Einundzwanzigstes Kapitel

Der alte Nikonow war in eine Box verlegt worden. An seiner Stelle lag im Nachbarbett nun ein fetter alter Debiler mit Weibergesicht, schmalen Hängeschultern und unglaublich breitem Becken. Der Debile hatte die Decke abgeworfen, Mark den Hintern zugewandt und startete einen regelrechten Gasangriff.

Zumindest bin ich hier relativ sicher, tröstete sich Mark, der sich noch immer nicht die wichtigste Frage zu stellen wagte: Was weiter?

Ihm war übel von dem Gestank, er konnte nicht einschlafen.

Wenn er Schlafstörungen hatte, waren die Stunden vor dem Morgengrauen immer am schlimmsten. Die sterbende Nacht infizierte ihn mit Todesangst. Er war gerade mal vierzig, gesund und voller Kraft. Aber die Angst vor dem nahenden Alter, dem physischen Aus nahm ihm in schlaflosen Nächten vor dem Morgengrauen den Atem.

Im Schlaf probt man den Tod. Schlaflosigkeit ist eine Probe dessen, was einen nach dem Tod erwartet. Wenn man schlaflos ist, versagt die Selbstrechtfertigung. Alles, was du getan hast, ob gestern oder vor zwanzig Jahren, siehst du in seiner ganzen Hässlichkeit vor dir, und du weißt nicht, wie du damit umgehen sollst, mit deinem Leben, mit dem unvermeidlich nahenden Tod, und was danach kommt.

Früher einmal hatte er berühmt werden wollen. Er hielt sich wirklich für ein Genie und hasste die anderen, die seine Genialität nicht anerkennen wollten. Die Formel »sie sind bloß neidisch« spendete vorübergehenden Trost.

Er trieb sich in der Szene herum, besuchte Nachtklubs, schnupfte Kokain. Weil er immer knapp bei Kasse war und das Geld nicht für die geliebte Droge reichte, gabelte er in der Szene hässliche Mädchen aus wohlhabenden Familien auf, spielte den Verliebten und ließ sich aushalten.

Das Kokain machte ihn charmant, geistreich und ausdauernd. Er konnte die ganze Nacht Sex haben, wie ein Automat, und dann am Tag eine Erzählung schreiben, zutiefst davon überzeugt, dass er in beidem genial war.

Ließ aber die Wirkung der Droge nach, kamen die Depressionen, eine tiefe, unermessliche Wehmut und Hass auf die Welt, die Menschen und sich selbst. Er hatte Halluzinationen, glaubte, eine unsichtbare, feindselige Person berühre ihn, und unter seiner Haut krabbelten Insekten.

Einmal griff er nach einem Messer, um sich den Arm aufzuschlitzen und die widerlichen Parasiten zu entfernen. Der Schmerz und der Anblick des eigenen Blutes ernüchterten ihn – er begriff, dass es so nicht weitergehen konnte.

Er schaffte es, vom Kokain wegzukommen, und schwor sich, nie wieder etwas zu nehmen.

Aber ohne Drogen war die Depression ein Dauerzustand. Er brachte keine Zeile zustande. Menschen erregten in ihm Übelkeit, er fand sie alle hässlich, er wollte allein sein. Doch allein mit sich selbst fiel er in schwarze Ödnis. Er brauchte eine ständige äußere Bestätigung seiner Existenz in Zeit und Raum.

Mark Moloch langweilte sich immer und überall.

Er zweifelte nicht daran, dass es anderen genauso ging. Die meisten Taten beruhten auf Langeweile. Es gab natürlich auch andere Motive – Habgier, Lüsternheit, Neid, Selbsterhaltungstrieb oder Eitelkeit. Aber das war zweitrangig. Die Grundlage war und blieb die Langeweile. Ein fettes, wabbeliges Biest. Schon immer hatte es Mark vernichten, ihn überwältigen und ersticken wollen. Als er ein Kind war, erschien es in Gestalt der Kindergärtnerin, der Lehrerin, der Schuldirektorin und schließlich der eigenen Eltern.

