Neunzehntes Kapitel

»Doktor Filippowa, in den Massenmedien heißt es immer, im 21. Jahrhundert würde die Zahl der Serienmörder anwachsen. Was meinen Sie dazu?«

»Wir sollten zunächst die Terminologie klären. Serienmörder ist ein weiter Begriff. Jede Art von mehrfachem Mord, ob von einem Einzelnen begangen oder von einer Gruppe, kann man als Serie bezeichnen. Auch Auftragsmorde und Raubmorde sind eine Serie.«

»Ein Auftragskiller ist also ein Serienmörder.«

»Ja. Aber kein Triebtäter. Obwohl die Grenzen fließend sind. Ein Auftragsmörder kann beim Morden durchaus Befriedigung empfinden, ebenso ein Raubmörder. Übrigens geht sexuelle Gewalt mitunter auch mit Raub einher. Welches Motiv den Täter dabei stärker antreibt, ist schwer zu sagen. Jemandem sein Eigentum nehmen. Jemandem das Leben nehmen. Jemanden demütigen, misshandeln. Dahinter stehen vor allem Neid, Hass auf den anderen, der etwas besitzt, das man selbst nicht hat.«

»Triebtäter sind also vor allem neidisch?«

»Ja. Wie jeder Mörder von Kain an. Mord ist die äußerste, letzte Stufe von Neid. Und Neid ist das älteste aller Motive.«

»Aber in vielen Fällen sind die Opfer doch Prostituierte, Trinker, Drogensüchtige, Menschen vom unteren Rand der Gesellschaft, während der Mörder relativ gutsituiert ist und sozial weit über seinen Opfern steht. Worauf also sollte er neidisch sein?«

»Solche Täter haben eine andere Logik. Ihr Neid gilt dem Leben, einer geheimnisvollen Energie, an der es ihnen mangelt. Dass sie sich ihre Opfer oft in den untersten Schichten suchen, hat einen ganz banalen Grund: Das ist einfacher und weniger gefährlich. Prostituierte sind in der Gesellschaft nahezu schutzlos. Sie sind leichter zu töten. Sich einem Unbekannten weitgehend auszuliefern gehört zu ihrem Beruf. Prostituierte leben oft nicht in ihrer Heimatstadt, sondern weit weg von ihren Angehörigen. Wenn eine Prostituierte verschwindet, wird sie selten vermisst, die Identifizierung ist oft schwierig. Übrigens vertreten amerikanische Kriminologen die These, jeder Mann, der regelmäßig Prostituierte aufsucht, sei ein verdeckter Psychopath oder, wie sie es nennen, ein Soziopath. Er neige zu Gewalt und Dominanz. Bei normalen Frauen fühle er sich unsicher, habe Angst, Schwäche zu zeigen, und vertrage keine Kritik.«

»Und was ist mit den missionarischen Psychopathen? Die glauben, sie reinigten die Gesellschaft vom Schmutz?«

»Die missionarische Idee ist ein sogenanntes Stellvertretermotiv. Genau wie Raubmord übrigens. Im Vordergrund steht immer das Töten, die Ekstase. Die persönliche Bereicherung oder die soziale Mission dienen als eine Art Begründung. Psychopathen sind in der Regel Megalomanen, das heißt, sie leiden an Größenwahn und möchten in den eigenen Augen gut dastehen. Ein Missionar stammt fast immer aus einem gebildeten Umfeld, hat studiert. Er möchte als ein uneigennütziges, höheres Wesen gelten. Doch genau wie dem Raubmörder geht es ihm um das Töten.«

»Aber es gibt doch bestimmte Typologien, jedenfalls im Westen.«

»Es gibt Versuche, solche Typologien zu erarbeiten, aber die Realität stellt sie immer wieder in Frage. Es kommt vor, dass Kriminologen und Psychiater zum Beispiel davon ausgehen, der gesuchte Täter sei auf jeden Fall jung und die Neigung zu Gewalt habe sich bereits in der Kindheit gezeigt, und dann stellt sich heraus, dass der Täter um die fünfzig oder gar sechzig ist. Bei uns in Russland gab es einen bekannten Fall, bei dem der Täter erst mit fünfundsechzig anfing zu töten und die Leichen zu zerstückeln. Bis dahin war er gesund und sozial angepasst; alle, die ihn kannten, beschrieben ihn als freundlichen, gutherzigen, bescheidenen Mann. Auch die Thesen von der schwierigen Kindheit, vom psychischen Trauma und vom Schädeltrauma stimmen nicht. Es gibt Triebtäter mit vollkommen normaler Kindheit und ohne jedes Trauma. Und andererseits führen Millionen Menschen mit erlittenen Traumata und schwieriger Kindheit ein friedliches Leben und werden nicht zu Mördern. Überhaupt – was nützen all diese Theorien und Typologien? Erst vor kurzem hat in Wologda ein Psychopath ein achtjähriges Mädchen vergewaltigt und getötet. Er konnte bereits Stunden später gefasst werden. Und wissen Sie, warum? Er kam gerade aus der Haftanstalt. Er hatte wegen Vergewaltigung eines drei Monate alten Kindes gesessen und wurde wegen guter Führung vorzeitig entlassen.«

