Wenige Tage nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges geboren und deshalb vom Vater mit dem Namen Gottfried geschmückt, lebte Seume in kriegerischer Zeit. Sie war global durch die merkantile und militärische Konkurrenz zwischen England und Frankreich geprägt und lokal, in Mitteleuropa, durch den deutschen Konflikt zwischen dem Emporkömmling Preußen und dem saturierten Reich des Hauses Habsburg. Mit Napoleons Aufstieg und seiner nationalen Mobilisierung der Massen zu Eroberungsfeldzügen begann eine neue Epoche der Kriegführung.
Seume hatte an allen Fronten zu tun, aber an keiner zu kämpfen. In Neuschottland waren die Kriegshandlungen vorüber, als er mit anderem menschlichen Nachschubmaterial dort angeliefert wurde. Den preußischen Zwangsdienst leistete er in der Garnison. In russischem Dienst überlebte er eine Revolte, knapp und mit viel Glück, aber ohne töten zu müssen und trotz seiner Gefangenschaft ohne verletzt zu werden. Den Aufstieg Napoleons beklagte er, konnte ihn aber publizistisch kaum und militärisch gar nicht bekämpfen,
Noch im Januar 1810, wenige Monate vor seinem Tod, bezeichnete Seume sich in einem Brief an Wieland als »militärisch literärisches Amphibion«. Dazu bemerken Göschen und Clodius in der Fortsetzung von Mein Leben: »Man kann nicht mit Gewissheit entscheiden, ob die Natur Seumen mehr Anlage zum Militärstande oder für die Wissenschaften gegeben habe.« Dennoch treffen die beiden eine Entscheidung, wenn auch ohne Gewissheit: Weil Seume zur militärischen Mathematik kein Talent gehabt habe, sei er eher ein Mann der Philosophie und Philologie. So wurde der soldatische Nichtkämpfer posthum des militärischen Feldes verwiesen – zur Feder.
Kampflos in der Neuen Welt
Der Kampf um die Neue Welt wurde zwischen England und Frankreich geführt und zog sich Jahrzehnte hin. Aus globaler Perspektive war sogar der Siebenjährige Krieg von 1756 bis 1763, der mit dem Aufstieg Preußens zur mitteleuropäischen Großmacht endete, eine Nebenhandlung – wenn auch keine unwichtige. »Kanada wird in Schlesien gewonnen«, soll der englische Premier William Pitt gesagt haben, als es um die Subsidien ging, die Pitt im Parlament für Friedrich erwirkte. Der preußische König sollte mit dem Raub Schlesiens die Franzosen auf dem Kontinent beschäftigen und dort militärische Kräfte binden, die ihnen dann in Übersee fehlten.
Diese Konstellation, die im preußisch-deutschen Geschichtsprovinzialismus mit ihrer friderizianischen Fixierung bis heute gern ausgeblendet wird, hatten damals alle Gebildeten klar vor Augen, auch der König selbst. In der Rechtfertigung meines politischen Verhaltens vom Juli 1757 schrieb Friedrich während einer für Preußen äußerst kritischen Phase des Krieges: »Jedermann weiß, dass die Wirren, die Europa aufwühlen, ihren Anfang in Amerika genommen haben, dass der zwischen Engländern und Franzosen ausgebrochene Streit um den Stockfischfang und um einige unbebaute Gebiete in Kanada den Anstoß zu dem blutigen Kriege gegeben hat, der unseren Erdteil in Trauer versetzt.«
Obwohl der verächtliche Hinweis auf Fischfang und Handelsinteressen die Tatsache überspielen soll, dass die Schlesischen Kriege nicht zwangsläufig aus der Weltlage entstanden, sondern durch Friedrichs Willkür veranlasst worden sind, bleibt der Hinweis auf die Gesamtkonstellation doch richtig. Und so blieben, als England seine Ziele erreicht hatte und Pitt 1761 stürzte, auch die britischen Subsidien für die preußische Kriegsführung aus.
Die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung führte schließlich dazu, dass die Arrangements, die England mit Frankreich in Kanada getroffen hatte, die dreizehn Kolonien auf den Plan rief, denen es nicht bloß um Tee und Steuern in den eigenen Häfen, sondern auch um die Expansion über ihre bisherigen Grenzen ging. Das Ausklingen der Kampfhandlungen in der letzten Phase des Unabhängigkeitskrieges 1782 – der eigentliche Friedensvertrag wurde am 3. September 1783 in Paris unterzeichnet – bewirkte, dass die 1782 vom europäischen Festland nach Halifax verschifften Söldner zurückverfrachtet wurden, ohne gekämpft zu haben. Seume, einer von ihnen, hat viele Jahre später in der Vorrede zu seiner Übersetzung von Robert Percivals Beschreibung des Vorgebirges der Guten Hoffnung den Kettenschluss der britischen Übersee-Interessen drastisch vorgeführt:
»Unser Mann [Percival] sagt ohne Scheu geradezu, wenn wir das Vorgebirge haben, beherrschen wir den Handel Indiens, folglich den Handel der Welt, folglich – die Folgen sind alle klar. Das ist echt britisch; Britannia, rule the waves, und durch die Wogen mache den Erdball zinsbar! Freilich kann ein Brite nicht wünschen, dass das Kap in den Händen der Franzosen bleibe, […] aber ob irgend eine andere Nation zu wünschen Ursache habe, dass es in den Händen der Engländer sei, ist eine andere Frage.«
Als Seume sich noch nicht an seinem Leipziger Schreibtisch über die Analyse der Weltlage beugte, sondern selbst in dieser Welt herumgeschubst wurde, musste er sich ganz andere Gedanken machen: Wo bekommt man sauberes Wasser her? Wie stellt man Zelte so auf, dass sie nicht vom ersten Windstoß gleich wieder umgeblasen werden? Wie lernt man die wichtigsten Bewegungsabläufe beim Exerzieren und wie bringt man sie, falls man auf einmal Sergeant wird, den anderen frischgebackenen (frischgepresst wäre der genauere Ausdruck) Soldaten bei? Wie organisiert, verwaltet und verteilt man die knappen Lebensmittel, falls man Fourier, also Quartiermeister, wird? Wie teilt man seinen Tagesablauf ein, falls man auch noch Regimentsschreiber wird?
