V
Die Hochkoenigin
A.D. 507-512
In Camelot herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Man gewöhnte sich an den Lärm, besonders jetzt, da aufgrund einer Reihe heißer Tage Anfang Juni jedes Fenster, jede Tür offen stand. Doch die Stimmen vor dem kleinen Gebäude, in dem die Königin die Bücher führte, wurden zunehmend lauter. Als Ninive hereinkam, deren helles Haar sich in der schwülen Luft wild kräuselte, legte Gwendivar die Listen der in Rindfleisch oder Korn bezahlten Steuern beiseite.
»Herrin – da ist ein Reiter mit Botschaften aus Gallien.«
Das Herz der Königin pochte wild in der Brust, aber sie hatte gelernt, keine Regung zu zeigen. Plötzlich spürte sie, wie das feine Linnen ihrer Tunika an Brust und Rücken klebte und Schweißtropfen auf der Stirn standen. Mit angespannt gefalteten Händen wartete sie, bis der Bote hereinkam, dessen Kittel noch mit Salz von der Reise über das Meer befleckt war.
»Dem König geht es gut«, begann er hastig, und ihr wurde klar, dass ihr Gesicht sie doch verraten hatte, aber das spielte jetzt keine Rolle. Sie erkannte Artors Siegel auf der Rolle aus ungegerbtem Leder, in der er seine Botschaften versandte, und streckte die Hand aus. Die flinke, eckige Handschrift, die ihr mittlerweile sehr vertraut war, verschwamm vor ihren Augen, dann verfestigte sie sich zu Worten.
»… und so haben wir wieder bei Civitas Aquilonia das Lager aufgeschlagen. Heftiger Regen hat hier gewütet, und unter den Männern kursiert Krankheit, aber wir hoffen bald auf besseres Wetter.«
Nur allzu gerne hätte sie den Sonnenschein mit ihm geteilt, den sie hier hatten. Doch wäre das Wetter auf beiden Seiten der Meerenge dasselbe, wäre das Land mittlerweile vom Austrocknen bedroht. Als Artor noch durch Britannien reiste, zählte es nicht zu seinen Gewohnheiten, ihr zu schreiben. Nun aber schien die Königin sein Bindeglied zur Heimat zu verkörpern. Artors Handschrift zu entziffern war nur eine der Fähigkeiten, die Gwendivar sich angeeignet hatte, seit der König sie zurückgelassen hatte, um in seinem Namen zu herrschen.
»Die Neuigkeiten aus dem Süden Galliens sind weiterhin schlecht, zumindest für das Königreich Tolosa. Chlodowig hat sich entschlossen, gegen die Goten zu ziehen, und ich glaube, diesmal wird Alarich nicht in der Lage sein, ihn aufzuhalten. Für uns bedeutet das Frieden, bis die Franken ihre neue Eroberung in ihr Machtgefüge eingegliedert haben. Aber in ein, zwei Jahren werden sie sich umsehen und feststellen, dass diese letzte römische Bastion ihnen immer noch trotzt.
So lange bleibt mir wohl, um zwischen den britischen Häuptlingen Armoricas Bündnisse zu schmieden, die dem Sturm widerstehen werden. Darf ich hoffen, das Kaiserreich des Westens wieder aufzurichten? Ich weiß es nicht mehr – einst sah ich ein Gallien, das es zurückzuerobern galt, doch nun sehe ich Menschen, die ihr Vertrauen in mich gesetzt haben und die ich nicht enttäuschen darf…«
An dieser Stelle wies die Handschrift eine Unterbrechung auf. Der Rest des Briefes war mit der Tinte eines anderen Farbtons geschrieben, zudem wirkte die Schrift noch kantiger.
»Tolosa ist gefallen. Die Wisigoten befinden sich in vollem Rückzug, und die Franken prahlen, sie würden sie bis hinter die Pyrenäen treiben. Wahrscheinlich haben sie Recht. Alarich muss sich bestimmt verzweifelt wünschen, eine Gebirgskette zwischen sich und seine Feinde zu bringen. In Iberia wird er eine Weile in Sicherheit sein. Aber ich sehe voraus, dass ihn eines Tages ein Frankenkönig verfolgen wird, der von einem Kaiserreich träumt. Es sei denn, wir sind in der Lage, ihren Übermut zu brechen. Schon sehen wir Flüchtlinge aus Tolosa, sowohl Römer als auch Goten. Wenn sie sich an den Kämpfen hier beteiligen wollen, sind sie uns durchaus willkommen. Einige schicke ich vielleicht zu dir nach Britannien.
Wache wohl über mein Königreich, meine Königin. Du hältst mein Herz in Händen…«
Wie, überlegte Gwendivar, sollte sie dies auffassen? Gewiss bezog Artor sich auf das Land, doch kurz fragte sie sich, wie es wäre, nicht nur sein Pflichtgefühl, sondern auch seine Liebe für sich zu beanspruchen. Als sie Merlins Reimen lauschte, hätte sie es beinahe begriffen. Doch selbst unbekleidet behielt Artor seine geistige Rüstung an, und der Augenblick einer Möglichkeit war verstrichen. Es würde einer noch größeren Macht als der Merlins bedürfen, um ihn zurück in ihre Arme zu bringen, dachte sie traurig…
Sie versuchte sich einzureden, dass die Abwesenheit ihres Gemahls sie zu einer wahren Königin gemacht hatte. War sie immer noch schön? Sie wusste es nicht – die Menschen hatten begriffen, dass sie Lob ob ihres Charakters höher schätzte. Gwendivar war in die Befehlsgewalt hineingewachsen, die Artor ihr überantwortet hatte, und sie hatte festgestellt, dass sie die Gabe besaß zu herrschen. Als seine Gemahlin mochte sie wohl versagt haben, nicht jedoch als Britanniens Königin.
Aber jeder Brief enthüllte mehr von dem Menschen, der sich im König verbarg, von der menschlichen Seele, die so sorgsam auf der Hut gewesen war, wenn sie allein waren. Seit Beginn des Gallien-Feldzuges war Artor erst dreimal zurück in Britannien gewesen. Dabei hatte es sich lediglich um kurze Besuche gehandelt, die er dazu nutzte, Streitigkeiten zwischen den Fürsten zu schlichten oder sie zu überreden, ihm weitere Männer zu senden. Gwendivar hatte ihn kaum zu Gesicht bekommen.
