Als Schriftsteller kam Seume historisch zu spät und zu früh: Zu spät, weil die aufklärerischen Ideen, denen er sich verpflichtet fühlte, zwar weitverbreitet, aber schon ziemlich zerschlissen waren. Zu früh, weil ihm seine ungewöhnliche Erlebnisberichterstattung zwar eine literarische Existenzgründung ermöglichte, aber zur Sicherung der materiellen Existenz noch nicht ausreichte – trotz des schnell wachsenden publizistischen Marktes.
Wie im Leben gehörte er auch im Schreiben nirgendwo recht dazu. Er hatte Freunde und Förderer und war doch schlecht vernetzt. Er arbeitete mitten im Literaturbetrieb und hielt sich stets am Rand. Es gelang ihm, sich einen Nimbus zu schaffen, aber viel Vergnügen hatte er an ihm nicht. Geldgier war ihm fremd, aber neben der Gier fehlte es ihm auch an Geld zum Leben. Die Ruhmgier wies er weit von sich, kam ihr mit seiner Ehrsucht aber näher, als er zuzugeben bereit gewesen wäre. Und er konnte vom Dichten, Denken und Publizieren nicht lassen, obwohl er das eine als »Erbsünde« bespöttelte, das andere wegen der damit verbundenen Kopfschmerzen verfluchte und das dritte oft für sinnlos hielt. Als Bauernkind und Gastwirtssohn, der unter die Literaten gefallen war, schwankte er zwischen ergebener Bewunderung – wenn er sich von den Berühmtheiten anerkannt fühlte – und polterndem Aufbegehren, wenn er sich missachtet glaubte. Er vermochte sich selbst beim Schreiben über das Leben zu trösten und fühlte sich zugleich vom Schreiben am Leben gehindert. Alles in allem war das »literarisch-militärische Amphibion« im Literaturbetrieb so glücklos wie im Militärwesen.
Markt und Meinung
Was ist ein Buch? Die Antwort hängt davon ab, wen man fragt. »Ein Buch ist eine Schrift […], welche eine Rede vorstellt, die jemand durch sichtbare Sprachzeichen an das Publikum hält.« Was ist Aufklärung? Wieder hängt die Antwort davon ab, wen man fragt. »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.« Die zweite Antwort stammt von Kant. Die erste auch. Sie steht in der 1797 erschienenen Metaphysik der Sitten. Das dort erwähnte Publikum ist zugleich Subjekt und Objekt der Aufklärung. Kant schreibt in seinem 1784 in der Berlinischen Monatsschrift erschienenen Aufsatz Beantworung der Frage: Was ist Aufklärung?: »Es ist […] für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. […] Dass aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit lässt, beinahe unausbleiblich.«
Aufklärung ist keine Privatsache, sondern eine öffentliche Angelegenheit. Sie setzt Kommunikation voraus, die offene Diskussion unter Anwesenden, aber auch den freien Austausch über weite Distanzen. Das eine fand statt an den staatlich eingerichteten Akademien, in den privat geführten Salons und bei regelmäßigen, ebenfalls privat organisierten Gelehrtentreffen, das andere war vermittelt über den in der zweiten Jahrhunderthälfte explodierenden Markt der Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Die Akademien hingen vom Willen der Fürsten ab, die Salons von der Energie der Damen, die sie führten, die Gelehrtentreffen im Stil der Berliner Mittwochsgesellschaft von der Energie der Herren, die sie besuchten. Der Markt wiederum wurde in Bewegung gehalten von der Ruhmsucht der Autoren und dem Gewinnstreben der Verleger. Mochten die bedeutenden unter ihnen auch moralischen, politischen und ästhetischen Idealen verpflichtet sein, so konnten sie diesen Idealen doch nur dienen, indem sie an ihnen verdienten. Ähnliches galt für die Autoren, obwohl es länger dauerte als bei den Verlegern, bis sie nicht nur für ihre Ideen, sondern auch von ihnen leben konnten. Lange waren sie auf Ämter angewiesen, vor allem, wenn sie anders als Seume eine Familie zu ernähren hatten, auf Universitäts-, Kirchen-, Justiz- und Verwaltungsämter. Oder auf »dunkle Ämter«, wie Goethe süffisant über den Halberstädter Gleim bemerkte, dessen Amt so einträglich wie indifferent war, mithin eigentlich eine Pfründe ohne größere Verpflichtungen.
Autoren wie Verlegern gleichermaßen zu schaffen machten zwei geschäftsschädigende Einrichtungen, deren eine, die fürstliche Zensur, fest in der Vergangenheit verwurzelt war, und deren andere, der grassierende Büchernachdruck, aus raubkapitalistischer Gier erwuchs. Die Zensur war dabei das kleinere Übel, denn so großen Schaden sie in Einzelfällen auch anrichtete, konnte sie doch im zersplitterten, von den unterschiedlichsten Herren regierten Deutschland leicht umgangen werden. Und im Notfall gab es immer noch den alten »Peter Hammer«. Die Piraterie war aus den gleichen Gründen schwerer zu bekämpfen. Im Unterschied zur Zensur war sie keine marktfremde Beschränkung, sondern selbst ein Marktphänomen. Gerade die Schriftsteller, die durch ein Amt eher schlecht als recht versorgt und auf ihren Anteil am Geschäft mit ihren Gedanken angewiesen waren, setzten sich in immer schärfer werdendem Ton mit dem Problem auseinander. Gottfried August Bürger, dem es trotz des Erfolgs seiner Münchhausengeschichten nie gelang, sich am eigenen Schopf finanziell aus dem Sumpf zu ziehen, publizierte beispielsweise den Vorschlag einer Assekuranzkasse, mit der die Einnahmeausfälle durch Raubdrucke versichert werden sollten.
Der ebenfalls erfolgreiche und ebenfalls um einen Teil dieses Erfolgs geprellte Freiherr von Knigge warnte in der Vorrede zu Über den Umgang mit Menschen die Nachdrucker in Leipzig, eine »korsarische Unternehmung« zu wagen. Im Kapitel »Über den Umgang mit Leuten von allerlei Ständen im bürgerlichen Leben« erklärt er, die »Herren Buchhändler verdienten wohl ein eignes Kapitel«, belässt es aber dann bei wenigen Absätzen über die Verleger, denn die waren damals mit der Bezeichnung »Buchhändler« vor allem gemeint. Dem verdienstvollen Verleger »wie unserm Nicolai«, dem »Wahrheit, Kultur und Aufklärung am Herzen« liegen, stellt er einen Typus gegenüber, »der die erbärmlichste Schmiererei, deren Nichtswürdigkeit er selbst fühlt, durch einen vielversprechenden Modetitel oder durch saubre Bildlein aufgesetzt nach Frankfurt und Leipzig schleppt und für diese Lumpereien ein schändendes Lob von feilen Rezensenten erkauft« und der gleichzeitig »den Mann von Talenten wie einen Taglöhner behandelt und bezahlt«. Danach rechnet Knigge der Leserschaft vor, warum dennoch keineswegs »alle Buchhändler, die nur irgend einen Verlag hätten«, deshalb auch reich seien: »Wenn man in Deutschland vierundzwanzig Millionen Einwohner annimmt und dann rechnet, dass jedes Buch tausendmal abgedruckt würde, so beträgt das auf 24 000 Menschen nur ein Exemplar – und welches Buch könnte so schlecht sein, dass nicht unter 24 000 Leuten einer Lust bekäme, es zu kaufen? Allein man wird bald andrer Meinung, wenn man die Schuldbücher der Herrn Buchhändler durchsieht; wenn man erfährt, dass sie von ihren Amtsbrüdern nicht mit Gelde, sondern mit Makulatur und Ladenhütern, von andern Käufern aber oft mit Vertröstungen bezahlt werden, dass man von der Summe jener 24 000 beinahe den ganzen Bauernstand abrechnen muss, und dass die häufigen Leihbibliotheken und Nachdruckfabriken ihnen beträchtlichen Schaden zufügen.«
Was den Bauernstand betraf, hatte Knigge unrecht, und zwar sehr. 1788, im gleichen Jahr, in dem Über den Umgang mit Menschen erschien, publizierte Göschen von Rudolph Zacharias Becker das Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute, welches lehret, wie man vergnügt leben, mit Ehren reich werden und sich und Andern in allerhand Nothfällen helfen könne. Das in seinem Titel so vielversprechende Buch hielt dieses Versprechen, jedenfalls in finanzieller Hinsicht: Es wurde zum größten Subskriptionserfolg der deutschen Aufklärung, und der Gesamtabsatz wird auf eine halbe Million Exemplare geschätzt, manche sprechen gar von einer Million.
