Kapitel 16
Ethan packte Tess an der Hand, und Nash legte Kelly einen Arm um die Taille.
Der schwachen Beleuchtung zum Trotz konnte Nash deutlich den platinblonden Haarschopf von Leah Moss ausmachen. Sie sah Kelly ähnlich, wobei ihre Nase und ihr Kinn kantiger waren, während Kellys Züge weicher und freundlicher wirkten. Tess schien mehr nach ihrem Vater zu kommen als nach ihrer Mutter.
»Willst du mich nicht begrüßen?«, säuselte Leah, und ihre goldenen Armreifen klimperten, als sie die Arme nach Tess ausstreckte.
Nash sah zu seiner Halbschwester, die sich ängstlich an Ethans breiten Körper geschmiegt hatte. Der Anblick ihres blassen Gesichtes brach ihm fast das Herz. Tess starrte ihre Mutter an, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Sie reagierte nicht auf Leahs Aufforderung und erweckte auch nicht den Anschein, als hätte sie sie vermisst.
»Was willst du hier?«, fragte Kelly kühl, in einem Tonfall, den Nash noch nie von ihr gehört hatte.
Leah umklammerte ihre kleine silberne Handtasche etwas fester. »Ich wollte meine Mädels sehen. Ist das etwa ein Verbrechen?«
Ethan ging leicht in die Knie, sodass er auf Tess’ Augenhöhe war. »Möchtest du das denn?«, fragte er.
Die Kleine schüttelte energisch den Kopf.
Ethan erhob sich und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Dare, Faith, bringt Tess nach Hause«, befahl er.
»Tess, Baby, ich bin es doch, deine Mommy!«, rief Leah.
»Ach, jetzt plötzlich«, fauchte Kelly.
Schweigen. Faith und Dare streckten je eine Hand aus, und Tess ergriff sie hastig und ließ sich von den beiden wegführen.
Kelly wartete ab, bis ihre Schwester außer Hörweite war, dann sagte sie, zu ihrer Mutter gewandt: »Wie kannst du es wagen, hier ohne Vorwarnung aufzukreuzen und Tess derart in Aufruhr zu versetzen? Es war schon schlimm genug, dass du ohne ein Wort des Abschieds gegangen bist.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Das ist nicht fair, Kelly.«
Nash fand, Kellys Worte trafen den Nagel genau auf den Kopf.
Diese Frau wirkte gefühllos und kalt, genau wie der Wind, der unbarmherzig über den Parkplatz wehte.
Leah räusperte sich. »Roger Grayson hat mir gesagt, dass ihr mich gesucht habt.«
»Und du warst offensichtlich bereits ganz in der Nähe. Du hast uns hier aufgelauert und einen Fremden vorgeschickt, der Tess Angst eingejagt hat«, stellte Kelly entrüstet fest. »Einen Privatdetektiv, der allerlei schmutzige Details über deine eigene Tochter ans Licht bringen sollte.«
»Naja, du hattest deine Siebensachen gepackt und Manhattan den Rücken gekehrt«, klagte Leah. »Ich wollte wissen, was Sache ist, ehe ich euch wiedersehe.«
Kelly gab einen Laut von sich, der wie ein Lachen klang, doch Nash spürte den unendlichen Kummer, der sich dahinter verbarg. »Und bis jetzt hattest du die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal das Bedürfnis, mich zu kontaktieren und nachzufragen, wie es Tess geht?« Sie hob eine Augenbraue und musterte ihre Mutter mit kühler Miene und einem genauso kühlen Blick.
Man musste Leah immerhin zugutehalten, dass sie beschämt den Kopf senkte, ehe sie sagte: »Ich musste erst einmal mein Leben wieder auf die Reihe kriegen, ehe ich zurückkam.«
»Du meinst wohl, du musstest dir einen Mann suchen, der sich um dich kümmert. Wie ich höre, hast du wieder geheiratet. Bitte entschuldige, wenn ich dich nicht dazu beglückwünsche.«
»Ich kann nicht fassen, dass du dich nicht für mich freust.« Leah machte eine Schnute wie ein kleines Mädchen.
»Geh nach Hause, Mom«, sagte Kelly. Es klang erschöpft.
Ethan spähte über ihren Kopf hinweg zu Nash. Soeben hatten sie einen Einblick in eine Mutter-Tochter-Beziehung bekommen, in der die Rollen vertauscht waren.