Und sie vermisste ihn, diesen Gemahl, den sie erst jetzt wahrhaft kennen lernte. Sie griff nach einem Stück Pergament und begann nach einer kurzen Weile zu schreiben.
»Sei gegrüßt, mein König und Gemahl. Das Wetter hier ist heiß und schön, und wir hoffen auf eine gute Ernte. Ich kann dir jetzt einen Teil des Vorrats der letztjährigen Ernte sowie die Steuern aus Dumnonia schicken. Gwalchmai hat seine Gattin nach Camelot gebracht. Sie ist eine kluge Frau und sehr belesen in lateinischer Dichtkunst, ganz und gar nicht die Wahl, die man sich von Gwalchmai erwartet hätte. Aber er ist glücklich mit ihr – der wilde Junge ist letztlich doch erwachsen geworden. Die Neuigkeiten aus dem Norden sind weniger gut. Morgause schreibt, dass deine Mutter kränkelt. Sobald wir mehr erfahren, lasse ich es dich wissen…«
Gwendivar hielt inne und rief sich den See ins Gedächtnis, der gleich einem Juwel im Schoß der Berge ruhte, besann sich der Stille, die man stets mit einem unheiligen Laut zu durchbrechen fürchtete. Nur einmal war sie dort gewesen, doch die Erinnerung an den Ort war noch immer lebendig. Und doch verspürte sie kein Verlangen, dorthin zurückzukehren. Sie war ein Kind des Südens, und ihr Herz war im Tal von Avalon zu Hause.
Merlin bewegte sich gleich einem Hirsch durch den Wald; kaum ein Blatt regte sich, wo er vorbeikam. Doch wenn er den Fluss erreichte, gebarte er sich wie ein Otter, tauchte mühelos durchs Wasser. Bei Nacht trieben ihn die Sinne eines Wolfes weiter. Wenn er aber feststellte, dass er doch irgendwann müde wurde, sank er zwischen den Wurzeln einer uralten Eiche nieder und verwandelte sich in einen Baum.
Während er im ersten Licht des Morgens wanderte, hielt er sich einen Moment lang für einen Vogel. Der Schmerz der Glieder, die aufgrund der nächtlichen Untätigkeit steif geworden waren, lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf seinen Körper. Er reckte sich und betrachtete blinzelnd einen sehnigen menschlichen Arm, überzogen mit borstigem, silbergesprenkeltem Haar. Aus gespreizten Zweigen wurden Finger, die nach dem glatten, von Runen gezeichneten Holz des Speeres griffen, den er während all seiner Verwandlungen bei sich behalten hatte.
Mit jener Berührung kehrte sein volles Bewusstsein wieder zurück, und er besann sich seiner Menschlichkeit. Einfacher wäre es gewesen, ein Vogel zu bleiben, dachte er ein wenig verbittert. Ein Vogel dachte nicht weiter als bis zum nächsten Insekt, zum nächsten Lied. Sogar die trägen Gedanken eines Baumes, der sich langsam gen Himmel streckte, wären noch besser gewesen. Ein Mensch vermochte sich an die Botschaft zu erinnern, die ihn auf diese Reise getrieben hatte; ein Mensch konnte weinen, wenn er sich eine Welt ohne Igraine vorzustellen versuchte.
Er betrachtete die bewaldeten Anhöhen über ihm und wusste, dass der Instinkt, der ihn leitete, ihn tief in die Hügel des Seenlandes geführt hatte, wo einst die Brigantes geherrscht hatten. In ein paar Stunden konnte er die Insel der Maiden erreichen. Tierische Sinne zerrten an seinem Bewusstsein – er roch wilde Zwiebel am Hang und Raupen unter einem umgestürzten Baumstamm. Essen und Wasser brauchte er, doch es war notwendig, dass er diese Reise als Mensch beendete.
Als Merlin an den See gelangte, war es beinahe Mittag. Das Wasser lag ruhig und silberfarben unter dem blauen Gewölbe des Himmels; sogar die Bäume hielten mit reglosen Blättern Wache. Menschlicher Verstand sagte ihm, dass eine solche Stille oft Stürme ankündigte, doch ein tieferer Instinkt raunte ihm zu, dass die Welt den Atem anhielt und darauf wartete, dass die Herrin vom See den ihren aushauchte. Nachdem er in das kleine, ans Ufer gezogene Boot gestiegen war, stieß er sich behutsam ab, als könnten schon die sanften Wellen seiner Überfahrt jenes zerbrechliche Gleichgewicht zerstören.
Die Priesterinnen hatten Igraines Bett im Garten unter einem Schirm aus Korbgeflecht aufgestellt. Merlin hätte sie bereits für tot gehalten, hätte er nicht gesehen, dass sich das Leinentuch bewegte, das ihr als Decke diente. Neun Priesterinnen standen rings um sie und sangen leise. Als er sich näherte, erhob sich die Frau, die am Kopfende des Bettes saß, und er erkannte, dass es sich um Morgause handelte. Das klare Licht, das durch das Schirmgeflecht brach, zeigte deutlich die Falten, die Leidenschaft und Hochmut in ihr Antlitz gegraben hatten, doch es enthüllte auch die dauerhafte Stärke ihrer Knochen. Ihm war nie aufgefallen, wie sehr sie, ungeachtet der äußerlichen Unterschiede wie der Haarfarbe und der noch tiefergreifenden geistigen Unterschiede, ihrer Mutter ähnelte.
Igraine hatte die Augen geschlossen; ihr Atem ging angestrengt und langsam. Das silbrige Haar verteilte sich strahlenförmig über das Kissen, von liebevollen Händen gekämmt. Unter der dünnen Haut konnte er den Schädel erkennen.
»Wie lange – «
»- sie schon so da liegt?«, beendete Morgause den Satz. »Vor zwei Tagen wurde sie plötzlich von Schwäche befallen.«
»Habt ihr die Macht des Kessels beschworen?«
Mit gerunzelter Stirn schüttelte Morgause den Kopf. »Sie hat es uns verboten.«
Merlin seufzte. Er hätte damit rechnen müssen, denn die Macht des Kessels sollte den Lauf der Natur erfüllen und nicht verhindern.
