren den Kopf hob und sich wieder dem Äsen zuwandte, da es nur die flüchtigen Bewegungen der anderen Vierbeiner bemerkte.

Langsam zog die Jagdgesellschaft durch den Wald; auf Medrods Zeichen hin glitten die Männer von den Pferden, banden sie an Bäume und spannten die Bögen. Mittlerweile sahen sie das am gegenüberliegenden Ende der Lichtung grasende Wild deutlich – sieben Rehe mit sanften Augen und den um ihre Gunst buhlenden Hirsch. Das Fell an seinen Flanken war zwar ein wenig struppig, der Kopf mit dem prächtigen Geweih jedoch stolz erhoben. Er war der alte König des Waldes, ein Zwölfender, der so manche Schlacht überlebt und zahlreiche Kitze gezeugt hatte.

Ho, alter Mann, dachte Medrod. Du hältst Ausschau nach dem jungen Hirschen, der versuchen will, dir die Rehe streitig zu machen. Aber das Wesen, das dir nun auf den Pelz rückt, wird dir nicht nur die Frauen, sondern Land und Leben rauben! Nimm dich in Acht!

Die Rehe grasten, der Hirsch hingegen stand mit erhobenem Haupt und streckte die bebenden Nüstern in den Wind. Er fühlte sich sichtbar unbehaglich, aber die zufälligen Bewegungen der Pferde hatten ihn getäuscht, und die Witterung, die er aufnahm, war die seiner eigenen Rasse. Medrod sah den Waldrand vor sich und zügelte sein Pferd. Vorsichtig glitt er aus dem Sattel, wobei er sich hinter den Rumpf des Pferdes duckte, um sich so der Sicht des Hirschen zu entziehen. Ebenso behutsam löste er seinen Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne.

Am gegenüberliegenden Ende der Lichtung huschte eine zweibeinige Gestalt vorüber. Die Rehe rissen die Köpfe empor. Wachsam, aber noch nicht erschrocken, setzten sie sich in Bewegung.

Komm her, mein König…. dachte Medrod. Hierher. Dein Leben gehört mir!

Abermals die kaum wahrnehmbare Bewegung. Nun musste der Wind auch den Geruch der Gestalt erfasst haben, denn eines der Rehe sprang zur Seite. Die anderen verharrten gebannt, und der schwere Kopf des Hirschen schwang herum. Gleich würden sie die Flucht ergreifen. Medrod hob den Bogen an; seine Muskeln bebten vor Anspannung.

Zu seiner Linken nieste jemand. Das Wild preschte los. Medrod, dessen Blick auf den Hirsch geheftet war, folgte dem Lauf, als das Tier losrannte und bündelte seine Aufmerksamkeit auf den Schimmer des roten Fells. Er spürte, wie der Pfeil sich unter seinen Fingern löste, sah, wie er in die glänzende Flanke sank, dann sprang der Hirsch an ihm vorbei und brach durch die Bäume.

Medrod riss die Zügel los und schwang sich auf den Rücken des Pferdes. Ein grauer, aufgeregt bellender Schemen huschte an ihm vorbei. Hinter ihm bliesen Hörner mit harschen Tönen zur Jagd. Medrod grub die Fersen in die Flanken des Ponys und hetzte, die Lippen zu einem wilden Grinsen verzogen, hinter dem Hirsch her.

Die Minuten, die folgten, waren ein einziges Durcheinander von raschelnden Blättern und peitschenden Zweigen. Sein Schuss war gut gewesen, aber der Hirsch war stark, und als ihn der Blutverlust allmählich langsamer werden ließ, hatte er bereits das halbe Tal hinter sich gelassen.

Medrod hörte das ungestüme Gebell der Hunde und peitschte das Pony mit den Zügeln voran. Vor sich sah er eine durch die Bäume preschende Gestalt, abwechselnd rot und braun, wenn sie Sonnenlicht und Schatten querte. Fünf Hunde hatten den Hirsch vor einem Felsvorsprung gestellt. Als Medrod innehielt, hörte er hinter sich Hufgeklapper und erblickte Martinus auf einem Pferd mit schäumenden Nüstern.

