Drittes Kapitel

Olga Filippowa wurde einfach nicht wach. Der Wecker hatte geklingelt, sie hatte ihn auf Wiederholung gestellt und sich die Decke über den Kopf gezogen. Nach fünf Minuten klingelte er erneut. Olga setzte sich auf, und ihr Blick fiel sogleich auf den Spiegel auf der alten Frisierkommode im Schlafzimmer. Es war der freundlichste Spiegel in der Wohnung, doch heute schmeichelte auch er ihr nicht.

»Was verlangst du?«, fragte der Spiegel kalt. »Du bist einundvierzig, du bekommst nie genug Schlaf, deine Schläfen werden langsam grau. Wenn dir das nicht gefällt, färb dir die Haare. Rauch nicht so viel, reg dich weniger auf, verbring mehr Zeit an der frischen Luft, arbeite nicht mehr an Wochenenden, quäl dich nicht mit Dingen, an denen du nicht schuld bist, und auch nicht mit denen, an denen du schuld bist, denn deine Selbstvorwürfe nützen keinem etwas.«

In der Wohnung herrschte schrecklicher Lärm. In der Küche dröhnte der Fernseher, aus dem Kinderzimmer drang Rock ’n’ Roll. Katja sang den Presley-Titel mit und machte dazu ihre Gymnastik. Zwanzig Übungen für die Taille, zwanzig für die Hüften, dann ein paar spezielle Sprünge und Drehungen und schließlich Laufen auf dem Gesäß.

»Mama!« rief der Sohn. »Mama, ich kann meine Schulsachen nicht packen, wenn Katja auf dem Hintern durchs ganze Zimmer rutscht!«

»Mama!«, rief die Tochter. »Papa blockiert seit einer halben Stunde das Bad, ich muss jetzt duschen, sonst komme ich zu spät zur Schule!«

»Olga!«, ertönte, entfernt und klagend, wie ein Gebirgsecho, die Stimme ihres Mannes. »Olga! Ein sauberes Handtuch! Bitte!«

Der Wecker klingelte erneut. Ohne die Augen zu öffnen, schwang Olga die Beine aus dem Bett und ertastete mit dem Fuß einen Pantoffel.

»Mama, die Haferflocken sind alle, ich weiß nicht, was ich zum Frühstück essen soll«, verkündete die Tochter.

»Mama, hast du vielleicht mein Mathebuch gesehen, so ein blaukariertes?«, fragte der Sohn.

»Olga! Ein sauberes Handtuch! Ich warte schon seit einer Stunde!«, erinnerte sie ihr Mann.

Olga schlurfte mit nur einem Pantoffel über den Flur in die Küche.

»Heute Nacht wurde in einem Waldgebiet zwanzig Kilometer entfernt vom Moskauer Stadtring der nackte Leichnam eines etwa zwölfjährigen Mädchens gefunden«, verkündete eine muntere Stimme nach der Werbung.

»Lasst mich in Ruhe«, sagte Olga leise, öffnete endlich die Augen und merkte, dass sie in der Küche vorm Fernseher stand. »Andrej, bring Papa ein Handtuch.«

»Wieso ich?«, empörte sich der Sohn.

»Na, ich doch wohl nicht!«, sagte die Tochter kichernd.

»Vermutlich treibt sich in Moskau wieder einmal ein perverser Serientäter herum.«

Olga erstarrte vor dem Fernseher. Auf dem Bildschirm erschienen ein Stück Landstraße, eine Reihe von Milizautos, ein Straßengraben, ein Waldrand und ein Absperrband.

»Mama, wo sind die sauberen Handtücher?«, fragte der Sohn.

»In der Kammer, du Blödmann!«, antwortete an Olgas Stelle die Tochter. »Also echt, Andrej, du lebst hier wie im Hotel!«

Auf dem Bildschirm hielt eine Journalistin einem müde wirkenden Mann ein Mikrophon unter die Nase. Er war grauhaarig und sah deshalb ziemlich alt aus, doch Olga wusste, dass er erst einundvierzig war, genau wie sie.

»Konnte die Identität der Toten schon ermittelt werden?«

»Ja.«

»Wie heißt sie? Wie alt ist sie? Wie …«

»Wir stehen erst am Anfang der Ermittlungen und können zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinerlei Informationen herausgeben. Wenden Sie sich an die Pressestelle.«

»Mama, kuck mal, dein Dima Solowjow!«, bemerkte Katja und schaltete den Wasserkocher ein.