Morgause ergriff wieder das Wort: »Noch gestern hat sie Brühe gegessen, aber seit letzter Nacht hat sie sich nicht mehr gerührt. Sie entfernt sich von uns, und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann.«
»Hast du seither geschlafen?« Als sie den Kopf schüttelte, berührte er ihre Hand. »Geh, ruh dich aus, und lass mich eine Weile über sie wachen. Ich rufe dich, sobald eine Veränderung eintritt.«
Es war ein guter Rat, obwohl Merlin nicht wusste, ob er ihn um ihretwillen oder um seinetwillen erteilt hatte. Ihr Zorn und ihr Bedürfnis nach Ruhe zerrten an seiner mühevoll erlangten Fassung.
Nachdem sie gegangen war, lehnte er den Speer gegen den Pfosten, setzte sich auf ihren Platz und ergriff Igraines Hand. Sie fühlte sich kühl und trocken an; nur wenn er sie drückte, spürte er den Puls darin. Merlin schloss die Augen, ließ den Atem langsamer werden, passte seine Lebenskraft der ihren an.
»Igraine… meine Fürstin… Igraine…« Sein Bewusstsein erweiterte sich; er spürte, wie er den Körper verließ, nach jenem Ort suchte, an dem ihr Geist weilte, den einzig ein silbriges Band an den Leib fesselte, ein Band, das mit jedem Schlag ihres Herzens dünner wurde.
»Merlin, mein alter Freund – « Er fühlte Igraine als helle Geistgestalt, die sich ihm zuwandte. »Sag nicht, dass ich mit dir zurückkommen muss, denn das werde ich nicht!« Der Lichtschein, der sie umgab, erbebte unter ihrem Gelächter.
»Dann lass mich mit dir kommen!«
»Dein Fleisch ist noch mit der Erde verwurzelt. Deine Zeit ist noch nicht gekommen…«
»Die Jahre verstreichen, und doch wird mein Körper immer stärker. Das Einzige, was meinen Geist in der Welt der Menschen hielt, war meine Liebe zu dir!«
»Wenn du auf Wanderschaft warst, habe ich vom See aus über dich gewacht…«, lautete ihre Antwort. »Nun werde ich dich vom Verborgenen Reich aus lieben. So weit entfernt ist es nicht – «
Merlin spürte, dass sie die Wahrheit sprach, denn hinter dem Flackern ihres Geistes tat sich ein helles Tor auf. Er nahm wahr, dass Morgause zurückgekehrt war, doch im Augenblick konnte ihr Kummer ihn nicht erreichen. Aus scheinbar großer Ferne verrieten ihm seine Sinne, dass Igraines Atem heftig in der Brust rasselte. Der Gesang der Priesterinnen verstummte kurz, als jemand zu weinen begann, dann setzte er wieder ein.
»Deine Kinder brauchen dich noch«, sandte er ihr ohne große Hoffnung zu.
»Meine Kinder sind erwachsen! Bestimmt wissen sie, dass ich sie liebe. Merlin, du willst mich doch nicht dazu verdammen, in einem ausgebrannten Leib weiterzuleben! Hilf mir, mein Lieber! Lass mich gehen!«
Merlin war sich dessen nicht so sicher, doch nicht wegen Morgause, sondern weil es ihm selbst ein Bedürfnis war, streckte er die Sinne und zog den Geist der jüngeren Frau in die Verbindung.
»Da bist du ja, meine Tochter – siehst du – « Igraine bewegte sich näher zum Licht. »Das habe ich versucht dir zu erklären. Nur dieses letzte Stück ist ein wenig… schwierig, danach wird alles gut. Auch das ist Teil deiner Ausbildung. Hilf mir…«
Merlin spürte, wie die Unruhe in Morgauses Geist nach und nach Erstaunen wich.
»Man sieht, wie das Tor sich öffnet – « Die Worte, welche die jüngere Frau flüsterte, waren ritueller Art, aber nun erklangen sie voller Überzeugung, hallten in beiden Welten wider. »Die hellen Geister derer, die man liebt, erwarten uns, bereit, uns zu Hause willkommen zu heißen…«
Und während sie sprach, wurde Merlin klar, dass es stimmte. Er sah, wie jene strahlenden Wesen sich näherten und erkannte mit einer Gewissheit, die alles irdische Begreifen überstieg, Uther, und hinter ihm ihre Eltern, Amlodius und Argante.
»Geh durch das Tor. Lass dir unsere Liebe eine Stütze für dein Selbst-Urteil sein. Über dich soll die Finsternis keine Macht haben. Leb wohl – wir entlassen dich in die wartenden Arme der Herrin…«
Irgendwo in weiter Ferne rang der versagende Körper nach Luft, seufzte und lag still. Doch es spielte kaum eine Rolle. Für einen kurzen Moment nahm Merlins Vision die Helligkeit in sich auf, und er sah Igraine deutlich, die immer jünger wurde, je weiter sie sich von ihnen entfernte, bis sie wieder die Maid mit goldenen Locken war, die er geliebt hatte. Dann trat sie durch das Tor. Das Licht verstärkte sich, bis es jede sterbliche Wahrnehmung überstieg, und Merlin wurde zurückstoßen in den fahlen Sonnenschein eines Erdentages.
Die Oberfläche des Sees kräuselte sich, als Wind über das Wasser strich. Eine Vorhut von Wolken kroch gerade über die westlichen Hügel. Morgause fröstelte, obwohl es noch kaum kälter geworden war; die Kälte, die sie spürte, entsprang ihrer Seele. Merlin, neben ihr, bewegte sich, wie sie Männer halb benommen vom Schlachtfeld hatte taumeln sehen.
»Es war ein guter Tod«, sprach sie laut aus. »Wieso bin ich so zornig?« Hinter ihnen schwoll das Wehklagen der Priesterinnen an und ab wie der aufkeimende Wind, doch Morgauses Kehle war wie zugeschnürt, ihre Muskeln waren verspannt, ihre Augen trocken.
»Weil deine Mutter dich verlassen hat«, ertönte sein tiefes Brummen zur Antwort. »Auch ein weniger triumphierender Tod als dieser ist eine Erlösung für den Dahinscheidenden. Wir trauern um unseretwillen, weil man uns allein zurückgelassen hat.«
Morgause starrte ihn an. Den Großteil ihres Lebens hatte sie diesen Mann gehasst, den sie für den Tod ihres Vaters und den ersten Verrat ihrer Mutter verantwortlich gemacht hatte. Von all den Menschen der Welt hätte sie gerade von ihm nicht erwartet, dass er sie verstünde.