Nash betrachtete Leah prüfend und versuchte nachzuvollziehen, was seinen Vater bewogen hatte, seine Familie mit ihr zu betrügen. Nashs Mutter war eine natürliche Schönheit gewesen, während Leah in ihrem eng geschnittenen roten Rüschenkleid sichtlich versuchte, die Aufmerksamkeit der Leute auf Körperteile zu lenken, die für Nash nicht so aussahen, als hätte der Herrgott sie geschaffen. Vielleicht hatte sie mit ihren künstlichen Reizen ja früher etwas hergemacht, aber viel war davon inzwischen nicht mehr übrig. Und von innerer Schönheit konnte man in Anbetracht des Verhaltens, das sie ihren Töchtern gegenüber an den Tag gelegt hatte, wohl auch kaum sprechen.
»Ich kann nicht nach Hause gehen«, beharrte Leah. »Erst müssen wir uns unterhalten.«
Kelly hätte sie ausgelacht, wenn die ganze Angelegenheit nicht so niederschmetternd gewesen wäre. Außerdem konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Dass ihre Mutter hier auftauchen würde, damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Dabei hätte sie es sich eigentlich denken können, als sie gehört hatte, in wessen Auftrag der Detektiv gekommen war.
Leah war impulsiv und egoistisch, und sie dachte nur an sich und ihr eigenes Wohl. »Was willst du?«, fragte Kelly erneut.
Sie wollte sie möglichst rasch wieder loswerden, nicht nur, weil sie selbst ihre Gegenwart kaum ertrug, sondern auch, um Nash und Ethan die Anwesenheit der Frau zu ersparen, die die Geliebte ihres Vaters gewesen war.
»Ich finde nicht, dass wir dieses Gespräch vor ihnen führen sollten.« Leah deutete auf die Brüder, ohne ihnen in die Augen zu sehen.
»Warum nicht?«, fragte Kelly. »Es geht hier schließlich nicht um mich, sondern um Tess. Und sie ist auch ihre Schwester. Oder hast du schon vergessen, dass du mit ihrem Vater geschlafen hast?«
»Kelly!«, rief Leah entsetzt und starrte sie mit offenem Mund an.
Kelly verdrehte die Augen. »Tu doch nicht so, als würdest du dich dafür schämen! Dafür ist es reichlich spät, nicht?«
Leah hob widerstrebend den Kopf und sah von Nash zu Ethan.
Einen Augenblick herrschte verlegenes Schweigen.
»Ihr habt beide das gute Aussehen eures Vaters geerbt«, sagte Leah schließlich.
Nash erwiderte nichts darauf, und auch Ethan starrte sie nur finster an.
»Kelly, bitte, wir müssen uns allein unterhalten.«
Kelly schüttelte verwirrt den Kopf. Sie wusste, dass ihre Mutter das Sorgerecht für Tess wollte, sie konnte sich bloß nicht erklären, weshalb. Warum hatte sie urplötzlich einen Mutterinstinkt entwickelt, und wie spielte ihr neuer Ehemann in die Sache mit hinein? Kelly konnte es kaum erwarten, es zu erfahren, aber sie würde den Teufel tun und das Wort Sorgerecht in den Mund nehmen, ehe Leah es tat.
»Nash und Ethan bleiben hier«, beharrte sie.
Nash lockerte demonstrativ die Schultern. »Wir gehen nirgendwohin.«
Ethan musste sich nicht weiter äußern; sein finsteres, entschlossenes Gesicht sagte alles.
»Euer Vater hat euch Jungs geliebt«, sagte Leah zu ihrer aller Verblüffung aus heiterem Himmel.
Kelly schnappte überrascht nach Luft und sah zu Nash, der zusammengezuckt war, aber nichts darauf erwiderte.
»Wenn ihr Vater sie so sehr geliebt hat, dann hätte er ihre Mutter nicht betrügen sollen«, knurrte Kelly.
Leah stampfte frustriert mit dem Fuß auf. »Darauf läuft immer alles hinaus, nicht?«
Bestimmt würde sie gleich explodieren. Kelly, die das oft genug miterlebt hatte, rüstete sich innerlich. »Worauf?«, fragte sie.
»Darauf, dass ich eine Affäre hatte. Du hast mich stets verachtet, weil ich mich mit Mark Barron eingelassen habe.«
»Weil er verheiratet war! Du hast wissentlich mit einem Mann geschlafen, der eine Frau und drei kleine Kinder hatte!«
Kelly registrierte vage, dass sich Nash und Ethan rechts und links von ihr aufgebaut hatten. Die ganze Situation war für die beiden genauso peinlich und unerquicklich wie für sie selbst.
Leah trat einen Schritt auf sie zu und fuchtelte ihr mit dem Zeigefinger vor der Nase herum. »Gott, was bist du nur für eine selbstgerechte Heuchlerin! Dabei warst du kein bisschen besser als ich, als du mit Ryan Hayward geschlafen hast«, zeterte sie.
