Pedrillo
oder
Zwischenspiel über Ressentiment

In Wielands heiter verspieltem Roman Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva, in erster Fassung 1764 und in einer Ausgabe letzter Hand 1795 im Rahmen der von Göschen publizierten Werkausgabe erschienen, erlebt ein junger Mann in Spanien allerhand Geschichten mit Feen und Zauberern, die sämtlich in seinem Kopf stattfinden, so ähnlich, wie im Don Quijote ein alter Knabe allerhand Geschichten mit Rittern und Ungeheuern erlebt. Was dem einen Don sein Sancho Pansa, ist dem anderen sein Pedrillo. Nur mit dem Unterschied, dass Sancho Pansa im Laufe der Begebenheiten nicht nur an Leibesfülle, sondern auch an persönlichem wie literarischem Format zunimmt, während Pedrillo der lustige Luftspringer bleibt, der er von Anfang an war. Wie in der Oper das Buffo-Paar, soll er für Erholung zwischen den Belehrungen sorgen und sich nach hochgestimmten Passagen am Kopf (oder weiter unten) kratzen. Das Publikum ergötzt sich immer an den Pedrillos, macht sich aber nie mit ihnen gemein. So ist es in der Wirklichkeit, und so ist es im Roman, erläutert der Erzähler: »Pedrillo kommt also oder geht, plaudert oder schweigt, ist geschäftig oder müßig oder gar unsichtbar, je nachdem es die Natur seines Dienstes oder sein Verhältnis gegen seinen Herrn mit sich bringt. Da er ihn auf seiner wundervollen [= wunderbaren] Wanderschaft begleitete, so hatte er das Recht zu plaudern, wie und was er wollte, so lange Don Sylvio keine bessere Gesellschaft hatte; und er tritt ab und zieht sich in die Lakaien-Stube […] zurück, so bald sein Herr bessere Gesellschaft hat.«

War Seume nicht von seinem Herrn, General Igelström, wie ein »vertrauter Freund« ans Bett gerufen worden, als man ihn brauchte, und später in Riga, als man ihn nicht mehr brauchte, im Vorzimmer stehen gelassen worden? Durfte Seume nicht in Leipzig Ellbogen an Ellbogen mit Söhnen aus besserem Haus die Schulbank drücken und wurde daheim beim Rektor Martini doch von der Magd verköstigt?

Die Pedrillos in den Romanen und die Papagenos auf der Opernbühne spüren die Demütigungen nicht, die ihnen zugefügt werden, und dürfen sie nicht spüren, das wäre dem höheren Publikum zu rebellisch. Wenn man im wirklichen Leben in die »Lakaien-Stube zurück geschickt« wird, fühlt sich die Sache anders an. Es senkt sich ein Stachel in die Seele, der nur schwer wieder herauszuziehen ist.

Ressentiments haben immer die Schwachen: Ressentiments hat der kleine Mann angesichts des Großen, hat der Bürger im Vorzimmer des Edelmanns, der Hofmeister in der aristokratischen Kinderstube, der gemeine Soldat ohne Aussicht aufs Offizierspatent, der ränzeltragende Wirtshauswanderer mit höheren geistigen Ansprüchen, der zweitrangige Schriftsteller bei Audienz im Weimarer Olymp, der Korrektur lesende Handlanger im Umgang mit der betreuten Koryphäe, der Fußgänger beim Beiseitespringen vor heranpreschenden Herrenreitern, der chancenlos in reiche Mädchen verliebte Habenichts, der todkrank um sein Leben schreibende Autor.

Seume hat sich in allen diesen Rollen gefunden, präziser müsste es heißen: verloren. Und aus allen hat er sich wieder herausgewunden, nur aus der letzten nicht. Vor dem »Mörder aller Leute«, wie einst der »Ackermann aus Böhmen« dem »Schnitter Tod« fluchte, hat jeder Ressentiment, der noch ein bißchen leben will – doch entkommt ihm keiner. Seume hat gern so getan, besonders, wenn er gerade unglücklich verliebt war, als wäre der Tod ein Freund, dem man erschöpft in die Arme sinkt, wenn man nicht mehr weiterweiß und kaum noch weiterkann. Aber das war Theorie – oder Poesie, und schlecht gereimte noch dazu.