»Ich erinnere mich noch, wie meine Großmutter starb«, sagte sie. »Meine Mutter hat geweint, während ich verständnislos am Ufer spielte. Argante hat vorhergesagt, dass ich eines Tages die Herrin vom See sein würde. So viele Jahre habe ich gegen meine Mutter gekämpft, weil ich fürchtete, sie würde meine Vorbestimmung nicht anerkennen. Und nun hat mich mein Schicksal ereilt, und ich fürchte mich trotzdem.«
»Auch sie hat sich gefürchtet…«, antwortete Merlin. »So wie du war auch sie lange vom See fort gewesen. Aber du bist in den Genuss gekommen, von deiner Mutter in die Geheimnisse eingeweiht worden zu sein. Viel von der alten Weisheit ist verloren gegangen – es liegt an dir, zu bewahren, so viel du kannst. Ich kenne deine Geheimnisse nicht…«, brachte er mühevoll hervor, »aber du hast den Kessel. Ruf deine Göttin an – gewiss wird sie dich trösten.«
»Und Euch«, gab sie zurück.
Merlin schüttelte den Kopf. »Meine Göttin hat die Welt verlassen…«
Voller Erstaunen blickte Morgause ihn an. Erst jetzt begriff sie, dass diesem Mann, wie ihrem Vater, Igraines Liebe verweigert worden war. Der Wind blies nun wieder heftiger und pfiff durch die Bäume. Merlin hatte sich umgewandt, um über den See zu den Anhöhen zu schauen, wo die Wolken in jenen wenigen Augenblicken zu doppelter Größe angeschwollen waren.
»Ich muss gehen«, verkündete er schließlich. »Deine Mutter ist nun Hochkönigin im Jenseits, und in dieser Welt ist Gwendivar die Tigernissa. Du aber bist die Herrin vom See, Morgause – die Verborgene Königin, die Weiße Rabin Britanniens. Wache wohl über das Land!«
Er fesselte ihren Blick, und sie sah in seinen Augen eine von Glanz gekrönte Frau.
»Ich bin die Herrin vom See…«, sprach sie und nahm damit das Bild als ihr eigenes an. »Und wer bist du?«
Die Gewissheit in Merlins Augen erstarb und wich Trostlosigkeit. »Ich bin ein im Wind treibendes Blatt… ein von der Brandung geglätteter Fels… ein sonnengebleichter Knochen… Ich weiß nicht, was ich bin; ich weiß nur, dass mein Körper in einer Welt lebt, die meinem Geist fremd ist. Dort droben«, er deutete auf die Hügel, »werde ich es vielleicht erfahren…«
Oberhalb der Bäume betrat man das Königreich des Windes. Merlin kämpfte sich empor und taumelte, als eine neue Bö über den Hang fegte und die purpurnen Glocken des Heidekrauts eine stumme Warnung läuteten. Ein vom Windstoß erfasster Zaunkönig wurde kreischend himmelwärts gewirbelt. Wolken türmten sich über ihm auf, peitschten Regentropfen herab. Merlin stolperte, stieß den Speer in die Erde, um das Gleichgewicht zu halten, und rappelte sich wieder auf.
»Wehe! Wehe! Blas voller Zorn!«, brüllte er und ballte die Fäuste gen Himmel. Diese Naturgewalt mochte wohl grausam für den Körper sein, doch sie spiegelte die Pein seiner Seele. »Weine, Welt, lass meinen Kummer mit jedem Windstoß entweichen!«
Er machte einen Schritt nach vorn, erkannte, dass er nicht mehr höher gelangen konnte und sank auf die Knie. »Wieso«, keuchte er, »lebe ich noch?«
Die Stimmen des Windes zerrten an Haar und Bart. Merlin umklammerte den Schaft des Speeres, spürte, wie er unter seinen Händen gleich einem Baum im Wind erbebte, und plötzlich wurde ihm die Bedeutung der Worte klar.
»Du wirst diese Welt erst verlassen, wenn du es willst…«
»Also bin ich weniger als menschlich?«
»Vielleicht bist du mehr…«
Merlin schauderte. Die Stimme war überall um ihn herum – im Heulen des Windes, im Beben des Speerschafts, im Rasseln der Luft in seiner Kehle. Er schüttelte den Kopf.
»Wer bist du?«
Die Luft erzitterte vor Gelächter. »Ich bin jeder Atemzug, den du tust, jeder Gedanke, den du denkst; ich bin Ekstase.« Abermals ertönte das Gelächter. »Du trägst meinen Speer…«
Merlin zuckte zusammen. »Der Gott der Sachsen!«
»So kannst du mich nennen, oder Lugos, wenn dir das besser behagt, oder Merkur. Ich bin in vielen Landen gewandelt, wurde mit zahlreichen Namen bedacht. Wenn die Menschen Verstand, Willen und Worte benutzen, bin ich da. Und du trägst meinen Speer seit einem Dutzend Winter. Weshalb bist du so überrascht?«
»Wieso hast du es zugelassen? Was hast du mit mir vor?«
»O Mann der Weisheit! Begreifst du selbst jetzt noch nicht?«
Unvermittelt erstarb der Wind. Der Sturm verzog sich. Merlin starrte gen Himmel, als das Licht des Sonnenuntergangs plötzlich hinter den Wolken hervorbrach und die Welt in Gold tauchte. Mochte ihn auch seine Trauer um Igraine ewig begleiten, doch nun kreisten in seinen Gedanken Sätze, Rätsel, Einblicke, Vorstellungen und eine gewaltige Neugier. Am Speer nach Halt suchend, raffte er sich wieder auf. Dann zog er den Schaft aus der Erde und machte sich auf den Weg den Berg hinab.
Staub wirbelte in goldenen Wolken hoch, aufgewühlt von den Füßen der Erntearbeiter. Der Karren, den sie zogen, war mit Korngarben beladen und mit Sommerblumen geschmückt. Gesänge mischten sich mit dem rhythmischen Knarren der Räder, die zu der Weide unterhalb der Villa rollten, wo das Erntedankfest vorbereitet worden war. Gwendivar, die neben Gai und Gwalchmai den Ehrenplatz einnahm, zog sich den Schleier halb übers Gesicht.
Die Vorsichtsmaßnahme erwies sich als unnötig, denn als der Abend näher rückte, war eine sanfte Brise aufgekommen, die den Staub weggeweht hatte.