Ihre Worte trafen Kelly wie ein Schlag ins Gesicht. »Ryan war damals bereits offiziell von seiner Frau getrennt«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. »Ich habe mir wohlweislich die Scheidungspapiere von ihm zeigen lassen, ehe ich eine Beziehung mit ihm eingegangen bin, weil ich auf gar keinen Fall so werden wollte wie du.« Sie zitterte vor Wut und Kränkung.
Ihre Mutter war damals noch bei ihnen gewesen, und sie hatte sich abgesetzt, noch während Kelly versucht hatte, das Ende der Affäre und den Kummer über Ryans Verrat zu verarbeiten. Nicht, dass sich Leah auch nur einen Deut um die Gefühle ihrer älteren Tochter geschert hätte. Sie interessierte sich ausschließlich für sich selbst.
Kelly wandte sich ab, weil sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Die Empörung schnürte ihr die Kehle zu und machte sie unfähig, auch nur ein weiteres Wort zu ihrer Verteidigung vorzubringen.
Leah dagegen hatte diesbezüglich kein Problem. »Wie kommt es, dass du dich dazu berufen fühlst, über mich zu urteilen? Du hast diesen Ryan doch nur kennengelernt, weil du für einen Escortservice gearbeitet hast! Und da machst du mir Vorhaltungen?«, kreischte sie hysterisch.
Kelly zuckte zusammen und sah von Leah zu Nash, der sie perplex anstarrte, als könnte er die gemeinen Anschuldigungen nicht glauben.
»Woher zum Geier weißt du das?«, fragte Kelly entsetzt.
»Escortservice?«, wiederholte Nash und straffte die Schultern, und in dieser Sekunde stürzte Kellys Welt in sich zusammen.
»Es ist nicht so schlimm, wie es klingt«, sagte Kelly, aber es kam ihr selbst vor wie eine lahme Ausrede.
»Es stand im Bericht des Privatdetektivs«, murmelte Leah, und es klang fast, als würde sie sich dafür schämen, dass sie diesen Weg eingeschlagen hatte, um Informationen über Kelly einzuholen.
Aber das machte jetzt auch keinen Unterschied mehr.
»Okay, das reicht«, sagte Ethan plötzlich. Er trat zu Leah, packte sie am Ellbogen und führte sie ein paar Schritte von der nach Luft ringenden Kelly weg.
»Sie haben kein Recht, so mit Ihrer Tochter zu sprechen. Kellys Situation ist mit der Ihren nicht zu vergleichen. Sie war das Opfer. Und keiner anständigen Mutter würde es einfallen, die schmerzliche Vergangenheit ihrer Tochter gegen sie zu verwenden. Sie haben gesagt, was Sie zu sagen hatten, und jetzt sollten Sie besser gehen.«
»Was zum Teufel soll das alles?«, fragte Nash. »Weiß Ethan irgendetwas, das ich nicht weiß?«
Kelly fühlte Übelkeit in sich aufsteigen, und ihre Knie wurden weich.
»Ich geh ja schon.« Leah schüttelte Ethans Hand ab. »Ich wollte nicht, dass es so läuft, Kelly. Ich hatte angenommen, dass du froh bist, wenn ich zurückkomme und Tess mitnehme, damit du wieder dein Leben leben kannst. Aber dann habe ich festgestellt, dass sie nicht einmal bei dir wohnt. Du hast sie an einen ihrer Halbbrüder weitergereicht, den sie gar nicht kennt.«
»So war es nicht!«, schrie Kelly sie an. Mittlerweile strömten ihr die Tränen über das Gesicht.
Sie hatte für Tess alles und noch mehr gegeben, bis ihr klar geworden war, dass sie Gefahr lief, ihre Schwester zu verlieren. Und sie hatte Tess nicht in Ethans Obhut übergeben, um sie loszuwerden, sondern weil er ihre letzte Hoffnung gewesen war, ein letzter Versuch, die Kleine zu retten.
»Nicht doch«, sagte Nash. Er legte ihr einen Arm um die Taille und drückte sie an sich. Doch Kelly spürte seine Verwirrung und wusste, wenn er erst alles über ihre Vergangenheit gehört hatte und – was noch schlimmer war – wenn er feststellte, dass sein Bruder bereits Bescheid wusste, dann würde er sich von ihr hintergangen fühlen, und damit war alles, was sie verband, zerstört.
»Ich wollte dir nicht wehtun, Kelly. Ich bin deine Mutter, und ich liebe dich. Ich wollte dir nur aufzeigen, dass du kein bisschen besser bist als ich, obwohl du mich so gnadenlos verurteilst.«
Kelly schüttelte den Kopf und hätte nichts lieber getan als ihr zu widersprechen, aber ihre Mutter hatte lediglich die Wahrheit gesagt. Eine Wahrheit, vor der Kelly lange davongelaufen war.