»Ich tat abwechselnd Dienste, nach dem Behuf, als Korporal, Sergeant, Fourier und Feldwebel, so daß ich alle Süssigkeiten des kleinen Soldatenlebens gehörig auskosten konnte.«
Das Zeltaufschlagen und Exerzieren brachte ihm ein graubärtiger preußischer Grenadier bei. Von dem »alten Satyr«, wie Seume ihn nennt, lernte der junge Sergeant die »kleinen Evolutionen« am Gewehr, die genau vorgeschriebenen Bewegungsabläufe beim Handhaben der Waffe. Beim Exerzieren ging es nicht bloß um eine Art des Übens wie etwa beim Erlernen eines Musikinstruments. Im Krieg war der Soldat selbst das Instrument, Teil einer riesigen Maschine, der Armee, die wiederum als Teil einer noch größeren Maschine, des Staates, aufgefasst wurde. In diese Maschine in der Maschine musste der Soldat eingefügt werden; und zwar so, dass seine Kreatürlichkeit so weit wie möglich zurückgedrängt wurde.
Wenn Soldaten mit gleichem Schritt in geordneter Linie auf den Feind zumarschieren, kommt immer der Punkt, an dem die trainierte kollektive Kampfmaschine in lauter angsterfüllte Einzelkörper auseinanderfällt. Dieser Vorgang ist auf dem Schlachtfeld nicht zu vermeiden, aber hinauszuzögern. Die preußischen Grenadiere, von denen Seumes Lehrer einer gewesen war, hatten erst bei hundertfünfzig Schritt Feinddistanz eine Trefferquote von knapp fünfzig Prozent. Aber es kam vor, dass die Soldaten aus Angst schon auf achthundert Schritt Entfernung zu schießen begannen, was im direkten Wortsinn verschossenes Pulver bedeutete. Auch konnte es passieren, dass sich die kommandogesteuerten Salven in wildes Einzelschießen auflösten und dadurch die Tötungseffizienz, die sich ohne Weiteres in einem Quotient aus Gewehrkugeln und ›Manntoten‹ ausrechnen ließe, in der Disziplinlosigkeit zusammenbrach. Dieser Zusammenbruch erfolgte in jeder Schlacht, spätestens dann, wenn die Männer einander nah genug gekommen waren, um mit Bajonetten aufeinander loszugehen. Doch kam es darauf an, das Zerfallen des durch Drill geformten Gesamtkörpers einer Armee in lauter leidende Einzelleiber so lange wie möglich hinauszuschieben. Dies konnte schlachtentscheidend sein, besonders wenn es darum ging, einem zahlenmäßig überlegenen Heer ›entgegenzutreten‹ (in Wahrheit wurde gerannt). Ebendies war bei Friedrichs Feldzügen häufig der Fall, und die berüchtigte Disziplin der preußischen Armeen hatte großen Anteil an den berühmten Siegen des preußischen Königs.
Seume verfügte mit seinem alten preußischen Grenadier über einen Lehrer aus dieser Tradition, als er in den Wäldern um Halifax heimlich die »kleinen Evolutionen« einstudierte, mit deren koordinierter Fülle ein großes Heer befehlend zu steuern ist. Warum allerdings Seume diese Nachhilfe überhaupt nötig hatte, ist schwer zu erklären. Immerhin hatte er vor der Verschiffung nach Übersee ein Jahr in der Festung Ziegenhain bei Kassel verbracht. Es ist kaum anzunehmen, dass die Soldaten dort nur in den Kasematten herumlungerten. Seume gibt jedoch in Mein Leben keine Auskunft über den Festungsalltag, sondern unterhält seine Leser lieber mit einem abenteuerlichen Bericht über einen gescheiterten Massenausbruch.
Der durch Disziplin hinausgezögerten Panik auf dem Schlachtfeld entsprach die nicht enden wollende Öde auf dem Exerzierplatz. Sie tat das ihre, um die Körper der Soldaten von ihren Seelen zu trennen. Mochten sich die Seelen (oder ›Herzen‹) nur von der Einbildungskraft treiben lassen, solange die Körper von der Muskelkraft automatisch in den vorgeschriebenen Abläufen bewegt wurden. In den Soldaten von Jakob Michael Reinhold Lenz, 1776 anonym in Leipzig veröffentlicht, ist dies Gegenstand eines Dialogs zwischen Hauptmann Pirzel und dem Feldprediger Eisenhardt.
»Eisenhardt: Aber hindert Sie das Denken nicht zuweilen im Exerzieren?
Pirzel: Ganz und gar nicht, das geht so mechanisch. Haben doch die anderen auch nicht die Gedanken beisammen, sondern schweben ihnen alleweile die schönen Mädgens vor den Augen.
Eisenhardt: Das muss seltsame Bataillen geben. Ein ganzes Regiment mit verrückten Köpfen muss Wundertaten tun.
Pirzel: Das geht alles mechanisch.«
Ebendieses Mechanische fehlte den amerikanischen Ureinwohnern aus der Exerzierplatzperspektive der gedrillten Europäer. Als ›edle Wilde‹ schweiften sie frei umher und freuten sich des Augenblicks. Nur wenn sie zu viel Rum tranken und
»das Räuschgen sie vergessen ließ, dass sie nicht in ihren Horden und unter ihren Landsleuten waren, erlaubten sie sich oft einen Umgang öffentlich unter einander, den man bei gesitteten europäischen Nationen lieber allein und abgesondert genießt, und der freilich den ehrbaren Engländerinnen etwas zu frei und indianisch schien.«
Durch diese Stelle von Seumes Schreiben aus America klingt nicht direkt tiefe Befriedigung, aber doch eine oberflächliche Ahnung davon. Offenbar machte es ihm Spaß, die Leser zu Hause mit dem Fremdschämen der ehrbaren Engländerinnen in Halifax zu kitzeln. Er setzt aber gleich hinzu, die Wilden hätten nach einigen Strafmaßnahmen des Gouverneurs gelernt, »auch bei ihren Lustbarkeiten sich ordentlich und unanstößig zu betragen«.
Ansonsten ist im Unterschied zum sentimentalen Moralismus seines Gedichts Der Wilde Seumes Ton im Bericht über das Leben der Ureinwohner weder sentimental noch moralisch, sondern prosaisch, mitunter beinahe ethnographisch, jedenfalls an den Tatsachen orientiert und nicht an den Träumen, denen sich die disziplinierten Europäer angesichts des freien ›Wilden‹ hinzugeben pflegten. Diesen Projektionen widersprechen noch die lakonischen Sarkasmen, die ihm rückblickend in Mein Leben über ›die Wilden‹ herausplatzen: »Sie skalpieren sehr ehrlich nur ihre Feinde.«
Seume hat die eigene Haut gern unter einer huronischen versteckt, die er in Briefen und Texten metaphorisch überzog, immer halb trotzig und halb kokett. Dieses vorgebliche Huronentum war nur Kostüm, aber eines, das ihm besser stand als der verquälte schulstubenhafte Stoizismus, in den er sich mit unstoischer Verve flüchtete, wenn es wieder einmal ging, wie es schlechter kaum hätte gehen können.