Sie war froh über Gais Einladung gewesen, das Fest dort zu feiern, wo Artor als Knabe gelebt hatte. Nun war es Gais Zuhause, obwohl ihn seine Tätigkeit im Dienste des Königs hier nur wenig Zeit verbringen ließ. Um seine Gesundheit stand es nicht zum Besten, und Gwendivar war teilweise in der Hoffnung hergekommen, ihm ein wenig Ruhe zu verschaffen. Hier schien es ihm besser zu gehen. Sie hatte über seine Geschichten lachen müssen und sich den großen König Britanniens als jungen Wildfang vorzustellen versucht. Gwendivar bedauerte nur, dass Artor nicht hier bei ihnen war. Fünf Jahre schon führte er in Gallien Krieg, nach ihrem Ermessen mit herzlich wenig Erfolg. Er war nicht einmal zurückgekehrt, als seine Mutter im Vorjahr gestorben war.
Der Tross bog um die letzte Kurve, und sie hörte die Gesänge deutlicher:
»Oh, wo ist er verborgen, wo geht er hin heut Nacht?
Das Korn ist nun geschnitten, die Ernte eingebracht!«
Die Arbeiter, die das letzte Korn geschnitten und gebündelt hatten, das man »den Hals« oder manchmal »den Greis« nannte, hielten die Garben hoch. Sie waren bereits triefnass vom Wasser aus dem Fluss, das Glück bringen sollte, doch bei diesem Wetter schien es sie nicht zu stören. Voller Sehnsucht erinnerte Gwendivar sich an den geheimen Teich, in dem sie als Mädchen zu baden pflegte, und wo Julia und sie entdeckt hatten, welches Vergnügen ihnen ihre Körper bereiten konnten. In all der Zeit fühlte sie sich häufig wie die Jungfrau Maria, doch während sie beobachtete, wie die Schnitter hinter den Frauen herjagten, die ihnen gefolgt waren, um die Garben zu bündeln, musste sie einen Anflug von Neid um jene Erfüllung unterdrücken, die ihr verwehrt geblieben war.
»Es freuen sich die Felder am jungen grünen Korn,
In des Frühlings erster Blüte der König wird gebor’n –
Oh, wo ist er verborgen….«
Gwendivar traten unerwartet Tränen in die Augen. Die Männer nannten sie die Blumenbraut und versicherten, ihre Schönheit sei unverändert. Doch es widersprach dem Verlauf der Natur, dass der Frühling ewig dauerte…
Der Karren wurde vor die Tische gezogen, und die Männer, die sich davor gespannt hatten, schüttelten die Zugriemen ab. Die Frau, die jene letzte Garbe getragen hatte, überreichte sie lachenden Mädchen, die sie zur Mittelsäule des Trockenschuppens brachten, dort befestigten und mit Blumen kränzten. Das Licht der untergehenden Sonne, das durch die Bäume brach, tauchte Stiel und Korn in Gold.
»Die Sonne steigt nach oben, die Felder werden grün,
Der König ist nun bärtig und stark und blond zu sehn – «
Gai hielt einer vorbeikommenden Dienstmagd den Becher zum Auffüllen hin, dann lehnte er sich seufzend zurück. »Es ist ein eigenartiges Gefühl, nach so vielen Jahren des Krieges, hier zu sitzen und Most zu trinken…«
»Und Artor ist nicht da, um es mit uns zu genießen«, warf Gwalchmai ein. »Es ist nicht gut, dass der König so lange aus seinem Land fort ist. Hätte er jene Armee zur Verfügung, mit der er am Mons Badonicus gewonnen hat, wäre er mittlerweile Kaiser!«
Nach wie vor singend, fassten Männer und Frauen einander an den Händen und begannen, um die Mittelsäule zu tanzen.
»Die Sonne steht am Himmel, die Felder glänzen in Gold,
Des Königs Haupt, es neigt sich, da er geworden alt – «
»Zu viele sind auf der Suche nach dem Kessel gestorben, und einige von uns werden allmählich alt…« Mit einem gequälten Lächeln betrachtete er Gwalchmai und rieb sich den linken Arm, als schmerzte er. »Abgesehen von dir natürlich.«
Verständnislos legte Gwalchmai die Stirn in Falten. Die Jahre des Krieges hatten sein Antlitz gezeichnet, das rotblonde Haar wurde lichter, doch seine Arme waren immer noch stark und kräftig.
»Es ist zu friedlich«, meinte er widersprechend, und Gwendivar lachte. »Mein Herr hat mir aufgetragen, über Euch zu wachen, aber all unsere Feinde fürchten immer noch seinen Namen.« Er seufzte, dann drehte er sich mit flehentlichen Augen zu ihr um. »Lasst mich zu ihm reisen, Herrin. Diese fränkischen Fürsten würden nicht zu lachen wagen, wäre ich bei ihm. Artor braucht mich. Hier bin ich niemandem nütze!«
»Der Schnitter schwingt die Sichel, das reife Korn zu mahn,
Der König sinkt zu Boden, zur Erde muss er gehn.«
Gwendivar schauderte, erfasst von einer längst vergessenen Angst. Seit so langer Zeit war Artor ein körperloses Wesen, das durch geschriebene Worte zu ihr sprach – sie hätte beinahe vergessen, dass er aus Fleisch und Blut bestand, das Kälte, Hunger und feindliche Schwerter verletzen konnten.
»Ninive, bring mir mein Schultertuch«, sagte sie, doch das Mädchen war nicht da. Was sie nicht überraschen sollte; das Kind machte keinen Hehl daraus, dass ihm große Versammlungen Unbehagen machten. Zweifellos streifte Ninive durch die Wälder auf dem Hügel und würde erst bei Einbruch der Dunkelheit zurückkehren. Und in Wirklichkeit war die Kälte, welche die Königin verspürte, eine innere Kälte, die weder Schultertuch noch Mantel zu lindern vermochten.
»Na schön.« Beide Männer wandten sich ihr zu. »Es ist mir ein Trost, dich hier zu haben, und deine Frau wird es mir gewiss nicht danken, dass ich dich ziehen lasse, aber ich stimme dir zu, dass Artor dich dringender braucht.«
Die Erntearbeiter rannten mit erhobenen Armen auf die letzte Garbe zu.
»So wollen wir nun feiern, vom Brot und Bier genährt,
Bis einst im nächsten Frühling der König wiederkehrt…«
Dann löste sich der Kreis unter ausgelassenem Gelächter auf, und sie machten sich über die Fässer voll Erntebier her.