»Da drüben!«, brüllte er. »Sorg dafür, dass die Hunde ihre Arbeit tun!«

Martinus nickte und trieb sein Pferd weiter, blies das Halali auf dem Horn und ermutigte die Hunde mit Schreien und Rufen. Medrod war mittlerweile abgestiegen und hatte das eigene Ross angebunden. Von der Seite bahnte er sich einen Weg zu dem Hirsch und zog das kurze Jagdschwert aus der Scheide. Er hörte, wie weitere Reiter eintrafen, doch niemand würde ihm diese Beute streitig machen. Leise umging er die umgestürzten Steine und berechnete den Angriff.

Der Hirsch, der sich im Kreise drehte, um sich gegen die umherspringenden Hunde zu wehren, wusste nicht um die drohende Gefahr. Ein Hund blutete bereits aus einer aufgerissenen Flanke, und als Medrod näher kroch, senkte der Hirsch sein Haupt, nahm einen weiteren Hund an und wirbelte ihn durch die Luft. Medrod preschte vor, durchschnitt die Sehne am Hinterbein des Hirschen und sprang zurück, als das Tier auf drei Beinen auf ihn zuwankte.

Für den Bruchteil einer Sekunde begegnete er dem Blick der weiß geränderten Augen, der immer noch wild und verächtlich wirkte. Dann senkte das Geweih sich zu einem tödlichen Hieb.

Medrod hechtete zur Seite und zielte auf die Stelle hinter der Schulter, an der ein gezielter Stich nach oben ins Herz dringen konnte. Doch der Hirsch war schneller. Zwölf Hornklingen rasten auf ihn zu. Medrod ließ das Schwert fallen und warf sich zu Boden, rutschte unter dem Geweih hindurch, dann sprang er auf, ergriff den Hals des Tieres und riss die Beine hoch, um den austretenden Hufen auszuweichen.

Der aus dem Gleichgewicht gebrachte Hirsch stürzte. Medrod, der unter ihm zu liegen kam, wand einen Arm frei, um den Dolch zu ziehen und stach zu. In einer verzweifelten Umarmung presste sein Leib sich gegen den des Tieres, das Gesicht gegen das stinkende Fell gedrückt, bis den Hirsch ein letzter Krampf durchzuckte und er besiegt still lag.

»Herr! Fürst Medrod!«

Halb benommen hörte er die Rufe. Mühevoll setzte er sich auf, als die Männer ihn von dem toten Leib befreiten. Er rappelte sich auf die Beine und stellte erstaunt fest, dass nichts gebrochen war, obwohl die geschundenen Glieder bereits heftig zu schmerzen begannen. Der Hals des Hirschen glich einem blutigen Schlachtfeld, das Licht der Augen war bereits erloschen. Medrod trat gegen den Leib des Tieres und hob die bis zu den Ellbogen roten Arme.

»Der alte König ist tot!«, rief er; die Stimme klang schrill ob der überstandenen Gefahr. »Der Sieg ist mein!«

In den Augen der Männer rings um ihn sah er Erleichterung, Verwunderung und eine wilde Erregung, die der seinen entsprach. Sie begannen, seinen Namen zu schreien, während Hörner den Sieg verkündeten. In jenem Augenblick verschmolzen der Wald, das tote Tier und die brüllenden Jäger zu einer Einheit. Medrod musterte sie und spürte eine plötzliche, innere Bindung, als hätte ihn der Geist des Hirschen beseelt. Sie sind mein!, dachte er. Dieses Land ist mein! Ich fordere es als Eroberer!