»Schauen wir uns nun erst einmal den Beitrag an, den unser Reporter vorbereitet hat.«

Mischa lehnte sich entspannt zurück. Der Videoclip »Sei nicht traurig, Kätzchen!« wurde fast in voller Länge gezeigt. Dann folgten vergrößerte Fotos von der Leiche des Mädchens. Nur mit Mühe war darauf die Heldin des Clips zu erkennen. Aus dem Off berichtete der Reporter, wie man die Tote gefunden hatte, die junge Zeugin war zu sehen, einige Szenen aus dem Kriminalreport vom Morgen, der blasse Dima Solowjow; dann verdeckte eine Hand die Kamera, und eine leise, heisere Stimme sagte: »Kein Kommentar! Bitte behindern Sie nicht unsere Arbeit.«

Anschließend folgte eine Montage aus Amateurvideoaufnahmen. Shenja Katschalowa mit sechs, mit sieben, mit zehn Jahren. Ihre Mutter, eine große schlanke Blondine. Kindergeburtstag. Ein großer Plüschteddy, eine Torte mit Kerzen. Ein Tonstudio, Shenja mit Kopfhörern vorm Mikrophon, das lächelnde Gesicht ihres Vaters, ein Stück aus dem Song. Dann wieder ein Foto der nackten Leiche. Und die Stimme des Reporters: »Unmöglich, sich Shenja tot vorzustellen. Das ganze Land kennt und liebt sie. Wie viele wunderbare Songs hätte sie noch singen können? Shenjas Mörder ist noch auf freiem Fuß. Es ist nicht auszuschließen, dass Shenja nicht sein erstes und nicht sein letztes Opfer war. Unsere Sendung wird die Ermittlungen aufmerksam verfolgen.«

»Ich erinnere Sie noch einmal daran, zu Gast im Studio ist heute eine ständige Beraterin unserer Sendung, die Psychiaterin und habilitierte Medizinerin Olga Filippowa. Olga, wir haben eben über Serienmörder gesprochen. Was meinen Sie, haben wir es bei dem Mord an Shenja Katschalowa mit einem Serientäter zu tun?«

»Dazu lässt sich vorerst nichts Konkretes sagen. Ja, es gibt Hinweise auf einen sexuellen Charakter der Tat. Der entblößte Körper, das Babyöl.«

»Ich erinnere mich, dass es vor anderthalb Jahren ähnliche Fälle gab. In einem Zeitraum von sechs Monaten wurden drei Jugendliche getötet, zwei Mädchen und ein Junge. Genau wie Shenja wurden sie in einem Waldstreifen zwanzig Kilometer entfernt vom Moskauer Stadtring gefunden. Übrigens wurden die Opfer bis heute nicht identifiziert. Und der Mörder läuft noch frei herum. Vielleicht ist es derselbe?«

»Das ist nicht auszuschließen. Allerdings könnte es sich auch um eine Nachahmungstat handeln.«

»Das heißt?«

»In der Kriminalgeschichte hat es immer wieder Nachahmer von Serientätern gegeben, besonders, wenn in den Massenmedien viel über sie berichtet wurde. Mitunter wird die Handschrift eines Serientäters imitiert, um die wahren Motive zu verschleiern: Rache, Entführung mit dem Ziel der Erpressung. Bei den ersten drei Opfern handelte es sich um sogenannte soziale Waisen. Niemand hat sie gekannt oder vermisst. Shenja Katschalowa gehört eindeutig nicht in diese Kategorie. Offensichtlich ist bisher nur, dass sie ihren Mörder kannte und ihm vertraute. Er hat den Mord geplant, er hatte das Babyöl dabei, Handschuhe, eine Schere, um die Haare abzuschneiden, und vielleicht sogar ein Nachtsichtgerät.«

»Was meinen Sie – ist das Babyöl ein Ritual? Oder ein notwendiges Element für die sexuelle Erregung? Womöglich etwas, das mit Kindheitserinnerungen zu tun hat? Eine Art Symbol? Der Täter ist vermutlich pädophil?«

»Neben dem rituellen und dem sexuellen Aspekt hat das Öl auch eine ganz pragmatische Seite – es vernichtet Spuren. Der Mörder hinterlässt am Körper des Opfers immer Hautpartikel, Haare oder Körperflüssigkeit – Speichel, Schweiß, Blut, Sperma. Das Öl erschwert eine DNA-Analyse oder macht sie sogar unmöglich.«

»Aber solche Details kann doch nur ein Fachmann wissen! Wollen Sie sagen, dass der Mörder etwas von Kriminalistik versteht?«

»Informationen dieser Art sind jedermann zugänglich. Es gibt Fachliteratur, das Internet. Manche Psychopathen entwickeln ein großes Interesse für Kriminalistik, für Gerichtsmedizin und Chemie.«

»Wissen Sie, Olga, ich überlege mir gerade, dass wir beide womöglich gerade einen Mörder instruieren. Beim nächsten Mal wird er vielleicht ebenfalls eine Flasche Öl mitnehmen, um Spuren zu beseitigen.«