»Mama, hast du mein Mathebuch wirklich nicht gesehen? Es ist wichtig! Darin liegt ein Zettel mit den Aufgaben für die Klassenarbeit!«, rief Andrej aus dem Zimmer.

»Olga, die Rasierklingen sind alle!«, klagte Alexander. Er war aus dem Bad gekommen, in einem alten Frotteebademantel.

»Das war garantiert ein Psychopath!«, erklärte überzeugt eine adrette Blondine, die nach Solowjow ins Bild kam. »Er hat den Leichnam mit Babyöl begossen, das riecht man jetzt noch. Außerdem lag ein Nuckel neben ihr.«

»Woher haben Sie diese Information?«

»Wir waren auf dem Heimweg, haben angehalten …«

Der Fernseher wurde ausgeschaltet. Olga schrak zusammen und drehte sich um. Hinter ihr stand Alexander, die Fernbedienung in der Hand.

»Nein, Olga. Nein.«

»Was?«

»Das weißt du genau. Du wirst dabei nicht mehr mitmachen. Niemals.«

»Wobei?«

»Du weißt sehr gut, wovon ich rede. Du bist damals fast verrückt geworden und hast uns alle verrückt gemacht, mich, die Kinder und deine Eltern.«

Olga wollte ihrem Mann die Fernbedienung wegnehmen und den Fernseher wieder einschalten. Aber er gab sie ihr nicht, versteckte sie hinter seinem Rücken.

»Wer hätte gedacht, dass Solowjow, dieses hässliche Entlein, sich zu einer so starken Persönlichkeit mausern würde. Macht sich gut im Fernsehen, der attraktive Grauhaarige. Du kannst ja den Blick gar nicht abwenden.«

Olga zwang sich zu lächeln und küsste ihren Mann auf die stachlige Wange.

»Reg dich nicht so auf, Alexander. Ich gehe mich jetzt duschen, und dann frühstücken wir. Beruhige dich, es ist alles in Ordnung.«

Er seufzte beleidigt.

»Du hast mir nicht geantwortet.«

»Hast du mich denn etwas gefragt?«

»Mama! Hast du vielleicht meinen roten Kamm?«, rief Katja aus dem Bad.

»Ich habe dich nichts gefragt.« Alexander schüttelte den Kopf. »Ich habe dich um etwas gebeten. Versprich mir, dass du dabei nicht mitmachen wirst. Selbst wenn sie dich dazu überreden wollen – weigere dich einfach. Ganz entschieden. He, warum sagst du nichts?«

 

Das ermordete Mädchen hieß Shenja Katschalowa. Eine Woche zuvor war sie fünfzehn geworden. Auf dem Nachtschränkchen neben ihrem Bett stand noch ein vertrockneter Strauß roter Rosen. Fünfzehn Stück. An der Vase klebte eine Postkarte, die Kopie einer berühmten Fotografie: Marilyn Monroe steht auf einem Lüftungsschacht der New Yorker U-Bahn und versucht, ihren Rock zu bändigen, der von der heißen Luft angehoben wird. Auf der Rückseite der Karte stand in krakeliger Schrift:

»Ich gratuliere meiner geliebten Tochter Shenja zum Geburtstag, sei immer schön und glücklich! Papa.«

Darunter das Datum und eine schwungvolle Unterschrift. Dmitri Solowjow registrierte mechanisch, dass der Autor des Glückwunsches offenbar wenig von Hand schrieb, bis auf ein Dutzend Autogramme am Tag.

Auf dem Schreibtisch des Mädchens stand das Foto eines recht verlebten Mannes in einem billigen weißrosa Rahmen mit Teddybären und Blümchen. Dünne lange Haare verdeckten das halbe Gesicht und fielen ihm wie Schlangen auf die Schultern. Geschminkte Augen schauten schmachtend unter dem Haarschopf hervor. Über der vollen Oberlippe prangte ein sehr schmaler, wie mit Tusche gezeichneter Schnurrbart.

Valeri Katschalow, ein Schlagerstar der frühen achtziger Jahre, hatte sechs Kinder von verschiedenen Frauen. Shenja war seine vierte Tochter.

»Er ist nie länger als drei Jahre bei einer geblieben«, sagte Nina, Shenjas Mutter. »Eine Frau über fünfundzwanzig ist für ihn alt.«

Der tiefsitzende Hass auf Shenjas Vater betäubte ihren Schmerz ein wenig. Solowjow hörte zu, ohne sie zu unterbrechen.