Glückliche Menschen leiden selten an den sogenannten Verhältnissen, mögen diese Verhältnisse auch nicht aufs Beste bestellt sein. Erst wen die Lebensumstände unglücklich machen, ergreift das Leid; erst wen das Dasein glücklos lässt, drückt der Jammer nieder. Mit den dramatisch Unglücklichen haben die Glücksbegabten gerne Mitleid, denn wer kann schon etwas für sein Schicksal. Die gewöhnlichen Glücklosen indessen werden beargwöhnt, um sie herum liegt immer der Verdacht in der Luft, sie seien selber schuld – an sich, an dem, was ihnen fehlt, und daran, wie sie sich immerzu haben und wie sie sich geben.

Sagt ein Glückloser und Unfroher seine Meinung über glücklose Verhältnisse, lässt sich die unfrohe Botschaft leicht mit der Unterstellung desavouieren, sie resultiere aus dem unguten Naturell dessen, der die schlechte Botschaft bringt. Aber diese Anlastung von Ressentiments hat selber welche. Und eine Wahrheit, die ein bitterer Mund sagt, wird dadurch nicht zur Lüge.

Seume war mit dieser psychologisch-politischen Gefechtslage bestens vertraut. In seiner Rezension von Garlieb Merkels Letten schrieb er:

»Dem guten Mann Merkel wünsche ich aus Freundschaft für ihn, und noch mehr aus allgemeiner Menschenfreundschaft, vorzüglich ein immer stetes festes Wohlbefinden, ununterbrochen durch Verdruss, Grille und Misslaune; damit nicht seine und seiner Sache Feinde den Prätext nehmen, ihn zu beschuldigen: die Hypochondrie habe aus ihm gesprochen. Dieser Gedanke sollte ihn doppelt aufmerksam auf sich selbst machen. Sie wissen, wie sehr man geneigt ist, die Person mit der Sache zu vermengen, wie sehr man zumal bei Punkten dieser Art das Publikum mit Glaukomen und Sophismen zu bestricken sucht.«

Seume schickte die Rezension an Böttiger, der damals Wielands Neuen Teutschen Merkur redigierte. Böttiger schien die Sache und vor allem die Sprache zu heiß zu sein, denn sie prangerte die Lebensverhältnisse der Bauern in den baltischen Staaten, in Russland und in manchen deutschen Fürstentümern als sklavisch an. Merkel wiederum glaubte, der Artikel würde sich nachteilig für Seume selbst auswirken. Der Text blieb unveröffentlicht. Seume bedauerte das in einem Brief an Böttiger, doch wurden durch den Vorgang die Freundschaft mit Merkel und die guten Beziehungen zu Böttiger nicht belastet. Auch in einem Brief an Gleim – in ebenjenem, in dem er dessen Vorschlag ablehnte, in Preußischen Dienst zu treten – äußerte er sich über Merkel:

»Von diesem wünsche ich vorzüglich, dass er sich wohl befindet; denn sonst sagen seine und seiner Sache Feinde, der Mann habe alles aus Hypochondrie getan. Seine Letten sind ihm gewiss bekannt. […] Merkel zeigte mir seine Papiere und fragte mich um Rat. […] Ich teilte ihm noch einige kleine Bemerkungen mit und sagte: wenn Sie Mut haben in das Wespennest zu stoßen, so ist das brav: aber es kann Ihnen Ihr Vaterland kosten. Darauf war er gefasst. Sein Supplement ist ziemlich heftig und persönlich, aber auch wahr und gerecht.«