»Sie haben recht, bei Mordfällen mit sexuellem Hintergrund ist es manchmal besser, nicht zu viel darüber zu reden. Oft suchen die Täter die Aufmerksamkeit, wollen sich in den Nachrichten sehen. Wir sollten ihre Eitelkeit nicht unnötig anstacheln. Mitunter ist der Wunsch nach Ruhm das Hauptmotiv für einen Mord, und es kommt zu einer Kettenreaktion. Amerikanische Spezialisten sprechen derzeit von ganzen Mordepidemien, die durch Aufsehen in den Medien ausgelöst wurden. Aber manchmal funktioniert es auch umgekehrt. Professor Guschtschenko hat einmal in einer Livesendung einen Täter praktisch überführt. Der Mörder hatte im Studio angerufen, und Guschtschenko konnte ihn zu einem indirekten Geständnis bewegen.«

»Ja, ich erinnere mich an diesen Fall. Übrigens, das wollte ich Sie noch fragen – warum wurde die Gruppe von Professor Guschtschenko eigentlich aufgelöst? Warum scheiterte der Versuch, bei uns ein ähnliches Profiling-System zu installieren wie beim FBI? Sind unsere Psychologen und Psychiater etwa schlechter als die in Amerika? Können wir nicht ebenso professionelle Täterprofile erstellen und das Verhalten von Tätern vorhersagen? Immerhin hat die Gruppe in den fünf Jahren ihres Bestehens einiges erreicht.«

»Das müssen Sie nicht mich fragen. Es gab einen Wechsel an der Spitze des Ministeriums, und die Gruppe wurde nicht mehr finanziert.«

»Aha, ich verstehe. Das Übliche. Stupide Beamtenwillkür. Olga, unser Team hat die Absicht, im Mordfall Shenja Katschalowa eigene unabhängige Recherchen anzustellen. Ich lade Sie ein, dabei mitzuwirken.«

 

Im Umkreis des alten Lehrers, in seiner schäbigen Wohnung, waren deutlich die Stimmen von Engeln zu hören gewesen. Engel schauten von den Wänden herab, von den Fotos der Abschlussklassen. Der Lehrer war einer von denen, die Kinder an den Abgrund lockten. Jahrelang nährte er in ihnen die Illusion, es gäbe ein Leben da draußen, wo es doch nur Lüsternheit, Fäulnis und Gestank gab.

Der Wanderer hätte den Lehrer gern getötet. Beinahe hätte er die Beherrschung verloren und sich verraten; in den Augen des halbtoten, aber noch immer gefährlichen Hominiden war kurz das kalte Feuer des Verdachts aufgeblitzt.

Der kosmetische Kleber spannte die Haut an Kinn und Oberlippe. Er hätte den künstlichen Bart gern abgenommen, aber er musste sich gedulden; diese langwierige Prozedur konnte er nur zu Hause erledigen, und anschließend musste er sein Gesicht mit einer speziellen Lotion einreiben.

Er hatte seit seiner Kindheit eine empfindliche Haut, sie reagierteäußerst sensibel auf Tastreize, als fehle dieäußere Schutzschicht. Der Hemdkragen hinterließ eine rote Spur am Hals, in der Leiste hatte er juckende dunkelrote Narben von der Naht der Satinunterhosen, die noch immer nicht verheilt waren, obwohl er seit Jahren nur noch die teuerste weiche Unterwäsche trug.

Als Kind war er oft zu warm angezogen und ständig gefüttert worden. Seine Großmutter und seine Mutter hatten im Krieg viel gehungert.

Er war als Siebenmonatskind zur Welt gekommen und anfangs so blau gewesen, dass seine Mutter ihn im ersten Moment für schwarzhäutig hielt.

Seine Mutter war eine anständige, stille Frau, arbeitete als Ökonomin im Ministerium für Schwerindustrie und bewohnte zusammen mit ihrer Mutter ein kleines Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung in einem alten Haus unweit vom Platz der drei Bahnhöfe.

Die große, linkische Frau mit den dicken Fesseln war daran gewöhnt, von den Männern ignoriert zu werden. In ihrer Generation waren die Männer ohnehin knapp, Krieg und Straflager hatten Gleichaltrige und Ältere vernichtet.

Sie hätte gern ein Kind gehabt, und kurz bevor sie vierzig wurde, war dieser Wunsch zu einer richtigen Manie geworden.

Es war das Jahr 1946. Ein heißer, feuchter Mai ging zu Ende. Kurze Gewitter, das Rascheln frischer grüner Blätter, die ersten Absatzschuhe nach dem Krieg, ein leuchtendes Kleid aus Crêpe de Chine. Das hatte sie sich auf einer alten Singer-Nähmaschine selbst genäht, aus einem Stück Stoff, das wundersamerweise in der Truhe der Mutter überlebt hatte. Vorm Schlafengehen wickelte sie ihre Haare auf Lockenwickler aus Mull, morgens schminkte sie sich die Lippen und besprühte sich den Hals mit dem Parfüm »Roter Mohn«. Am dritten Juni wurde sie vierzig. Genau in einer Woche.

Die Geschichte der schicksalhaften Begegnung mit dem Mann, der sein biologischer Vater werden sollte, wurde dem Jungen von Jahr zu Jahr anders erzählt und durch immer neue Details ergänzt.