Leah fuhr fort, ohne zu ahnen, was in ihrer Tochter vorging. »Aber ich bin auch Tess’ Mutter, und ich will sie zurückhaben.« Sie straffte die Schultern in dem Versuch, möglichst drohend zu wirken. »Du hörst dann von meinem Anwalt.«
»Warum? Warum um alles in der Welt willst du Tess jetzt plötzlich?«, stieß Kelly hervor. »Du hast es doch gehasst, Mutter zu sein. Du warst keine Mutter.«
Leah wandte den Blick ab. »Mein Mann hat Geld. Glaub nicht, dass ich mich kampflos geschlagen gebe.« Damit wirbelte sie herum und marschierte über den Parkplatz zu ihrem Auto.
»Du wirst Tess nicht kriegen!«, schrie Kelly ihr nach. »Wir werden vor Gericht ziehen! Wir alle – Ethan, Nash, Dare und ich. Du hast es gar nicht verdient, ihre Mutter zu sein!« Sie zitterte wie Espenlaub.
Nash dirigierte sie zu Ethan, der soeben die Beifahrertür seines Jaguars öffnete, damit sie sich kurz setzen konnte.
»Beruhige dich«, sagte er rau. »Tief durchatmen.«
Kelly befolgte seinen Rat. Nach ein paar langen, kräftigen Atemzügen ließen ihre Wut und das Schwindelgefühl etwas nach. »Es geht schon wieder.«
»Wirklich?« Ethan betrachtete sie besorgt.
Nash hatte ihr eine tröstende Hand auf die Schulter gelegt.
»Ja. Tut mir leid, dass ihr da mit hineingezogen wurdet.«
Ethan schüttelte den Kopf. »Wir werden das schon irgendwie regeln. Ich bin sicher, sie hat genügend Leichen im Keller, die wir uns zunutze machen können. Tess geht nirgendwohin.«
»Genau«, pflichtete Nash ihm bei. »Ich kenne da jemanden, der ist genau der Richtige für solche Fälle. Ich rufe ihn gleich morgen früh an.«
»Gut. Der Detektiv, den ich damit beauftragt hatte, Leah aufzustöbern, hat ja leider versagt. Ihrer war schneller«, brummte Ethan missmutig.
»Wir müssen herausfinden, warum sie Tess will.« Kelly hatte das Gefühl, dass die Antwort auf diese Frage der Schlüssel war, der ihnen vor Gericht zum Erfolg verhelfen würde.
»Das werden wir«, versprach Nash.
Kelly sah zu Ethan hoch. »Du solltest nach Hause fahren; Tess ist bestimmt ziemlich verwirrt und geschockt.« Ihr ging es ja selbst nicht anders. »Soll ich mitkommen?«
»Ethan schafft das schon allein«, schaltete sich Nash ein. »Wir zwei müssen uns unterhalten.«
Kelly wurde übel, als sie spürte, wie sich der Griff seiner Hand auf ihrer Schulter verstärkte. Er war wie ausgewechselt. Von der Erregung, die ihn vorhin im Treppenhaus erfasst hatte, keine Spur mehr. Stattdessen lag Misstrauen in seinem Blick; ein Gefühl, das sie nie in ihm hatte wecken wollen.
»Ich weiß.« Sie schluckte schwer. »Ethan, glaubst du wirklich, dass du Tess beruhigen kannst?«
»Natürlich.« Er warf ihr einen bedauernden Blick zu. »Ich werde ihr auftragen, dich nachher mal anzurufen.«
»Danke.« Kelly erhob sich und schloss die Autotür.
Ethan verabschiedete sich mit einem Winken, dann kletterte er in seinen Jaguar, ließ den Motor an und brauste davon.
Nun war Kelly mit dem Mann, den sie liebte, allein.
Beim Anblick von Nashs argwöhnischer Miene wusste sie, warum sie ihn gebeten hatte, ihr kein Versprechen zu geben, das er nicht halten konnte. Wenn er von jemandem, den er gernhatte, enttäuscht wurde, dann wandte er sich vollkommen von diesem Menschen ab. Und sie wusste, das, was sie ihm zu sagen hatte, würde ihn enttäuschen. Es war verführerisch gewesen, zu hoffen, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Denn wie sie schon duch ihre Mutter und später dann auch durch Ryan gelernt hatte, konnte man sich auf niemanden verlassen. Ja, sie liebte Nash, und sie hatte geglaubt, sie hätten eine gemeinsame Zukunft, aber sie hatte sich etwas vorgemacht. Jetzt war es Zeit, sich ihm – und dem Ende – zu stellen.