Von dem französischen Forschungsreisenden Constantin François Volney, einem Zeitgenossen Seumes, erschien im gleichen Jahr, in dem Seumes Spaziergang herauskam, ein geographischer und ethnographischer Bericht mit Passagen über Kanada und dessen Ureinwohner. Dort findet sich eine Bemerkung über die ›Wilden‹, die gut für Seume, die alte huronische Haut, gepasst hätte: »So ist der Selbstmord bei ihnen keineswegs selten, sie töten sich aus Lebensüberdruss, manchmal aus enttäuschter Liebe oder aus Zorn, sich für eine grobe Verletzung ihrer Ehre nicht rächen zu können.«
Bevor Seume zum wandelnden Label des »Spaziergängers nach Syrakus« wurde, ließ er sich in literarischen Kreisen als »Amerikaner« herumreichen und erzählte wilde Geschichten aus der Neuen Welt. Auch so entsteht ein ›Diskurs‹. Das lateinische Verb dazu, discurrere, bedeutet so viel wie hin- und herlaufen. Bei Seume war das Herumlaufen und -irren im Leben bis zur Ununterscheidbarkeit verwoben und verwachsen mit dem Diskurs, den er darüber führte. Was die von ihm nicht erlebten, aber offenbar erzählten Kriegshandlungen angeht, nahm er seine schriftlichen Erinnerungen zum Anlass, die mündlichen Geschichten zu relativieren:
»Kriegerische Vorfälle haben wir außer einigen Märschen nicht gehabt; ein einziges Mal schien es zu etwas Ernsthaftem kommen zu wollen, da die Franzosen den Ort [die Hafenstadt Halifax] anzugreifen drohten. Aber außer einigen Schüssen von den äußersten Batterien fiel nichts vor […] Wenn ich zuweilen von einigen Kriegsvorfällen gesprochen habe, als ob ich dort gegenwärtig dabei gewesen wäre, so ist das weniger jugendliche Eitelkeit gewesen, als vielmehr, weil mich die Leute durch ihr ungestümes Fragen hineinzwangen […] Auch habe ich keine einzige Unwahrheit gesprochen, so viel ich mich erinnere; nur geschah nicht alles unter meinen Augen.«
Edler Wilder seitwärts im Busch
Zwei Pudelkerne hat Seume hervorgebracht, zwei »geflügelte Worte«: Das ›Wo man singt, da lass dich nieder, böse Menschen singen keine Lieder‹ und das ›Seitwärts in die Büsche schlagen‹. Das Erste dieser geflügelten Worte, wie es seit Georg Büchmanns so betitelter Sentenzensammlung heißt, entstammt dem Gedicht Die Gesänge, erschienen 1804 in der Zeitung für die elegante Welt:
»Wo man singet, lass dich ruhig nieder,
Ohne Furcht was man im Lande glaubt;
Wo man singet wird man nicht beraubt:
Bösewichter haben keine Lieder.«
Das ›Seitwärts in die Büsche schlagen‹ passierte in Halifax bei den Huronen, beziehungsweise in dem Gedicht Der Wilde. Ein von Kultur noch unbeschwerter Eingeborener, ein »Amerikaner, der Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte«, gerät auf dem Weg von der Stadt der Weißen zurück in »die Arme seiner braunen Gattin« in ein Gewitter und bittet an einem Haus um Obdach. Der »zivilisierte Eigentümer« verjagt ihn. Wochen später verirrt sich der weiße Mann im Wald und fragt bei Höhlenbewohnern nach einem Unterschlupf. Er wird aufgenommen, festlich bewirtet und am nächsten Morgen auf den Weg zur Stadt gebracht. Bei der Trennung erkennt der zivilisierte weiße Mann, dass sein Gastgeber ebenjener Amerikaner ist, den er von der Schwelle jagte.
»Ruhig ernsthaft sagte der Hurone:
Seht, ihr fremden, klugen, weisen Leute,
Seht, wir Wilden sind doch bessre Menschen;
Und er schlug sich seitwärts ins Gebüsche.«
Der ›edle Wilde‹ war nicht erst seit Rousseaus Kult der reinen, unverdorbenen Natur Topos und Phrase. Dies Gegenbild kam vom europäischen Selbstbild so wenig los wie nur irgendein Spiegelbild. Der ›Wilde‹ war bloß Projektion und wurde als Anderer in seiner Eigenart und Eigenständigkeit überhaupt nicht wahrgenommen. Die Kultur, in der er lebte, wurde umstandslos der Natur zugeschlagen. Das war sentimental in der Verklärung und brutal bei der Versklavung. Das eine verkitschte die ›Wilden‹ zu Urmenschen im Paradies, das andere verwertete sie als Untermenschen auf den Plantagen. Beides vertrug sich recht gut. Das eine diente den Gemütsbedürfnissen der Europäer, das andere ihren Wirtschaftsinteressen.
Seume schlüpfte gern in die huronische Haut. Er benutzte die Wendung, um an seine indianische Herkunft zu erinnern, jedenfalls was die Schriftstellerei betraf. Schließlich war das Schreiben aus America seine erste Publikation. Des Weiteren diente die huronische Haut dem betont bärbeißig auftretenden Seume zur Imagepflege und milderte dieses Image zugleich durch den Farbton einer gewissen Selbstironie. Seume nahm sich nicht immer nur ganz ernst, behielt aber lieber die Kontrolle darüber, wann die anderen ihn nicht für voll nehmen durften.
Den Wilden sandte er im Juni 1793 mit der Versicherung bei Schiller ein:
»Der Vorfall, den ich in dem Wilden beschreibe, ist mir […] von einigen sichern Leuten als gewiss erzählt worden, mit dem Zusatze, dass der Pflanzer leider ein Deutscher war. Von der Bravheit und Gutmütigkeit dieser Indianer bin ich oft selbst überzeugt worden; und ich könnte manchen nicht ganz unwichtigen Charakterzug von ihnen liefern.«
Schiller druckte das Gedicht im dritten Band der Neuen Thalia 1793.