 

Bitter wie eine Erinnerung trug der Wind die Klänge der Hörner aus dem dicht bewaldeten Tal zu der kahlen, hoch gelegenen Heide, von der aus man auf das Meer hinausblickte. Merlin hielt inne, um zu lauschen, den Thymianzweig vergessen in seiner Hand haltend.

»Medrod hat seine Beute erlegt«, sagte Ninive. »Heute Abend werden wir Wild auf dem Tisch haben.«

»Ich wünschte, das wäre alles, was Medrod mitbringt.« Die Worte kamen, ohne dass Merlin darüber nachgedacht hätte.

»Was soll das heißen?«, wollte das Mädchen wissen, dessen helles Haar in der Brise wallte.

Merlin hob die Schultern; er wusste weder, was er fürchtete, noch, woher das Wissen stammte.

Ninive kniff die Augen zusammen und deutete auf die Pflanze in seiner Hand. »Ihr habt gesagt, Ihr würdet mich unterrichten. Die Überlieferungen der Kräuter und des Heilens könnte ich auch auf der Insel der Maiden lernen. Ihr aber seid der Seher Britanniens – bringt mir bei, wie man weiß…«

Hilflos breitete er die Arme aus und ließ den Thymian zu Boden fallen. Wie Ninive so dastand, das Gesicht gen Himmel erhoben, schien sie aus Licht gemacht, ihre schmalen Gesichtszüge eins mit dem Antlitz des daimon, der in seiner Seele lebte.

»Wie kann ich dir etwas beibringen? Du bist das Wissen.«

»Wenn Ihr mich betrachtet, was seht Ihr dann? Und was sehe ich, wenn ich Euch betrachte?« Sie bedachte ihn mit einem langen, geheimnisvollen Blick. »Vielleicht könnt Ihr mir zeigen, was Ihr nicht zu sagen vermögt«, bemerkte sie leise. Dann nahm ihre Stimme einen schärferen Tonfall an. »Sprich, o Mann der Weisheit. Im Namen deines daimon beschwöre ich dich. Wie ergeht es dem Hochkönig in Gallien?«

Merlin spürte die erste Woge der Benommenheit und umfasste den Schaft des Speeres mit beiden Händen, trieb die Spitze in die Erde, als wollte er sie darin verwurzeln. Visionen kamen und gingen in Wellen; also schloss er die Augen, fühlte, wie der Eschenschaft in seinen Händen sich in den Stamm eines großen Baumes verwandelte, der mächtig genug war, um als Pfeiler für Welten zu dienen. Von dieser Stärke gestützt, gab Merlin den Versuch auf, sich an sein gewöhnliches Bewusstsein zu klammern und ließ seinen Geist emporsteigen.

In den ersten Augenblicken weitete sich sein Bewusstsein, getragen auf den Schwingen des Windes. Unter ihm rauschten die grauen Wogen des Meeres. Dann wurde seine Sicht schärfer; er sah gerodete Wälder und breite, zu Schlamm getrampelte Felder, wo Armeen hindurchgezogen waren. In der verschwommenen Ferne, in der er seinen Körper zurückgelassen hatte, rief eine Stimme seinen Namen. Er wusste, dass er ihr antwortete, nicht jedoch was.

Da war der Rauch eines niedergebrannten Dorfes; der Lärm einer Schlacht hallte durch die Luft. Immer mehr bündelte sich sein Bewusstsein; er sah das Banner des Pendragon und Männer in zerschundenen römischen Rüstungen, die gegen große, hellhaarige Krieger mit spitzen Helmen fochten, auf deren Schilden vergoldete Adlerfiguren funkelten.

Er sah Artor über dem Leichnam Gwyhirs thronen und mit mächtigen Hieben Franken fällen, bis Gwalchmai sich einen Weg durch das Gewirr kämpfte, um ihm beizustehen. Hörner ertönten, und ein Reitereikeil mit Bediver an der Spitze stürmte auf das Gemetzel zu. Die Franken fielen zurück und rannten zu den Pferden, die sie am Rand des Feldes zurückgelassen hatten. Bediver verfolgte sie. Die langen, römischen Lanzen stachen zu, weiteres Blut ergoss sich auf den Boden.