Bei der Identifizierung war sie in Ohnmacht gefallen. Auf der Heimfahrt im Auto hatte sie geschwiegen. Bei der Haussuchung hatte sie reglos dagesessen, die Hände im Schoß gefaltet, auf Fragen nur mit »ja« oder »nein« geantwortet und sich die ganze Zeit hin und her gewiegt wie eine Puppe. Sie hatte überhaupt etwas Puppenhaftes. Solowjow konnte sich gut vorstellen, dass sie vor zehn Jahren wie eine hübsche neue Barbie ausgesehen hatte. Lange Beine, Wespentaille, Katzenaugen. Jetzt saß ihm eine abgenutzte Barbie gegenüber, mit der niemand mehr spielte. Die einstige Model-Schlankheit war zu ungesunder Knochigkeit geworden. Ihr ursprünglich dunkelblondes gewelltes Haar war nun ein matter, gelber Besen. Sie hatte es jahrelang mit Wasserstoff und Glättungsmitteln ausgebrannt, denn Seine Hoheit Valeri mochte Blondinen mit glattem Haar.

Seine Hoheit hatte sie, die Zehntklässlerin Nina, einst in einer Moskauer Vorstadt kennengelernt, wo er nur ein einziges Konzert im Kulturhaus eines Betriebes gab. Nina war ihm in der Menge seiner Verehrerinnen aufgefallen.

Zu Hause, in der Provinz, hatte sie nicht als Schönheit gegolten: Zu dünn, zu lang, ein zu großer Mund. Sie genierte sich für ihre Größe, ging gebeugt und knickte die Knie ein. Und plötzlich beugte sich der Moskauer Star Valeri Katschalow vor aller Augen von der Bühne zu ihr herunter, packte sie bei den Händen und pflückte sie aus der Menge wie eine Blume vom Beet.

»Mein Gott, ich dachte, ich dreh durch! Ich musste einen ganzen Song lang neben ihm stehen. Er legte den Arm um meine Taille und flüsterte: ›Steh nicht so krumm, Dummchen!‹ Ich war damals total verblüfft, einmal, weil er so klein war, er ging mir nur bis zur Schulter, und weil er gar nicht sang, sondern nur den Mund auf und zu machte und herumhopste. Ich hatte keine Ahnung von ›Playback‹. Als der Song zu Ende war, dachte ich, nun ist alles aus, das ganze Leben. Ich wollte runter von der Bühne, wegrennen und mich in Großmutters Schuppen verkriechen. Ach, hätte ich das nur getan! Aber dann hätte ich Shenja nicht bekommen.«

Sie verstummte und blickte Solowjow aus trockenen Augen an. Sie wirkte, als sei sie aus einer langen Narkose erwacht. Solowjow fürchtete, sie würde gleich wieder in Starre verfallen, die Arme um sich schlingen und sich vor und zurück wiegen. Aber nein. Sie griff nach einer Zigarette.

»Vorgestern ist Shenja zu ihrem Vater gefahren. Sie sollten mal mit ihm reden.«

»Unbedingt.« Solowjow nickte und ließ sein Feuerzeug aufschnappen. »Wollte sie bei ihm übernachten?«

»Ja. Sie liebte das. Bei ihm ist ständig was los. Dauernd neue Leute, von früh bis spät Party. Hier zu Hause ist es öde. Ich nerve sie, zwinge sie zum Lernen. Wissen Sie, ich möchte nämlich, dass sie einen guten Schulabschluss macht und studiert.«

Solowjow stand schweigend auf und ging durch die winzige saubere Küche zum Fenster. Es fiel ihm schwer, ihr in die Augen zu sehen, die so trüb und erloschen wirkten wie auf totes Plastik gemalt. Sollte er sie etwa daran erinnern, dass Shenja nun nie mehr die Schule abschließen, nie mehr studieren würde? Sie hatte alles vergessen – die Pathologie, den Marmortisch, das Laken mit dem Stempel, das kurz angehoben worden war, um ihr Shenjas Gesicht zu zeigen. Nein, sie erinnerte sich genau daran. Aber es war leichter für sie, wenn sie von Shenja in der Gegenwart sprach. Sie konnte einfach noch nicht anders.