Das galt für den Krieg, das galt für den Frieden. Als der Vertrag zwischen England und den unabhängig gewordenen Kolonien unterzeichnet wurde, war Seume schon wieder auf dem Meer. Doch hatte sich dieser Vertrag lange vorher abgezeichnet und Berichte darüber drangen auch in die Garnison von Halifax. Damit rückten nicht nur die Kämpfe in weite Ferne, sondern auch die Hoffnungen, die Seume wie manch anderer Abenteurer daran geknüpft hatte:
»So kam denn […] die Nachricht vom Frieden uns eben nicht erwünscht: denn junge tatendurstige Leute sehen nicht gern ihrer Bahn ein Ziel gesteckt. Man hatte mir geschmeichelt, ich könnte Offizier werden und mir eine Laufbahn eröffnen. Mit dem Frieden war alles geschlossen: denn nach unserer alten sogenannten guten Ordnung konnte kein Bürgerlicher in der Regel weiter aspirieren als bis zum Feldwebel; ein Ehrenposten, dessen lebenslängliche Dauer ich eben nicht sehr beneidete. Bei uns musste man Edelmann sein oder viel Geld haben, um im Staate ein Mann zu werden; […] Zuweilen tat Verbindung und Empfehlung auch etwas; und noch seltener wurde zufälliger Weise auch wohl wirkliches Talent bemerkt.«
Diese ohnehin schon geringen Möglichkeiten, auf sich aufmerksam zu machen – was Seume als Regimentsschreiber bereits gelungen war – und voranzukommen, wurden durch den Frieden abgeschnitten. Die Enttäuschung darüber war in Leipzig beim Abfassen von Mein Leben immer noch frisch wie in Halifax: Man wird in einem globalen Krieg wider Willen um die halbe Welt geschifft und verpasst doch die Chance, sich in dieser Ausnahmesituation zu bewähren und sein Glück zu machen.
»Im Kriege, […] wo man Männer für Ämter und nicht Ämter für Männlein sucht, sind die Ausnahmen [von der oben beschriebenen Regel] häufiger und es tritt da, dem Kastengeist zum schweren Ärger, nicht selten das alte primitive impertinente Menschenrecht wieder ein, dass jeder nur das gilt was er wert ist.«
Was Seume im Rückblick auf die Garnison von Halifax schreibt, hätte auch in Wallensteins Lager gepasst: Dort lässt Schiller einen Kürassier singen: »Wohl auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!/Ins Feld, in die Freiheit gezogen./Im Felde, da ist der Mann noch was wert,/Da wird das Herz noch gewogen./Da tritt kein anderer für ihn ein,/Auf sich selber steht er da ganz allein.«
Aufstand in Warschau
Seumes Herz wurde gewogen, als er ganz allein auf einem Warschauer Dachboden stand, versteckt hinter alten Fässern. Der polnische Aufstand gegen die russische Besatzungsmacht nach der zweiten polnischen Teilung von 1793 begann am Gründonnerstag 1794, wie Seume in Einige Nachrichten über die Vorfälle in Polen schreibt, und führte zu heftigen Straßenkämpfen:
»Die Schüsse flogen von den Ecken, aus den Kellern, aus den Fenstern, über die Mauern, von den Dächern; und von unten und oben und von allen Seiten und überall war Tod. […] Der ferne und nahe Donner der Stücke, der sich fürchterlich dumpf durch die Straßen brach, das Gekletter der kleinen Gewehre, der hohle Ton der Lärmtrommeln, der Totenlaut der Sturmglocken, das Pfeifen der Kugeln, das Heulen der Hunde, das Hurrageschrei der [polnischen] Revolutionäre, das Klirren ihrer Säbel, das matte Ächzen der Verwundeten und Sterbenden, nehmen Sie dieses alles in der tiefen, hellen, herrlichen Mitternacht, und vollenden Sie das Gemälde nach Ihrem eigenen Gefühl.«
Das ist ein anderer Ton als derjenige, den Gleim und Ewald von Kleist während des Siebenjährigen Krieges in ihren Liedern angeschlagen hatten, das ist kein Gereime, sondern Reportage. Durch diesen Text pfeift und kracht das Gemetzel, trotz der merkwürdigen Metaphernverschiebung gegen Ende der Passage, wo Freund Leser aufgefordert wird, das »Gemälde« zu vollenden – oder sollte Seume ein Klanggemälde gemeint haben?
Der Palast, in dem sich Seumes Chef, General Igelström, mit ein paar Hundert Mann verbarrikadierte, wurde belagert. Am Nachmittag des Karfreitag gelang ein Ausfall, und Igelström konnte sich mit einem Teil seiner Leute aus der Stadt kämpfen. Seume war nicht darunter.
»Ich war so glücklich gewesen, vor der Wut der besoffenen Parteien [bewaffnete Gruppen, teil Militärs, teils Zivilisten] mich verborgen zu halten, indem ich wirklich in den Todesstunden, wo keiner der Unsrigen, als nur Erschlagene und Halbtote, mehr zu sehen waren, meine Retirade [Rückzug größerer Militäreinheiten, hier eingesetzt mit sarkastisch, selbstironischem Nebensinn] hinter ein großes Bollwerk alter Fässer auf einem der obersten Böden nahm. Unzählige Parteien zogen zu Mord und Raube unter und neben mir hin, recognoscirten glücklich umsonst alle Schlupfwinkel um mich her, und zogen mit dem tröstlichen Fluche fürbaß: Verdammt, hier sind keine Russen. Sie sehen, lieber Freund, dass ich sehr offenherzig erzähle, da niemand um die Geschichte weiß, als ich selbst; denn dass ich die Nacht vom Karfreitag zum heiligen Sonnabend ganz ruhig hinter einer Batterie Tonnen auf einem der höchsten Böden Warschaus über Welt und Menschen und ihre und meine Narrheit philosophierte, wird man wohl schwerlich unter die Heldentaten rechnen. […] Der fürchterlichste Augenblick meines Lebens war den Sonnabend Morgens, als das Gefecht in einzelnen kleinen Partien wieder anfing. Es hatten sich nämlich noch einige von unsern Soldaten, mit mehrern Bedienten, Weibern und Kindern von der Ambassade auf einen Boden des anderen Flügels von dem Gebäude retiriert, den von mir nur eine dünne Bretterwand schied. Eine starke Partei vermutlich von gestern oder schon wieder heute besoffener Polen, drangen auf den Boden, und die russischen Soldaten wollten den Angriff zurücktreiben. Das Gefecht fing also oben an. Stellen Sie sich vor, auf einem Obergebäude das Krachen der Schüsse, das Geklirr der Gewehre, das wütende unartikulierte Gebrülle der Polen, das Geschrei der Russen, das Kreischen der Weiber und Kinder in der Todesangst; es ist doch etwas ganz anders, als wenn man dergleichen nachgemacht auf dem Theater sieht und hört.«
Seume blieb unentdeckt und wartete ab, bis sich auf den Böden und in den Straßen die Lage beruhigt hatte. Danach warf er den Degen und die Uniformjacke weg und wagte sich hinunter, stets in Gefahr, als Russe identifiziert und abgeschlachtet zu werden. Als er in der Vorstadt auf ein polnisches Regiment mit französisch sprechenden Offizieren stieß, begab er sich in Kriegsgefangenschaft.
