Fünftes Kapitel

Könnte man doch eine Linie ziehen von einem Zeitpunkt B zu einem Zeitpunkt A und auf dieser Linie wie auf einem Seil zurückkehren zu der Person, die man vor zwanzig Jahren war! Olga stellte sich das langsame Gleiten über dem geheimnisvollen Abgrund lebhaft vor. Ihr schwindelte, ihre Arme zuckten, als wollten sie sich heben, sich ausbreiten, um die Balance zu halten.

Hör auf! Du hast schon graue Haare, Schluss mit dem Seiltanz. Du willst wieder zwanzig sein? Wie sagt deine vernünftige Mutter immer? »Überlege, was du in diesem Augenblick willst, und dann tu genau das Gegenteil.«

»Hören Sie mich, Olga?«

Doktor Filippowa schüttelte energisch den Kopf, zupfte ihren Kittelsaum zurecht und trank ihren inzwischen kalten Kaffee aus. Sie saß im Büro des Chefarztes.

Der Chefarzt, ein untersetzter, brünetter Fünfzigjähriger, sah mürrisch an ihr vorbei. Seine buschigen Augenbrauen standen nach allen Seiten ab. Die Bartstoppeln auf Kinn und Wangen schimmerten bläulich. Aus seiner Nase ragte ein langes dickes Haar, gewellt wie ein Fragezeichen. Unter seinem Kittel sah Olga den V-Ausschnitt eines dunklen Pullovers, den er auf dem nackten Oberkörper trug – anstelle eines Hemdkragens quoll dichtes schwarzes Haar aus dem Ausschnitt.

Er hat wieder mal Streit mit seiner Frau, konstatierte Olga.

Wenn bei ihm zu Hause Frieden herrschte, hing kein Fragezeichen-Haar aus seiner Nase, das riss seine Frau ihm aus. Und unter dem Pullover trug er dann stets ein sauberes Hemd.

Olga balancierte in Gedanken noch immer über dem geheimnisvollen Abgrund. Der Weg von B nach A erschien ihr verdächtig kurz und leicht. Am Punkt A war sie zwanzig Jahre alt, und ab hier konnte sie noch einmal neu anfangen, ihrem nachfolgenden Leben eine andere Richtung geben. Die vielleicht falsch war und krumm, aber wer sagte denn, dass alles immer richtig und gerade sein musste?

Überlege, was du im Augenblick willst, und dann tu genau das Gegenteil.

Jedesmal, wenn Olga nach ihrem eigenen Willen handelte, fühlte sie sich schuldig. Richtete sie sich dagegen nach ihrer Mutter, war sie unglücklich. Zwei Extreme. Dazwischen war ein Seil gespannt. Die Kunst bestand darin, darüberzulaufen, ohne herunterzufallen.

»Olga, ich frage Sie noch einmal: Sind Sie sicher, dass Sie den Aufsatz von Herrn Iwanow gründlich genug gelesen haben?«

Der Chefarzt hatte schlechte Laune. Außer dem Streit mit seiner Frau hatte er noch andere Probleme, für ihn offenbar weit ernstere.

»Ja, ich habe ihn gelesen und dem Verfasser zurückgegeben.«

Der Verfasser saß dabei. Ein schlaffer junger Mann mit dem Gesicht eines überfütterten Säuglings und blauen Puppenaugen. An seinem Handgelenk prangte eine große, brillantbesetzte goldene Uhr. Er hieß Jegor Iwanow. Als der Chefarzt ihn Olga vor zehn Tagen vorstellte, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, Iwanow heiße er nach seiner Mutter, sein Vater sei … Dann hatte sich der Chefarzt besonnen und ihr den Namen des Vaters nicht genannt. Nur, dass es ein sehr, sehr einflussreicher Mann sei, so viel wie ein Oligarch, aber keiner von denen, die heutzutage eingesperrt wurden.