»Bei der Identifizierung hat der Arzt gefragt, warum mein Mädchen so dünn ist. Ich habe darauf nicht geantwortet, weil mir schlecht wurde. Aber ich will es Ihnen sagen. Shenja ernährt sich nur von Äpfeln und grünem Salat ohne Öl. Sie möchte Model werden. Und leidet furchtbar, weil sie so klein ist. Da kommt sie nicht nach mir, sondern nach ihrem Papa. Er ist nur eins siebenundfünfzig. Auf der Bühne fällt das nicht weiter auf, außerdem trägt er Schuhe mit Plateausohlen. Ist zwar unbequem, macht aber drei Zentimeter größer. Plus fünf Zentimeter hohe Absätze. Wissen Sie, als er mich verließ, war ich nicht sehr verzweifelt. Er überließ mir und Shenja die Wohnung hier und gab uns Geld. Manchmal kam er für ein paar Tage oder eine Woche zurück. Wenn er mich auf einer Party traf, feststellte, wie gut ich aussah, oder erfuhr, dass ich einen anderen hatte, dann kam er sofort angelaufen, der Mistkerl, wie ein Hund, der sein Terrain verteidigt. Aber dann hörte auch das auf. Das heißt, Geld gibt er uns immer noch. Nicht regelmäßig, aber immerhin. Im Prinzip verdiene ich selbst. Ich besuche Lehrgänge für Psychologie und Psychoanalyse und habe schon ein paar eigene Klienten. Mein Gott, an allem ist nur er schuld! Warum habe ich sie bloß zu ihm gehen lassen? Ich war doch dagegen, als hätte ich es geahnt! In der Schule werden gerade in allen Fächern Klausuren geschrieben. Wir haben uns gestritten, ich wollte, dass sie sich hinsetzt und lernt. Hab sie natürlich angeschrien. Wenn wir uns streiten, wissen Sie, dann sagt sie keinen Ton, sieht mich nur an. Schrecklich! Ich verstehe sie überhaupt nicht mehr.«

»Haben Sie bei Shenjas Vater angerufen, als sie dort war?«, fragte Solowjow in ihre Atempause hinein.

»Nein. Ich rufe ihn nie an. Nur Shenja, auf ihrem Handy. Ich wollte mich mit ihr versöhnen. Aber sie ist nicht rangegangen.«

»War ihr Telefon die ganze Zeit angeschaltet?«

»Nein. Sie hat es erst gestern Abend angeschaltet und dann vergessen. Wahrscheinlich lag es dort irgendwo rum. Die Wohnung ist riesengroß, ein Haufen Leute, laute Musik. Valeri hat Shenja übrigens vor kurzem in einem seiner Videoclips mitmachen lassen. Sie hat sogar Geld dafür gekriegt. Wollen Sie mal sehen?«

Solowjow wusste nicht, was er antworten sollte. Er saß schon seit über einer Stunde in dieser Küche, mit einer Mutter, deren einziges Kind ermordet worden war. Wenn er ging, war sie ganz allein.

Er hatte erfahren, dass Shenja im Grunde sehr kontaktfreudig war, hin und wieder aber düstere Phasen hatte, und dann sprach man sie lieber nicht an. Drogen hatte sie wie alle Kinder heutzutage natürlich probiert, aber ihrer Mutter war bislang nichts Beunruhigendes aufgefallen. Diskos, Cafés – ja, das mag sie. Allerdings kann sie materiell mit ihren Freunden nicht mithalten, deren Eltern sind von ganz anderem Kaliber. Nina kann ihrer Tochter nicht so viel Geld für Vergnügungen geben wie andere. Deshalb fühlt sich Shenja benachteiligt, obwohl sie hübscher ist als die meisten ihrer Freundinnen.

Endlich hatte Nina die Kassette gefunden. Solowjow erkannte den Clip sofort, er lief dauernd im Fernsehen.

 

Die Lippen rot geschminkt, die Augen kindlich rein.

Warum willst du schon erwachsen sein?,

 

sang Valeri Katschalow, die Vokale dehnend wie süßen Kaugummi.

Ein entzückendes dünnes Mädchen von höchstens elf Jahren drehte sich vorm Spiegel, malte sich Augen und Lippen an, schlüpfte in Mamas Kleider, skatete durch einen Park, machte eine große Kaugummiblase und saß im Kino neben einem Jungen, der den Arm um sie legte.

 

Popcorn im Kino und Kekse mit Zuckerguss,

Nichts ist so geil wie ein Zungenkuss.