Im November 1794 wurde die Warschauer Vorstadt Praga von russischen Truppen unter dem Befehl von Feldmarschall Suwarow Hinweis gestürmt, Warschau selbst kapitulierte. So, wie es während des Aufstandes zu Übergriffen, Morden und Plünderungen des aufgepeitschten, plötzlich bewaffneten polnischen Pöbels kam, so wurden während der Rückeroberung entsetzliche Grausamkeiten an den niedergeworfenen polnischen Soldaten und an der Zivilbevölkerung in Praga und Warschau begangen.
Suwarow wollte seinen Soldaten beim Rückerobern der Stadt keine Zügel anlegen, und hätte es vermutlich auch nicht gekonnt. In die Obolen, im gleichen Jahr erschienen wie der Bericht über den polnischen Aufstand, hat Seume eine »Anekdote« dazu eingerückt:
»Gleich nach der Eroberung der Prager Linien [der Vorstadt Praga] kam ein ehrlicher Pole, der uns sonst in Gefangenschaft zu besuchen pflegte, um Abschied zu nehmen. Er war Hauptmann von einem Regimente, das bei der Aktion fast zugrunde gerichtet worden war; und er selbst war mit wenigen seiner Leute dem Tode entgangen. Eine große Träne stand dem Manne im Auge. Die Ihrigen haben wieder gesiegt, sagte er heftig zitternd, und hob den verwundeten Arm unwillkürlich empor: mein Vaterland ist nun ohne Rettung verloren. Wenn mir künftig noch jemand von Gott, Vorsehung, Gerechtigkeit und Tugend spricht, so will ich ihm die Antwort ins Gesicht speien. Dort liegen Weiber und Kinder und Greise zu Hunderten gemordet. Ihre Kameraden schlachten noch. Es sind keine Soldaten mehr dort; aber nun schänden sie Mädchen, um sie dann zu töten; ich schäme mich, ein menschliches Gesicht zu tragen.«
In einer drei Jahre nach den Obolen veröffentlichten Charakterschilderung Suwarows im Neuen Teutschen Merkur wird das, was in der Anekdote so herzzerreißend geschildert wird, ziemlich kaltschnäuzig erklärt und wenn schon nicht gerechtfertigt, so doch entschuldigt:
»Wenn das Ross in die Rennbahn gelassen ist, kann es nicht leicht aufgehalten werden; und wenn der Grenadier eine Batterie gestürmt hat und noch durch Blute watet, so steht bei ihm das höchste Moralgesetz in andern Charakteren als beim Philosophen auf dem Lehnstuhl.«
Und mit direktem Bezug auf die Ereignisse von Warschau:
»Die Vorwürfe, welche den Russen wegen ihrer damaligen Grausamkeit gemacht worden, sind zwar nicht ohne Grund, aber übertrieben. Dass eine Stadt ohne Unordnung erstürmt werden sollte, ist nicht möglich, so wie wir die Menschen nehmen müssen.«
Was hier irritiert, ist nicht der militärische Realismus, der ausspricht, was Sache ist, sondern der abfertigende Ton, in dem Seume zur Sache kommt. Außerdem sucht Seume die Verantwortung einmal mehr nicht bei denen, die sie ganz oben tragen, sondern bei den mittleren Rängen. Die Beschuldigung, unter Suwarows Oberbefehl habe es Unordnungen und Grausamkeiten gegeben, sei ihm »immer sonderbar vorgekommen«:
Diese Beschuldigung »fällt durchaus mehr auf den kleinen Kommandeur als auf den Chef, und der Feldmarschall kann oft nicht dafür stehen, wenn die Grenadiere Unheil anrichten; aber der Oberst und Hauptmann können und müssen es.«
In der Polenschrift von 1796 macht er folgende Bemerkung:
Suwarows »eigentümlicher Charakter ist schnelle Entschlossenheit und eben so schnelle kraftvolle Ausführung. Die Herzen seiner Soldaten hat er durch Popularität ganz in seinen Händen; […] er überlässt sehr weislich die Disziplin seinen Unterbefehlshabern; übergibt ihnen das Strenge und Harte des Dienstes, und behält selbst davon nur das Gefällige; ein Betragen, das, wenn es recht verstanden wird, vortreffliche Wirkung hat und gar nicht zu tadeln ist.«
Der Vergleich der beiden Stellen macht deutlich, wie genau Seume die Psychologie des Herrschens beobachtet, und wie wenig er willens oder fähig ist, die kritische Konsequenz aus dieser Beobachtung zu ziehen. Suwarows Methode, die keineswegs nur die von Suwarow war und ist, läuft darauf hinaus, die Verantwortung für die Disziplin nach unten zu delegieren, um oben desto freier schalten zu können. Mit dem Einüben und Einprügeln der Disziplin machen sich die mittleren und vor allem die unteren Ränge direkt über den gemeinen Soldaten die Hände schmutzig; bricht in der Schlacht die Disziplin dann doch zusammen, sind daran wiederum die Offiziere und Unteroffiziere schuld. Und so, wie die Soldaten ihren Unmut nicht gegen den einen großen Chef in der Ferne richten, sondern gegen die vielen kleinen in der Nähe, die man tagtäglich auszuhalten hat, so soll das Rauben, Plündern und Morden während eines Feldzugs nicht dem großen Heerführer angelastet werden, sondern den unteren Kommandanten und einfachen Soldaten. Für den Feldherrn bleibt allein der Ruhm. Nur ein General, »welcher seinen Leuten die Plünderung verspricht«, wie es in den Apokryphen heißt, »stempelt sich dadurch faktisch zum Räuberhauptmann«.
Seume bewunderte Suwarow und machte daraus keinen Hehl. Die Charakterschilderung eröffnet mit dem Satz:
»Ich habe nie einen Mann gesehen, der mich – trotz allen widersprechenden Gerüchten, die zu seinem Vorteil und Nachteil herumgehen, und unter denen gewiss manche Märchen sind – bei dem ersten Anblicke mehr an sich gezogen hätte, als Suwarow.«
Vielleicht, weil der wie Seume ein Kleiner war und es trotzdem – im Unterschied zu Seume – zur Größe gebracht hat? Seume fährt fort:
»Er ist ein kleiner, hagerer, etwas gebückter Mann, jetzt ein siebzigjähriger Greis mit einem silberweißen Schädel. Aber jeder Nerve des Alten zeigt noch furchtbar schnelle Elastizität. […] Seine ganze Kunst ist, schreckliche Energie in die Seelen seiner Leute zu bringen, die es dann für unmöglich halten, unter seiner Anführung geschlagen zu werden.«
War nicht ebendies im Siebenjährigen Krieg Friedrich dem Großen zugeschrieben worden? Die Suwarow häufig vorgeworfenen Grausamkeiten wurden von Seume nie geleugnet, aber immer abgeschwächt. Noch im Spaziergang kommt er darauf zurück:
»Die Ungezogenheiten einiger seiner Untergebenen wurden wahrscheinlich ihm zur Last gelegt.«
Nicht weiter verwunderlich bringt er Suwarow gegen den verhassten Napoleon in Stellung:
Suworow sei, »wenn auch alles wahr war, was von ihm erzählt wird, immer noch ein Muster der Humanität gegen den Helden des Tages, Bonaparte, der auf seinen morgenländischen Feldzügen die Gefangenen zu Tausenden niederkartätschen ließ«.