Die Kindheit war voller Langeweile. Das ewige schmutzige Weiß der Plattenbauten, der verrußten Schneewehen im Winter und des kümmerlichen, staubigen Grüns im Sommer. Moskauer Stadtrand. Die öden Sechziger. Blaue Schuluniform für die Jungen, schwarzbraune für die Mädchen. Lehrerinnen in Synthetikkleidern. Filme über rote Partisanen. Wurst zu zwei Rubel zwanzig. Das allabendliche Nachrichtenprogramm »Wremja«. Blödsinnige Versammlungen, erst bei den Pionieren, dann beim Komsomol. Geburtstage mit fettigen Torten, dünnem Tee und klebriger Limonade.

Sein Blick vergrößerte alles Hässliche und malte es grell aus, sodass es lange im Gedächtnis haftenblieb. Eine zerquetschte Taube auf der Fahrbahn. Seine Banknachbarin, die heimlich ihre eigenen Parasiten aß. Die großen Schuppen auf dem blauen Satinkittel des Werklehrers. Wenn er einen Menschen anschaute, sah er nicht sein Gesicht, sondern abstoßende Details: einen Pickel, eine Warze, einen faulen Zahn.

Schon als kleiner Junge besaß er eine besondere Beobachtungsgabe. Nichts entging seinem aufmerksamen Blick. Er entdeckte und verriet seinen Klassenkameraden, dass die Mathelehrerin eine Perücke trug und sich die Brauen schwarz anmalte, dass die Pionierleiterin sich etwas in den BH stopfte, dass der Sportlehrer trank und ein falsches Gebiss hatte.

Zu Hause war es noch schlimmer als in der Schule. Die psychopathische Mutter, die sich für nichts interessierte als für böhmisches Kristall, afghanische Teppiche, ihre Verdauung und ihren Blutdruck, die bei Kriegs- und Liebesfilmen vorm Fernseher heulte, aber ihren eigenen Sohn wegen eines Flecks auf dem Hemd oder eines zerschlagenen Tellers anschrie. Und der stille Vater mit seinem ungesunden säuerlichen Geruch und den drei Haaren auf der Glatze.

Es war beleidigend, solche Eltern zu haben, in einer solchen Wohnung zu leben, in eine solche Schule zu gehen. Mark fühlte sich als Fremder, der durch ein grausames Missverständnis in eine Welt sprechender Puppen und Pappkulissen geraten war. Er wusste, dass er mehr verdiente, und wenn jemand anders in seiner Umgebung mehr besaß als er, brannte ihm diese Ungerechtigkeit in der Seele.

Die dürftigen sowjetischen Konsumgüter boten reichlich Nahrung für Wünsche. Alles Ausländische war Sendbote einer anderen Welt, des wahren, freien und bunten Lebens. Ein Kaugummi, ein schicker Matchbox-Rennwagen, ein dicker Kugelschreiber mit vielen farbigen Minen und Jeans, selbst wenn sie nur aus Indien oder Polen stammten.

Der eine hatte einen Vater, der Pilot war und Dinge aus dem Ausland mitbrachte, der andere eine Mutter, die in einem großen Kaufhaus an der Kasse saß und auch hin und wieder etwas Ausländisches, Schönes, Leckeres bekam. Ein Dritter aß jeden Tag Brote mit echter finnischer Zervelatwurst, der Nächste lief im Winter nicht in einem grauen Fischgrätmantel mit Ziegenfellkragen herum, sondern in einer federleichten Daunenjacke mit breitem Reißverschluss und silbernen Litzen.

In der fünften Klasse brachte ein Junge eine zerfledderte ausländische Zeitschrift mit. Auf Farbfotos demonstrierten nackte Frauen in verschiedenen Posen alles, was normalerweise verborgen blieb. Gierig bestaunten die Fünftklässler diese Hochglanzfreuden auf der Brache hinter der Schule, bei den Müllcontainern. Der Junge mit dem Magazin war für eine paar Tage der Held der Klasse.

Im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen vergaß Mark nie, wie verdorben und lasterhaft Kinder waren, besonders in Gruppen, wie sehr sie sich für alles Geschlechtliche, für die Kopulation interessierten. Die Reinheit des Kindes – das war ein heuchlerischer Mythos.

Mit diesem Satz begann er seine erste Erzählung. Damals träumte er von großem Weltruhm als Schriftsteller.

