Nicht jeder, der die Welt erfährt, lernt auch die Menschen kennen; und mancher, der zu Hause bleibt, hat Einblick in die Herzen. Seume war gleichzeitig ein guter und ein schlechter Menschenkenner. Es gelang ihm während seines ganzen Lebens unter allen Umständen – als Bauernjunge in der Stadtschule von Borna, als Soldat in Halifax, Emden und Warschau, als Grafenerzieher, Lektor und Schriftsteller und sogar noch als Sterbender in Teplitz – Leute zu gewinnen, die sich seiner annahmen. Er war nicht allein in der Welt – und doch hoffnungslos einsam. Denn das Spiel, das in dieser Welt gespielt wurde, verstand er nicht und wollte es nicht verstehen. Er fand viele Väter, nachdem der seine früh gestorben war, wurde aber selber keiner. Die Anhänglichkeit an die Mutter war eine Konstante, obgleich es eine Anhänglichkeit auf Distanz gewesen ist, ganz ähnlich wie seine Freundschaft mit Münchhausen eine aus der Ferne blieb. Auch den Mädchen kam er nicht nah. Es scheint, als habe er sich mit unbewusster Absicht so verliebt, dass mit einer ehelichen Institutionalisierung des Gefühls nicht ernsthaft gerechnet werden konnte (und musste). Sein Bildungsgang hatte ihn aus der Herkunftsfamilie in die große, sogenannte weite Welt gestoßen, und sein dennoch enger Lebensweg ließ für die Gründung einer eigenen Familie keinen Raum. Vielleicht ist Seume mit all seiner Welterfahrung menschlich gescheitert, jedenfalls nach bürgerlichen Maßstäben, auch denen seiner Zeit. Aber ohne dieses Scheitern wäre er nicht so erfolgreich »unser Seume« geworden, wie Böttiger, »Vater Gleim« und »Vater Wieland«, Freund Schnorr von Carolsfeld und Chef Göschen ihn nannten.

Der Vater und die Väter

In der eigentümlichen Schrift Warum ist der Schmerz der Eltern bei dem Verluste kleiner Kinder größer und heftiger als bei dem Verluste erwachsener? kommt Seume auch auf den umgekehrten Fall zu sprechen, den heftigeren Schmerz kleinerer Kinder beim Verlust eines Elternteils:

»Der gute Knabe, der seinen Vater in dieser Lebensepoche verliert, wird unsägliche Trauer trauern, wird für sein Gefühl keinen Rahmen haben: die Natur wird um ihn her in seinem Schmerz unter zu gehen scheinen; die Welt mit allen ihren Freuden wird ihm wie eine Leichengruppe sein. Ich berufe mich hier auf meine eigene Empfindung, auf Erfahrung. Mein Vater starb, als ich ungefähr dreizehn Jahre zählte. Ich hatte mir vorher den Fall als mit meinem Wesen zugleich möglich nicht zu denken vermocht, dass eines meiner Eltern sterben könnte. Noch bin ich mir dieses Gedankens völlig bewusst; die Vorstellung schlug mich ins Nichts zusammen. Als der Fall geschah, war die ganze Welt um mich her wie eingestürzt: mein Zustand war die ersten Tage unaussprechlich; ich hatte für ihn keine Vergleichung. In den Tod nachsinken zu können würde mir süße Wohltat gewesen sein. Kurze Zeit darauf war ich nicht allein getröstet, sondern sogar erheitert [im Sinne von aufgeheitert]. Ich wunderte mich selbst über die Veränderung meines Zustandes und machte mir Vorwürfe. Nur periodenweise kehrte die magische Melancholie zurück, wenn der Gedanke an den Verstorbenen sich in meine Seele drängte oder ich einsam an seinem Grabe stand.«

Seume hatte nach dem frühen Verlust des leiblichen Vaters viele andere Väter, geistige, moralische, erzieherische.