Die persönliche Anhängerschaft für den russischen Feldherrn trübte aber Seumes politische Urteilskraft in den polnischen Angelegenheiten nicht. Seine Sympathie und sein Rechtsgefühl waren aufseiten der polnischen Nation, trotz der nicht nur von ihm geäußerten Überzeugung, die Unfähigkeit und Uneinigkeit des polnischen Adels habe die drei Teilungen Polens im Interesse der Rechtssicherheit und vor allem der Lebenssicherheit der Bevölkerung geradezu notwendig gemacht.
Stanislaus Poniatowski, polnischer König von der Zarin Gnaden und 1795 Unterzeichner der dritten, den Staat auflösenden Teilung, wird von Seume mit Herablassung behandelt, was damals seiner unglücklichen Rolle in den Ereignissen und heute seiner wenig ruhmvollen Stellung in der Geschichte angemessen war und ist.
Den polnischen Adel greift Seume mit Heftigkeit an, auch dies bis heute nachvollziehbar, wenn als Bewertungsmaß die Allgemeininteressen der polnischen Nation gelten und nicht die Sonderinteressen des Adels. Zudem lagen die Familien der Hocharistokratie jahrzehntelang untereinander in Fehde, verstrickt in nie endende Machtkämpfe. Diese Konflikte wurden in persönlichen Intrigen oder durch politische Winkelzüge ausgetragen, aber auch mit Waffengewalt.
Dass Seumes Heftigkeit mitunter überschäumt, hat nichts damit zu tun, dass vor Stanislaus Poniatowski einmal Sachsen (Wahl-)Könige in Polen waren: Kurfürst August der Starke und dessen Sohn. Solcher Lokalpatriotismus lag Seume trotz seiner Heimatgefühle fern. Die Heftigkeit rührt vielmehr vom Grundsätzlichen seiner Kritik her. In der zurückliegenden polnischen Nationalkatastrophe erblickte er das, was Deutschland möglicherweise bevorstand. Der polnische Adel habe die Nation im Streit um Partialinteressen geopfert, so wie der Adel in den deutschen Ländern wegen des Festhaltens an seinen Privilegien unfähig sei, die Fremdherrschaft Napoleons abzuschütteln:
»Wenn unser Adel«, notiert Seume in den Apokryphen, »nur seine Steuerfreiheit, seine Frohne und seinen Dienstzwang rettet, ist er jedermanns Sklave, der ihm seinen Unsinn behaupten lässt.«
Was Seume über Polen sagte, das sollten sich die Deutschen gesagt sein lassen. Er überblendete das Schicksal der polnischen Nation mit dem Schicksal der deutschen Länder, die noch nicht einmal Nation waren, sieht man von dem maroden und durch Napoleon endgültig zertrümmerten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation einmal ab.
In Mein Sommer kommt es im Rückblick dann sogar zu einer Überblendung zwischen dem Schicksal Polens und dem Seumes. Die Menschen in Warschau leben in Ruinen, und Seume ahnt, dass er selbst bald von Reminiszenzen werde leben müssen:
»In Warschau hielt ich meinen Einzug […] den nämlichen Abend, wo ich vor elf Jahren abwechselnd hier und da unter dem Kartätschenfeuer stand. Es waren zwei heiße Tage, der blutige grüne Donnerstag und der Karfreitag. Ich fand mein ganzes Tabernakel noch eben so in Trümmern, als damals am heiligen Ostertage. Es war noch kein Stein wieder gelegt, und man schien sich in dem Anblick des Monuments der letzten Nationalkraft melancholisch zu gefallen. Der Name Russen und Igelström wurde noch immer von den Vorübergehenden gemurmelt. Unser Speisesaal ist eine Ruine, das Wachhaus eine Wäsche, die Kriegskanzlei eine Schmiede, und mein Zimmer im Hintergebäude des Palastes hängt ohne Treppe in der Schwebe. Die Zeit wird bald kommen, wo ich bloß von Reminiszenzen werde leben müssen: ich stand also an der Torecke, wo wir an dem heißen Tage den Eingang mit blutigen Leichnamen und toten Pferden verrammelt hatten, und durchlief die Verflechtungen meines Schicksals.«
Soldat und Söldner
Seume hat sich selbst als jemanden bezeichnet, »der zweimal gegen die Freiheit zu Felde zog«, und wirklich stand er immer auf der falschen Seite: in Amerika als englischer Söldner, in Warschau als »Russe durch den Dienst«, der seine »Pflicht mit Ingrimm« tat. War er also ein »Dukatenkerl«, wie er in Mein Sommer die Soldaten nannte – oder noch forcierter in seinen Apokryphen beschrieb?