Dabei lag es erst drei Jahrzehnte zurück, dass der Bauer literaturfähig geworden war, und zwar als Objekt der Darstellung, als Autor und als Adressat. 1756 war mit Der Gelehrte Bauer von Johann Ludewig die selbst erzählte Bildungsgeschichte eines Bauernkindes aus Sachsen als »Exempel zu nützlicher Nachfolge« erschienen. Ob Seume das Buch gekannt hat? Jedenfalls sollte er für Göschen, der wie alle Verleger jeden Erfolg zu wiederholen suchte, ein Buch für die Landbevölkerung schreiben. Seume schrieb, aber Göschen veröffentlichte nicht – nicht zu Seumes Lebzeiten. Das Kurze Pflichten- und Sittenbuch für Landleute erschien Göschen zu schwer für das Zielpublikum. Auf dem Stich »Lesender Bauer« von Chodowiecki sieht man, warum. Er zeigt die Vorstellung, die man sich in den Städten vom Buchstabieren auf dem Land machte: Mit vor Anstrengung hervorquellender Halsschlagader und viehisch aufgerissenem Mund versucht der Bauer zu entziffern, was in der Broschüre in seiner Hand geschrieben steht.
Das Lesen auf dem Land und lange auch das in den Städten richtete sich – so die einfachen Leute überhaupt alphabetisiert waren – bis ins erste Drittel des 18.Jahrhunderts hauptsächlich auf Erbauungsbücher und die Bibel. Die Gebildeten lasen theologische, juristische, philosophische und medizinische Neuerscheinungen in Latein und die antiken Klassiker in Latein und Griechisch. Der Kanon stand seit Jahrhunderten fest und war so abgeschlossen, dass der heute unantastbare Shakespeare Fürsprecher wie Goethe und Übersetzer wie Wieland und die Romantiker brauchte, um beim Publikum durchgesetzt zu werden. Die traditionelle Lektürepraxis war intensiv, nicht extensiv. Das Gelesene verwandelte sich in Gemerktes, das Buch in eine Gedächtnisstütze für das, was man im Kopf hatte. Das Publikum schließlich bestand aus Subskribenten, die den Autoren oft persönlich und immer mit Namen und Adressen bekannt waren.
Um 1800 hatte sich all das völlig verändert. Lag um 1740 das Verhältnis zwischen lateinischen und deutschen Titeln in den Leipziger Messekatalogen bei 38 zu 62, erschienen um die Jahrhundertwende 96 von hundert Büchern auf Deutsch. Die Alphabetisierungsrate war deutlich gestiegen, und da viele der nachwachsenden Neuleser mehr als nur den Namen schreiben konnten, wuchs auch das potenzielle Publikum. Die Einführung der eisernen Druckpresse in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre, die durch geringere Abnutzung der Druckstöcke höhere Auflagen ermöglichte, verbilligte die Produktion und trug zur Verwandlung des potenziellen Publikums in ein wirkliches bei. Der gedruckte Buchstabe wurde zur Ware und brachte in vielfältigsten Formen, vom billigen Heftchen bis zum prunkenden Folianten, neue Ideen unter die Leute. Die unmittelbaren persönlichen Beziehungen zwischen einzelnen Autoren und ihren Subskribenten waren dem über den Markt vermittelten Verhältnis zwischen freien Schriftstellern und anonymer Kundschaft gewichen. In den vierzig Jahren nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges 1763 sind den Messekatalogen zufolge zehnmal so viele Bücher erschienen wie in den vierzig Jahren zuvor.
Seume wuchs also in einer Epoche auf, in der das Bücherschreiben, Bücherverkaufen und Bücherlesen nie gekannte Ausmaße annahm. Als er sich gegen Ende des Jahrhunderts selbst als Autor in Leipzig zu etablieren begann, hatte die Stadt achtzehn Druckereien mit jeweils mehreren Dutzend Beschäftigten, rund fünfzig Buchhandlungen und ein Heer von Redakteuren und Journalisten. 264 Zeitschriften waren während der zweiten Jahrhunderthälfte gegründet worden und hatten ihre (häufig kurze) Blüte, darunter ein so melancholisches Vorhaben wie die Beiträge zur Beruhigung und Aufklärung über diejenigen Dinge, die dem Menschen unangenehm sind oder sein können und zur nähern Kenntnis der leidenden Menschheit in den 90er-Jahren.
Bei etlichen der etablierteren Organe arbeitete Seume mit, und nicht nur bei solchen, die in Leipzig erschienen. Er schrieb für das 1786 von Friedrich Justin Bertuch gegründete und bis 1827 unter wechselnden Titeln erscheinende Journal des Luxus und der Moden (von dem übrigens Hans Magnus Enzensberger seiner Transatlantik, 1980 bis 1991, den Untertitel lieh), er schrieb für den Freimüthigen seines Freundes Merkel, für die Zeitung für die elegante Welt, für das Morgenblatt für gebildete Stände. 1805/06 erschien das Journal für deutsche Frauen von deutschen Frauen – und »besorgt«, so hieß es statt des üblichen »herausgegeben« etwas unbedacht im Untertitel, von Wieland, Schiller, Rochlitz und Seume. Dieses »besorgt« hallte den Zeitschriftenmachern als höhnisches Echo aus Rezensionen entgegen, und es kam schnell heraus, dass es dem Journal ging, wie es schon der im ersten Drittel des Jahrhunderts berühmten und im letzten Drittel berüchtigten moralischen Wochenschrift Vernünftige Tadlerinnen von Gottsched gegangen war: Auch sie hatte sich vornehmlich ans weibliche Publikum gewandt, aber statt von »Frauen für Frauen« stammten die meisten Artikel von Männern, mochten sie noch so fleißig mit »Iris« oder »Phyllis« abgezeichnet sein.
Die wichtigste Zeitschrift für Seume, und nicht nur für ihn, war zweifellos der Neue Teutsche Merkur, den Böttiger herausgab, jedenfalls de facto, denn genannt wurde immer noch der alte Wieland. Er hatte 1773 den Teutschen Merkur in Weimar gegründet und bis 1789 herausgegeben. Seit 1785 wurde das Blatt bei Göschen in Leipzig verlegt. Der Nachfolger Neuer Teutscher Merkur erschien von 1790 bis 1810. Wieland überlebte die Zeitschrift, wie er auch Seume überlebte. Unter Böttigers Ägide, und gewiss nicht gegen Wielands Willen, erschienen dort etliche der Briefe, die Seume von seinem Marsch nach Syrakus an Böttiger und Göschen geschrieben hatte und die zu wichtigen (Text-)Bausteinen bei der Kompilation des Spaziergangs wurden. Die Vorveröffentlichungen hatten ihren Anteil an dem Nimbus, den Seume sich mit diesem Buch zu verschaffen und erschreiben wusste. Ein Nimbus, der auch die Ladenhüter in neuem Licht – erscheinen ließ. Jedenfalls brachte Gottfried Martini, der Verleger von Seumes Obolen, die liegen gebliebenen Exemplare erneut unter die Leute, versehen mit dem Zusatz vom »Verf. des Spaziergangs nach Syrakus«.