Jetzt wollte er nur noch Geld.

Von Ruhm konnte in seinem Gewerbe keine Rede sein. Im Gegenteil, er brauchte vollkommene Anonymität, am besten wäre er überhaupt unsichtbar.

Bevor er hierhergekommen war, hatte er nie freie Zeit gehabt. Er war entweder mit seinem Geschäft befasst gewesen oder hatte aktiv entspannt, in Nachtklubs oder im Kasino.

Er kannte alle guten Moskauer Restaurants, streifte gern durch teure Geschäfte, und wenn er dort etwas kaufte, empfand er eine beinahe erotische Befriedigung. Er hatte ein Ziel, sogar mehrere Ziele: Eine Rolex aus Platin, ein Mercedes-Kabriolett, eine Wohnung im Zentrum, ein Haus an der Rubljowka. Das würde ihn ein wenig mit der Ungerechtigkeit und Scheußlichkeit der Welt versöhnen. Vorerst tröstete er sich mit einer bescheidenen Seiko, drei Mietwohnungen und einem alten VW; und seine Kleidung erwarb er ausschließlich im Ausverkauf.

 

Zu Hause wurde Olga von ihrem düsteren, gekränkten Mann empfangen. Andrej hatte kein Fieber, aber einen geröteten Hals. Katja schlief schon. Olga brachte ihrem Sohn Kamillentee ans Bett und setzte sich zu ihm.

»Mama, kann ich morgen zu Hause bleiben?«, fragte Andrej.

»Ja, von mir aus.«

»Wie war die Sendung?«, fragte Alexander, als sie in die Küche kam, um eine Zigarette zu rauchen.

»Ganz in Ordnung. Morgen Abend können wir uns ansehen, wie’s geworden ist.«

»Warum machst du das, Olga?«

»Was?«

»Diesen ganzen Dreck. Psychopathen, mit Babyöl übergossene Leichen, Kinderpornos.«

»Ich habe keine Ruhe, bis Moloch gefasst ist, ich muss ständig daran denken.« Sie hatte keine Kraft zu reden, etwas zu erklären.

»Wirst du wieder mit Solowjow zusammenarbeiten?«

»Ich weiß nicht.«

Eine Weile saßen sie schweigend zusammen, ohne sich anzuschauen. Dann stand Alexander auf und ging hinaus.

Die Linie zwischen den beiden Zeitpunkten existierte doch, Olga spürte, wie das imaginäre Seil in die Fußsohlen schnitt. Wieder lief sie zurück zu sich selbst vor zwanzig Jahren.

 

Vor zwanzig Jahren hatte sich Olga mit Dima Solowjow auf dem Hof ihres Hauses getroffen. Sie hatten sich seit dem März nicht gesehen. Nun hatte er angerufen und erklärt, er müsse mit ihr reden. Sie wusste: Das war das letzte Mal. Sie hatte sich entschieden und glaubte, richtig und vernünftig zu handeln.

Zu Hause in ihrem Kleiderschrank wartete ein Hochzeitskleid, das aussah wie aus Schaum. Sie heiratete Filippow, den zuverlässigen, häuslichen Alexander. Auch er wartete zu Hause, er trank in der Küche mit ihren Eltern Tee. Dima hatte aus einer Telefonzelle angerufen und sie gebeten, auf den Hof zu kommen. Die drei am Küchentisch waren voller Verständnis. Natürlich, Olga, geh ruhig und rede mit ihm, verabschiede dich vernünftig von ihm.

Ja, sie und Dima mussten miteinander reden. Aber sie sagten kein Wort, begrüßten sich nicht einmal. Sie küssten sich wie wahnsinnig. Sie standen im warmen Regen am kaputten Zaun. Dann rissen sie sich voneinander los, sie lief weg, und er rief sie nicht zurück. Oder er tat es doch, aber der Regen rauschte zu laut, und sie hörte es nicht.

 

Das Küchenfenster war offen, der Regen trommelte auf das Fensterbrett, und Olga fröstelte.

Während der Jagd auf Moloch hatte Professor Guschtschenko einmal gesagt, kindliche Ängste und seelische Traumata seien die Hauptursache für sexuelle Pathologien.