Plötzlich veränderte sich die Szene. Es war Sonnenuntergang, und innerhalb eines Fackelkreises sah Merlin auf einem Scheiterhaufen den in einen purpurnen Mantel gehüllten Leichnam eines greisen Mannes. Artor ergriff von einem der Soldaten eine Fackel und warf sie zwischen die Scheite, dann trat er zurück. Das flackernde Licht unterstrich die Furchen in seinem Antlitz, als das Feuer das ölgetränkte Holz erfasste und hoch aufloderte.

Männer scharten sich um ihn. Einer hielt einen Mantel gleich jenem, in den der Leichnam gehüllt gewesen war. Artor schüttelte den Kopf, dennoch legten sie ihm das Purpur über die Schultern. Andere strömten mit Schilden an den Armen herbei und knieten nieder. Jubelnd hoben sie den nach wie vor protestierenden König auf den Schilden empor. Merlin sah, wie Münder sich im Einklang öffneten, hörte tief in der Seele den Widerhall des Gebrülls – »Imperator! Imperator!«

In einem Wirbel aus Purpur und Flammenrot kehrte sein Bewusstsein zurück, und er schlug die Augen auf, keuchte im roten Licht des sich dem Ende zuneigenden Tages.

»Der König«, krächzte er und hustete, während er versuchte, Ordnung in den Strudel verblassender Bilder zu bringen. »Was habe ich gesagt?«

»Riothamus ist tot«, antwortete Ninive mit zittriger Stimme, »und man hat Artor zum Kaiser ausgerufen…«

 

Die Insel Avalon war in den verträumten Frieden des Herbstes gehüllt. Gwendivar saß neben der Quelle des Blutes und beobachtete, wie goldene Blätter langsam über den Teich trieben.

»Er wird nie zurückkehren, Julia«, sagte sie traurig. »Ich spüre es in meinem Herzen. Wenn man Artor zum Kaiser gemacht hat, ist sein Wunsch in Erfüllung gegangen. Weshalb sollte er zu mir, nach Britannien zurückkehren?«

»Sofern man der Vision des Hexers Glauben schenken darf«, merkte die andere Frau etwas grimmig an. Die Jahre hatten Julia ein wenig verändert, abgesehen von dem weißen Schleier einer geweihten Nonne, der ihr kurz geschorenes Haar bedeckte. »Mir kommt es vor, als hörten wir täglich eine neue Geschichte. Manch einer behauptet, nicht Riothamus, sondern Artor sei gestorben.«

Gwendivar schüttelte den Kopf. »Er ist nicht tot. Das wüsste ich…«

»Weil du seine Frau bist?« Julia zog eine Augenbraue hoch. »Er war dir nie ein wahrhaftiger Gemahl.«

»Weil ich Artors Königin bin«, berichtigte Gwendivar sie. »Und weil das Land selbst wehklagen würde, hätte er diese Welt verlassen.«

Ungläubig schnaubte Julia. »Ob sich das Land nach zehn Jahren überhaupt noch an ihn erinnert? Du, meine Liebe, bist die Quelle der Herrschaft. Was wirst du nun tun?« Nach dem Tod von Mutter Madured hatten die Nonnen Julia dazu auserkoren, sie anzuführen, weshalb sie nun Autorität ausstrahlte.