Anschließend hatte er Olga eine dünne Mappe überreicht und erklärt, sie enthalte einen fundamentalen Aufsatz von diesem Iwanow, der bereits promoviert habe, nun an seiner Habilschrift arbeite und für die Zulassung zur Verteidigung eine gewisse Anzahl gewichtiger Publikationen brauche. Doktor Filippowa sei mit dem von ihm gewählten Thema bestens vertraut, und ob sie nicht so liebenswürdig sein wolle, dem begabten jungen Kollegen bei der Zusammenstellung des Faktenmaterials zu helfen, das er nicht nur für seinen Aufsatz, sondern auch für die Habilschrift brauche.

Das Thema war Olga in der Tat vertraut: Das depressiv-paranoide Syndrom vor dem Hintergrund zerebral asthenischer psychopathogener Zustände. Der Text, den sie las, war ein Konglomerat aus Zitaten ohne Anführungszeichen und ohne den kleinsten Quellenverweis.

Olga wollte dem Chefarzt umgehend sagen, dass dies keineswegs ein wissenschaftlicher Aufsatz sei, dass der Verfasser keinen Schimmer habe, nicht nur von diesem Thema, sondern überhaupt von Psychiatrie, und dass sie sich nicht vorstellen könne, wie er zu seinem Doktortitel gekommen sei. Doch der Chefarzt war zu einem Symposium gefahren. Also tat Olga nur eines: Sie setzte Anführungszeichen und vermerkte in den Fußnoten die Namen der Autoren, bei denen Iwanow sich bedient hatte – das war zum Glück nicht weiter schwierig. Der begabte junge Verfasser hatte nämlich ohne viel Federlesens nur eine einzige Quelle benutzt, ein Lehrbuch der Gerichtspsychiatrie für Medizinstudenten.

Nach einigen Tagen rief der Sohn des Oligarchen sie um neun Uhr abends zu Hause an. Der begabte junge Kollege erwischte Olga im ungünstigsten Moment. Ihre Tochter verlangte, dass sie ihren Englischaufsatz durchsah, ihr Mann erzählte gerade von einem Skinheadüberfall in der Metro, dessen Zeuge er auf dem Heimweg geworden war, und der Sohn brauchte dringend und sofort das Telefon. Olga selbst briet gerade Fisch.

»Haben Sie meinen Aufsatz gelesen?«, fragte Iwanow.

»Ja.«

»Haben Sie für mich Beispiele aus der Praxis herausgesucht?«

Olga verschluckte sich beinahe angesichts von so viel Frechheit, entschied aber, dass sie sich jetzt lieber nicht in lange Gespräche einließ, sonst würde der Fisch anbrennen, und bestellte den jungen Kollegen für den nächsten Tag in die Klinik.

Am nächsten Morgen erschien ein hübsches Mädchen, erklärte, Jegor habe sie geschickt, und holte die Mappe ab. Dann kam der Chefarzt vom Symposium zurück und rief Olga zu sich.

»Ich verstehe nicht, was Sie mir hier reingeschrieben haben«, sagte Iwanow. »Ich habe kein einziges Beispiel aus der Praxis gefunden.«

»Und ich verstehe nicht, wovon hier überhaupt die Rede ist. Sie benutzen einfach fremde Texte und machen sich nicht einmal die Mühe, zu überlegen, ob sie etwas mit Ihrem Thema zu tun haben. Ganz zu schweigen davon, dass man Zitate normalerweise in Anführungszeichen setzt und die Quellen angibt. Genau das habe ich getan. Ihre einzige Quelle ist ein Hochschullehrbuch der Gerichtsmedizin.«

Während sie sprach, balancierte sie noch immer über die unsichtbare Linie von B nach A. Sie dachte an ihren ehemaligen Mitschüler Dima Solowjow.

Ich muss Solowjow anrufen und ihm von dem Karussellfahrer erzählen. Außer Dima hat mir vor anderthalb Jahren niemand geglaubt, und auch jetzt wird mir niemand glauben. Niemand außer Dima.