Als Erster zu nennen ist Pfarrer Benjamin Traugott Schmidt, der dem Jungen das Schmiedehandwerk nicht zutraute und vor dem Lehrerberuf warnte, denn »ein Dorfschulmeister ist ein jämmerliches Tier«. Dann Graf von Hohenthal, der dem kleinen Dorfschulmeisterlein in spe seinen Bildungsweg ermöglichte. Seume hat ihm die Nachrichten über die Vorfälle in Polen gewidmet:

»Verehrungswürdiger Wohltäter!
Es war einer der schönsten Tage meines Lebens, als ein rechtschaffener Mann [eben der Pfarrer Schmidt] mich Ihnen einst mit den Worten empfahl: ›Er ist ein Knabe guter Art; der Segen seines Vaters ruhet auf ihm.‹ Seine Empfehlung galt; und noch jetzt tut dem Kriegsmanne die Erinnerung im Herzen so wohl, als sie dem Jüngling oft am Grabe des Vaters tat.«

An dieses Grab ist Seume als todkranker Mann während seiner Ausflucht nach Weimar ein letztes Mal zurückgekehrt. Als Graf von Hohenthal die Widmung in der Polenschrift las, konnte er nicht ahnen, dass er seinen Schützling überleben und in einer Leipziger Loge einen Nachruf auf ihn hören würde.

Als Seume sein Leben noch vor sich hatte, wie man jungen Leuten sagt, die es ›zu etwas bringen sollen‹, und von Hohenthal nach Borna auf die Stadtschule geschickt wurde, fand er beim Rektor Unterschlupf und in diesem Rektor den nächsten Wohltäter. Denn Johann Friedrich Korbinsky zog den Frischling vom Land in die eigene Familie:

»Der alte Herr nahm mich freundlich väterlich auf, und ist von allen meinen vielen Lehrern derjenige, dem ich am meisten verdankte. […] Das Haus war patriarchalisch gut, und seine Frau mehr als meine zweite Mutter.«

Einer der Korbinsky-Söhne, der 1761 geborene Johann Gottlob, war ihm wie ein älterer Bruder und sein wichtigster Jugendfreund. Mit ihm teilte er nach der Übersiedlung nach Leipzig beim Rektor der Nikolaischule die Stube. Während Seume Rektor Martini nachdrücklich nicht unter die Väter rechnete und ihm die Zumutung, mit der Magd essen zu müssen, ein Leben lang nachtrug, widmete er – im Bösen wie im Guten nichts vergessend – dem 1796 gestorbenen Rektor Korbinsky in seinen im gleichen Jahr erschienenen Obolen ein Gedicht. Zehn Jahre zuvor hatte er als Normann aus Emden an dessen Sohn und seinen Milch-, richtiger gesagt Schulbruder geschrieben:

»Ich verehre den Alten als Lehrer; das ist meine Pflicht: ich liebe ihn aber als Vater, denn er hat mein Herz gewonnen.«

Seume meldete sich als Normann aus Emden auch bei Pfarrer Schmidt mit einem Brief:

»Dies Paquet wird Ihnen vielleicht aus dem Reiche der Toten kommen.«

Normanns wichtigster Adressat war jedoch Gleim, und Gleim blieb das für Seume ein Leben lang, beginnend mit der ersten Gedichtsendung von »Joh. Friedr. Normann« bis zu Seumes Besuch an Gleims Grab auf den letzten Seiten von Mein Sommer 1805:

»In Halberstadt wallfahrete ich noch mit Sonnenuntergange hinaus in den Garten zu dem Grabe meines väterlichen Freundes und Wohltäters, des alten Gleim.«

Und auf der Stelle wird Gleim mit Klopstock verglichen, mit dem Seume während seiner Lektorenzeit so viel philologische Scherereien hatte.

»Unten hatte ich an der Elbe an Klopstocks Grabe gestanden, und hatte dem Genius gehuldigt: hier [an Gleims Grab] tat ich mehr, ich opferte der reinen Herzlichkeit in heiliger Weihe. Hier in diesem Hause, hier auf der Stelle seines Denksteins hatte ich mit ihm selbst gesessen, und mich mit ihm warm gesprochen über das Gute und das Große. Stichle der Krittler seine kleinen Fehler auf; Gleim war ein edler Mann, wie es nur wenige sind.«