Nash betrachtete Kelly mit gemischten Gefühlen. Er wusste, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sie mit Fragen zu bombardieren, aber er hatte keine andere Wahl.
Noch mehr Enthüllungen, noch mehr Geheimnisse. Nahm das denn überhaupt kein Ende mehr?
»Mein Bruder weiß etwas, das du mir bislang vorenthalten hast. Was ist es?«, fragte er.
»Ich erzähle dir gleich alles, aber ich muss mich hinsetzen.«
Nash sah sich um und erspähte auf einem Stück Rasen ganz in der Nähe eine Schaukel. »Komm mit.«
Sie folgte ihm zu dem großen Eisengestell und ließ sich auf einer der Schaukeln nieder.
Er lehnte sich, auf Distanz bedacht, an eine metallene Stütze und verschränkte die Arme vor der Brust. Wie er es hasste, nicht im Bilde zu sein! Und wie so oft – viel zu oft in letzter Zeit – war er offenbar der Einzige, der nicht Bescheid wusste.
»Also, wie war das mit dem Escortservice? Und warum wusste Ethan offensichtlich bereits davon?«, fragte er unwirsch. Er konnte nicht anders.
Kelly hielt den Kopf gesenkt und scharrte mit den Füßen im Kies. Sie wirkte schrecklich einsam und verloren, wie sie dort auf der Schaukel saß, aber Nash war im Augenblick nicht in der Lage, ihr Trost und Nähe zu spenden. Nicht, ehe er alles gehört hatte – und danach womöglich erst recht nicht mehr.
Sie umklammerte die Ketten, an denen die Schaukel befestigt war. »Du weißt ja bereits, dass ich nichts mit Männern zu tun haben will, die noch an ihrer Ex hängen. Das liegt daran, dass ich in Manhattan mit einem Mann namens Ryan Hayward zusammen war, der dort für eine große Investmentgesellschaft arbeitet.«
Nash wurde übel bei der Vorstellung, dass sie mit einem anderen im Bett gewesen war. Was natürlich lächerlich war in Anbetracht der Tatsache, dass er selbst verheiratet gewesen war. Aber seine Gefühle für sie waren so stark und lebendig, dass es ihm große Mühe bereitete, rational zu bleiben.
Trotzdem schaffte er es, zu schweigen.
»Ich habe Ryan … unter ganz speziellen Umständen kennengelernt. Eine meiner Freundinnen hat für einen Escortservice gearbeitet. Wir waren nach dem Studium beide hoch verschuldet, und sie hielt diesen Nebenjob für eine gute Möglichkeit, sich etwas dazuzuverdienen. Ich wollte nichts damit zu tun haben, aber eines Abends wurde sie plötzlich krank und hätte einen Auftrag sausen lassen müssen. Sie hatte Angst, dass man sie feuern würde, wenn sie so kurzfristig absagte, und sie hat mich angefleht, an ihrer Stelle hinzugehen. Sie hat mir versprochen, dass es nicht zum Sex kommen würde, also … habe ich mich breitschlagen lassen.« Kelly schlang die Arme um ihre Taille und schaukelte ein wenig vor und zurück.
Sie holte tief Luft, dann fuhr sie fort. »Es klingt viel schlimmer, als es tatsächlich war. Ich habe nicht gleich am ersten Abend mit ihm geschlafen, aber wir haben uns blendend verstanden. Er wollte mich wiedersehen, und er hatte mir auch schon von seiner zerrütteten Ehe erzählt. Ich habe Beweise dafür verlangt, dass er getrennt von seiner Frau lebte, und er hat sie mir vorgelegt. Ich dachte, es wäre nichts dabei, aber meine Mutter hatte recht; ich hätte mich nicht mit ihm einlassen sollen. Er hatte eine Familie, ein Kind. Ich hätte mich von ihm fernhalten sollen.« Sie brach abrupt ab und trat erneut nach dem Kies unter ihren Füßen, kräftiger diesmal.
Nash schwieg, damit sie sich sammeln konnte, ehe sie weitersprach.
»Um es kurz zu machen, nach etwa acht Monaten hat er seiner Ex einen Besuch abgestattet, um etwas mit ihr zu besprechen. Bei dem Treffen hat eins zum anderen geführt, er hat mit ihr geschlafen, sie wurde schwanger, und er ist wieder zu ihr gezogen. Er wollte es noch einmal mit ihr versuchen. Wegen der Kinder.«
Wieder versagte ihr die Stimme, und Nash schnitt eine Grimasse bei der Vorstellung, wie schmerzlich diese Erfahrung für sie gewesen sein musste. Kein Wunder, dass sie seine Avancen so hartnäckig abgewehrt hatte, in der Annahme, er würde Annie noch lieben.