Mit einem zufriedenen Grinsen stürzte Gwalchmai sein Bier mit einem einzigen Schluck hinunter und streckte den Becher zum Auffüllen aus.
»Aber sorg dafür, dass du deiner Prahlerei gerecht wirst, mein edler Ritter«, forderte Gwendivar ihn auf. »Schlag den Franken die Rüstungen vom Leib und bring mir meinen König bald heim.«
»Oh, wo ist er verborgen, wo geht er hin heut Nacht?
Das Korn ist nun geschnitten, die Ernte eingebracht!«
Merlin wanderte im goldenen Licht des Erntemondes durch den Eichenhain oberhalb der Villa. Er musste sich ins Gedächtnis rufen, dass Caius Turpilius und Flavia seit zwanzig Jahren tot waren und das Gehöft nun Gai gehörte, denn vom Hügel aus betrachtet schien sich nichts verändert zu haben. Sogar von hier aus war der Lärm des Festes deutlich zu hören. Rings um die Dreschscheunen brannten Fackeln, um die sich in einem wilden Tanz aus Licht und Schatten die Feiernden bewegten. Dahinter schimmerten blass die Stoppelfelder, die die Wintermonate über brachliegen würden.
Merlin hatte vorgehabt, sich an den Feierlichkeiten zu beteiligen, doch die Riten der bestellten Erde zählten nicht zu seinen Mysterien. Lange Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass seine Anwesenheit einen dunklen Schatten auf die Feier werfen konnte, gleich einem Windstoß aus der Wildnis jenseits ihrer umzäunten Felder. Die Nacht war zu schön, um zu schlafen, zudem brauchte er in jenen Tagen wenig Rast und verspürte kein Bedürfnis nach dem Schutz von Mauern.
Und so schlenderte er weiter, während ihm die geräuschvolle Finsternis sanft in den Haaren spielte und ihm die üppigen, lebendigen Düfte von Laubmulch und trocknendem Heu in die Nase stiegen. In einer solchen Nacht fiel es leicht, jenes Pflichtgefühl zu vergessen, das ihn nach Süden getrieben hatte, um Artors Königin seinen Rat anzubieten. Er gehörte in die Wildnis, nur mit seinem daimon als Gefährten und dem Gott der Sachsen als Führer.
In jenen Tagen war der Gott ständig bei ihm. Die helle Lichtgestalt hingegen, die er als seinen daimon bezeichnete, die Gefährtin seiner Kindheit, hatte er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Nun, da er alt war, konnte er sich umso deutlicher an ihre klaren Augen und ihr schimmerndes Haar erinnern. Er hatte gehört, es sei das Schicksal der Alten, wieder wie Kinder zu werden.
Bei dem Gedanken musste er leise lachen, und aus der Nacht ertönte eine Antwort gleich dem Läuten von Glocken.
Merlin verharrte und sandte alle Sinne aus. Es schien unglaubhaft, dass sich jemand ohne sein Wissen auf diesem Hügel aufgehalten haben konnte. Was er letztlich fand, war eine weiß schimmernde, auf einer Eiche hockende Gestalt. Sein menschlicher Verstand hatte sich so auf den Rhythmus der Nacht eingestellt, dass er sie für eine Störung des Windes gehalten hatte.
»Es wird spät«, sprach eine glockenhelle Stimme aus den Zweigen. »Wieso durchstreift der bedeutendste Druide Britanniens diese Hügel?«
Merlin verwandelte die Sicht in die einer Eule und erblickte fein geschnittene, von hellem Haar umrandete Züge. Für einen Augenblick stockte ihm der Atem. Es war das Antlitz seines daimon, und doch war sie kein Teil seiner Vorstellungskraft – sogar als Kind hatte er stets den Unterschied zwischen Bildern von außen und solchen, die in seinem Inneren lebten, begriffen. Nun spürte er zudem die Wärme eines menschlichen Körpers und hörte den leisen Hauch eines Atems. Die Gestalt regte sich, und er sah das Glitzern der Stickerei auf ihrem Kleid.
»Wieso hockt eine Hofmaid in einem Baum?«
»Ihr kennt mich nicht, und doch sind wir verwandt.« Das Mädchen lachte. »Ich bin Gwalchmais Tochter, von einer Frau aus den Hügeln empfangen, und wenn ich schon nicht dort umherstreifen kann, so verleiht mir diese Eiche wenigstens das Gefühl, frei zu sein.«
»Das stimmt. Ich habe selbst eine Zeit lang auf einem Baum gelebt. Würde dir die Gesellschaft eines greisen Mannes missfallen?« Ein Strahlen schien von der schlanken Gestalt der jungen Frau auszugehen, lieblicher als das Licht des Mondes.
Gleich einem Vogel legte sie den Kopf schief. »Ich habe noch nie jemanden getroffen, der sich wie ein Teil des Waldes fühlte. Ihr kennt all seine Geheimnisse, nicht wahr? Also bleibt und unterhaltet Euch mit mir…«
Merlin wankte, als schmelze etwas in ihm, das seit Igraines Tod gefroren war. Er streckte die Hand nach der Eiche aus und löste sich behutsam vom festen Boden.
»Mit Freuden…«, sagte er leise. »Mit Freuden will ich bei dir bleiben.«
Merlins Rückkehr stellte ein Wunder dar, über das die Menschen monatelang tuschelten. Als sie sahen, wie oft er mit dem Mädchen Ninive umherwanderte, lachten sie, weil sie vermeinten, den Grund zu kennen. Gwendivar hingegen, die Gwalchmai versprochen hatte, über sein Kind zu wachen, verstand, dass zwischen dem greisen Mann und der Maid keinerlei sexuelle Anziehung bestand. Außerdem hatte sie andere, dringendere Sorgen. Nach Gwalchmais Abreise waren keineswegs alle alten Feinde über sie hergefallen, wie manche befürchtet hatten. Die Pikten hielten sich an den mit Artor geschlossenen Pakt, und nur gelegentlich gab es Angriffe aus Eriu. Vielmehr waren es die Fürsten Britanniens, die allmählich aufsässig wurden, wie Pferde, die zu lange auf der Weide gestanden und die Herrschaft von Zügel und Zaumzeug vergessen hatten. Merlin erzählte ihr, dass es nach Uthers Tod ebenso gewesen war. Der Rat des Druiden erwies sich als unschätzbar; unter seiner Anleitung wuchs Gwendivar in ihre Rolle als Königin hinein wie ein Baum in fruchtbare Erde. Doch er war außerstande, den Fürsten die harte Faust zu zeigen. Gwendivar schrieb an Artor, doch ein weiteres Jahr verstrich ohne seine Rückkehr.