»Es kann in seinem Ursprung nicht leicht ein schlimmeres Wort sein als Soldat, Söldner, Käufling, feile Seele, solidarius [abgeleitet vom lateinischen Solidus, einer Münze] glimpflich Dukatenkerl. Die Sache macht die Ehre des Kriegers; aber ein Soldat kann als Soldat durchaus auf keine Ehre Anspruch machen. Es ist ein unbegreiflicher Wahnsinn des menschlichen Geistes, wie der Name Soldat ein Ehrentitel werden konnte.«
Was Seume gegen Ende seines Lebens »unbegreiflich« findet, hat er während seiner aktiven Zeit selbst praktiziert. Nach der Beförderung zum Leutnant widmete er seinem Chef General Igelström die im Oktober 1793 in Warschau erschienene Schrift Über Prüfung und Bestimmung junger Leute zum Militär:
»Dass der Kriegsstand von dem niedrigsten Individuum bis zum Chef die Achtung und die Aufmerksamkeit jedes Weltbürgers in dem ausgezeichnetesten Grade verdiene, lehrt die Geschichte mit blutigen Exempeln. […] Der Soldat ist notwendig nach allen politischen Einrichtungen der Staaten, notwendig nach der menschlichen Natur.«
Im militärischen Alltag, auf dem Exerzierplatz und in der Schreibstube ist vom historischen Pathos der »blutigen Exempel« freilich nichts zu spüren. Im Bericht über die Vorfälle in Polen schildert Seume neben der Tragödie des Aufstands und dessen Niederschlagung auch die Routinearbeit eines Korrespondenz führenden Sekretärs. Dabei nimmt er, der sonst so leicht gekränkte, wieder einmal einen obersten Chef in Schutz:
»Es haben wenige Offiziere in ihren Verhältnissen so viel unter ihm zu arbeiten Gelegenheit gehabt als ich; ich bin kein Mann, der sichtliche Verachtung von jemand ganz ruhig vertrüge, auch wenn er die rechte Hand eines Monarchen wäre; ich kann mich aber auch nie erinnern, dass er je mein Ehrgefühl, welches ich für sehr fein halte, beleidiget hätte.«
Bei dem vergeblichen Versuch auf der nordischen Reise, bei Igelström in Riga vorgelassen zu werden, kam es dann doch zu einer Beleidigung seines Ehrgefühls und zur Beschwerde darüber in Mein Sommer. Außerdem nimmt Seume seine tatsächliche Lage in der Erinnerung viel deutlicher wahr als während des Erlebens. »Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende« – heißt es in der 378sten von Goethes Maximen und Reflexionen. Das gilt für die sogenannten ›Großen der Weltgeschichte‹, und es trifft für jede einzelne Lebensgeschichte zu. Banal und banalisierend gesagt: Hinterher ist man immer klüger. Als russischer Leutnant mit Aussicht auf den Majorsrang lässt sich das Söldnertum nicht so kritisieren wie nach dem Ausscheiden aus dem Dienst. Das ist nicht nur eine Frage der Opportunität – wer günstige Gelegenheiten verschmäht, mag Opportunismus sagen; das ist auch eine Frage der historischen wie biographischen Einsichtsfähigkeit. Im Leben will man vieles nicht sehen, vor allem, wenn man noch viel vor und noch viel vor sich hat. Aber manches kann man auch nicht sehen, weil sich die historische Hinterseite der jeweiligen Gegenwartsverhältnisse erst im Rückblick zeigt, wenn diese Gegenwartsverhältnisse einschließlich der mit ihnen verbundenen Zukunftserwartungen längst Vergangenheit geworden sind.
Trotzdem kann und soll man während des ganzen Lebens die Augen offen halten, nicht bloß zum Schluss, wenn die Erinnerung zu einer Form des Abschiednehmens wird. Als junger Mann in der Garnison von Emden hatte Seume noch Furcht und Hoffnung, die er sich später mit viel rhetorischem Beschwörungsaufwand von der Seele reden und vom Leib halten wollte. Der Furcht machte er in einem Brief an den Jugendfreund Korbinsky auf Versfüßen satirisch Beine:
»Des Morgens, wenn die Hähne krähn,
Bequemet man sich aufzustehn.
Der Tambour lärmt, der Corporal
Durchflucht den Gang wohl zwanzig mal,
Und donnert an die Stubentür
Dem vielgeplagten Musketier.
Der Fuß gestiefelt in Gamaschen,
Gewehr poliert, der Säbel blank,
Rauscht man zu Haufen durch den Gang
Mit hell gewichsten Pulvertaschen
Lauf auf den Hof. Heran, rangiert,
Die Compagnie wird rechts formiert,
Und mancher fühlt den schweren Stock
Durch seinen leichten blauen Rock.«
In einem weiteren Brief brach sich durch die Verzweiflung über das öde, sinnlose Söldnerleben die Hoffnung Bahn. Seume bedichtete den Entschluss, erneut zu desertieren, und rechtfertigte ihn dann:
»Mag ihn Kriegsdogmatik verdammen, gilt mir gleich: Das Naturrecht verteidigt ihn.«
Kurz darauf scheiterte auch diese Desertion. Das Gedicht, in dem er sie ankündigte, enthält den Hinweis, dass er in Emden als Söldner dient, nicht als patriotischer Soldat:
»Zög ich hoch für mein Vaterland mein Schwert,
Mit Feuer wollt ichs ziehn,
Und wie ein Deyier für Altar und Herd
Im Opfertod der Feinde glühn.
Wer aber schuf dir Fremdling, solch ein Recht,
Dass du zum Sklav mich machst«
Die Verse sind moralisch richtig, aber metaphorisch kurios verkehrt. Mit den »Deyiern« meint Seume die Soldaten des Dey, des Kommandanten der Janitscharen. Diese Miliz des Osmanischen Reiches bestand zuerst aus Kriegsgefangenen der unterworfenen Völker und aus christlichen Söldnern. Seit dem ersten Drittel des 15ten Jahrhunderts wurde die Miliz zu einer Elitetruppe umgeformt. In den besetzten christlichen Gebieten wurden Knaben zwangsrekrutiert, verschleppt und in besonderen militärischen Institutionen zu islamischen Kriegern ausgebildet. Die Truppe bezog während ihrer Blütezeit – wenn der zarte Ausdruck dem martialischen Gewerbe angemessen ist – keinen Sold, sondern wurde vom Sultan verpflegt. Sie waren also keine käuflichen Söldner. Gleichwohl wurzelte ihr berüchtigter Fanatismus nicht in einem wie auch immer phantasierten patriotischen Boden, sondern war Ergebnis einer kulturellen Raub- und Zwangssozialisation. Dass Seume das Fechten fürs Vaterland ausgerechnet mit Leuten versinnbildlicht, die gar keines haben, ist ein metaphorisches Missgeschick, allerdings ein leicht verzeihliches. Das Versmaß muss stimmen bei aller Verzweiflung, und anders als die Deyier hätten die besser passenden Spartaner eine Silbe zu viel gehabt – abgesehen davon, dass es in der historischen Wirklichkeit Spartas mit seinen Helotenheeren und Söldnertrupps auch nicht so heroisch vaterländisch zuging wie später in der Geschichte erzählt.