Mal hieß es, er sei Flieger gewesen, er und seine Mutter hätten sich noch vor dem Krieg kennengelernt, aber nicht mehr heiraten können, weil er an die Front musste. Im Mai 1946 seien sie sich wiederbegegnet, aber nur für einen Tag. Er habe auch nach dem Sieg weiterkämpfen müssen, habe nur einen kurzen Urlaub bekommen und sei kurz darauf gefallen.

Dann wieder war er Aufklärer, streng geheim, tief im feindlichen Hinterland, oder aber U-Boot-Kapitän – Ferner Osten, Port Arthur, Schädelkontusion.

Die Wahrheit erfuhr er mit fünfzehn aus einem Küchengespräch.

Am dreißigsten Mai war seine Mutter sehr spät aus ihrem Ministerium nach Hause aufgebrochen. Zu Fuß ging sie durch einsame Straßen und Höfe. In der Metro hatte ein junger Mann sie angestarrt und war ihr gefolgt, und an einem stillen dunklen Ort, auf einer unbebauten Brache, überfiel er sie, versetzte ihr einen Schlag auf den Kopf und würgte sie. Sie verlor das Bewusstsein und konnte nicht einmal schreien. Im Morgengrauen las eine Milizstreife sie auf. Die Handtasche mit den Lebensmittelkarten war gestohlen, ebenso ihre Schuhe und ihre billige Korallenkette. Die Verletzungen waren nicht weiter schlimm; bereits nach einer Woche ging sie wieder arbeiten. Nach einem Monat stellte sie fest, dass sie schwanger war.

Abtreibungen waren damals verboten. Natürlich hätte sie mit einer Bescheinigung von der Miliz eine Genehmigung erwirken können, aber das wollte sie nicht. Sie erinnerte sich, dass der Täter jung, gesund und stark gewesen war. Alles andere war unwichtig. Es war ihre letzte Chance.

Ein Jahr lang glaubte niemand, dass der Junge überleben würde – er war zu früh geboren, noch dazu mit einer komplizierten Lungenkrankheit. Sie legte ihm Flaschen mit heißem Wasser ins Bettchen und trug ihn tagelang auf dem Arm. Auch später zitterte sie ein Leben lang um ihn, schützte ihn vor Durchzug und Feuchtigkeit.

Kleine Gegenstände konnte er verschlucken, schwere Gegenstände konnten ihm auf den Kopf fallen. Elektrische Leitungen und Steckdosen, ein kochender Teekessel, Schmutz unter den Fingernägeln, Türklinken in öffentlichen Gebäuden, Straßenbahnen, Autos, streunende Hunde, die Jungen auf dem Hof und in der Schule – alles war gefährlich, alles bedrohte seine Gesundheit und sein Leben. Diese Angst um sich sog er mit der Muttermilch ein.

Die Welt um ihn herum war grob und feindselig. Er konnte mit niemandem befreundet sein. Er wurde gehänselt: Fettklops, Memme. Von klein auf fühlte er sich furchtbar verletzlich. Vielleicht war seine Haut deshalb so empfindlich.

Die Handschuhe, die die Großmutter aus billiger Wolle strickte, kratzten, der Schaft der Filzstiefel scheuerte seine Waden durch die Hose hindurch blutig.

Dieser Schmerz war alles, was ihm von seiner Kindheit geblieben war. Schmerz und der brennende Wunsch, sich an allen zu rächen, die über ihn gelacht und ihn gehänselt hatten.

»Das sind keine Menschen, das sind Tiere«, flüsterte seine Mutter, wenn sie ihn nach einem Angriff Gleichaltriger auf dem Hof oder in der Schule tröstete. »Du bist ein Mensch, sie nicht. Du bist besser, klüger und stärker als sie, und das spüren sie, darum verfolgen sie dich, mein lieber Junge.«

Er spielte Aufklärer. Er war im feindlichen Hinterland, um ihn herum Faschisten, Unmenschen, die keine Gnade verdienten. Er allein war ein aufrechter, positiver sowjetischer Held.

 

»Dieser Junge ist tot«, murmelte der Wanderer und blies den Zigarettenrauch zum Fenster hinaus, »den empfindsamen Jungen mit der sensiblen Seele haben die Hominiden vernichtet.«

Er sah zur Uhr. Dann ließ er den Blick über die Fenster schweifen. Er hatte so geparkt, dass er das Haus des alten Lehrers im Blick hatte. Sobald die Straße still und leer war und das Licht im Fenster im dritten Stock erlosch, konnte er in Ruhe operieren.

 

Rodezki stand unter der Dusche und vernahm deutlich die hohe, brüchige Stimme der Oberstufenverantwortlichen: »Ich habe immer gewusst, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Diese uneigennützige Liebe zu den Kindern, die Nachhilfestunden zu Hause, seine Art, den Mädchen den Arm um die Schultern zu legen … Widerlich, ein untilgbarer Fleck auf dem Ruf unserer Schule.«

»Das ist natürlich unser Fehler, unsere Schande. Das wirft einen Schatten auf unser ganzes Kollektiv. Wie konnten wir das zulassen? Warum waren wir so unverzeihlich kurzsichtig?«, fiel die tiefe, harte Stimme der befehlsgewohnten Direktorin ein.