 

Das Mädchen hatte glattes, hüftlanges blondes Haar und große blaue Augen. Hin und wieder kam Katschalow mit Gitarre ins Bild: auf einer Parkbank, am Fenster der Schule, rittlings auf dem Ast einer alten Linde. Ein weiser, liebender Vater, verständnisvoll und ein wenig lächerlich. Der Inbegriff des Mädchentraums von einem echten Mann. Wenn das Mädchen Unannehmlichkeiten hat (eine böse Lehrerin schickt es aus dem Klassenraum, der angebetete Junge sitzt mit einer anderen im Café), schickt Papa eine SMS: »Sei nicht traurig, Kätzchen, alles wird gut!«, und sie liest sie und lächelt unter Tränen. Am Ende des Clips gehen der Sänger und das Mädchen Arm in Arm die Allee eines blühenden Parks entlang, unterhalten sich lebhaft und lachen.

»Manchmal wird sie auf der Straße erkannt«, raunte Nina, als das Video zu Ende war. »Obwohl sie im Clip eine Perücke trägt und auf ganz jung geschminkt ist.«

Solowjow nickte. »Ja, das ist mir aufgefallen.«

»Das ist sein bester Clip.« Nina zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch gegen den erloschenen Bildschirm. »Das heißt, eigentlich ihrer, den hat sich Shenja ganz allein ausgedacht. Er hat damit gar nichts zu tun. Valeri Katschalow ist total unbegabt. Kein Gehör, keine Stimme. Auf der Bühne lässt sich das manchmal durch Sinnlichkeit und Charme kompensieren, aber auch das hat er nicht.«

»Was hat er dann?«, fragte Solowjow.

»Eine irrsinnige Hartnäckigkeit. Selbstbewusstsein. Und Beziehungen. Entschuldigen Sie, ich muss einkaufen gehen, wir brauchen Äpfel, Salat und Nüsse. Shenja kommt gleich nach Hause, und es ist nichts zu essen da.«

Solowjow hatte schon verschiedene Reaktionen auf den Tod erlebt. Ninas Verhalten grenzte an geistige Verwirrung.

Sie hatte Shenja gesehen, hatte sie identifiziert, ihre Sachen erkannt und alle nötigen Papiere unterschrieben. Für sie war Valeri Katschalow schuld am Tod ihrer Tochter, direkt oder indirekt. Aber an deren Tod selbst glaubte sie nicht.

»Gehen wir rüber ins Zimmer, ich muss dort ein bisschen aufräumen«, sagte Nina und erhob sich schwerfällig von ihrem Küchenhocker.

»Kennen Sie jemanden von Shenjas Freunden?«, fragte Solowjow und sah zu, wie sie Sachen in den Schrank legte.

»Wie gesagt, Shenja geniert sich, sie nach Hause einzuladen. Außerdem sind das gar keine richtigen Freunde. Klassenkameraden, Jungs aus der Disko und aus Nachtklubs. Hin und wieder war die Beziehung etwas enger, aber nie lange. Sie findet leicht Kontakt und trennt sich noch leichter wieder. Die Einzigen, die sie wirklich liebt, sind ich und er.« Nina nickte zu dem gerahmten Foto hinüber.

Solowjow nahm es in die Hand und las auf der Rückseite: »Mein Papa ist der Schönste und Begabteste!« Mit buntem Filzstift auf graue Pappe geschrieben. Die Büroklammern, die Foto und Pappe zusammenhielten, waren schon ziemlich ausgeleiert. Zwischen Foto und Pappe entdeckte Solowjow vier 100-Euro-Scheine.

Müssen wir etwa noch eine zweite Durchsuchung vornehmen, überlegte er und schaute sich im Zimmer um.

Ein zweites Geheimfach fand sich in einer bunten Kosmetiktasche. Zwischen aufgetrenntem und sorgfältig wieder angenähtem Futter hatte Shenja fünf Hunderterscheine versteckt. Weitere fünfhundert Euro steckten in den Hosentaschen einer großen Stoffpuppe.

Nina betrachtete das Geld schweigend, die Hand auf den Mund gepresst. Im Flur klapperte ein Schlüssel im Schloss.

»Nina, bist du zu Hause?«, fragte ein voller Frauenbass.

»Ja«, antwortete Nina und setzte etwas leiser hinzu: »Das ist Maja, meine Freundin. Sie hat einen Schlüssel.«

Gleich darauf kam eine große, kräftige Frau im Jeansoverall ins Zimmer. Ihr kurzes scheckiges Haar stand nach allen Seiten ab, ihre Pausbacken waren von gesunder Röte.

»Hallo, Leute. Was kuckt ihr so bedripst, wie auf einer Beerdigung? Ich bin Maja.« Sie reichte Solowjow die Hand.

Sie hatte einen kräftigen, männlichen Händedruck. Solowjow stellte sich kurz vor und taufte die Dame im Stillen die Sportlerin.