Die Fingerabdrücke des Karussellfahrers wurden zur Zeit durch das Suchsystem des Innenministeriums geschickt. Doch ohne Solowjows Einmischung würde diese Überprüfung mindestens einen Monat dauern. Dima könnte das Ganze beschleunigen. Obwohl das kaum etwas bringen würde. Doktor Filippowa war überzeugt, dass der Karussellfahrer nicht vorbestraft war und seine Fingerabdrücke nicht registriert waren.

»Ja«, sagte der Chefarzt, nickte, und das Fragezeichenhaar in seiner Nase zitterte, »die Arbeit ist natürlich noch roh, ein Entwurf gewissermaßen, aber gerade darum habe ich mich ja an Sie gewandt, Olga. Ich habe erwartet, dass Sie als erfahrene Ärztin dem jungen Kollegen helfen. Er braucht für seine Habilschrift Beispiele aus der Praxis, ohne sie kann er die Generallinie seiner Untersuchung nicht ausarbeiten.«

Die beiden wollten also, dass Doktor Filippowa dem Oligarchensohn erst den Aufsatz und dann die Habilarbeit schrieb. Wie viel mochte der junge Kollege dem Chefarzt dafür gezahlt haben? Und wie viel beabsichtigte Iwanow wohl für sie lockerzumachen? Wie es aussah, erst einmal gar nichts. Diese beiden klugen, nüchternen, tüchtigen Männer hielten sie für eine Idiotin.

»German, warum helfen Sie dem jungen Kollegen nicht, seine Generallinie auszuarbeiten?«, fragte sie sanft.

»Ach Olga, Sie wissen doch, ich bin eher ein Manager. Mein Terrain ist seit langem weder die Wissenschaft noch die Praxis. Außerdem habe ich absolut keine Zeit.«

»Aber ich.« Sie lächelte breit. »Ich habe einen Haufen Zeit, ich weiß gar nicht, wohin damit. Entschuldigen Sie, ich muss jetzt gehen. Alles Gute.« Sie stand auf und verließ das Büro.

Sie war sich sicher, dass der Oligarchensohn sie, kaum war sie zur Tür raus, übel beschimpfen und dass der Chefarzt ihm dienstbeflissen anbieten würde, einen anderen kostenlosen wissenschaftlichen Idioten für ihn aufzutreiben.

Na ja, dafür habe ich es hier wenigstens nicht mit Triebtätern, Vergewaltigern und Serienmördern zu tun, tröstete sich Olga, während sie durch den Klinikpark zu ihrer Station eilte.

 

Am Mittwoch hatte der Lehrer mit Shenja gesprochen. Am Donnerstag war sie nicht in die Schule gekommen, auch am Freitag nicht. Am Sonntag entschloss sich Rodezki, sie auf ihrem Handy anzurufen. Sie sagte, sie könne jetzt nicht reden und würde später anrufen – im Hintergrund hörte Rodezki Lärm und Lachen. Er wartete. Sie rief nicht zurück. Er wählte nochmals ihre Nummer.

»Na schön. Sagen wir um halb zehn im Park hinter dem Kasino. Sie wissen, wo das ist?«

Er sah sie schon von weitem und bemerkte, dass sie weit jünger aussah, als sie war. Höchstens wie zwölf.

»Also, da bin ich. Aber beeilen Sie sich bitte, ich habe wenig Zeit.«

»Shenja, wie konnte dir nur so etwas passieren? Wurdest du gezwungen? Wirst du bedroht oder erpresst? Brauchst du Hilfe?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden …«

Sie schien noch aufgeregter als er, sie sprach sehr leise, leckte sich dauernd nervös die Lippen und platzte schließlich heraus: »Haben Sie unsere Aufsätze schon durchgesehen? Da …«

»Wie kommst du jetzt auf die Aufsätze? Nein. Deinen habe ich noch nicht durchgesehen.«

Ganz in der Nähe hupte ein Auto. Zweimal kurz, einmal lang.