Rodezki verließ die Dusche, trocknete sich ab, zog seinen warmen alten Bademantel an und wischte den beschlagenen Spiegel ab. Ein verschreckter, müder alter Mann blickte ihm entgegen. Ein guter Name, Respekt, alles, was er sich in seinem langen ehrlichen Leben erarbeitet hatte, bedeutete ihm mehr als das bloße Leben.

Das Tagebuch lag noch immer im Schreibtisch. Komisch – Shenja hätte doch ihren Onkel bitten können, es mitzunehmen, zumal wenn sie ihm alles erzählt hatte und ihm absolut vertraute. Doch der Onkel hatte das Tagebuch gar nicht erwähnt.

Rodezki las die eng beschriebenen Seiten noch einmal, hin und wieder zuckte seine Hand mechanisch, um Fehler zu korrigieren.

Beim erneuten, ruhigen Lesen, ohne Herzklopfen und asthmatisches Keuchen, fiel ihm etwas auf. Das Mädchen erwähnte in ihren Aufzeichnungen alle, die ihr etwas bedeuteten. Den Vater, die Mutter, eine gewisse Maja, Ika, Stas und Mark, also den Pornographen Moloch. Den älteren Ausländer Nick, der ihr Geld gab. Aber nicht den älteren Bruder ihrer Mutter. Wenn der Onkel ihr tatsächlich so nahestand, dass sie ihm ihr furchtbares Geheimnis anvertraut hatte, warum tauchte er im Tagebuch nicht auf? Wenn er wirklich erst vor kurzem von einem langjährigen Auslandsaufenthalt zurückgekehrt war – musste das für sie nicht ein besonderes Ereignis gewesen sein?

Hör auf, du bist voreingenommen, sagte sich der alte Lehrer. Er hielt es einfach für seine Pflicht, dich zu warnen. Er hat mehrmals betont, er hege keine Zweifel an deiner Anständigkeit.

Er kommt mit seinem Wagen zum Park vor dem Kasino und gibt mir ein verabredetes Hupsignal: zweimal kurz, einmal lang.

Genau so hatte der Besucher an der Tür geklingelt.

 

»Hast du ein neues Handy?«, fragte Soja. »Hättest dir ruhig was Anständigeres kaufen können als so ein veraltetes Billigteil.«

Sazepa lag im breiten Ehebett, eine Brille auf der Nase und ein Buch in der Hand. Soja kam aus der Dusche, im Bademantel und mit cremeglänzendem Gesicht. An ihrem Finger baumelte Sazepas Reservehandy und dudelte leise Vivaldi.

»Geh endlich ran, Nikolai. Oder soll ich? Es klingelt schon seit zwanzig Minuten.«

»Nein!«

Viel zu hastig sprang Sazepa aus dem Bett, viel zu grob entriss er Soja den Apparat. Das Band, das sich Soja um den Finger gewickelt hatte, ließ sich nicht entwirren, er riss daran, und Soja verzog das Gesicht.

»Spinnst du? Willst du mir den Finger brechen?«

Sazepa lief ins Wohnzimmer. Der Apparat war verstummt, klingelte aber sofort erneut.

»Er ist noch nicht aufgetaucht«, verkündete eine Frauenstimme, »aber in der Wohnung ist ein etwa vierzehnjähriges Mädchen. Sie ist gerade gekommen, hat einen Schlüssel. Sie wurde mit einem dunkelblauen Mercedes gebracht. Sie ist betrunken oder high.«

»Wie sieht sie aus?«, flüsterte Sazepa und warf einen raschen Blick zur Tür.

»Klein und sehr dünn.«

»Geht’s nicht etwas genauer?« Er schluckte krampfhaft, Schweiß rann ihm von der Schläfe zum Kinn.

»Was genauer?«

»Na, über das Mädchen.«

»Ich sag doch, sie ist klein, dünn und hübsch. Dunkelrote enge Jeans, blaue Jacke. Kurze, rötliche Haare. Was wollen Sie noch wissen?«

»Nichts weiter. Alles in Ordnung.« Sazepa räusperte sich heiser.

»Sollen wir vielleicht hochgehen und mit dem Mädchen reden?«

»Nein. Noch nicht.«

»Gut, dann warten wir noch. Auf Wiederhören.«

»Moment! Ihr sagt, ihr habt ihn irgendwo in der Nähe des Kulturparks verloren. Wie ist das genau passiert?«

Die Frau holte tief Luft und schwieg. Sazepa tastete nach den Zigaretten auf dem Kaminsims. Seine Hände zitterten.

»Wir haben die Ausgänge bewacht und bis zur Schließung gewartet, aber es kam keiner durch, der auch nur entfernt so aussah wie er.«

»Idioten!«, blaffte Sazepa, unterbrach die Verbindung und wählte eine Nummer.

»Beruhige dich«, sagte eine Männerstimme, »sie haben getan, was sie konnten, er kann nicht weit sein. Wir wissen jetzt, wie er heißt, und observieren eine seiner Adressen. Früher oder später wird er dort auftauchen. Auf jeden Fall haben wir das Mädchen. Wenn sie ausgeschlafen hat, werden wir uns mal mit ihr unterhalten. Sie weiß bestimmt etwas.«

»Hast du die Meldungen über besondere Vorkommnisse im Park überprüft?«, fragte Sazepa.