»Kriminalist?«, fragte Maja erstaunt. »Hat Shenja was angestellt?«

»Ja«, sagte Nina, »das hat sie. Sie ist tot.«

»He, bleib ruhig, mal nicht den Teufel an die Wand!« Die Sportlerin schüttelte entschieden den Kopf. »Sag nicht solche Sachen. Ich weiß, Shenja ist schwierig, du bist erschöpft, aber damit scherzt man nicht, hörst du.«

Nina sah Solowjow an. Ihre Lippen formten ein zaghaftes Lächeln.

»Sehen Sie, keiner glaubt es.«

 

Der Wanderer duschte, rasierte sich und zog frische Sachen an. Er schaute lange in den Spiegel, als sähe er sich zum ersten Mal. Ein Fremder, ein Unbekannter, zurückgekehrt aus der Welt des Lichts, von dort, wo am Rand des Abgrunds Kinder im Roggen spielen. Eine unvorsichtige Bewegung, und die Kinder stürzen hinab, in den Abgrund, in die ewige Nacht. Ihr klagender Schrei verhallt in der Unendlichkeit. Die anderen Kinder hören ihn nicht, sie wissen nichts von der Gefahr und spielen weiter. Unglückliche, verlorene Geschöpfe.

Die Verwandlung eines Menschen in einen Hominiden geschieht schleichend. Ein kleines Kind hat noch die Eigenschaften eines Menschen. Je älter es wird, desto verdorbener wird es. Doch im Körper der Mutanten lebt eine Zeitlang noch ein Engel. Er weint, will hinaus in die Freiheit. Er braucht Hilfe. Nun, der Wanderer hat ihm geholfen. Mit dem Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, ist er aus dem Reich des Lichts zurückgekehrt.

Zum Schluss hatte er ihr die Augen geöffnet. Ihr Leben war grob, schmutzig und lasterhaft. Einfach abscheulich. Die Kirche vergibt Selbstmord nur in einem einzigen Fall: Wenn eine Jungfrau sich tötet, um ihre Reinheit zu retten. Verstehst du, was das heißt? Reinheit ist wichtiger als das Leben. Der Engel in dir, den du verraten hast, ist wichtiger als du, Mädchen. Er weint. Er leidet und fürchtet sich in deinem Körper, im Körper eines kleinen Flittchens, das Männern den Kopf verdreht.

Anderthalb Jahre lang hatte er sich gestattet, in der platten, sinnlosen Realität zu leben, jenseits der Apokalypse, die bereits angebrochen war, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Achtzehn Monate hatte er sich gestattet, in der Welt der fünf Sinne zu leben, der Welt der Hominiden, und war in dieser Zeit natürlich ebenso taub und blind gewesen wie sie.

Die Zahl achtzehn besteht aus drei Sechsen. Die Zahl des Tieres. Drei Sechsen Untätigkeit. Klar, zu wessen Vorteil. Ja, das war ein weiteres Zeichen.

Der Mann im Spiegel verzog das Gesicht, dann lächelte er. Er fuhr sich mit der Hand durch das feuchte Haar. Vielleicht hatte er die Wanderung nur geträumt? Das Gefühl hatte er jedes Mal, wenn ihn eine unbekannte Macht aus der Welt des Lichts zurückschleuderte in die ewige Nacht. Die Finsternis war ihm vertraut, sie schuf die Illusion von Komfort und Frieden. Aber sie saugte ihm die Kraft aus. Den Hominiden erschien sie als Licht, denn das echte Licht war ihnen unbekannt, es hätte sie augenblicklich geblendet. Sie begriffen nicht, dass sie sterben mussten, und lebten, als gebe es keinen Tod.

Auf dem Fußboden im Bad lagen seine Kleider, Jeans und ein kariertes Flanellhemd. In den Jeanstaschen fand er einen Kaugummiklumpen, in die Zellophanhülle einer Zigarettenschachtel eingewickelt.

»Spuck das aus!«, hatte er im Auto zu dem Mädchen gesagt. »Eine scheußliche Angewohnheit! Du bist doch keine Kuh.«

Sie hatte genickt und den Kaugummi in seine Hand gespuckt. Natürlich – sie hatte gelernt, jeden Wunsch ihrer Kunden zu erfüllen. Die Schlampe.