Dies wird durch Goethes unübertreffliche Charakterisierung Gleims im zehnten Buch von Dichtung und Wahrheit bestätigt, obwohl sie mit wohlberechneter Heimtücke von der Achtung des Menschen zur Verachtung des Dichters übergeht: Die »Fördernis junger Leute im literarischen Tun und Treiben, eine Lust, hoffnungsvolle, vom Glück nicht begünstigte Menschen vorwärts zu bringen und ihnen den Weg zu erleichtern, hat einen deutschen Mann verherrlicht, der, in Absicht auf Würde, die er sich selbst gab, wohl als der Zweite [nach Klopstock], in Absicht aber auf lebendige Wirkung, als der Erste genannt werden darf. […] Im Besitz einer zwar dunkeln, aber einträglichen Stelle, wohnhaft an einem wohlgelegenen, nicht allzugroßen, durch militärische, bürgerliche, literarische Betriebsamkeit belebten Orte […] fühlte er einen lebhaften produktiven Trieb in sich, der jedoch bei aller Stärke ihm nicht ganz genügte, deswegen er sich einem andern, vielleicht mächtigern Triebe hingab, dem nämlich, andere etwas hervorbringen zu machen. […] Er hätte ebensowohl des Atemholens entbehrt als des Dichtens und Schenkens, und, indem er bedürftigen Talenten aller Art über frühere oder spätere Verlegenheiten hinaus und dadurch wirklich der Literatur zu Ehren half, gewann er sich so viele Freunde, Schuldner und Abhängige, dass man ihm seine breite Poesie gerne gelten ließ, weil man ihm für die reichlichen Wohltaten nichts zu erwidern vermochte als Duldung seiner Gedichte.«

Seume erfuhr das »andere etwas hervorbringen zu machen« ganz gern von Gleim, in literarischer, psychologischer und auch finanzieller Hinsicht. Doch würde er eine weitere Bemerkung Goethes über Gleim, diesmal in den Annalen, ebenfalls bestätigt haben: »Alles Revolutionäre dagegen, das in seinen älteren Tagen hervortritt, ist ihm höchlichst verhasst, so wie alles was früher Preußens großem Könige und seinem Reiche sich feindselig entgegenstellt.«

Der Barde von Halberstadt war ein großer Verehrer Friedrichs des Großen. Zu Lebzeiten des Königs hatte er Gedichte zu seinem Ruhm veröffentlicht, und nach dessen Tod begann er, einen bizarren Kult mit (angeblichen) Utensilien aus dem Nachlass zu treiben. Über diesen Kult hat sich Seume später – natürlich mit dem gebührenden Respekt – amüsiert und über Friedrichs Größe mit Gleim gestritten.

Den ersten Brief an den »verehrungswürdigen Mann« schrieb Seume auf den Tag genau zwei Monate nach Friedrichs Tod aus der preußischen Garnison in Emden unter dem schon im Briefwechsel mit Freund Korbinsky benutzten »Joh. Friedr. Normann«. Darin gibt es eine längere Passage, in der Seume versichert, gern für den preußischen König, den alten wie den neuen, zu sterben, ganz im Sinne jener Preußischen Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier, die Gleim als Dichter berühmt gemacht hatten. Der Dichterruhm hatte schon etwas Patina angesetzt, als Seume Jahrzehnte später seinen Brief schrieb, doch Gleims Ruf als Wohltäter war lebendig. Es war nicht unklug von Seume, auf Friedrich zu sprechen zu kommen, und auf die Lage, in der er sich zur preußischen Monarchie befand. Dass es sich um eine Zwangslage handelte, und dass er bereits schon einmal desertiert war, behielt er für sich, die Gründe für den erst noch bevorstehenden zweiten Versuch allerdings deutet er an:

»Meine Pflicht und mein Eifer vor Friedrichs Haus befehlen mir, künftig unsern neuen Monarchen mit gleicher unermüdeter Treue zu dienen. Gern wollte ich zehn Leben für den König und die Asche des Verstorbenen aufopfern, aber meine besten Tage, die Blüte meiner Jahre in eingeschlossener Untätigkeit hinter der Tasche zu verschlafen – setzen Sie sich an meine Stelle – das schmerzt, schmerzt tief.«

Im Mai 1798 gibt es erneut preußische Erwägungen. Der im Normann-Brief neue König (Friedrich Wilhelm II.) war im Vorjahr gestorben und seinerseits durch einen neuen König (Friedrich Wilhelm III.) ersetzt worden.