»Theodoric hat ein Schiff nach Aquilonia geschickt, um Näheres in Erfahrung zu bringen. Ich werde dann eine Entscheidung fällen, wenn wir Gewissheit haben.«

»Falls dir so viel Zeit bleibt!« Kopfschüttelnd erhob sich Julia. »Artor ist schon zu lange fort, und Britannien summt wie ein Bienenschwarm. Wenn er nicht persönlich mit dem Boten zurückkehrt, muss er vielleicht feststellen, dass Britannien sich jemand anderem verschrieben hat! Aber was auch immer geschieht, meine Königin, vergiss nie, dass hier in Avalon stets Platz für dich ist.«

Gwendivar versuchte zu lächeln. Einst hatte sie diese Insel als Gefängnis empfunden, nun jedoch wusste sie die Macht zu schätzen, die unter dem Frieden dieses Ortes schlummerte. Selbst die geistigen Übungen der Nonnen ermöglichten es ihnen gerade eben, die Kräfte zu ertragen, die in den kalten Wassern der Quelle pulsierten. Gwendivar beugte sich über das Wasser und erblickte ihr Antlitz als verschwommenes Muster zwischen Blättern, die im Strudel der Strömung trieben. Sie schöpfte Wasser aus dem Teich; das Bild löste sich auf und formte sich von neuem in den glitzernden Tropfen, die von ihren Händen fielen.

Beide Frauen wandten sich um und blickten auf, als auf den Steinen das Geräusch von Schritten erklang. Es war eine der Novizinnen, die angesichts der Königin Britanniens noch aufgeregt war.

»Herrin, Fürst Medrod möchte mit Euch sprechen…«

»Hierher darf er nicht«, setzte Julia an, aber Gwendivar erhob sich bereits.

»Sag ihm, er soll in den Obstgarten kommen«, trug sie der jungen Frau auf und zog sich den Schleier wieder übers Haar.

 

Die Äpfel waren geerntet worden, die Blätter fielen von den Bäumen. Nur ein paar verschrumpelte Früchte, zu klein, als dass es sich lohnen würde, sie zu pflücken, hingen noch an den obersten Ästen. Doch obwohl die Bäume nun kahl dastanden, waren sie nicht unfruchtbar, denn im nächsten Jahr würden sie wieder blühen und gedeihen.

Ganz im Gegensatz zu mir… dachte die Königin verbittert. Sie schritt zwischen den Bäumen auf und ab und drehte sich mit gerunzelter Stirn um, als Medrod das Tor schloss und auf sie zukam. Schlank und drahtig wie er war und mit dem im Sonnenlicht leuchtenden rotbraunen Haar erinnerte er sie wenigstens nicht an Artor.

»Die Pferde stehen bereit. Wenn wir Camelot vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wollen, müssen wir jetzt aufbrechen.«

»Wieso sollte ich zurückgehen? Wenn Artor nicht zurückkehrt, bin ich nicht länger Königin.« Gwendivar spürte, wie das Königreich rings um sie zerbröckelte; oder vielleicht war sie es selbst, die verdorrte und zerbröselte. Medrod hielt sie an den Schultern fest, als sie sich abzuwenden begann.

»Gwendivar!« Sein Griff verstärkte sich. »Ihr seid der Quell der Herrschaft! Britannien braucht Euch – ich brauche Euch! Meine Herrin, meine Geliebte, begreift Ihr denn nicht?«

Kopfschüttelnd wich sie zurück. Ohne sie loszulassen, folgte ihr Medrod, bis sie mit dem Rücken an einen Baum stieß.

»Gwendivar… Gwendivar…« Er zog ihr den Schleier vom Kopf und berührte zärtlich ihr Haar. »Du bist der Ursprung und der Mittelpunkt, die Quelle und der geheiligte Hain.«

Kaum atmend verharrte sie, während seine Hand von ihrem Haar zur Wange hinabwanderte. Dies war nicht die verhohlene Verführung, die er zuvor versucht hatte. So zärtlich er sich geben mochte, sein Griff strahlte eine Autorität aus, die sie nicht verleugnen konnte. Gwendivar drehte den Kopf weg, doch er zwang ihn zurück, und dann küsste er sie, leidenschaftlich und innig, und sie spürte, wie die Kraft ihre Glieder zu verlassen begann.