Die Entwertung einer politischen Position durch die soziale Position dessen, der sie vertritt, kann aber nicht nur dem Benachteiligten zu schaffen machen, der seine Unzufriedenheit äußert, sondern auch dem Bevorzugten, der, selbst zufrieden, aber gar nicht unbedingt selbstzufrieden, sich mit der Unzufriedenheit des Gegenübers konfrontiert sieht. Münchhausen hat das erleben müssen, auch bei manchem Brief, in dem Seume aristokratische Privilegien kritisierte, wohl wissend, dass er damit den Empfänger, der über ebendiese verfügte, am Zopf zog oder ernsthaft verärgerte. Über die Jahre, die zwischen der Trennung bei der Rückschiffung nach Europa und der lyrischen Kontaktaufnahme durch Münchhausen vergingen, schrieb Münchhausen in seinem Rückblick auf verlebte Tage: »War er tot oder hatte er mich vergessen? […] War er ein wichtiger Mann geworden und der gewesene Fähnrich [also Münchhausen] ihm zu wenig, oder konnte der Bauernsohn dem Ritter keine Freundschaft erwidern – ?? Das eine war schlimmer als das andere. Es gibt solcher Menschen nicht wenige, die zwar nicht eben den Mann, aber doch den Stand hassen. […] War etwa auch Seume einer von diesen gewesen?«

Als Münchhausen sich in seinen Memoiren an diese Zeit der Fragen erinnerte, war Seume schon lange gestorben. Trotzdem kannte er dessen posthum veröffentlichtes Mein Leben noch nicht. Erst im Juli 1835, ein Vierteljahrhundert nach Seumes Tod und am Ende seines eigenen Lebens, reimte sich Münchhausen nach der Lektüre von Seumes Halbautobiographie erbittert eine Abrechnung zusammen.

Nach einer persönlichen Kränkung kehren stets die sozialen Ressentiments zurück. Die Sympathie hat sie nicht beseitigt, nur überdeckt, und nach deren Erlöschen kommen sie wieder zum Vorschein, trotz all der vergangenen Jahrzehnte frisch wie am ersten Tag. Münchhausens Gedicht ist wie ein Strick, zum Zerreißen gespannt zwischen dem »entlaufenen Studenten« am Anfang und dem »Edelmann« am Ende: »Da les’ ich von einem verloff’nen Studenten,/Sogar von einem der Theologie –,/Verflickt mit Hochmut zu hundert Prozenten –/Die lumpigste Lügen-Biographie. […] Ich trank mit ihm aus einem Becher,/Ich aß mit ihm von einem Brot,/Und teilte mit dem – Lügen-Sprecher –/Was mir das karge Schicksal bot./Ich nahm ihn auf in meinem Zelte/Ich lud ihn in mein Winter-Haus,/Und wenn der Hund des Mangels bellte,/Da half ich ihm wie Bruder aus.«

Erwiesene Wohltaten sind wie Leichen im Keller – der Seele von jenen, die sie erhalten, wie derjenigen, die sie gewähren. »Nein, bei der Bowl’ am Scheide-Mahle/Was war’s wohl, was er da geweint?/War’s Trug, wie bei Graf Hohenthale?/Der’s auch so treu als ich gemeint? […] Nichts hat er, nichts von dem vollendet,/Was er beim Abschied mir verhieß,/Nicht eine Zeile mir gesendet,/der mich zehn Jahre suchen ließ! […] Doch da nach Jahren mir’s gelungen,/Dass ich ihn endlich aufgespürt,/Was hat ich Großes mir errungen?/Ein Markt-Vieh, das zum Trog man führt.«

Ressentiments sind Kapseln zum Speichern von Hassenergie. Wird diese Energie freigesetzt, schärft das Verletzungsverlangen die Beobachtungsgabe wie die des Jägers auf der Pirsch nach dem Wild. Aber der Jäger selbst hinterlässt auch Spuren. Der Rittergutbesitzer wirft dem Bauernsohn vor, ein Markt-Vieh zu sein, sich mit seiner Ware, den Worten, feilbieten zu müssen, während er selbst, ganz aristokratisch, Leute hat, die für ihn arbeiten und das Erarbeitete für ihn auf den Markt bringen. »Jetzt – nach dem Semis vom Jahrhundert [dem halben Jahrhundert seit der ersten Begegnung zwischen den beiden]/Les ich die Lüg-Biographie –/Da hab ich fast mich tot gewundert/Ob Hochmut und Demagogie.//Die Data sämtlich ganz erlogen,/Die noch dazu er plump ersann;//So hat er seinen Freund betrogen,/Der war ihm nichts als – Edelmann!!«

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben
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