»Aber es hat nichts genützt. Sie haben sich wieder getrennt, und beim zweiten Anlauf wurde das Scheidungsverfahren richtig ungemütlich. Seine Ex wirft ihm vor, er habe sich über einen Escortservice Sexpartner gesucht, und wer weiß, was sie noch alles zutage fördert, bis ich eine Vorladung erhalte und vor Gericht aussagen muss … Als ich gehört habe, dass der Typ, der Tess ausgefragt hat, ein Privatdetektiv ist, habe ich Panik bekommen. Ethan hat es bemerkt und wollte wissen, was los ist, also habe ich es ihm erzählt. Er weiß es erst seit heute Abend.« Sie sah zu ihm hoch, in ihren Augen ein flehender Blick. »Jetzt bist du bestimmt angewidert, oder?«, fragte sie zerknirscht.
»Gott, nein.« Nash schüttelte den Kopf. Er hätte niemals angewidert von ihr sein können. »Glaubst du wirklich, ich würde deswegen schlecht von dir denken?«
Kaum war es heraus, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Natürlich hatte sie das geglaubt, sonst hätte sie sich ihm anvertraut.
Kelly atmete erleichtert auf. »Gott sei Dank. Ich weiß, ich hätte es dir sagen sollen.«
Genau das war der Knackpunkt. Nash vergrub die Hände in den Jackentaschen. »Warum hast du es nicht getan?«
»Am Anfang war ich nicht sicher, wie du reagieren würdest. Und außerdem warst du die ganze Zeit so wütend. Auf Ethan. Auf Faith. Und als mir Annie zugeredet hat, ich soll es dir erzählen …«
»Annie wusste davon?«, stieß Nash überrascht hervor. »Meine Ex-Frau, mein älterer Bruder … wer hat es noch vor mir erfahren?« Groll über den neuerlichen Verrat an ihm stieg in ihm auf.
»Faith«, gab Kelly zu.
Nash spannte sämtliche Muskeln seines Körpers an und hob den Blick zum Himmel, während er darauf wartete, dass sich Wut in ihm breitmachte, rasend schnell, bis sie in seinem Kopf explodierte, doch nichts dergleichen geschah. Kellys Verrat machte das Kraut offenbar auch nicht mehr fett.
»Es tut mir leid«, unterbrach sie seine Gedankengänge.
Beim Anblick ihres tränenüberströmten Gesichts wurde ihm bewusst, dass sie nicht diejenige war, die sich entschuldigen musste. »Weißt du was? Das muss es nicht. Du bist mir keine Erklärung schuldig. Seit wann sind wir jetzt zusammen – ein paar Wochen? Einen Monat?«
Seltsamerweise fühlte es sich viel länger an.
Sie stand auf, nahm sein Gesicht in beide Hände und hob es ein wenig an, damit er ihr in die Augen sehen musste. Ihre Finger waren kalt. »Aber wir sind uns in dieser kurzen Zeit so nahegekommen, dass ich eines weiß: Ich liebe dich.«
Er fuhr erschrocken zurück, dabei hätten ihn ihre Worte nicht verwundern müssen – er empfand ja selbst erschreckend viel für sie. Und sie wirkte mit ihren von der Kälte geröteten Wangen und den feuchtglänzenden Augen verdammt sexy. Aber es war, als hätte sein Inneres auf Leerlauf geschaltet.
Er wollte nichts mehr fühlen – keine Zuneigung, und vor allem keine Enttäuschung mehr.
Er packte ihre Handgelenke und zwang sie, die Hände sinken zu lassen. »Du liebst mich nicht, Kelly. Wir hatten tollen Sex und eine Menge Spaß miteinander. Du warst für mich da, als meine Welt in sich zusammengestürzt ist, und dafür bin ich dir dankbar.« Kelly krümmte sich. Seine Stimme klang rau, wie Sandpapier, das ihr über die Haut rieb.
Ihre Unterlippe zitterte. »Bedeute ich dir denn gar nichts?«, fragte sie rundheraus.
»Doch, schon, natürlich, aber es ist noch viel zu früh, um von Liebe zu reden. Außerdem haben Menschen, die sich lieben, auch Vertrauen zueinander.« Wieder schob er die Hände in die Jackentaschen. Er musste sich bewusst davon abhalten, Kelly an sich zu ziehen und sie als Flucht vor seinem Kummer zu benutzen. Sie war zwar für ihn da gewesen, aber sie hatte es nicht gewagt, ihn in ihr Geheimnis einzuweihen, und diese Erkenntnis machte ihm schwer zu schaffen.
Er hatte sich nie seiner Verantwortung entzogen, hatte stets gedacht, er sei der Bruder gewesen, den Dare gebraucht hatte. Der Ehemann, den sich Annie gewünscht hatte. Ein Mann, den Kelly lieben konnte. Aber er hatte ganz offensichtlich keine Ahnung, was die Menschen, mit denen er sein Leben teilte, dachten.