Obwohl sich Leipzig neben Wien und vor Frankfurt am Main als Haupt- und Handelsstadt der deutschsprachigen Buchproduktion behauptete, war eines der wuchtigsten und ausdauerndsten Periodika der europäischen Publizistik eine Berliner Pflanze. Dem Erfolg ging freilich ein Scheitern voraus. 1756 mussten die anonym publizierten und teilweise von Lessing geschriebenen Briefe, die neuste Literatur betreffend das Erscheinen einstellen. Im gleichen Jahr gründete ihr Verleger Friedrich Nicolai die Allgemeine Deutsche Bibliothek, die im nächsten halben Jahrhundert in 256 Bänden sage und vor allem schreibe 80 000 Bücher rezensierte.
Aber so gewaltig das Unternehmen war, ein Monopol auf dem Markt, nicht einmal auf dem Berliner, hatte es nicht. 1783 gründeten Johann Erich Biester und Friedrich Gedike die Berlinische Monatsschrift, in der im Folgejahr Kant die Frage beantwortete: Was ist Aufklärung? Die Monatsschrift erschien bis 1796, gefolgt von den allein von Biester herausgegebenen Berlinischen Blättern und ab 1799 durch die wiederum von Nicolai verlegte Neue Berlinische Monatsschrift, die bis 1811 Bestand hatte.
Gemessen an diesen historischen Gebirgen von Zeitschriften wirken die Unternehmungen von Goethe und Schiller wie Eintagsblätter. Schillers Thalia erschien von 1785 bis 1791, die Neue Thalia, in der Seume sein Abschiedsschreiben an Münchhausen und zwei weitere Gedichte veröffentlichen konnte, von 1792 bis 1793, Goethes Propyläen kamen von 1798 bis 1800 heraus und Schillers Horen von 1795 bis 1797.
Als Schiller die Horen 1794 ankündigte, reklamierte er für das Projekt, über die Meinungskämpfe des Tages erhaben und nur dem Allgemeinmenschlichen verpflichtet zu sein: Je »mehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüter in Spannung setzt, einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich [Hervorhebung Schiller] und über allen Einfluss der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freiheit zu setzen«.
Doch vermag auch ein Schiller nicht, aus seiner Zeit herauszuspringen. Die Idee, keiner Ideologie folgen zu wollen, war selber ideologisch. Das höhere Interesse, das da von oben herab in Anspruch genommen wurde, erwies sich als bloß partielles, orientiert an der engen und oft genug dogmatisch vorgetragenen Auffassung der Literatur als autonome Kunst. Entnervt von der politischen Versteinerung in den deutschen Ländern strebte der Dichter nach einer neuen Klassizität im nicht nur machtlosen, sondern angeblich auch machtfreien Reich der Bildung und des Geistes. Entsetzt über die revolutionäre Entwicklung in Frankreich, wo er »rohe Kräfte sinnlos walten« sah, läutete er die Alarmglocke: »Wenn sich die Völker selbst befrein,/Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.«
Zwischen dem Stillstand der Reformen und dem revolutionären Aufruhr schien nur die »ästhetische Erziehung des Menschen«, wie Schiller 1795 schrieb, und das »in sich selbst Vollendete« der Kunst, wie Karl Philipp Moritz schon 1785 geschrieben hatte, eine Zuflucht zu bieten vor der Öde in Deutschland und der Unordnung in Frankreich.
Der Konflikt zwischen Autonomen und Aufklärern teilte das diskursive Feld und den publizistischen Markt, auch wenn es Autoren gab, die zwischen den Linien operierten wie Moritz oder sich wie Seume am Rand herumtrieben. Die Autonomen wurden repräsentiert von Goethe und Schiller, bis zu seinem Tod 1793 unterstützt von Karl Philipp Moritz, der ihr Programm im Berliner Feindesland, wo er Freunde hatte, unter die Leute brachte. Die Aufklärer waren die alte Garde aus König Friedrichs Zeiten, deren Haupt Moses Mendelssohn und deren Hauptgeschäftsführer Friedrich Nicolai gewesen ist, gefolgt von so rührigen Leuten wie Gedicke, Biester und Jenisch.
In Reaktion auf Schillers Horen gründete Daniel Jenisch 1795 das Berlinische Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, und in seinem Aufsatz Über Prosa und Beredsamkeit der Deutschen reformulierte er das Denk- und Stilideal der Aufklärung: »Ernst, klar, aufrichtig wie die Wahrheit an sich ist, muss sie auch in der Rede ohne Täuschung und ohne verschönernde Hülle dargestellt werden: Sache des Verstandes, nicht der Einbildungskraft, braucht sie der Belehrungen des erstern, nicht der Unterhaltung der andern: Gegenstand deutlicher Erkenntnis, nicht alles-verwirrender Leidenschaft, muss sie durch helle Begriffe, nicht durch Rührung hervorgebracht werden.«
Seume hätte dem zustimmen können, und seine oft wiederholten Wahrheitsversicherungen würden dieser Linie entsprechen, wären sie nicht etwas zu oft wiederholt worden, um überzeugend zu sein. Seume in seiner am Rand des literarischen Feldes wildernden und in seinen Texten mitunter auch verwilderten Art, suchte gerade durch sein Wahrheitspathos zu rühren und durch seine kunstvolle Kunstlosigkeit mitzureißen.
Auf Jenischs Verteidigung der täuschungslosen Nüchternheit der Aufklärung (die freilich eine Selbsttäuschung war), reagierte Goethe denunziatorisch mit dem in den Horen veröffentlichten Aufsatz Literarischer Sansculottismus. »Sansculottismus« klang in den Ohren der Berliner Polizei wie »Jakobinismus«. Goethe legte das in meisterhafter Perfidie nahe und konnte doch sagen, dass er es so nicht geschrieben habe.
Was auf diese Weise ausgefochten wurde, war mehr als der Kampf um Marktanteile und ging über das gewöhnliche Literatengezänk hinaus. Doch lassen sich die Titanenkämpfe der Epoche nicht trennen von literarischem Futterneid, persönlichen Animositäten und der schieren Lust an der Invektive. Im Vorfeld der Xenien, jenem wenig erhabenen und ästhetisch schlecht erzogenen Angriff auf alles, was den Autonomen fernstand, zählte Schiller in einem Brief an Goethe die Gegner auf, darunter »Freund Nicolai, unser geschworener Feind, die Leipziger Geschmacksherberge, Thümmel, Göschen als sein Stallmeister«.
Seume, der zu unbedeutend war, um von den »Geschenken«, denn das bedeuten die Xenien auf Deutsch, betroffen zu sein, fühlte sich gleichwohl wie viele andere getroffen. Im Herbst 1797 schrieb er an Münchhausen:
»Die Herren [Goethe und Schiller] haben durch diese Geschenke der Nationalbildung eine Ohrfeige gegeben.«
Seume hatte gerade seine Stelle bei Göschen angetreten, und wenn der Verleger der Stallmeister der Leipziger Geschmacksherberge war, dann war Seume der Stallbursche. Die Rolle des Pferds im Stall (und in der Metapher) kam dem Reiseschriftsteller Moritz August von Thümmel zu. Man könnte auch sagen, Thümmel war als einer der bestverkauften Schriftsteller seiner Zeit die ›cash cow‹ des Verlags. Seine von 1791 bis 1805 erscheinende Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich spielten so viel ein, dass Göschen ihm 5000 Taler Honorar zahlte, mehr als für die Gesammelten Werke Goethes und Klopstocks zusammen. Goethe hatte für eine achtbändige Ausgabe Ende der 1780er-Jahre 2000 Taler von Göschen erhalten und ließ sich später vom besser zahlenden Cotta abwerben. Cotta umwarb auch Thümmel, was Seume im September 1808 veranlasste, sich in einem Brief an Cotta auf Göschens Seite zu schlagen, obwohl er längst nicht mehr für dessen Verlag arbeitete:
»Wenn Sie Göschen, wie er vielleicht fürchtet, Thümmels Reisen abwinden sollten, so ist es aus mit uns.«
Thümmel blieb bei Göschen. Und Seume nahm, drei Wochen bevor er starb, bei Göschen noch an einem Abendessen mit Thümmel teil.