»Moloch hat ein ganz anderes Problem«, hatte Olga ihm widersprochen. Seine Mutter hat ihn abgöttisch geliebt, wahrscheinlich hatte er außerdem eine liebe Großmutter. Aber ein Mädchen hat ihn ausgelacht, weil er impotent war. Dafür hat er sie getötet. Permanenter traumatisierender Faktor waren nicht äußere Umstände, sondern seine eigene physische Unzulänglichkeit.«

Guschtschenko war wütend geworden und hatte geschrien: »Woher willst du das wissen? Was redest du da für einen Blödsinn?«

Normalerweise tolerierte Guschtschenko andere Meinungen, hier aber war er ausgerastet. Sein Gesicht wurde dunkelrot, die Adern auf seiner Stirn schwollen an. Einen Augenblick lang fürchtete Olga, er würde sich gleich mit Fäusten auf sie stürzen, und ihr wurde ein wenig mulmig, weil sie allein im Zimmer waren. Doch er war hinausgerannt und hatte die Tür zugeknallt.

Am nächsten Tag wurde offiziell bekanntgegeben, dass der neue Minister angeordnet hatte, die Gruppe von Professor Guschtschenko aufzulösen. Vermutlich hatte Guschtschenko bereits davon gewusst und war deshalb so ausgerastet. Und weil Olga indirekt daran schuld war. Es war schließlich ihre Idee gewesen, einen Zusammenhang zwischen den Morden und der Produktion von Kinderpornos zu suchen. Am Ende war Verbene aufgeflogen, im Zuge des Skandals waren Beamtenköpfe gerollt, und der neue Minister löste die Gruppe auf.

Der alte Minister war ein Anhänger alles Westlichen, Amerikanischen gewesen und hatte versucht, das Innenministerium nach dem Muster der Polizei in den USA umzustrukturieren. Der neue zeigte sich patriotisch und erklärte, es sei für Russland demütigend, den Westen nachzuahmen. Profiling sei Scharlatanerie und unnütze Verschwendung von Zeit und Geld.

Übrigens hatten die Spannungen innerhalb der Gruppe kurz vorm Überkochen gestanden. Guschtschenko hatte, wie er sich ausdrückte, lauter »Einzelkämpfer« um sich geschart. Jeder war tief im Innern ein Genie. Jeder hielt seine Theorie für die einzig richtige und hörte keinem anderen zu. Als Olga erklärte, sie sähe einen Zusammenhang zwischen der alten, angeblich aufgeklärten Mordserie des Würgers von Dawydowo und der Serie von Moloch und halte es nicht für ausgeschlossen, dass es sich um ein und denselben Täter handele, wurde sie von den anderen offen verspottet.

Dima hatte sie damals gewarnt: Sag es ihnen nicht. Sie hatte nicht auf ihn gehört und die Quittung dafür bekommen.

»Ach, und was hat er zwischen 1986 und 2003 getrieben? Kaninchen gezüchtet? Landschaften gemalt? Psychopathen machen keine so langen Pausen. Und wie passt das zu deiner Theorie von Moloch als Missionar und den Kinderpornos? Oder glaubst du, die blinden Waisen aus dem Heim in Dawydowo wären auch nackt gefilmt worden?«

Dima und sie verstanden sich noch immer auch ohne Worte. Als Kinder hatten sie damit gespielt: Sie liefen im Abstand von mindestens zehn Metern die Straße entlang, er vorn, sie hinten oder umgekehrt. Derjenige, der hinten ging, forderte in Gedanken den anderen auf: Bleib stehen! Und der Vordere blieb stehen. Der Hintere kratzte sich an der Nase, bewegte die Brauen, streckte die Zunge raus, zog sich mit der rechten Hand am linken Ohr, und der Vordere tat, ohne sich umzuschauen, genau das Gleiche.

Das konnte sonst niemand. Niemand bis auf Olgas Zwillinge Andrej und Katja, als sie ganz klein waren.