»Artor ist fort…«, murmelte er in ihr Haar. »Er hat uns aufgegeben, und ohne König werden die Fürsten dieses arme Land wie Wölfe in Stücke reißen. Ich weiß, dass ich sie anführen kann, aber allein du kannst meiner Herrschaft zu Rechtmäßigkeit verhelfen!«

Seine Hand glitt über ihren Hals, schob ihr die Tunika von der Schulter und umfasste ihre Brust; Gwendivar erbebte, als lange unterdrückte Gefühle in ihr aufwallten.

»Gwendivar… Gwendivar… Heirate mich, und ich werde dich lieben, wie er es niemals könnte. Ich weiß, wie man einer Königin dient!« Er bückte sich vor ihr, ließ die Hände über ihre Seiten gleiten, bis er vor ihr kniete und sie an sich drückte, den Kopf gegen ihre aneinander gepressten Schenkel gelehnt.

»Ich bin die Gemahlin deines Vaters…«, flüsterte sie, während sie sich bemühte, aufrecht stehen zu bleiben. Brächte er sie auf den Rücken ins Gras, hätte sie keine Macht mehr aufzuhalten, wonach ihm der Sinn stand.

Und wieso wehre ich mich?, fragte sie sich. Wann war Artor ihr je mit solcher Leidenschaft, solchem Drängen begegnet?

»Er hat der Ehe abgeschworen; außerdem bist du nicht mit mir verwandt«, sprach er mit belegter Stimme. »Komm, Gwendivar, verleih mir das Recht zu herrschen…«

»Nicht hier…«, flüsterte sie. »Dies ist heiliger Boden…«

Medrod lehnte sich leicht zurück und blickte mit verschleierten Augen zu ihr empor. »Aber du wirst mit mir schlafen, Liebste, nicht wahr? Du wirst mich heiraten?«

Gwendivar schauderte; ihr Leib schmerzte vor Verlangen. Es war zu spät, dachte sie. Nun hatte sie keine Wahl mehr – sie hatte bereits zu sehr nachgegeben. Ohne eigenes Zutun drangen die Worte über ihre Lippen. »Wenn du König bist… werde ich es tun…«

 

Die Königin saß auf ihrem Platz in der runden Ratshalle; mit ihren goldenen Gewändern stellte sie den Inbegriff der Herrschaft dar. Medrod hatte sich auf der anderen Seite neben dem leeren Stuhl des Königs niedergelassen.

Bald, dachte er, ist das mein Stuhl! Sobald die Männer, die er zu seinem Mittwinterfest eingeladen hatte, zustimmten… Der Schein des knisternden Feuers in der Mitte des Kreises flackerte in vor Neugier gespannten Gesichtern, schimmerte aufweichen, pelzgesäumten Mänteln und funkelte auf Gold. Die Pfeiler des Gebäudes waren mit immergrünen Gewächsen geschmückt, mit Holunder, Efeu und Mistelzweigen.

Er wusste, dass es ein Wagnis bedeutete, sie zusammenzurufen. Möglicherweise wäre es sicherer gewesen, sich einfach zum König zu erklären. Hätte Artor das Schwert zurückgelassen, hätte er sein Anrecht beweisen können, indem er es aus dem Stein zog. Seine Mutter hatte ihm den Dreh erklärt, zudem entstammte er dem richtigen Blut – sogar in zweifacher Weise, dachte er mit einem zynischen Grinsen.

Aber er konnte sich Basileus von Byzanz oder Herr der Gesegneten Inseln nennen, es wäre bedeutungslos, wenn ihm niemand folgte. Er musste von den Fürsten Britanniens anerkannt werden, oder zumindest von so vielen, dass es die Übrigen beeindruckte. Camelot war mit Kriegern bemannt, die er ausgewählt hatte. Aelle, Cynric und Icel hatte er bereits Botschaften gesandt, und er wusste, dass sie ihm weitere Krieger senden würden, wenn er danach verlangte. Aber um über Britannien zu herrschen, brauchte er die Unterstützung dieser Männer.