An Wielands Werken, mit denen Seume wie mit denen Klopstocks zeitweise als Korrektor befasst war, soll Göschen 7000 Taler verdient haben, trotz der hohen Honorare, die Wieland verlangen konnte.
Alles in allem war die Literatur zum lohnenden Gewerbe geworden, auch wenn es sich nicht für alle gleichermaßen lohnte. Die Vertreter der Autonomie täuschten sich über diese Geschäftslage nicht etwa hinweg, sondern machten sich deswegen Sorgen. Wenn das große Publikum mit seinen Kaufentscheidungen darüber bestimmte, was als große Literatur zu gelten hatte, dann verloren die innerästhetischen Maßstäbe ihren Wert. Dies ist der Boden der Tatsachen, von dem die Autonomievertreter zu ihren Höhenflügen abhoben.
Die Debatte ist historisch, doch einzelne ihrer Elemente sind bis heute relevant in jedem Feuilletonistenstreit um U oder E.Noch die bequeme und sich selbst als ›up to date‹ missverstehende Haltung, die Unterscheidung zwischen Unterhaltungs- und ernster Kunst sei von gestern, recycelt Meinungen von vorgestern. Indifferente UE-Kunst ist nicht die Lösung des Problems, sondern lebt von ihm. Man will die Kundschaft auf dem Markt abholen (wie die Eltern die Kleinen vom Kindergarten?) und gleichzeitig doch den ›höheren Standpunkt‹ nicht verlassen, der den Nimbus des Besonderen verleiht.
Seume zu seiner Zeit ging einen Zickzackweg durchs literarische Gestrüpp, das um ihn emporschoss und auch Größeren als ihm über den Kopf wuchs. Noch in der Mitte des 18.Jahrhunderts wurden die Leser zum Lesen ermahnt, etwa 1751 von der moralischen Wochenschrift Der Mensch: »Das Lesen ist der nützlichste Zeitvertreib und das wichtigste Geschäft […] Wenn ein Mensch wegen seiner Berufsarbeit Zeit hat zu lesen, und er unterlässt es, so ist dieses ein unfehlbares Zeichen eines öden Geistes.« An des Jahrhunderts Ende war es in Mode, das Lesen als Wut, Sucht und Seuche zu verunglimpfen, oder als eine Angwohnheit, schlimm wie eine gewisse andere, die gebildete Leute von der Arbeit abhalte und ungebildeten Flausen in den Kopf setze.
Journalisten kritisierten in Journalen wortreich die Journaille, Vielschreiber publizierten Traktate über die »Bücherflut«, und kolonnenweise marschierten Buchstaben übers Papier, um den »kalten, toten Buchstaben« zu schmähen. Literaten, die mit dem Markt über sich hinausgewachsen waren, sahen dennoch im Aufstieg des Marktes den Niedergang der Literatur. 1793 schrieb der republikanische Publizist Georg Friedrich Rebmann: »Unser Publikum besteht nicht etwa aus den Tribunalen, die in Jena, Göttingen und Berlin entscheiden, auch nicht aus den jungen Kandidaten, angehenden Pastoren oder Studenten, welche hie und da in mancher anderen gelehrten Zeitung spuken, nein, das Publikum, dessen Stimme zwar nicht in kritischer, aber in ökonomischer Hinsicht über unsere Schriftsteller richtet, besteht aus Friseuren, Kammerjungfern, Bedienten, Kaufmannsdienern und dergleichen.«
Der demokratische Publizist erkennt die Doppeldeutigkeit, man könnte auch sagen, die ›Dialektik‹ dieses Prozesses ganz deutlich: »Im ganzen, glaub’ ich, hat die Menschheit durch die zur Mode gewordene Lesesucht auch der niederen Stände gewonnen. […] Unsere Literatur hat aber wohl sicher dabei verloren.«
Während Rebmann die soziale und politische Funktion der Literatur von ihrer ästhetischen Form zu unterscheiden und beides getrennt zu qualifizieren wusste, nahm mit dem Markt auch die Zahl der Meinungsmacher zu, die den Markt reglementieren und die Meinung kontrollieren wollten. Neben schlechten Schriften sei es auch des Guten zu viel. Im Mai 1798 klagte Gleim in einem Brief an Seume: »Wahr aber ist […], dass man selbst das Beste nicht alles lesen kann! Endlich wird’s dahin kommen, dass ein Wieland so gar für sich allein zum Vergnügen wird schreiben müssen – oder man wird nur, was die Göschen für lesenswürdig halten, und zu Meisterwerken ihrer Kunst bestimmen, lesen können.« Gut zwei Jahre später schlägt Seume in einem Brief an Gleim die Einführung einer freiwilligen Selbstkontrolle vor:
Es schreibe jeder »in voller Freiheit, was er wollte; nur müsste jeder seinen Namen nennen; und man setzte ein Art von Sittengericht oder allgemeiner Bücherkommission mit liberalen Vorschriften nieder, wo jeder das seinige zu verantworten hätte. Das würde zu etwas führen und die Schranken gehörig ziehen.«
Dieser Vorschlag ist nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch schlecht durchdacht. Wer würde denn über diese liberalen Vorschriften befinden, wer die Kommission ernennen? Wo wären die Schranken gehörig gezogen? Hier schlägt, wie öfter bei Seume, der subalterne Wunsch nach einer höchsten Instanz durch, die mit väterlicher Macht Ordnung ins Durcheinander bringt. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob diese väterliche Macht eine Kommission oder eine Person ist, ein Philosoph womöglich. Fichte hätte sich für etwas Derartiges hervorragend geeignet. Der große Philosoph verachtete den großen Geschäftemacher der Aufklärung, Friedrich Nicolai, und mit ihm gleich das große Publikum, das natürlich gar nicht ›groß‹ war, nur zahlreich: Über das der Allgemeinen Deutschen Bibliothek schrieb er: »Der Geringste unter den Lesern glaubte sich selbst zu lesen; gerade so hatte er die Sache sich auch von jeher gedacht und nur nicht den Mut gehabt, es sich laut zu gestehen. Die Unmündigen erhielten die Sprache, und das gefiel ihnen.«
Im Wort Mündigkeit steckt der Mund, und den sollten die Unmündigen halten. Aber wer entscheidet darüber, wer unmündig und was Aufklärung ist? Erst Kant, dann Fichte, dann Hegel – je nach Zeitgeschmack und Mode? Und wie kommen Zeitgeschmack und Mode zustande? Durch die Menge, die Masse, den Markt und die Meinung? Die Katze beißt sich in den Schwanz.