Ich habe mir an jenem nassen Julitag wirklich das Leben versaut. All die Jahre habe ich mich nach ihm gesehnt, aber nicht gewagt, mir das einzugestehen. Als wir uns dann wiedertrafen und zusammenarbeiteten, konnte ich mir einfach nichts mehr vormachen. Dima Solowjow ist der einzige Mann, den ich je geliebt habe und noch immer liebe. Aber wir haben uns getrennt, und daran bin ich allein schuld. Nicht Mama oder Alexander. Ich. Ja und? Was weiter? Ich habe zwei Kinder, und Alexander ist ihr Vater.

Sie wusste, dass Dima jetzt in seinem Büro saß, den Computerbildschirm anstarrte und sich über sich selbst ärgerte, weil er auf ihren Anruf wartete. Von sich aus würde er auf keinen Fall anrufen. Schließlich hatte er damals vor zwei Jahren beim Abschied gesagt: »Wenn du mich sehen willst, ruf an. Ich werde es nicht tun.«

Olga wollte ihn schrecklich gern sehen, jeden Tag streckte sie die Hand nach dem Telefon aus, zuckte aber immer wieder zurück wie vor einem Stromschlag. Dima einfach so anzurufen, ohne einen wirklichen Grund, hieße, wieder von vorn anzufangen. Doch das war unmöglich.

»Unmöglich, unmöglich«, flüsterte Olga.

Die zerkratzte Plastikplatte des Küchentischs, die Schranktür mit der abgeplatzten Ecke, die Stille im Flur, die warme Dunkelheit der Zimmer, in denen ihr Mann und ihre Kinder schliefen – das alles erschien ihr plötzlich klein, schutzlos und verletzbar. Die alte Wohnung, das Familiennest, wo längst einmal renoviert werden müsste, wo niemand Geschirr spülen und die Fußböden wischen mochte, wo die Wasserhähne tropften, der Kühlschrank brummte, die Waschmaschine rumpelte, die Kartoffeln keimten, dauernd Socken verschwanden, das Telefon ewig besetzt war und der Fernseher lärmte.

Die Kinder kamen in die Pubertät. Sie stritten sich ständig. Sie müssten beide ein neues Mobiltelefon mit Kamera bekommen, ein Paar Inlineskates und einen kompletten Satz Sommerkleidung und -schuhe, denn sie waren aus allem herausgewachsen.

Andrej versuchte mit tiefer Stimme zu sprechen, darum hatte er Halsschmerzen. Er hatte sich den Pony bis zur Nase wachsen lassen und warf energisch den Kopf zurück, wenn er ihm ins Gesicht fiel. Katja hatte von einer wohlmeinenden Freundin zu hören bekommen, sie hätte eine Figur wie ein Klotz. Nun aß sie kein Brot mehr und machte jeden Morgen eifrig komplizierte Gymnastikübungen. Andrej lief nur mit Kopfhörern herum, aus denen Krach, Gebrüll und Schamanengeflüster drangen. Katja füllte ständig Fragebögen in Mädchenzeitschriften aus – »Erkenne deinen Charakter!«, »Bist du eine gute Freundin?«, »Was hindert dich, deine Komplexe loszuwerden?« Sie legte sich mitten im Zimmer auf den Fußboden, kritzelte Plus- und Minuszeichen in die Rubriken und rechnete das Ergebnis aus. Das alles tat sie nur, weil sie nicht genug Aufmerksamkeit bekam.

»Du liebst deine Irren und Psychopathen mehr als uns!«, hatte Andrej einmal geschrien.

Danach hatte sie die Gerichtsmedizin aufgegeben. Nicht nur, weil Guschtschenkos Gruppe aufgelöst worden war. Sie hätte im Institut bleiben können und wäre es auch gern, hatte aber wieder einmal nach der idiotischen Regel gehandelt: Überlege, was du in diesem Augenblick willst, und dann tu genau das Gegenteil.

»Willst du gar nicht schlafen gehen?« Alexander stand in der Tür, blass und verärgert, in seinem abgetragenen Bademantel und zerschlissenen Pantoffeln.

»Ich komme gleich. Leg dich schon hin, warte nicht auf mich.«

»Sitzt hier in der Kälte und qualmst wie ein Schlot.« Er trat zu ihr, umarmte sie, legte sein Gesicht auf ihren Scheitel und murmelte: »Es steht schlecht um uns, ja, Olga?«

»Wieso? Es ist alles bestens.«

»Bist du sicher?«

»Natürlich, Alexander.«