Er ließ den Blick durch die Kammer schweifen, zählte diejenigen, deren er sich sicher war und diejenigen, die er für schwach genug hielt, sich umstimmen zu lassen. Von einigen, wie Theodoric von Demetia und Eldol von Glevum, wusste er, dass sie keinen Erben anerkennen würden, bevor sie Artor im Grab sahen. Die Einladungen an sie hatten ihr Ziel allesamt – bedauerlicherweise – nie erreicht. Von den älteren Männern war nur Cador von Dumnonia – der nie als Artors Freund gegolten hatte – mit seinem Sohn Constantin an der Seite anwesend.

Aber Martinus von Viroconium, der erst kürzlich den Thron seines Vaters bestiegen hatte, würde hinter ihm stehen, ebenso Caninus von Glevum, gleichgültig was dessen Vater sagen mochte. Maglocun und Cunoglassus von Gwenet waren zwar jung, entstammten jedoch edlem Blut. Während die Söhne mit Träumen von Ruhm zu verführen waren, mochten die Väter sich durch niedrigere Steuern und eine entgegenkommendere Regierung überzeugen lassen.

Lauernd wie der Falke, der über dem Feld kreist, wartete Medrod, bis alle ihre Plätze eingenommen hatten und die Stille unbehaglich wurde, ehe er sich mit einer fließenden Bewegung erhob, die jedermanns Aufmerksamkeit weckte. Wohlweislich hatte er einen langen Kittel aus byzantinischem Brokat von so dunklem Scharlachrot angelegt, dass es beinahe purpurn wirkte. Sein schwarzer Umhang war mit Wolfspelz gesäumt. Um seinen Hals funkelte ein Reif aus gewundenem Gold.

»Fürsten Britanniens, ich heiße Euch willkommen. Es war die Königin, die Euch zum Rat gerufen hat, wie es ihr Recht ist. Ich spreche in ihrem Namen.« Er verbeugte sich vor Gwendivar, die das Haupt neigte. Ihre Gesichtszüge hinter dem Schleier waren ausdruckslos wie die einer römischen Statue.

»Und wieso hat sie – oder habt Ihr – uns hierher gerufen?«, rief Cador zur Antwort aus.

»Um über die Zukunft dieser seit zehn langen Jahren ihres Königs beraubten Insel zu beraten.« Er wartete, bis das Gemurmel sich legte.

»Habt Ihr Kunde von Artors Tod?«, fragte Paulinus von Viroconium.

»Wir haben lediglich Gerüchte gehört. Es gab eine große Schlacht gegen die Franken, bei der viele getötet wurden. Meine Gewährsmänner sahen einen Scheiterhaufen, und man sagte ihnen, die Briten würden ihren König verbrennen.«

Diesmal brach heftigeres Getuschel los. Vielen der Anwesenden hatte Artors Herrschaft widerstrebt, doch er war auch innig geliebt worden. Gwendivar blickte bei seinen Worten jäh auf, denn sie glaubte an die verworrene Geschichte von Merlins Prophezeiung, nämlich dass es Riothamus gewesen sei, der starb.

»Vielleicht ist er nicht tot«, fuhr er schulterzuckend fort, »obwohl ich nicht verstehe, weshalb Artor, sofern er noch lebt, keine Botschaft gesandt hat. Vielleicht hat man ihn zum Kaiser erkoren, und Britannien kümmert ihn nicht mehr.« Medrod breitete die Arme aus. »Meine Fürsten – spielt es eigentlich eine Rolle? Er ist nicht hier! Handelt so ein Herrscher, der sich um sein Volk sorgt?«, rief er aus.

»Die Zeit der Stürme hat eingesetzt, die denkbar schlecht ist zum Segeln«, gab jemand zu bedenken, aber der Rest der Männer pflichtete Medrod lautstark bei.

»Handelt so ein Verteidiger des Landes? Ein König?«, sprach Medrod weiter, wodurch er immer mehr zustimmende Rufe weckte.