Gwalchmai war seit zwei Jahren fort, als neue Unruhe zwischen den Menschen Dumnonias und den Westsachsen Gwendivar zwang, sich abermals an Artor zu wenden. Sie hatte Constantin und Cynric aufgefordert, sich mit ihr in Durnovaria zu treffen. Der Frühling war bislang wunderschön gewesen, und die beiden hatten keine Ausrede, nicht aufzubrechen. Doch sollte es ihr nicht gelingen, sie durch ihr Verhandlungsgeschick miteinander zu versöhnen, so wussten sowohl sie als auch die beiden, dass sie keine Mittel besaß, ihren Gehorsam zu erzwingen.
Durch ihr Fenster drang der schwere, lebendige Duft des Flusses, der Durnovaria behütete, vermischt mit dem durchdringenderen Salzgeruch der See. Nur wenige Menschen lebten ständig in der Stadt – sogar der Fürst zog es vor, den Großteil der Zeit in seiner Villa in den Hügeln zu verbringen. Doch zum allwöchentlichen Markt versammelten die Menschen sich immer noch hier, und der Lärm verschiedenster Sprachen bildete ein tiefes Hintergrundrauschen für das hohe Kreischen der Möwen. Gwendivar legte das Pergament beiseite, auf dem sie geschrieben und ergriff den jüngsten Brief, den Artor ihr gesandt hatte.
»Pompejus Regalis hat mir letzten Monat einen Besuch abgestattet; er errichtet nahe Briocs Kloster im Westen der Küstenebene eine Feste und hat erkannt, dass er Verbündete braucht. Mittlerweile leben dort so viele Dumnonier, dass der Ort nach ihnen benannt ist. Sein Sohn Fracanus hat ihn begleitet. Er hat einen neuen Sport erfunden, den auszuprobieren er einige meiner Männer überredete. Statt Wettrennen mit Streitwagen zu veranstalten, stecken sie eine Rennstrecke ab und setzen die leichtesten Knaben in den Sattel. Natürlich ist es gefährlich, wenn ein Bursche abgeworfen wird, aber ohne Wagen laufen die Pferde schneller…«
Gwendivar schüttelte den Kopf. Im Gespräch war Artor nie besonders humorvoll gewesen, aber in seinen Briefen bemühte er sich, sie gleichermaßen zu unterhalten wie auch über Neuigkeiten zu unterrichten. Tatsächlich hatte sie, seit er über das Meer gereist war, mehr über seine Gedanken erfahren als in der Zeit ihres Zusammenlebens.
»Der Sommer hat uns beinahe eingeholt. Ich glaube, ich kann Regalis und Conan von Venetorum dazu bewegen, einem Bündnis zuzustimmen, und außerdem auch Gwenomarcus von Plebs Legionorum. Mit ihnen auf meiner Seite betrachte ich Armorica als gesichert. Die Söhne Chlodowigs, die mittlerweile in Tolosa für Ordnung gesorgt haben, spähen nordwärts, und jene Briten, die sich in Lugdunensis Land angeeignet haben, erbitten unsere Hilfe.«
Das bedeutete, dass Artor bald wieder kämpfen würde, vielleicht sogar schon mitten in einer Schlacht steckte. Gwendivar merkte, dass ihr Griff das Pergament zerknüllte; behutsam ließ sie es sinken. Der König hatte sein ganzes Leben mit kriegerischen Auseinandersetzungen verbracht und es war ihm kaum Leid zugefügt worden. Außerdem hatte er nun Gwalchmai bei sich. Wieso beunruhigte sie der Gedanke so sehr? Vielleicht deshalb, weil er nicht für Britannien kämpfte?
Aus der Richtung des Stadttores ertönten die Klänge von Kuhhörnern; der Geräuschpegel auf dem Marktplatz schwoll zu einem Getöse an. Cynric war endlich eingetroffen. Gwendivar schloss die Augen und massierte sich die Stirn. Dann rollte und band sie Artors Brief zusammen, erhob sich und rief ihre Zofen herbei, sie in die steifen Zeremonialgewänder der Hochkönigin zu kleiden.
In die schneeweiße Druidenkluft gehüllt und auf Wodens Speer gestützt, wartete Merlin hinter dem Thron der Hochkönigin. In den knapp drei Jahren seit seiner Ankunft hatte er sich wieder daran gewöhnt, zivilisierte Kleidung zu tragen. Auch Ninive hatte sich mit dem Gewicht von Wollkleidern und Metallnadeln abgefunden, obgleich sie lieber frei wie ein wildes Pony über die Heide gelaufen wäre. Ihretwegen war er bereit, dasselbe zu tun.
Die Menschen rätselten, welch tieferer Zweck sich hinter seiner Rückkehr verbarg, doch er hatte keinen Plan, kein Vorhaben. In seinem Herzen wusste er, dass Ninive nicht sein daimon in Gestalt eines Mädchenkörpers war. Dennoch war sie es, die ihn an die Welt der Menschen band. Nun betrachtete er sie, während sie bei den anderen Mädchen stand, die der Königin dienten. Einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke. Zugleich hörte er den Schrei eines über der Landzunge segelnden Falken und das gedämpfte Rauschen des Meeres.
Nach und nach füllte sich die lange Kammer, in der einst die Friedensrichter von Durnovaria ihre Treffen abgehalten hatten. Constantin saß an der Südseite, neben ihm der Häuptling, dessen Gebiete an jene der Sachsen grenzten. Ein halbes Dutzend Männer seiner Leibgarde tuschelte hinter ihm. Immer wieder griffen ihre Hände vergeblich an die Hüften, ehe sie sich wieder besannen, dass sie ihre Schwerter hatten draußen lassen müssen.
Eine Seitenpforte öffnete sich, und Merlin sah Gwendivar einer Ikone gleich in der Finsternis des Ganges aufscheinen. Sie war in goldene Kleider gehüllt, das schmale Antlitz von den Perlen eines byzantinischen Diadems umrahmt. Doch die Pracht, in der sie einherschritt, war nur ein sichtbares Zeichen für die Investitur der Macht, und die Menschen erhoben sich, um sie mit einer Ehrfurcht zu begrüßen, die mehr als nur förmlich war. Die Königin erklomm das Podium und nahm ihren Platz ein. Die beiden Jünglinge, die sie begleiteten, der eine rot wie ein Fuchs, der andere mit hellem Haar, nahmen an den Seiten des geschnitzten Stuhles Aufstellung. Eormenric sah sich lächelnd um, der rothaarige Ceawlin hingegen starrte mit versteinertem Gesichtsausdruck zur Tür.