Zeitgeistphilosophien, und die von Fichte war eine, Kultbücher und literarische Zelebritäten sind Resonanzverstärker dessen, was während einer Epoche in der Luft liegt, besser gesagt in den Herzen und Köpfen. Sie bringen nicht so sehr hervor als vielmehr zum Ausdruck. Weil es dabei um Stimmungen und Schwingungen geht, konnten die Romantiker Fichtes Wissenschaftslehre, Goethes Wilhelm Meister und die Französische Revolution in einem Atemzug nennen. Eine Generation zuvor war es noch Goethes Werther, der die (jungen) Leute enthusiasmierte. Auch Seume hat den Briefroman während seiner Leipziger Schulzeit gelesen:
»Werther, der damals erschien, fiel mir sogleich in die Hände; und ich muss bekennen, er spielte dem jungen Kopfe gewaltig mit; da alles dort der Geschichte so gleich sieht, und vielleicht meistens Geschichte ist. Da aber meine Seele noch ohne Leidenschaft aller Art war, außer dem allgemeinen Enthusiasmus für das Große, Gute und hohe Schöne, so verflog die Wirkung bald wieder«.
In einem der Briefe, aus denen der Hauptteil des Romans besteht, berichtet Werther, wie er mit Lotte ein Landgewitter erlebt: »Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellbogen gestützt; ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich; ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: – Klopstock!«
Lob und Brot
Friedrich Gottlieb Klopstock galt seit der Veröffentlichung der ersten drei Gesänge seines Versepos Der Messias im Jahr 1748 vielen als der deutsche Dichter schlechthin. Wenn Lotte »Klopstock!« sagt, nennt sie nicht bloß den Namen eines berühmten Literaten, sondern spricht eine poetische Lebenshaltung aus. Die Dichtung veredelt das menschliche Dasein, und der Dichter personifiziert diese nahezu göttliche Veredelung. Werk und Schöpfer entfalten sich aber nicht mehr in der elitären Abgeschiedenheit eines Mäzenatenhofs, sondern mittels des publizistischen Erfolgs beim großen Publikum. Der Markt bringt den Mythos hervor, der Poet ist Produzent und seine Poesie ein Produkt. Gleichwohl wusste Klopstock die alte Rolle des Sehers und Barden noch einmal mit Bravour auf der neuen Bühne des Marktes zu spielen. Aber gegen Ende des Jahrhunderts war der Kultautor Klopstock museal geworden, ein wandelndes Denkmal seiner selbst.
Einer solchen Zelebrität die Korrekturen zu lesen war keine spaßige Angelegenheit, für einen Mann wie Seume um so weniger, als er sich seelisch auf die Leutseligkeit derer angewiesen fühlte, denen er zur Hand ging, sei es ein Militär oder ein Dichter. Er setzte sich beflissen ans Bett eines Generals, aber im Vorzimmer zu warten, machte ihn rasend. Er verglich mühselig Satzfahnen mit Handschriften, wie es sich für den subalternen Verlagsmitarbeiter gehörte, aber auch noch als ein Subalterner des Geistes behandelt zu werden, konnte er nicht ertragen. Er tat Dienst bei Göschen in Grimma um des Brotes willen, denn der Mensch lebt nicht vom Buch allein. Aber neben dem Lohn verlangte er Lob, wo es ihm gebührte, und vor allem Anerkennung: in sachlicher und noch mehr in menschlicher Hinsicht.
Die Kombination Klopstock – Seume hätte unseliger kaum sein können: Auf der einen Seite der Hohepriester, der seine Persönlichkeit zelebrierte, als wäre sie ein Amt; auf der anderen Seite der Gelegenheitsautor, der den Dienst am fremden Altar wenig segensreich fand. Dennoch nahm er diesen Dienst ernst und war päpstlicher als der Literaturpapst. Anlässlich des Streites um ein Komma überlegte er in einem Rechtfertigungsbrief an Göschen, ob Klopstock womöglich auf einen Textsinn aus sei, »den ich nicht wollen würde, wenn ich Klopstock wäre«.
Auf einen solchen Einwand muss man erst einmal kommen. Es handelt sich nicht bloß um das übliche ›Wenn ich Du wäre‹, mit dem Freunde sich rhetorisch einer in des anderen Lage versetzen. Seume insinuiert vielmehr, dass Klopstock sich selbst nicht verstehe. Womit er übrigens recht hatte, wenn auch nicht wegen eines ungeschickt gesetzten Kommas, sondern wegen Klopstocks gesamter künstlerischer Haltung. Die Dunkelheit in der Poesie des Meisters nahm mit dessen Alter so weit zu, dass die Verse sinnfreier Wohlklang wurden, zum Geraune, an dem es gar nichts weiter zu verstehen gab, ganz gleich, wo sich die Kommas herumtrieben.
Das im Brief an Göschen beklagte Komma, das dem Klopstock-Vers einen Sinn verlieh, den Seume nicht hätte wollen können, wäre er Klopstock gewesen, hatte ein Nachspiel in einem Brief an Gleim. Dieser Brief sei ausnahmsweise nicht modernisiert und der aktuellen Rechtschreibung angepasst zitiert, sondern mit allen Kommas – die fehlen:
»Über Klopstocks Oden habe ich allerdings mehrere Sünden auf meinem Gewißen. Göschen hat mehrere Bogen umdrucken laßen, woran theils der Setzer, theils ich, theils Klopstock selbst Schuld war.«
Nach etlichen Klagen über die Fehler und Unleserlichkeiten in der Handschrift folgt die Komma-Beschwerde:
»Er spricht von der Dichtkunst, und sagt sie steige empor und schwebe, schöner Bläue nahe Nachbarin über dem Regenbogen. Er will nach Bläue, ein Komma. Der Sinn ist dadurch; die Dichtkunst wird schöner/schöner/Bläue, und ist nahe Nachbarin über dem Regenbogen. Dann scheint mir aber das nahe Nachbarin zu über dem Regenbogen etwas hart konstruiert. Ohne Komma ist, däucht mich der Sinn nicht weniger schön. Sie schwebt schöner Bläue nahe Nachbarin über dem Regenbogen; als nahe Nachbarin der schönen Bläue des Himmels schwebt sie über dem Regenbogen. Ich überlaße es Ihnen mein Gefühl zu würdigen. Das Komma war im Manuskpt etwas undeutlich, daß ich es leicht für keines nehmen konnte.«
Nachdem er sich das Satzzeichen von der Seele geschrieben hat, schließt er den Brief mit der Bitte:
»Aber Sie verzeihen, dass ich Sie ermüde; ich rechne bloß auf Ihre Teilnahme und Ihre große Güte. Mich und mein Büchlein empfehle ich Ihnen mit wahrhaft kindlichem Zutrauen und halte es für eine glückliche Periode meines Lebens, wenn ich Ihnen dadurch nicht missfällig geworden bin. Ihr gehorsamster Seume. Grimma, den 22. Febr. 98.«
Mit dem Büchlein ist das gerade erschienene zweite Bändchen der Obolen gemeint. Mag sein, dass ein Korrektor, der nicht wie Seume zugleich Poet gewesen wäre, dem Komma in einer Ode weniger Gewicht beigemessen hätte. Doch war der Konflikt zwischen Klopstock und Seume nicht bloß der zwischen einem großen und einem kleinen Dichter. Die Auseinandersetzung hatte grundsätzliche Bedeutung. Neben den persönlichen Empfindlichkeiten ging es um die sozialen Rollen, die es in einem arbeitsteiligen literarischen Herstellungsprozess jeweils einzunehmen und eben auch auszuhalten galt – in einem Herstellungsprozess, der sich nicht mehr an einem Mäzen zu orientieren hatte, sondern am Markt. Aus Seumes Perspektive war nicht Priesterschaft, sondern Professionalität gefragt. Klopstock wiederum, der ohne Sponsoring, wie man heute sagen würde, seine Messiade niemals hätte schreiben können, mochte sich nicht vom Korrektor eines Verlegers belehren lassen, hatte er doch die Dienstbarkeit eines Königs genossen, auch wenn es nur der von Dänemark war. Dass der Markt ein anderes Verhaltensrepertoire verlangte als das Mäzenatentum, wurde von Klopstock nicht wahrgenommen – oder übersehen. Das gelang ihm ausgerechnet deshalb, weil seine Stellung auf dem Markt lange so dominant war, dass er sich mit Konkurrenz kaum zu beschäftigen brauchte. Er gehörte mit seinen Oden zu den seltenen Schriftstellern im 18.Jahrhundert, die wenigstens zeitweise allein von dem leben konnten, was ihre Muse am Markt eintrug.