»Nein. Wieso?«

»Ich weiß nicht. Sicherheitshalber.«

Er hatte gerade sein Handy zugeklappt, als seine Frau in einem durchsichtigen Nachthemd ins Zimmer schaute.

»Kommst du bald, Nikolai?«

»Ja, ja, gleich, Häschen.«

Soja kam majestätisch quer durch das Zimmer auf ihn zu und warf unterwegs einen Blick in den Spiegel. Sie hatte sich das Gesicht gewaschen, das Haar gekämmt und sich sogar parfümiert.

Seit Sazepa Shenja aus Rom ein Flakon mit Sojas Parfüm mitgebracht hatte, machte dieser Duft, der ihm früher gleichgültig gewesen war, ihn ganz verrückt.

Soja umfasste seine Schultern, sah ihm in die Augen, küsste ihn auf die Lippen und flüsterte: »Ich warte auf dich, Nikolai.«

»Ja, ja, gleich. Nur noch ein wichtiger Anruf.«

In Wirklichkeit musste er, bevor er zu ihr unter die Decke schlüpfte, ein chinesisches Präparat schlucken und einen Kognak trinken. Um kein Fiasko zu erleiden. Soja zauste sein Haar und entfernte sich ins Schlafzimmer.

»Pass bloß auf, sonst drehst du noch durch«, murmelte Sazepa, an sein Ebenbild im Spiegel über dem Kamin gewandt. Für ein paar Augenblicke verwandelte der sich plötzlich in eine Leinwand und zeigte nicht das Penthouse-Wohnzimmer, sondern das Schlafzimmer in Tscherjomuschki.

 

Der alte Signor und die junge Signorina sitzen auf dem zerwühlten Doppelbett. Sie hat die Arme um seinen Hals geschlungen, ihre kastanienbraunen Rastazöpfe zittern. Sie weint. Er schweigt und streichelt mechanisch ihre magere Schulter. Sein Blick gleitet langsam über die Wände.

Sie hat einen Schlüssel zu der Wohnung. Sie kann hundertmal ohne mich hier gewesen sein, mit sonstwem. Im Schlafzimmer eine Videokamera mit Einschaltautomatik zu installieren ist nicht weiter schwierig. Herauszufinden, dass ich kein Italiener bin, und meinen richtigen Namen zu ermitteln ist noch einfacher: Anhand meiner Autonummer; außerdem habe ich der Vermieterin in Tscherjomuschki meinen Ausweis gezeigt. Und es gibt genügend Leute, die uns zusammen gesehen haben – Kellner, Verkäufer in Boutiquen. Vielleicht hat sie mich ja auch in den Klub mitgenommen, um die Zahl der Zeugen zu erhöhen, und nicht zufällig plötzlich Russisch mit mir gesprochen. Woher will ich wissen, ob sie nicht meine Taschen durchwühlt und meinen Führerschein und meine Kreditkarten gesehen hat?

»Na, schon gut, Kleines, hör auf zu weinen. Ganz so viel kann ich dir nicht sofort geben. Ich muss nach Rom fliegen und zur Bank gehen. Aber das geht nicht so schnell. Ich habe in Moskau noch sehr viel zu tun. Ist denn schon alles weg, was du von mir bekommen hast?«

»Natürlich.« Sie schluchzte und rieb ihre Stirn an seiner Hand. »Du sagst doch selber, Moskau ist ein teures Pflaster.«

»Gut. Ich gebe dir zweitausend. Die übrigen acht besorge ich später.«

»Wann?«

»Das kann ich nicht genau sagen.«

»Verdammter Geizkragen!«, rief sie auf Russisch, sprang aus dem Bett und rannte ins Bad.

Allein im Schlafzimmer, entdeckte Sazepa mindestens ein halbes Dutzend Stellen, an denen eine Kamera versteckt sein könnte. Später, als das Mädchen schlief, saß er in der Küche, rauchte, blätterte in seinem Notizbuch und überlegte, an wen er sich in dieser delikaten Angelegenheit wenden könnte.

Vor allem wollte er herausfinden, ob dieser Mark tatsächlich existierte, und wenn ja, wie gefährlich er war, wer hinter ihm stand, ob er schon einmal jemanden erpresst hatte, ob er Kunden mit versteckter Kamera filmte und wer diese Kunden waren.

Er stieß auf die Nummer eines alten Freundes, eines ehemaligen Klassenkameraden. Matwej Groschew. Er war ein düsterer, verschlossener, aber sehr belesener Junge gewesen. Er wuchs ohne Vater auf, bei Mutter und Großmutter, war ziemlich dick und hatte deshalb schreckliche Komplexe. Er war mit niemandem befreundet und wurde in der Unterstufe oft gehänselt. Dann nahm er ab, in der achten Klasse wurde er männlicher und lernte, sich zu wehren.

Gleich nach der Schule begann Groschew ein Psychologiestudium. Er entdeckte, dass er Heilkräfte besaß, und praktizierte privat, behandelte Depressionen und sexuelle Störungen. Mit einigem Erfolg, bis er wegen eines Devisendelikts beinahe im Gefängnis landete. Einer seiner Kunden hatte ihn mit Dollars bezahlt, Groschew versuchte, sie schwarz zu tauschen, und wurde erwischt. Sazepa hatte ihm damals aus der Patsche geholfen.