Die Doppeltür am Ende der Halle schwang auf. Hoch gewachsene Männer traten ein. Das einstmals flammend rote Haar des Anführers war nun mit dem Frost des Winters bestäubt, dennoch schimmerte es hell genug, um ein erkennendes Leuchten in Ceawlins Augen zu zaubern.
»Waes hael, drighten. Wilcume!«, begrüßte ihn die Königin, die von ihren Geiseln ein wenig Sächsisch gelernt hatte.
Cynric blinzelte skeptisch, dann hob er anerkennend den Arm. Er und seine Männer wandten sich um und nahmen ihre Plätze entlang der Nordwand ein.
Merlin ließ seine Gedanken schweifen, nahm das An- und Abschwellen von Beschwerden und Anklagen gleich dem Grollen eines fernen Donners wahr. Hinter Cynric erspähte er zwischen den hellen und braunen Köpfen einen dunkleren. Der Sachsenanführer trat mit gestikulierenden Armen vor, und ein Lichtstrahl aus dem oberen Fenster tauchte den Kopf des Mannes hinter ihm in einen bronzenen Schimmer. Das war kein Sachse! Merlin wagte sich hinter dem Stuhl der Königin hervor, sandte andere, geheime Sinne in die Richtung des Fremden.
Als hätte der Mann mit dem bronzen schimmernden Haar die Berührung gespürt, richtete er sich auf und wandte den Kopf, und Merlin zuckte zusammen, als er in einem Antlitz, das einem männlichen Spiegelbild Morgauses glich, die grauen Augen Artors, des Königs, erkannte. Jede andere Ähnlichkeit in Gestalt oder Gesichtszügen hätte sich durch die gemeinsame Abstammung von Igraine erklären lassen, nicht aber diese Augen, die Artor von Uther geerbt hatte, dessen einziger Sohn er war.
»Herrin, es soll geschehen, wie Ihr es verfügt habt. Eadwulf wird seine Sippe vom Westufer des Flusses abziehen. Wir geben unseren Anspruch auf das Land auf.« Cynrics Stimme schwoll an, und die Fürsten Dumnonias begannen zu grinsen. »Ich fordere Eure Witan, Euren Rat, auf, zu bezeugen, dass wir, die Südsachsen, Euch stets die Treue gehalten haben. In Eurer Halle ist mein Sohn zum Mann herangewachsen. Ihr habt ihm vieles beigebracht. Nun ist es an der Zeit, dass er in sein Heimatland zurückkehrt und die Traditionen des Volkes kennen lernt, über das er dereinst herrschen wird. Im Gegenzug bringe ich Euch den Sohn Eures Königs zurück!«
Als Medrod vortrat, fegte ein Gemurmel der Verwunderung, des Rätselns, des Mutmaßens durch die Halle wie ein Wind, der einen Sturm ankündigt. Diejenigen, die sich an den Pendragon erinnerten, bemerkten die Ähnlichkeit, die Medrod nicht nur als seinen Neffen, sondern als seinen Sohn auswies. Der gewobene Saum seines dunklen Kittels war durch und durch sächsisch, ebenso das Kurzschwert, das an seiner Hüfte hing. Doch die Brosche, die seinen Umhang zusammenhielt, war piktische Handarbeit, und in seinen Augen leuchtete der Stolz des Hauses Maximian. Er hielt inne, und ein halbes Hundert Blicke wanderten von seinem Antlitz zu jenem der Königin.
Gewiss, dachte Merlin, hatte Artor ihr alles erzählt – doch neun Jahre lang war Medrod bei den Sachsen versteckt gewesen wie ein Hund unter Wölfen. Es war nur zu einfach für sie alle gewesen, zu vergessen, dass er eines Tages zurückkehren würde, um wieder mit dem eigenen Pack zu jagen.
Sofern Gwendivar überrascht war, ließ sie es sich in keiner Weise anmerken. Mit leisen Worten wandte sie sich an Ceawlin, und als er sich verneigte, um ihr die Hand zu küssen, verblasste kurz die Erregung, die in seinen Augen loderte.
»Ich werde Euch nie vergessen, Herrin«, erklärte er mit heiserer Stimme. Dann hastete er an die Seite seines Vaters, als hätte sie soeben die Leine losgelassen.
»Und Eormenric – « Sie wandte sich zu dem anderen Jüngling. »Du hast ebenso viele Jahre bei uns verbracht wie dein Vater, als er jung war. Ich werde dich hier nicht festhalten, nachdem dein Gefährte gegangen ist.«
Einen Augenblick errötete der hellhaarige Bursche. »Mein Vater liebte König Artor«, sprach er mit leiser Stimme. »Meine Treue aber gelobe ich Euch. Solltet Ihr mich je brauchen, müsst Ihr mich nur rufen.« Damit neigte er das Haupt, wandte sich um und verließ die Halle.
Cynric und dessen Sohn waren ein wenig zurückgewichen, sodass Medrod allein dastand. Würde die Königin ihn willkommen heißen? Würde sie ihn zurückweisen? Würde sie ihn als Neffen oder als Sohn bezeichnen? Sein Gesicht war aschfahl geworden, und als er Gwendivar ansah, flackerte etwas Schmerzliches in seinen Augen auf.
Bruchstückhafte Bilder zogen an Merlins innerem Blick vorbei. Er haschte nach ihnen, und kurz erspähte er dunkle Gestalten, die im kalten Licht des Mitternachtsmondes miteinander rangen. Sein Geist suchte bei dem daimon um tieferes Verstehen, der ihn seit seiner Kindheit geleitet hatte, und im nächsten Augenblick stellte er fest, dass er Ninive anstarrte, die greifbar und lebendig neben der Königin stand. So lange war er vor der Macht der Vorahnung geflohen, die ihn seit seiner Kindheit heimgesucht hatte. Nun, da er sie brauchte, lag die einzige Bedeutung, die er verstand, im wunderschönen Antlitz eines jungen Mädchens.
Gwendivar beugte sich vor und streckte die Hand aus. »Komm, Medrod – ich heiße dich zu Hause willkommen…«