Zwischen Seume und Klopstock nahmen die Spannungen nach dem Komma-Skandal weiter zu. Ein Jahr, nachdem sich Seume in seinem Brief an Gleim über den Sinn von »schöner Bläue nahe Nachbarin« klar zu werden suchte, schickte er ein Tintenstöhnen an Chef Göschen, nun wieder zitiert nach heute geltender Rechtschreibung:
»Ich halte es für eine meiner herkulischen Arbeiten, dass ich Klopstocks Oden noch so gemacht habe, wie sie gemacht worden sind; denn sie sind in jeder Rücksicht das schwerste Werk der Typographie in Hinsicht auf Korrektheit, ausgenommen mathematisches Zahlenwesen. Der Alte dankt mir nicht dafür, weil er glaubt, das ist Handlangersache.«
Wenige Wochen später bringt er Gleim gegenüber die literarische Handlangerei mit dem militärischen Söldnerwesen in Verbindung:
»Ich merke, dass die Handlangerei mir sehr undankbare Arbeit ist, bei der man weder vom Verleger noch Autor noch Publikum etwas verdient: die Hand voll Münze, und wenn es auch Gold wäre, ist nur Bezahlung für den gewöhnlichen Söldner.«
Und der wollte Seume nicht sein, bei Igelström nicht und auch nicht bei Göschen. Gleichwohl legte er in dem Renitenzbrief, den er auf dem Höhepunkt der Krise ohne Absprache mit dem Verleger an Klopstock schrieb, dem Dichter die »Handlangerei« selbst in den Mund:
»Verehrungswürdiger Mann,
Es ist eine sehr gemischte Empfindung, mit welcher ich es wage, Ihnen zu schreiben. Aber mein Herz gebietet mir, und ich folge ihm […] Ich habe als Korrektor den Druck Ihrer Oden mit besorgen helfen, und glaube sicher, eine der schwersten Arbeiten der literarischen Handlangerei gemacht zu haben. Mein Vergnügen dabei war groß […] Ich glaube, eben mein Genuss bei der Arbeit hat vielleicht der Korrektheit geschadet, und ich war nicht mechanisch genug zu dem Werke, das ich übernommen hatte. […] Etwas sehr Überflüssiges für einen Korrektor, werden Sie vielleicht sagen; und ich gestehe es gern ein.«
Allerdings nur im Allgemeinen, für sich selbst beansprucht er einen anderen Status. Zu Recht, schließlich war auch er Poet. Der erste Band seiner Obolen enthielt sogar ein Gedicht An Klopstock. Der poetische verehrte Meister wandte das Gedicht gegen den Korrektor und erkundigte sich bei Göschen, wie Seume, »der mir eine so warme Ode gemacht hat, so grausam gegen mich gewesen ist«, einen »gigantischen Druckfehler« stehen zu lassen.
In der letzten Zeile der »warmen Ode« küsst Seume »die Hände des Patriarchen«, in seinem kühlen Brief klopft er dem Autor auf die Finger. Aber bevor er an den Klopstock-Versen seine Exempel statuiert, macht er noch einmal die eigene Stellung klar. Dabei führt er in seumescher Übertreibung sogar seine ehemalige militärische Handlangerei ins Gefecht, um dem Wort des literarischen Söldners mehr Stoßkraft zu verleihen. Nicht nur um Brot geht es, sondern auch um Lob:
»Denn wenn ich mir bewusst wäre, dass ich bloß für das Geldsalar die Feder in die Hand nähme, so wollte ich sie diese Minute wegschnellen und die Holzaxt dafür ergreifen. Göschen legte uns [Seume und dessen Mitkorrektor Lorent] unser Sündenregister mit aller Gütmütigkeit und Nachsicht eines Mannes vor, der für seines Namens Ehre und seine Kasse zugleich besorgt sein muss. Ich habe einige Mal vor dem scharfen Kanonenfeuer gestanden; ich kann Ihnen aber versichern, dass mir nicht schwerer dabei zu Mute war, als bei dieser Eröffnung. Erlauben Sie mir also, wo nicht zu meiner Rechtfertigung doch zu meiner Entschuldigung, einige offenherzige Bemerkungen, deren Würdigung ich Ihrer Billigkeit gänzlich überlasse.«
Wider seine Gewohnheit fertigte Seume eine Abschrift des Briefes an, die er Göschen überließ – nachdem der Brief abgeschickt war. Klopstock reagierte nicht, jedenfalls nicht Seume gegenüber. Er konferierte nur mit dem Chef, wie Große es nun einmal hinter dem Rücken der Kleinen zu tun pflegen. Und einmal mehr suchte Seume Trost bei Vater Gleim:
»Auf meinen ziemlich umständlichen Expektorationsbrief hat Klopstock keine Silbe geantwortet, ziemlich klassisch gegen einen Proletarier.«
Noch im September 1803 – Klopstock war im Frühjahr gestorben – hing Seume die Missachtung nach. Auf eine Anfrage Böttigers, etwas über Klopstock zu schreiben, antwortete er unwirsch:
»Sie wollen von mir Nachrichten über Klopstock haben, vermutlich in der Voraussetzung, ich müsse, da ich den letzten Druck seiner Werke besorgen half, mit ihm in näherer Verbindung gestanden haben. Das ist aber nicht der Fall. Klopstock hielt einen Korrektor in der Druckerei für ein zu subordiniertes Ding, als dass er sich mit ihm in Vertraulichkeit hätte einlassen sollen.«
Dann kramte er die alten Beispiele aus, erinnerte an »Klopstocks Vorliebe für das heilige Dunkel«, schrieb den langen Brief ab, den er mehr als vier Jahre zuvor dem Dichter geschickt hatte, und klagte, noch immer frisch verwundet:
»Auf diesen Brief, der vielleicht etwas anders hätte sein können, antwortete Klopstock – nicht eine Silbe. Ohne weitere Erörterung ließ er mir durch Herrn Göschen sagen, es möchte in den bewussten Stellen bleiben, wie ich gesetzt habe. Das war nun allerdings Genugtuung; aber die Art kam mir doch nicht außerordentlich human vor.«
Göschen erbat von Seume ebenfalls einen Nachruf auf Klopstock. Auch dieser Bitte mochte der Exkorrektor nicht entsprechen. Immerhin empfahl er im November des Jahres darauf die Bände sieben und acht der Werkausgabe mit einer Kurzrezension in der Zeitung für die elegante Welt. Höflich erinnerte er sich des verstorbenen »Altvaters der deutschen Dichter des vorigen Jahrhunderts«, der ihm zu Lebzeiten so schwer zu schaffen gemacht hatte.
In der Epoche des editorischen Papierkrieges versuchte Göschen, durch Depeschendiplomatie zu retten, was nicht zu retten war. »Sonderbar ist die Geschichte der Druckfehler«, bemerkte er Klopstock gegenüber, und erklärte dem wieder einmal verärgerten Dichter, wie aus einem verkehrten Wiederhaken erst ein richtiger Wiederhall und dann ein völlig falsches Wiederhaue werden konnte, wobei das heute fehlerhafte ›wieder‹ in Haken, Hall und Hau damals noch richtig war: »Der Setzer setzet Wiederhake, Säume korrigiert das k und setzt zwei ll, der Setzer lieset das als ein u und nun wird Wiederhaue daraus.«
Dass im Zitat Säume statt Seume steht, ist kein Versäumnis (man könnte glatt Verseumnis schreiben) des Korrektors des vorliegenden Buches, sondern eine korrekte Wiedergabe des Göschenbriefs. Von heute aus betrachtet wirkt es komisch, dass der Verleger in einem Brief, mit dem er seinen Autor wegen der Fehler seines Korrektors beschwichtigen will, prompt den Namen des Korrektors verkehrt schreibt. Aber was ist ›verkehrt‹? Und wer befindet darüber?