»Nein? Wirklich nicht?« Sie atmete erleichtert auf, dann schaute sie in die Richtung, aus der das Hupen gekommen war.

»Wissen Sie, ich … Ich hab es gerade furchtbar eilig.«

Sie wollte weglaufen, aber Rodezki griff nach ihrem Arm.

»Shenja, du lässt dich in Kinderpornos filmen.«

»Was?« Sie riss sich von ihm los.

»Du hast mich sehr gut verstanden. Ich habe dich gesehen. Im Internet, auf der Website von Mark Moloch.«

Erneut wurde gehupt, zweimal kurz, einmal lang. Shenja schaute in die Richtung, wo zwischen den kahlen dunklen Büschen Scheinwerfer leuchteten. Sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen, ungeduldig wie ein angebundenes Fohlen.

»Sie spinnen ja. So ein Schwachsinn. Aber Sie kucken sich also Pornoseiten an, ja? Gefällt Ihnen wohl, wie?«

Das Licht einer Straßenlaterne blendete ihn, er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Aber ihre Stimme klang gemein und schrill. Sie war natürlich nervös und furchtbar wütend.

»Nein, Shenja. Mir gefällt so etwas nicht. Ich bin zufällig auf die Seite gestoßen.«

»Sie irren sich.« Sie flüsterte nervös, beinahe hysterisch. »Sie stehen einfach auf kleine Mädchen, trauen sich aber nicht. Kein Wunder! Sie als Verdienter Lehrer, ein hochgeachteter Mann, der Stolz der Schule. Mir ist übrigens schon längst aufgefallen, wie Sie mich immer anstarren. Viele Pädophile sind Lehrer, sie suchen sich extra einen Beruf, wo sie mit Kindern zu tun haben!«

Erneutes Hupen. Die Scheinwerfer hinter dem Gebüsch wurden aufgeblendet. Shenja warf einen raschen Blick in die Richtung, wo das Auto stand, dann einen auf den alten Lehrer. Sein Herz schlug immer heftiger, der Schmerz zog sich bis in den linken Arm. Außerdem bekam er einen Asthmaanfall. Er hustete und griff nach dem Spray in der Tasche.

»Sie bestellen mich zu Nachhilfestunden zu sich nach Hause. Sie leben allein. Was meinen Sie, was los ist, wenn ich in der Schule das Gerücht verbreite, dass Sie mich belästigt haben?«

»Aber das ist eine Lüge, Shenja! Schämst du dich denn gar nicht?« Seine Stimme klang klagend und lächerlich. »Ich wollte dir doch nur helfen. Ich habe nicht die Miliz informiert, auch nicht die Schule, ich habe nicht einmal deine Mutter angerufen. Ich habe dir eine Chance gegeben …«

»Sie wissen ja, wer mein Vater ist. Er macht Sie fertig.«

Das Auto hupte erneut, laut und beharrlich. Shenja schrak zusammen, schaute sich um und rannte aus dem Park.

»Sie haben sich geirrt, klar? Und lassen Sie mich endlich in Ruhe! Alter Kinderschänder!«

Das waren ihre letzten Worte.

Rodezki sank auf eine Bank. Die Herzschmerzen wurden immer unerträglicher. Er hörte jenseits des Parks eine Autotür zuschlagen, dann wurde der Motor angelassen, und die Lichtkegel der Scheinwerfer huschten durch das Gebüsch.

Vielleicht habe ich mich ja wirklich geirrt, dachte er, mit offenem Mund krampfhaft nach der eiskalten Abendluft schnappend.

Er blieb sitzen, bis die fremde ältere Frau ihn ansprach und nach Hause brachte. Schade, dass er sie nicht nach ihrem Namen gefragt hatte.