Und er hatte auch keine Ahnung mehr, was er selbst denken sollte.
Tags darauf erwachte Nash schon in aller Herrgottsfrühe, und weil sich in ihm einiges an Frust und Energie aufgestaut hatte, machte er sich auf den Weg ins Y, das Fitnesscenter, in dem er trainierte.
»Hi, Nash«, begrüßte ihn die junge Frau hinter dem Empfangstresen.
»Morgen, Erin. Wie geht’s?«
»Ganz gut.«
Er hielt ihr seine Mitgliedskarte hin, und sie zog sie durch den Scanner. »Viel Spaß beim Trainieren.«
»Danke.«
Sie schenkte ihm ein breites Lächeln, das eine offene Einladung darstellte, hätte er denn Interesse gehabt. Hatte er aber nicht. Seine Gedanken kreisten nur um eine Frau. Er nickte und wandte sich zum Gehen.
Eigentlich hätte er jetzt mit Kelly auf dem Weg zu einer Frühstückspension in Rockport, Massachusetts sein sollen. Stattdessen waren all seine Hoffnungen auf eine Zukunft mit ihr zerstört. Keiner von ihnen hatte gestern Abend den Wochenend-Trip auch nur mit einem Wort erwähnt. Jetzt war ja wohl kaum der richtige Zeitpunkt dafür, nachdem sich ein Sorgerechtsstreit um Tess anbahnte. Aber nach der Auseinandersetzung und seiner Feststellung, es sei noch zu früh, um von Liebe zu sprechen, hatte Kelly bestimmt auch so begriffen, dass der Ausflug ins Wasser gefallen war.
Nach einer halben Stunde Gewichtheben wischte er sich mit einem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht und überlegte, ob er als Nächstes das Laufband oder lieber den Stepper ansteuern sollte, da registrierte er, wie sich jemand neben ihm postierte.
»Hey.«
Nash spähte zu seinem Bruder hoch. »Ich dachte, du hast in deiner Villa einen gut ausgestatteten Kraftraum?«
»Es wurden noch nicht alle Geräte geliefert. Außerdem ist es hin und wieder ganz schön, ein bisschen unter die Leute zu kommen.« Ethan schlug mit dem Handtuch nach Nash, wie früher, als sie noch klein gewesen waren. »Alles okay?«
Nash stöhnte. »Nein.«
»Willst du drüber reden?«
Nash musterte ihn. Er hatte angenommen, er würde sich eher die Zunge abbeißen als seinem großen Bruder sein Herz auszuschütten. Falsch gedacht. »Ja, will ich.«
Ethan ließ sich auf eine leere Bank plumpsen, und Nash setzte sich neben ihn.
Er starrte auf seine Hände und wusste nicht, wo er anfangen sollte. »Als du uns verlassen hast, habe ich deine Rolle übernommen. Ich hatte keine andere Wahl. Ich habe mich für Dare verantwortlich gefühlt. Und wir standen uns immer nahe, oder jedenfalls dachte ich das. Er war immer mit von der Partie, wenn ich mit meinen Freunden unterwegs war, und ich hatte nichts dagegen.« Nash zuckte die Achseln. »Er hat nie auch nur mit einem Wort angedeutet, warum er bei den Garcias gelebt hat und nicht bei den Rossmans.«
»Vielleicht musste er selbst erst einmal mit der Situation klarkommen.«
Nash sah ihn an. »Mit fünfzehn? Ich habe eher den Eindruck, dass er Angst hatte, sich mir anzuvertrauen.« Er fragte sich, ob Dare Ethan eingeweiht hätte, wenn dieser damals zur Stelle gewesen wäre.
»Du kannst nicht wissen, was damals in ihm vorging.«
»Und was ist mit Annie? Wir waren seit unserem sechzehnten Lebensjahr unzertrennlich. Dass sie in der Ehe unglücklich war, habe ich erst erfahren, als sie die Scheidung verlangt hat. Sie hat es auch nicht gewagt, mit mir zu reden.«
»Es ist vermutlich nicht einfach, einem Menschen, den man liebt, zu sagen, dass man unglücklich ist«, gab Ethan zu bedenken.