Rechtschreibreformen wurden nicht erst in den 90er-Jahren des 20.Jahrhunderts zum Aufreger, sie waren es schon im letzten Drittel des 18. Umso mehr, als überhaupt erst einmal eine Norm durchgesetzt werden musste, und zwar wortwörtlich beim Setzen der Bücher, bevor man sich daranmachen konnte, über Reformen zu schreiben. Seume benannte das Problem in seinem Brief an Klopstock:
»Da fast jeder Verfasser leider noch etwas eigenes in seiner Orthographie und Grammatik hat und kein Nationaltribunal ist, so geht die endliche Korrektheit der Sprache nur sehr langsam von Statten.«
Da es die normierende Zentralinstanz nicht gab – und wo hätte dieses »Nationaltribunal« im zersplitterten Deutschland auch tagen können –, wurden hitzige publizistische Scharmützel um die Sprachregeln geführt. Viel Blut wurde in Wallung gebracht, viel Tinte vergossen:
- Es gab die veröffentlichte Meinung, dass das Ypsilon zu retten und das h theilweise zu bewahren sey. Trotzdem wurde das y in den Hilfsverben zum i gestutzt und das h hinter dem t hervorgezogen und aus den Vokabeln geworfen.
- Es gab Traktate, in denen gefordert wurde, die Worte zu schreiben als wären sie gesprochen. Dabei redeten in jedem Kirchspiel die Leute verschieden wie ihnen der Schnabel gewachsen war – wie hätte sich auf diese Weise ein einheitliches Schriftbild entwickeln sollen?
- Und es gab eine orthographische Konkurrenz, die zugleich eine wirtschaftliche war, weil sie mit Wörterbüchern ausgetragen wurde, deren Herstellung die Verleger teuer zu stehen kam, und die sich in der Wissenschaft und am Markt gleichermaßen bewähren mussten.
Das wichtigste und erfolgreichste dieser Wörterbücher war Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, zuerst in fünf Bänden von 1774 bis 1786 und in zweiter Auflage vierbändig von 1793 bis 1801 erschienen, beide Male in Leipzig. Dieses Werk hat Seume benutzt. Hinter den breiten Bücherrücken konnte sich der Korrektor verschanzen, um den Texten die orthographischen Flausen ihrer Verfasser auszutreiben.
Doch nicht immer standen vergebliche Korrektorenmühe und barscher Autorenunmut einander gegenüber. Manchmal übermittelte der Verleger auch Komplimente und lockte etwas Freude aufs Angesicht des Handlangers und Buchstabenrückers. Es muss Balsam für Seumes geschundene Korrektorenseele gewesen sein, als einer der Korrigierten für die Korrekturen ausdrücklich dankte und dabei nicht vergaß, neben dem Korrektor auch den Dichter zu loben. Valerius Wilhelm Neubeck, Verfasser des Langgedichts Die Gesundbrunnen, schrieb im Dezember 1797 an Göschen: »Dass fachkundige Männer mein Gedicht der strengsten Untersuchung und Musterung würdigen, ist meinem Eifer für die Kunst höchst willkommen. Bringen Sie daher dem geistvollen Verfasser der Obolen meinen besten Dank nicht allein für die Würdigung des Wesentlichen meiner Arbeit selbst, sondern auch für die mit Freundlichkeit gegebenen Erinnerungen [Verbesserungsvorschläge] u. Sprachbemerkungen, welche ich zu benutzen gesucht habe.«
Allerdings war Neubeck kein literarischer Profi, sondern ein gelegenheitspoetischer Arzt, sympathisch bescheiden in seinem »Eifer für die Kunst«. Wo das fehlende Lob eines Großen kränkt, muss das eines Kleinen keineswegs gefallen. Dem Korrektor Seume mochte das eine fehlen und das andere nicht genug sein, der Schriftsteller Seume hatte sich vom einen wie vom anderen unabhängig zu machen. Keiner literarischen Gruppe angehörend, keiner ästhetischen Strömung ausdrücklich verpflichtet, schrieb und publizierte Seume als Solitair – oder als Einzelkämpfer, wenn das andere Wort bei einem wie ihm zu pathetisch klingt.
In solcher Situation ist es schwer, in der Einschätzung des eigenen literarischen Rangs nicht schwankend zu sein. Doch spricht es für Seumes schriftstellerische Zähigkeit, dass er, beschützt von Selbstironie, seine lyrische »Erbsünde« pflegte und bis zum Lebensende nicht aufhörte, mit der Feder übers Papier zu kratzen, um Erlebnisse, Empfindungen und Gedanken niederzuschreiben.
Es war nicht nur eine Frage des persönlichen Charakters, sondern auch der literarischen Selbsterhaltung, das Festlegen auf eine Rolle zu vermeiden, von der persona des Wahrheitssuchers abgesehen, dieser authentischen Maske, mit der der Mann längst verwachsen war.
Das Geld wirkte dabei störend – wenn es fehlte, aber auch, wenn es vorhanden war. So ließ er während der Zeit in Göschens Verlag den Lohn von Freund Schnorr verwalten. Das Verlangen nach Ruhm, der für ihn stets nur ein falscher sein konnte, suchte er aus der Seele zu verbannen, was umso leichter war, als er selten in die Verlegenheit kam, sich ihn vom Leib halten zu müssen. Beidem, Ruhmsucht wie Geldgier, begegnete er mit Bannsprüchen. Im Februar 1796 schrieb er an Münchhausen: »Das Schriftstellerwesen behagt mir aber im Grunde sehr wenig; und gebe der Himmel, dass ich es nie zu meiner Resource des Unterhalts brauchen darf.« Im März 1798 an Göschen: »I covet nor money nor glory« – »ich begehre weder Geld noch Ruhm«; ein Jahr später an Gleim: »Ihr Lob soll mich nicht verderben; aber Ihr Tadel soll mir nützen«; im August 1799 an Münchhausen: »Ich habe keine sonderliche Leidenschaft für Ruhm, noch weniger für Reichtum«; im März 1803 an Böttiger: »Ich singe nicht um Geld und Ruhm, sondern aus Bedürfnis meines Herzens«; im August 1804 an Cotta: »Dass ich für Geld und Namen und Lärm und dergleichen Firlefanz nichts mache, bürgt Ihnen gewiss mein Charakter.« Und noch in den letzten Lebenswochen versicherte er Arnoldine Wolf: »Um den Literator und Dichter ist es mir weniger zu tun. Um den gewöhnlichen Beifall bekümmere ich mich nicht viel und um die Kritiker noch weniger, da ich bloß dem Bedürfnis meiner Seele lebe.«
Ehre und Ruhm
Im Freundschaftszimmer des Gleimhauses in Halberstadt hat auch Seume sein Eckchen und blickt mit finsterer Miene auf den Besucher der guten Museumsstube. Bei dem Gemälde handelt es sich nicht um das von Schnorr von Carolsfeld angefertigte Original, sondern um die 1939 vorgenommene Übermalung eines Restaurators nach dem Vorbild einer von Schnorr selbst angefertigten Kopie. Ist diese Nachbildung nach dem Vorbild einer Kopie des Originals nicht ein seltsames Sinnbild für Seumes prekäre Identität, für das Schillern und Schwanken seiner Persönlichkeit, das so eigenartig, das wirklich auf ganz eigene Art mit der von Seume so oft behaupteten Geradlinigkeit und Wahrhaftigkeit seines Charakters kontrastiert?