Groschew war voller Energie, klug und gerissen und konnte einen guten Eindruck machen. Leute wie ihn hielt Sazepa sich möglichst warm, zumal wenn sie ihm einen Gefallen schuldeten. Wer weiß, wozu man sie mal gebrauchen konnte.

Eine Zeitlang war Groschew Verwalter in einem geschlossenen Gästehaus des ZK der KPdSU in der Nähe von Moskau gewesen. Danach war er Journalist, später persönlicher Referent eines Duma-Abgeordneten; er hatte mit Wählerstimmen gehandelt, mit Wodka, mit Immobilien und mit Nahrungsergänzungsmitteln. Seit sieben Jahren war er im Sicherheits- und Detektiv-Geschäft und leitete eine kleine Agentur.

Groschew war nie verheiratet gewesen und hatte keine Kinder. Seit dem Tod seiner Mutter lebte er allein. Wie sein Privatleben aussah, wusste Sazepa nicht, vermutete aber, dass auch er sein kleines Geheimnis hatte. Jedenfalls war Groschew ihm für die alte Geschichte mit den Devisen noch etwas schuldig.

Bevor Sazepa Groschew anrief, erwog er sorgfältig das Für und Wider. Angenommen, er gab Shenja das Geld und trennte sich von ihr. Wer garantierte ihm, dass die Sache damit erledigt war? Er konnte unmöglich mit dem Verdacht leben, dass irgendwer eine schmutzige Zeitbombe in der Hand hatte, eine Kassette, die Sazepa, einen Mann mit blütenreiner Weste und vorbildlichen Familienvater, mit einer Minderjährigen im Bett zeigte. Und wenn er an ihren Vater dachte und daran, mit was für Banditen er befreundet war …

Am nächsten Morgen um neun war Sazepa so weit. Nach einer Tasse Kaffee und einer Zigarette wählte er die bewusste Nummer.

Es war ein klares, sachliches Gespräch. Groschew stellte keine überflüssigen, taktlosen Fragen. Er bezifferte den Vorschuss, den er verlangte, fragte, unter welcher Nummer er Sazepa am besten erreichen konnte, und versprach, dass er seine Leute sofort darauf ansetzen werde.

Inzwischen waren zehn Tage vergangen. Groschews Leute hatten herausgefunden, dass dieser Mark tatsächlich existierte, Mark Chochlow hieß und im Internet unter dem Namen Moloch auftrat. Sie fanden einen Chatroom, wo er mit seinen Kunden verhandelte, Käufern von Kinderpornos. Sie begaben sich zu einem Treffpunkt, wo er sich mit einem Kunden verabredet hatte, erkannten ihn und hängten sich an ihn. Moloch bemerkte es und entwischte.

»Wir kriegen ihn«, sagte Groschew, »wir kochen ihn schon weich.«

 

»Und, hast du telefoniert?«, fragte seine Frau, als er ins Schlafzimmer zurückkehrte.

»Ja.«

»Ist etwas passiert?« Sie gähnte und schüttelte das Kissen auf.

»Nein. Alles in Ordnung.«

Sazepa legte sich neben sie.

»Du wirkst so angespannt, du solltest dich entspannen.«

Soja knöpfte langsam seine Pyjamajacke auf.

Sazepa schloss die Augen und stellte sich vor, dass Shenja neben ihm lag. Dabei half ihm der Duft, oder besser, dessen Echo, denn auf Sojas Haut roch das italienische Parfüm ganz anders.

 

Solowjow rannte den leeren Flur entlang, während in seinem Büro das Telefon klingelte. Er meinte, das müsse Olga sein, obwohl es kurz nach Mitternacht war und sie ihn um diese Zeit kaum an seinem Arbeitsplatz anrufen würde.

Ich werde sie auf jeden Fall morgen anrufen. Ich brauche ihre Hilfe. Ich will sie sehen. Sie fehlt mir, mein Gott, Olga fehlt mir wirklich sehr. Sie weiß bestimmt noch nicht, dass Moloch wieder gemordet hat, überlegte Solowjow und schloss sein Büro auf.

Er war von Lobow aus nicht nach Hause gefahren, sondern hierher. Zu Hause wartete der einsame, gekränkte Ganja. Wenn er nach Hause kam, würde er als Erstes mit dem Hund runtergehen müssen, und zwar nicht nur zehn Minuten, sondern eine ganze Stunde. Und dann in die Dusche und ins Bett.

Als er die Tür endlich geöffnet hatte, verstummte das Telefon. Die Nummer wurde nicht angezeigt. Solowjow schaltete den Computer ein. Nach einigen Minuten spuckte er die Daten von zwei Dutzend in Moskau registrierten Autobesitzern mit Namen Sazepa aus.

Solowjow starrte auf den Bildschirm. Ihn interessierte nur ein Sazepa: Nikolai, geboren 1946.

Dieser Sazepa war der Ehemann von Signora Soja, der Besitzerin des exklusiven Parfüms. Er fuhr einen dunkelblauen Peugeot-Sportwagen.

Solowjow blätterte in seinem Notizbuch und entdeckte, dass eben dieser Peugeot gegenüber von Shenjas Haus gestanden hatte. Der Fahrer hatte im Wagen gesessen, geraucht und am Telefon ein gewisses Häschen angeschwindelt, dass er im Büro auf einer Sitzung sei. Dieses Häschen war seine Frau Soja.