»Unser Schwesterherz hat mir anfangs auch nicht über den Weg getraut.«
»Das war doch bloß ihr Beschützerinstinkt, weil ich der Erste war, der einen guten Draht zu ihr hatte.«
Nash hob eine Augenbraue. »Und welche Ausrede hast du für Kelly parat? Wie erklärst du dir, dass eine Frau, mit der ich geschlafen habe, das Gefühl hat, sie könnte mit ihren Problemen und ihrer Vergangenheit nicht zu mir kommen?«
Ethan stützte die Ellbogen auf den Knien auf und schnaubte. »Seit ich vor zehn Jahren abgehauen bin, hast du eben einen kleinen Knacks. Ich werde keine weiteren ›Ausreden‹ vorbringen oder mich noch einmal dafür entschuldigen. Ich konstatiere nur die Fakten: Du bist loyal. Jeder in der Familie weiß, dass man sich auf dich verlassen kann …«
»Aber?« Nash wollte die Wahrheit hören; wenn es sein musste, sogar von Ethan.
Nein, vor allem von ihm. Ethan war zehn Jahre weg gewesen. Er war möglicherweise der Einzige, der vollkommen objektiv war. Der Einzige, der ihm vorurteilsfrei und geradeheraus sagen konnte, was Sache war.
»Aber du bist eine ganz schön harte Nuss, und du wirkst auf den ersten Blick steif, verkrampft und unflexibel. Du erweckst nach außen den Eindruck, als wäre für dich alles schwarz oder weiß. Als gäbe es bei dir keine Grauschattierungen.«
Nash biss die Zähne zusammen. »Das musst du mir etwas genauer erklären.«
»Nun, ich war für dich ein Mistkerl, weil ich untergetaucht bin. Was mich dazu bewogen hatte, war dir egal. Kelly war dir suspekt, weil sie ihre Schwester einfach bei mir abgeladen hat. Du hast sie für ein herzloses Monster gehalten, aber inzwischen hast du deine Meinung ja geändert. Und Annie ist krank, also ist sie in deinen Augen auf Hilfe angewiesen, dabei hat sie dir unzählige Male gesagt, dass sie unabhängig sein und nicht von dir bemuttert werden will. Entweder es läuft nach deinen Vorstellungen, oder es läuft gar nicht …« Ethan schüttelte den Kopf. »Puh, ist gar nicht so leicht, dir das alles reinzudrücken.«
»Ich habe dich ja darum gebeten«, brummte Nash. Und genau aus diesem Grund hörte er ganz genau zu und versuchte zu verstehen, was sein großer Bruder ihm sagen wollte.
»Und Kelly?« Er ballte die Fäuste.
Ethan lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Sie sagte, erst hätte sie gehofft, dass sich das Problem in Luft auflösen würde, und bis sie sich dazu durchgerungen hatte, dir davon zu erzählen, war die Sache mit Dare und den Rossmans ans Licht gekommen, und sie wollte dir nicht noch mehr Probleme aufhalsen. Aber nicht einmal Faith war sich sicher, wie du reagieren würdest, als ihr Kelly die Geschichte erzählt hatte.«
Nash ächzte. An Stoff zum Nachdenken würde es ihm in nächster Zeit wohl nicht mangeln. Er hatte die Wahrheit hören wollen, und Ethan hatte sie ihm mit schonungsloser Offenheit dargelegt. Dafür war er ihm zweifellos etwas schuldig. Ihm war gar nicht klar gewesen, was für ein komplizierter Mensch er geworden war.
»Sie hat gesagt, dass sie mich liebt«, berichtete er Ethan zu seiner eigenen Überraschung, und ihm wurde ganz warm ums Herz bei der Erinnerung an ihre unerwartete Liebeserklärung. Eigentlich hätte er am liebsten alle Probleme links liegen gelassen und ihr gesagt, dass er sie ebenfalls liebte. Aber die Enttäuschung über ihr mangelndes Vertrauen in ihn war stärker gewesen. Er hatte sie in denselben Topf geworfen wie alle anderen Menschen, die es nicht gewagt hatten, ihm die Wahrheit zu sagen.
Für ihn war tatsächlich alles schwarz oder weiß, genau wie Ethan es ihm auf den Kopf zugesagt hatte.
»Darf ich wissen, wie du darauf reagiert hast?«, fragte Ethan.
Nash zog den Kopf ein. »Ich habe ihr gesagt, dass wir zwar unseren Spaß miteinander hatten, es aber noch zu früh ist, um von Liebe zu reden.«
Sein Bruder erhob sich kopfschüttelnd. »Ganz toll«, brummte er und klopfte Nash auf den Rücken. »Soll ich dir mal sagen, was ich glaube?«
Nash antwortete nicht.
»Ich glaube, du solltest nach Hause fahren und dir gut überlegen, was genau du für diese Frau empfindest. Wenn es nämlich das ist, was ich denke, dann bleibt dir nur noch ein verdammt kleines Zeitfenster, um alles wieder in Ordnung zu bringen.«
Weise Worte. Dummerweise hatte Nash jedoch keine Ahnung, wie ihm das gelingen sollte.