Er entfernte sich von seinem Sitz und begann, im Kreis auf und ab zu schreiten. »Letztes Jahr griffen Männer aus dem Norden die Küste Anglias an. Ich führte eine Truppe britischer Krieger an und ritt mit Icels Sohn Creoda aus, um sie zu besiegen. Wir trennten uns als Freunde, aber glaubt ihr, es sei den Angeln entgangen, dass Britannien keinen König hat, der das Land verteidigt? Sie haben mich allein deshalb anerkannt, weil ich König Artors… Verwandter bin.«

Medrod sah Blicke, die sich kurz auf ihn richteten und sich rasch wieder abwandten. Sie hatten sich an ihn gewöhnt – es war Zeit, sie daran zu erinnern, wer er tatsächlich war.

»Fast neun Jahre habe ich bei den Sachsen verbracht und ihre Sprache gelernt. Nach einer Weile vergaßen sie, in meiner Gegenwart auf ihre Worte zu achten. Im Augenblick verhalten sie sich ruhig, aber sie haben ihre Träume, den Rest dieser Insel zu erobern, keineswegs aufgegeben. Ein Jahrzehnt lang hat die Angst vor Artors Namen sie davon abgehalten. Aber mittlerweile wächst eine neue Generation von Kriegern heran, die keine Ehrfurcht vor britischen Waffen gelernt hat. Ob durch Angst oder durch Freundschaft, man muss ihnen jetzt Fesseln anlegen, und das kann einzig durch einen König geschehen.«

Das Feuer flackerte, als ein Windstoß von draußen, gleich einem Widerhall seiner Worte, den Druck in der Halle veränderte.

»Und erhebt Ihr Anspruch auf den Thron?«, rief einer der dumnonischen Fürsten.

Medrod holte tief Luft. Hierfür war er geboren worden; er war von seiner Mutter dazu ausgebildet worden, ihr als Waffe gegen den König zu dienen. Nun, da Morgause ihre Rache aufgegeben hatte, würde es seine Rache an ihr sein, Artors Platz einzunehmen. Und er wollte es, mehr als er je zuvor etwas gewollt hatte, abgesehen vielleicht von der Liebe seiner Mutter – oder Kea – oder Gwendivar.

»Das tue ich. Ich besitze das Recht dazu, gleichgültig ob ihr mich als Sohn oder als Neffen betrachtet, und ich besitze den Willen dafür.« Seine Stimme schallte durch die Halle. »Artor hat eure Söhne und eure Reichtümer in einem sinnlosen Krieg in der Fremde vergeudet. Ich werde beides sicher in Britannien behalten. Er hat den Fürsten dieses Landes kurze Leinen angelegt, aber die Sachsenkriege sind längst vorüber, und wir können es uns erlauben, mit weniger zentraler Befehlsgewalt zu herrschen. Dennoch muss es einen Mann mit der Macht und dem Ansehen geben, der sich ihrer annimmt. All das will ich als euer König tun!«

»Was sagt Frau Gwendivar dazu?«, wollte Constantin wissen.

Medrod wandte sich der Königin zu und streckte die Hand aus. Sie erhob sich, allerdings noch blasser als zuvor, sofern dies möglich war.

»Artor hat uns aufgegeben«, verkündete sie mit leiser Stimme. »Lasst Medrod die Herrschaft übernehmen…«

Medrod verneigte sich vor ihr, dann richtete er sich auf, wobei er sich absichtlich so hinstellte, dass der Schein des Feuers ihn in goldenes Licht tauchen würde.

»Medrod!«, rief Martinus, und zuerst stimmte Cunoglassus, dann ein Dutzend anderer in den Ruf mit ein. Sie brüllten seinen Namen, bis die Dachsparren erbebten, und als der Beifall schließlich verebbte, setzte Medrod sich auf den großen geschnitzten Stuhl des Königs.