In der hinteren Jeanstasche steckte noch das Geld, das er aus der Innentasche ihres Anoraks genommen hatte, als alles vorbei war. 250 Euro und 100 Dollar. Die Dollar waren der Aufpreis, den sie von ihm verlangt hatte, das geldgierige dumme Ding. Er hatte sagen wollen, dass er ihrem Zuhälter schon alles bezahlt habe, sich aber rechtzeitig besonnen. Er wollte sie nicht unnötig misstrauisch machen.

Die Euro musste ihr jemand anders gegeben haben, vor ihm. Nun würde dieses schmutzige Geld der großen reinen Sache dienen; es würde helfen, noch mehr Engel zu befreien.

Sein Hemd hatte zwei Brusttaschen. In der einen lagen ein dünnes, schmales Goldkettchen mit einem kleinen Anhänger, einem ovalen dunkelblauen Stein in Goldfassung, und eine rosa Haarspange aus Plastik. Die Kette hatte er der toten Hominidin vom Hals genommen. Dass die Kette aus Gold war und der Stein vermutlich ein echter Saphir, spielte dabei keine Rolle. Er war kein Dieb. Wenn man einen Engel befreit, wird eine Menge Energie freigesetzt. Sie ist so gewaltig, dass sie Totes lebendig machen kann. Diese Energie heißt Bioplasmid – das ist im Grunde reines Leben in Form von Energiestrom. Der Stein hatte einen Teil des Bioplasmids aufgenommen; er war warm und pulsierte in seiner Hand.

Die Haarspange hatte der Wanderer gefunden, als er das Wageninnere säuberte. Sie war nicht weiter von Bedeutung, konnte ihm aber womöglich einmal nützlich sein. In der anderen Brusttasche lag das Wichtigste: Ein weicher kastanienbrauner kleiner Zopf, sorgfältig in ein Papiertaschentuch gewickelt. Er wickelte ihn aus, sog den schwachen Apfelduft des Mädchenhaars ein, und ihm wurde siedendheiß.

Ja, es war also wirklich geschehen. Ein weiterer befreiter Engel flog nun munter da oben zwischen den Wolken herum, am reinen, strahlenden Himmel.

 

Nina, bleich wie die Wand, rauchte und betrachtete das Geld.

»So viel hat er ihr nicht gegeben«, sagte sie kaum hörbar und hustete. »Und das Geld für den Videoclip hat sie gleich für Klamotten rausgeworfen.«

»Vielleicht hat sie ja gespart?«, fragte Solowjow.

»Wer? Shenja?«, mischte sich Maja ein. »Ausgeschlossen. Sie hat immer alles ausgegeben, bis auf die letzte Kopeke. Wie viel haben Sie insgesamt gefunden?«

»Bis jetzt 1400 Euro.«

»Was soll das heißen – bis jetzt?« Nina drückte die Zigarette aus und stand auf.

»Ich fürchte, ich muss die Durchsuchung wiederholen, diesmal gründlicher«, sagte Solowjow und griff nach einem großen, zerliebten Plüschteddy.

»Nein!«, rief Nina. »Das ist Mika, ihr Lieblingsplüschtier, den nimmt sie immer mit ins Bett. Fassen sie ihn nicht an! Legen Sie ihn zurück!«

Der Teddy war weich und schlaff. Auf seinem Rücken entdeckte Solowjow eine ordentliche Naht, der Faden fiel kaum auf. Maja reichte ihm wortlos eine Nagelschere. Nina sank auf den Fußboden, schlang die Arme um die Knie und barg ihr Gesicht darin. In dem Teddy steckte ein Packen Scheine, in eine Heftseite gewickelt und von einem Gummi zusammengehalten. Zehn 50-Euro-Scheine.

Maja fluchte laut und ließ sich in einen Sessel fallen. Unter ihrem mächtigen Hinterteil piepste es, gleich darauf ertönte ein schmachtender Gitarrenakkord und ein angenehmer Bariton:

 

Am blassen Hals der jungen Angelina

Glitzern Tropfen von Blut, rot wie Rubine.

In meiner Hand der Griff aus Elfenbein.

Ach, Angelina, ich bin so allein.

 

Nina schrak zusammen und sah sich beunruhigt um. »Was ist das?«

»Entschuldige. Ich hab mich aus Versehen auf die Fernbedienung gesetzt.«

Maja schaltete die Stereoanlage aus und sah Solowjow an. »Das ist Vaselin. Ein Sänger. Kennen Sie den? Den hört Shenja dauernd. Hat sie gehört … Mein Gott, ich kann es nicht glauben …«

 

Solowjow rief die Einsatzgruppe. Bereits nach einer Stunde war die Summe auf zwanzigtausend angewachsen. Ein Teil davon steckte in der Geheimtasche einer Winterjacke, ein Teil unter den Innensohlen der Skistiefel.