Das von einem Bildnis Seumes übermalte Bildnis Seumes ist aber noch in anderer Hinsicht ein Sinnbild. Ohne Seumes Ruhm wäre diese Übermalung vermutlich unterblieben, und so veranschaulicht das Gemälde, wie sich die Nachwelt ihr Bild von einem Berühmten macht, auch wenn dieses Bild nicht aus der Luft oder aus der Phantasie gegriffen ist, sondern den Anspruch erhebt, sich nach dem Original zu richten – oder wenigstens nach einer Kopie des Originals. So wie Seumes Selbstbild eines zwischen imaginären Spiegeln gewesen ist, so ist Seumes Ruhm das Ergebnis von Projektionen, die sein eigenes Bild von Ehre überlagerten. Ihm war nicht darum zu tun, »seinen Ruhm warm zu halten«, wie Napoleon gesagt haben soll, sondern seine Ehre zu verteidigen, noch über das Lebensende hinaus. An Johanna Devrient, geborene Loth, schrieb er:
»Unter meinen bessern Landsleuten werde ich auch nach meinem Tode als ein Mann von Ehre leben; das bin ich gewiss, denn ich habe mehrere Gedanken gegeben, die gut sind und sich in der Menge gewöhnlicher Bücher nicht finden.«
Die Unterscheidung zwischen Ehre und Ruhm war in seinen Augen selbst einer dieser Gedanken. Noch in den Apokryphen, die er selbst dem Publikum ja nicht mehr geben konnte, treibt er mit den Schlägen seiner Aphorismen den moralischen Keil tiefer zwischen den öffentlichen Ruhm und die persönliche Ehre:
»Ehre hatten Aristides [›der Gerechte‹] und vielleicht Miltiades [der Sieger von Marathon, über den Seume ein Theaterstück schrieb]; Ruhm haben Cäsar und Napoleon. Wo nicht Vernunft, Gerechtigkeit und Freiheit ist, kann zwar großer Ruhm sein, aber von Ehre ist nicht die Rede.«
»Ruhm enthalten die Zeitungsblätter und die ora populi [Volkslegenden]. Ehre ist die reine Würdigung des Wahren und Guten, und ihre feste Beharrlichkeit darin das Große.«
»Den Ruhm soll der Weise verachten, aber nicht die Ehre. Nur selten ist Ehre wo Ruhm ist, und fast noch seltener Ruhm, wo Ehre ist.«
Aber ist der Ruhm nicht das Schwungrad des Willens? Er gibt doch »die Kraft, welche die Seele aus ihrer Trägheit reißt und sie zu nützlichen, notwendigen und edlen Taten begeistert«. So hat es Friedrich II., den man rühmend »den Großen« nennt, in der Histoire de mon temps, der Geschichte meiner Zeit von 1775 aufgefasst. Seume indessen setzt dem Ruhm in der Geschichte die Ehre vor sich selbst entgegen, wenn er auch hofft, in dieser Ehre dann doch auch nach seinem Tode weiterzuleben, jedenfalls bei denen, die selbst Ehre im Leib haben.
Seumes strenge (und prinzipienreiterische) Unterscheidung zwischen Ruhm und Ehre erinnert an die strenge (und prinzipienreiterische) Trennung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Gebrauch der Vernunft, wie sie Kant in Was ist Aufklärung? gezogen hatte: »Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf.« Der »öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muss jederzeit frei sein«, indessen »der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern«.
Die auf den ersten Blick irritierende Terminologie leuchtet – es geht schließlich um Aufklärung – beim zweiten Lesen ein. Gäbe es die Trennung zwischen öffentlichem und privatem Vernunftgebrauch nicht, wäre die Ausübung eines Amtes der Privatauffassung des Amtsträgers ausgeliefert. Der funktionelle Wert und die soziale Würde eines Amtes sollen aber gerade nicht von der Person dessen abhängen, der es gerade ausübt.
Andererseits zieht Kants unter Funktionsgesichtspunkten nachvollziehbare Einschränkung des Vernunftgebrauchs auf das, was damals ›räsonierende Öffentlichkeit‹ genannt wurde, auch eine Ausschließung nach sich: die Ausschließung all derer, die nicht zu dieser Öffentlichkeit gehören. Diese Ausschließung ist umso folgenreicher, als Selbstaufklärung ohne Öffentlichkeit sehr schwierig ist: »Daher gibt es nur wenige«, schreibt Kant, »denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln«. Seume hätte (teilweise) das Recht gehabt, sich zu diesen wenigen zu zählen. Doch Kant fügt hinzu: sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln »und dennoch einen sicheren Gang zu tun«. Davon dürfte Seume weit weniger überzeugt gewesen sein. Jedenfalls war ihm die Ehre eine Stütze, ein Wanderstab auf dem Weg zur Wahrheit. Geht man auch irre, bleibt man doch wahrhaftig, solange man sich auf das Verlangen nach Wahrheit stützt.
Der Ruhm ist eine Art historischer Amtsanmaßung, eine private Anmaßung in öffentlicher Rolle, was ihn mit Kants »privatem Gebrauch der Vernunft« verwandt macht. Die Ehre hingegen hat Posten nicht nötig oder wird gar von ihnen beschädigt; und die Ehre vor sich selbst braucht nicht einmal Publikum und Wirkung. Erst wo Seume den Ruhm zu einer Sache der Zeitungen und die Ehre zur Privatangelegenheit erklärt, endet die Vergleichbarkeit des Begriffszwiespaltes Ruhm vs. Ehre mit dem Dualismus von öffentlichem und privatem Vernunftgebrauch bei Kant.
Die Frage, wie persönliche Identität und Integrität psychologisch zu bewerkstelligen und wie Vernunft und Öffentlichkeit sozial zu organisieren seien, beschäftigte die Autoren umso stärker, je weiter der publizistische Markt wuchs und je schneller die publizierte Meinung zirkulierte. Nicht mehr am allgemeinen Wohl orientiert zu sein, sondern am persönlichen Erfolg, war ein häufig erhobener Vorwurf in den Schriftstellerfehden der Zeit um 1800. Seumes Freund Merkel hat diesen Vorwurf gegen Goethe und Schiller erhoben, seit sie mit den Xenien eine Attacke gegen ihre Gegner geschrieben hatten, und seit sie in Jena über eine Literaturzeitung verfügten, die nicht nur Überraschungsangriffe führen, sondern auch Stellungen verteidigen konnte.
Diesen Auseinandersetzungen, bei denen sich das Ringen um die Sache kaum noch vom persönlichen Kampf um Anerkennung unterscheiden ließ, bei denen Strategie und Taktik wichtiger wurden als Form und Inhalt, um deretwegen der Streit doch eskaliert war, bei denen Cliquenwesen und Intrigen die Ziele verstellte, die mit den Cliquen und Intrigen erreicht werden sollten – diesen Kriegsgebieten des Literaturbetriebs wich Seume aus wo immer es ging. Nur sich selbst verpflichtet führte er in seinen letzten Jahren einen literarischen Überlebenskampf – wie ein Partisan, der sich allein in unwegsamem Gelände verlaufen hat. Im Oktober 1807 schrieb er an August Kuhn, den neuen Herausgeber des Freimüthigen:
»Ich lebe übrigens von der Welt abgesondert. […] Meine Tagesarbeiten nehmen meine Zeit weg, und sodann habe ich wenig Lust zu spielen. Die Jahre dazu sind vorbei. […] Wenn ich Zeit hätte, würde ich sie auf größere Arbeiten wenden, nicht um Honorar zu verdienen, sondern um die Hoffnung zu erwerben, nicht sogleich mit meinem Tode zu sterben.«