Und wenn Shenja zufällig in den Besitz des Parfüms gelangt war? Genau das würde Sazepa natürlich behaupten: »Ich kenne keine Shenja Katschalowa!«

Auf die Frage, warum er ausgerechnet vor deren Haus im Wagen gesessen hatte, würde er antworten: »Zufall. Ich brauchte eine Pause. Ich habe keine Ahnung, wer in diesem hässlichen Plattenbau wohnt.«

Er könnte eine Gegenüberstellung mit Katschalows junger Gattin Marina organisieren, die in ihm bestimmt den Professor für antike Geschichte Nicolo erkennen und sich sehr wundern würde, dass der Italiener akzentfrei Russisch sprach.

Doch was würde das bringen? Ein guter Anwalt würde diese Indizien zerpflücken wie nichts. Im Grunde waren es nicht einmal Indizien.

Also, Nikolai Sazepa. Einundsechzig Jahre alt. Lebt in Moskau. Vorstandschef der Aktiengesellschaft Media-Prim. Ein wohlhabender Mann. Nicht vorbestraft.

Auf der offiziellen Website von Media-Prim und auf einigen internen Seiten des Außenministeriums und der Steuerfahndung fand Solowjow nur karge und absolut sterile Informationen über den Mann. Der einzige dunkle Fleck in Sazepas ansonsten makellosem Lebenslauf war der Zeitraum zwischen 1993 und 1997. In diesen Jahren pflegte er eine enge Beziehung zu einem spektakulär berühmten Oligarchen, der inzwischen auf der Fahndungsliste von FSB und Interpol stand. Aber das hatte nichts mit Shenja Katschalowa zu tun.

Mit seinem Häschen Soja war Sazepa seit dreißig Jahren verheiratet. Sie hatten zwei Söhne und eine Enkelin. Olga ging in ihrem Täterprofil davon aus, dass Moloch allein lebte. Aber sie konnte sich natürlich irren. In Guschtschenkos Täterprofil hieß es, Moloch sei verheiratet, habe Kinder und möglicherweise Enkel.

Aber wenn Sazepa Moloch wäre, hätte er sich kaum am Tag nach dem Mord vor Shenjas Haus blicken lassen – das passte nicht zu seiner sonstigen Vorsicht.

Er wäre auch kaum mit dem Mädchen in einen Nachtklub gegangen, nicht einmal unter falschem Namen.

Das Parfüm, das Geld – das alles sprach für ein relativ dauerhaftes und enges Verhältnis zwischen Sazepa und Shenja.

Dass Sazepa sich mit Shenja getroffen und ihr Geld gegeben hatte, bewies jedoch noch nicht, dass er sie auch getötet haben könnte. Eher im Gegenteil. Er hing auf seine Weise an dem Mädchen – einer der vielen Humbert-Klone. Außerdem gab es in der gesamten Kriminalgeschichte noch keinen Serienmörder, der Millionär war. Und Sazepa war zweifellos Millionär. Er besaß ein Penthouse auf dem Kutusowski-Prospekt, eine Wohnung im Zentrum von Rom und baute gerade ein Haus an der teuren Rubljowka.

Solowjow stand auf und lief im Büro auf und ab. Aus dem Schränkchen am Fenster nahm er eine Büchse löslichen Kaffee, eine große Tasse und einen Tauchsieder.

Der Ex-Diplomat kriegt im Alter einen Rappel und verliebt sich unsterblich in ein minderjähriges Mädchen. Übrigens könnte er sich auch ihr gegenüber als italienischer Professor ausgegeben haben. Eine ausgezeichnete Tarnung. Aber eines Tages findet sie die Wahrheit heraus und fängt an, ihn zu erpressen. Er bekommt einen Schreck und erwürgt sie in Panik.

Aber Moloch plant seine Morde genau, packt vorher seine Ausrüstung ins Auto: Schere, Chirurgenhandschuhe, Babyöl, Taschenlampe oder Nachtsichtgerät. Das passt eher zu dem Sänger Vaselin und seinen sadistischen Songs. Maja glaubt, Vaselin sei der Vater von Shenjas Kind. Von Sazepa weiß sie nichts.

Was mache ich nun mit Ihnen, Herr Sazepa? Einen Bericht an meine Vorgesetzten schreiben? Blödsinn. Mit Leuten wie Ihnen befassen sich meine Vorgesetzten ausschließlich auf Weisung von oben. Auf eine Information von unten hin rührt man einen wie Sie nicht an. Ich weiß nicht, welche Sitten bei der jetzigen Nomenklatura da oben herrschen, aber ich befürchte, Ihr heimliches Verhältnis mit einem kleinen Mädchen würde dort keinen sonderlich schockieren.

Sazepa, ein angenehmer älterer Herr, sah Solowjow vom Bildschirm entgegen. Ein gebildeter, liberaler Beamter. Graues, elegant geschnittenes Haar, schwarze Augenbrauen, kräftiger, männlicher Unterkiefer, schmale, skeptische Lippen. Nur die Augen hatten nichts Beamtenhaftes; es waren Hundeaugen – klug und traurig.