»Das hat sie bestimmt nicht gestohlen«, sagte Maja fest. »Ich kenne Shenja seit ihrer Geburt.«

Nina schwieg. Während der ganzen Durchsuchung hatte sie auf dem Boden gesessen, die Knie umschlungen, und auf keine Frage geantwortet.

»Was meinen Sie, woher sie das Geld hat?«, fragte Solowjow leise.

Maja zuckte die Schultern. »Verdient vielleicht? Die Frage ist nur, wie? Ich bin vierzig Jahre alt und habe zwei Hochschulabschlüsse, aber ich habe in meinem ganzen Leben noch nie auch nur halb so viel Geld auf einmal in der Hand gehabt.«

»Es reicht!« Nina stand abrupt auf, ging zu Solowjow und starrte ihn mit bösen, trockenen Augen an. »Das ist mein Geld. Ich hatte es versteckt. Shenja hat damit nichts zu tun.«

Maja packte sie bei den Schultern. »Spinnst du? Wieso schwindelst du? Warum?«

»Fass mich nicht an! Und überhaupt, verschwindet, alle, lasst uns in Ruhe! Mischt euch nicht in unser Leben! Ihr nehmt hier einfach das ganze Haus auseinander, macht die Sachen meiner Tochter kaputt. Mit welchem Recht? Shenja ist bald zurück, und ihr Zimmer ist total verwüstet, und es ist nichts zu essen im Haus, wegen euch bin ich nicht zum Einkaufen gekommen.«

Alle im Zimmer erstarrten und sahen sie an.

»Soll ich vielleicht einen Arzt rufen?«, fragte ein Kriminaltechniker leise.

»Nina, Kleines, hör mir zu.« Die Sportlerin schluchzte auf und umarmte die Freundin. »Shenja ist tot, sie wurde ermordet. Weine ruhig, dann wird dir leichter.«

»Ja, ich habe verstanden.« Nina machte sich ruhig von ihr los. »Ich habe alles verstanden. Aber bitte, ich bitte Sie sehr, gehen Sie, und du auch, Maja. Ich muss jetzt allein sein.«

 

Als die Kriminalisten das Haus verließen und in ihre Autos stiegen, fiel Solowjow ein, dass seine Zigaretten alle waren. Auf der anderen Straßenseite war ein Kiosk. Als er hinüberlief, bemerkte er direkt gegenüber vom Hauseingang am Straßenrand ein blaues Peugeot-Coupé. Der Wagen wirkte bescheiden, kostete aber rund fünfzigtausend. Solowjow warf einen Blick auf die Silhouette hinter den getönten Scheiben.

Ein Mann saß auf dem Fahrersitz. Solowjow ging ganz dicht heran und sah, dass die Scheiben einige Zentimeter heruntergelassen waren und Tabakqualm aus dem Wagen drang.

Na und, sagte sich Solowjow. Der Mann sitzt in seinem Wagen und raucht – vielleicht wartet er auf jemanden oder macht einfach eine Pause.

Durch die Windschutzscheibe des Peugeot hatte man einen guten Blick auf den Hauseingang, aus dem die Kriminalisten gerade gekommen waren.

Ohne zu wissen warum, blieb Solowjow eine Weile neben dem Wagen stehen, kramte Kleingeld aus der Tasche und ließ ein paar Münzen fallen. Während er sie aufsammelte, hörte er ein Mobiltelefon klingeln. Der Mann im Auto ging sofort ran.

»Nein. Ich bin im Büro. Ich habe Leute hier. Entschuldige, ich kann jetzt nicht. Natürlich sagt sie, dass ich nicht da bin, ich habe sie darum gebeten. Sie lügt nicht, sie tut ihre Pflicht. Ich habe hier wichtige Verhandlungen. Nein, entschuldige, meine Liebe. Ich dich auch … Ja, Häschen, ich rufe dich sofort an, wenn ich fertig bin.«

Der Unsichtbare hatte eine tiefe, kräftige Stimme.

Was geht mich der Kerl an und sein Häschen, das er anschwindelt, dachte Solowjow, warf einen Blick auf die Nummer des Peugeot, ging zum Kiosk und wandte sich nicht mehr um. Während er die Zigaretten kaufte, hörte er einen Motor anspringen. Der Peugeot fuhr los und verschwand hinter der nächsten Ecke.

Solowjow schrieb die Autonummer in sein Notizbuch.