Nach dem Scheitern der zweiten Desertion im Januar 1787 konnte Seume sich im gleichen Jahr dem preußischen Söldnerdienst doch noch entziehen. Zwölf Jahre später und kaum den endlich erreichten ehrenhaften Abschied aus russischem Dienst im Rücken, schreibt er an Böttiger:
»Es ist wahrhaftig ziemlich mein Ernst, wieder Soldat zu werden, und ich habe dazu gewiss nicht unwichtige Gründe, die teils allgemein, teils persönlich sind. Von den ersten nehmen Sie nur die Betrachtung, dass Männer von wahrer unerschütterlicher Gerechtigkeitsliebe und reinem Menschengefühl in dieser Laufbahn gewiss sehr nötig sind, wenn sie auch nur durch Verhinderung vieles Bösen Gutes stiftete. So lange man nicht Aufklärung und Humanität unter die Armeen bringt, mag man am Pulte mit Aufwand von Geisteskraft alle Gänsekiele stumpf schreiben, die brutale Kraft der Kartätschenwerfer und Bajonettträger wird immer die Oberhand behalten.«
Will hier einer allen Ernstes den Dukatenkerl der Aufklärung geben? Böttiger dürfte das kaum überzeugt haben, und wenn Seume noch so viele Gänsekiele stumpf geschrieben hätte. Die persönlichen Gründe sind glaubhafter als die allgemein humanitären:
»Ich bin nach meiner Sinnesart und der jetzigen Einrichtung der Dinge zu nichts anderm [als dem Militärdienst] zu gebrauchen: und leben muss ich doch, so lange mir nicht jemand ganz gründlich beweist, dass ich auf der Welt rein unnütz bin und ich die Wahrheit dieses Beweises nicht selbst einsehe und fühle. Dann würde das freilich das Signal sein, mit Konsequenz in die Welt hinter dem Vorhang zu treten. Göschen braucht mich nicht mehr, wenigstens nicht lange mehr.«
Es war wohl weniger so, dass der Verleger seinen Korrektor nicht mehr brauchte, als dass der Korrektor selbst nicht mehr konnte – bei all den Strapazen mit Klopstock. Zum Glück ist Seume trotz der sehr durchsichtig nur vom Vorhang des theatrum mundi verhüllten Selbstmorddrohung weder aus der Welt noch in die Armee gegangen, sondern nach Syrakus. Wenn er auch von der Abfassung dieses Briefes im Hochsommer 1799 bis zum Abmarsch im Spätherbst 1801 noch beinahe zweieinhalb Jahre warten musste. Im Hochsommer 1800 allerdings wiederholt Seume in einem Brief an Gleim seine militärischen Erwägungen:
»Für die meisten Lagen des Lebens fehlt mir die nötige Stimmung. Wieder Soldat zu werden wäre vielleicht das Einzige, das mir zu raten wäre, wenn ich mir eine neue Bahn irgendwo eröffnen könnte, wo ich mit Gewissen und Ehre stände.«
Mit »Gewissen und Ehre«, aber »irgendwo«. Vaterländisches spielt für den ausgelaugten Söldner des Korrektorenpults in diesem Moment keine Rolle. Das »literarisch-militärische Amphibion« hat dennoch keine Uniform mehr getragen, obwohl ihm auf dem Weg von Italien über die Schweiz nach Paris spanische Werber eine überziehen wollten:
»In Basel am Tore lud man mich zum Kriegsdienst der Spanier ein, die hier für junges Volk von allen Nationen freie Werbung hatten, ausgenommen die Franzosen und Schweizer. Mir war das nicht unlieb, ob ich gleich die Ehreneinladung bestimmt [mit Nachdruck] ausschlug: denn es zeigt wenigstens, ich sehe noch aus, als ob ich eine Patrone beißen und mit schlagen könne.«
Ein von Söldnerdiensten Traumatisierter würde kaum so kokettieren. Aber ist Seume wegen seiner großsprecherischen Patronenbeißerei als immerzu käuflicher Krieger anzusehen? Der ehemalige Freund Münchhausen reimt es sich in seiner Enttäuschung so zusammen: »Beständig feil zum Musquetieren,/Und wenn das Schildern sauer schmeckt,/Viel feiler noch zum Desertieren/Ob da der Theologe steckt??«
Warum sollte man nicht desertieren, wenn »das Schildern sauer schmeckt«? Weil man daran gehindert wird; oder weil man das Gassenlaufen fürchtet, wenn das Davonlaufen scheitert; oder weil man andere Gründe hat, bei der Fahne zu bleiben, patriotische vor allem. In der Leipziger Abschlussschrift von 1792 über Die Bewaffnung in der Antike und in der heutigen Zeit hält Seume fest:
»Keiner wird ein guter Soldat sein, außer ihn erfüllt Liebe zum Vaterland; keinen kann Liebe zum Vaterland mehr erfüllen als den, der für die Altäre und Herde, für die Familie und für die Güter kämpfen wird.«
Nahezu anderthalb Jahrzehnte später schreibt er in Mein Sommer 1805 diese Liebe zum Vaterland den Franzosen zu:
»Der Franzose ohne Unterschied schlägt für ein Vaterland, das ihm nun lieb geworden ist, das ihm und seiner Familie eine gleiche Aussicht auf alle Vorteile vorhält und diese Vorteile wirklich gewährt.«
Was Seume trotz seiner antinapoleonischen Haltung hier an der französischen Nation und ihren Bürgern lobt, mag der sozialen Realität nicht gerecht werden, wohl aber den politischen Verhältnissen, so man sie wie Seume aus der Perspektive eines deutschen Soldaten betrachtet:
»Für wen soll der deutsche Grenadier sich auf die Batterie und in die Bajonette stürzen? Er bleibt sicher, was er ist, und trägt seinen Tornister so fort; und erntet kaum ein freundliches Wort von seinem mürrischen Gewalthaber. Er soll dem Tode unverwandt ins Auge sehen, und zu Hause pflügt sein alter schwacher Vater frönend die Felder des gnädigen Junkers, der nichts tut und nichts zahlt und mit Misshandlungen vergilt.«
Wen der Staat und das Recht nicht anerkennt, dem kann der Staat und das Recht nichts gelten, der muss für den Staat und das Recht nicht kämpfen. Was soll das für ein Vaterland sein, in dem die Väter der Soldaten fronen oder gar als Leibeigene denen gehören, für deren Interessen die Söhne fechten? Um begeistert in die Schlacht zu ziehen wie der preußische Grenadier in den Kriegsliedern von Gleim, müsste man dümmer sein als ein Esel – als der Esel in einer 1796 erschienenen Fabel von Christian August Fischer: »›Geschwind! Zu den Waffen!‹ rufte ein Bauer seinem Esel zu, als die Feinde im Anrücken waren. ›Zu den Waffen?‹ antwortete dieser. ›Ich sehe nicht ein, warum. Mir kann es gleichgültig sein, wem ich gehöre. Ich muss einmal Lasten tragen; gleichviel, wer sie mir auflegt.‹ So sprach er und erwartete die Ankunft der Feinde, ohne sich von der Stelle zu rühren. Aufruf zur Verteidigung des Vaterlandes! – das heißt: des fürstlichen Interesses!« Unter solchen Bedingungen ist jeder Soldat bloß Söldner.