»Dass ihr Herz so väterlich für mich sorgt rührt mich unaussprechlich. Den jetzigen König verehre ich unaussprechlich; denn alles, was ich von ihm gehört habe, war gut und brav und menschlich, und wenn ich die Wahl hätte, irgendwo zu leben, so würde ich seine Staaten wählen.«

Aber bei dem von Gleim aus »väterlicher Sorge« offenbar gemachten Vorschlag, Seume möge in preußischen Militärdienst treten, rudert der junge Mann zurück: Er sei schon 35 und könne sich nicht mehr als kleiner Leutnant einstellen lassen – das war sein Rang beim Ausscheiden aus russischem Dienst. Auch möchte er nicht »tief nach Ostpreußen oder Ostfriesland« verschlagen werden. Überhaupt käme für ihn eine preußische Position nur infrage, wenn er »dem König selbst bekannt würde«. Damit ist die Sache erledigt. Wie sollte der nahezu unbekannte sächsische Schriftsteller an den preußischen König herankommen?

Seume hatte Gleim gewissermaßen als Vater adoptiert. Das rührte Gleim und behagte ihm, alles in allem, obwohl Seume zwar Briefe an den alten Mann schrieb, sich aber in Halberstadt einstweilen nicht sehen ließ – oder nur als Bild. Am 9. Mai 1798 erbat Gleim sich eines: »Was Sie, lieber Herr Seume, von Ihrer Lebensart mir sagen, beweist mir, dass sie glücklicher und reicher als ein König sind; also bitt ich mir Ihr Portrait in meinen kleinen Musen oder Freundschaftstempel, nach beigehendem Maße des Blindrahmens.«

Gleim trug im Lauf der Jahre eine Sammlung von Gemälden von Schriftstellern und Gelehrten zusammen, mit denen er korrespondierte. Die Formate sind normiert, und die Porträts hängen Rahmen an Rahmen an der Wand. Dieser einmalige Bildraum des Geistes im 18.Jahrhundert ist noch heute im Halberstädter Gleimhaus zu sehen. Goethe übrigens hängt nicht an der Wand. Er hätte ein Porträt sicher nur unter der Bedingung geschickt, dass es ein Zimmer für sich allein bekommt. Seume indessen kündigt Gleim schon einen Monat später die Erfüllung seiner Bitte an:

»Mein Bild ist ziemlich fertig, und ich werde ehestens die Ehre haben, es Ihnen zu übersenden.«

Im gleichen Brief setzt er sich ausführlich mit der preußischen Politik, mit Russland und mit den Folgen der Französischen Revolution auseinander – »Verzeihen Sie, verehrungswürdiger Mann, diese Expektorationen!« – und kommt in jedem einzelnen Punkt zu Ergebnissen, die Gleims Ansichten widersprechen. Dessen Antwort bleibt aus. Aufgeregt schreibt Seume Mitte Juli einen neuen Brief:

»Verehrungswürdiger Vater Gleim,
sehr oft werde ich ängstlich bei dem Gedanken an Sie, ohne dass ich mir deutliche Rechenschaft geben kann. Sie sind immer so gütig väterlich gegen mich; und mich däucht, Sie würden mir einige Zeilen geschrieben haben, wenn alles wäre wie es sein sollte. Die Furcht, Sie vielleicht beleidiget zu haben beunruhigt mich, aber noch mehr die Furcht, dass Sie vielleicht nicht gesund sind. Ich weiß kaum, welches von beiden schlimmer wäre. Der Himmel verhüte aber nur das letzte; das erste wäre durch Ihre Großmut und meine Aufrichtigkeit zu bessern. Wenn Ihnen einige meiner Äußerungen oder wenigstens in ihrer Art missfallen haben, so bedenken Sie, dass es mir doch nicht so erniedrigend sein würde, Ihre Missbilligung zu tragen, als mich vor Ihnen zu verstecken und Sie zu hintergehen.
Hier schicke ich Ihnen mein Bild mit mancherlei Empfindungen. Die Hauptempfindung ist Dank und kindliche Verehrung gegen den Mann, der mit so lebhafter Freundschaft gegen einen Unbekannten denken und handeln kann, dessen Kopf und Herzen er einiges Gute zutraut.«

Dieser beklemmende Brief zeigt, dass Seume es nie wagen konnte, sich eines anderen völlig sicher zu sein, nicht einmal bei Vater Gleim. Weitere vier Wochen später, Mitte August, schreibt er an den ›amerikanischen‹ Freund:

»Lieber Münchhausen,
Mich däucht, Sie haben ein Recht, mit mir zu zürnen, und wenn Sie nicht auch die Pflicht fühlen, mir zu vergeben [weil Seume länger nicht geschrieben hat], so weiß ich mir freilich nicht zu helfen.«

Nach dieser ganz unbesorgten Bitte um Nachsicht spricht er besorgt über Gleims Unnachsichtigkeit:

»Ich komme, merk ich, hier und da in Kollisionen mit meinen Meinungen. Gleim hat mir eine ziemliche Anzahl Briefe, voll der wärmsten, herzlichsten Freundschaft geschrieben. Seit ich über einige Punkte vielleicht etwas zu offenherzig mich expektorierte, habe ich keine Silbe gesehen. Er verlangte mein Bild, ich habe es ihm geschickt, und seit einem Monat auf nur 15 Meilen Entfernung keine Antwort. Er befindet sich wohl, das haben mich andere versichert, die ihn in der Zeit sahen. Da sehen Sie, ich krieche wieder zurück in meine Nussschale, werde aber schwerlich anders.«

Am 30. August kann er sich erleichtert bei Gleim melden, endlich:

»Vorgestern erhielt ich Ihren so gütigen, väterlichen Brief vom 12ten Juni datiert. Ich bin seit einiger Zeit in großer Angst gewesen, und machte mir mancherlei Vorstellungen, von denen keine sehr tröstlich war. Wo der Brief über neun Wochen kann gelegen haben, ist mir freilich unbegreiflich; doch bin ich nun schon beruhiget.«

Im Oktober kommt es dann zur ersten Begegnung zwischen den beiden. Seume fährt unangemeldet nach Halberstadt und wird vom Hausdiener, dem er seinen Namen nicht nennt, ins Galeriezimmer geführt. Zwei frisch eingetroffene Gemälde stehen an die Wand gelehnt auf einem Tisch. Das eine zeigt Adam Friedrich Oeser, den Direktor der Leipziger Kunstakademie und Freund Seumes – doch kam Seume nach Oesers Tod 1799 der Bitte, dessen Biographie zu schreiben, nicht nach. Das zweite Bild zeigt Seume.

»Als ich mich rund herum unter der Menge [der Leute auf den Bildern] etwas orientierte, kam Er: die Rührung versagte mir im Augenblick schickliche Worte, ich ging auf ihn zu, sahe ihn fest an, fasste seine Hand und wollte sie zum Munde führen. Ach mein Gott, Sie sind Seume, sagte er, fiel mir um den Hals und führte mich auf das Sofa.«

Gleim starb am 18. Februar 1803, und die Passage entstammt dem Nachruf Einige Blumen auf Gleims Urne, den Seume in der Zeitung für die elegante Welt veröffentlichte – nicht im Weimarer Neuen Teutschen Merkur, obwohl Böttiger dafür um einen Text gebeten hatte.

»Als Leipziger«, beschied Seume, »muss ich doch billig etwas in ein Leipziger Blatt geben; […] Wenn Sie mich dann und wann als Dichter aufnehmen wollen, werde ich mich sehr geehrt finden; den Prosaiker will ich hier behalten.«

Durch den Dichter Seume hatte Böttiger überhaupt erst von Gleims Ableben erfahren, denn veranlasst durch den Todesfall hatte Seume das Gedicht Den Manen Gleims (im Originaldruck Gleim’s!) eingeschickt. Dessen letzte Strophe lautet:

»Wenn ich als Greis am Knotenstocke wanke,
Zurück und vorwärts blicke, gibt
Mir Jugendfreude der Gedanke,
Dass Gleim und Weiße mich geliebt.«

Christian Felix Weiße galt als der Leipziger ›Pate‹ Seumes. Der Jugendschriftsteller und ehemalige Herausgeber der Zeitschrift Der Kinderfreund (1775 bis 1782) war über Jahrzehnte eine Zelebrität in der Buchstadt, dort so weltberühmt wie Gleim in Halberstadt. Er hat vieles und viele vermittelt: dem jungen Böttiger zum Beispiel eine Hofmeisterstelle und Seume sowohl die Übersetzung eines englischen Romans für Göschen als auch eine Stelle als Erzieher und Reisebegleiter des jungen Grafen Gustav Andreas Otto von Igelström. Diese Position wiederum brachte Seume mit seinem ersten großen Chef in Verbindung: jenen General Igelström, in dessen Dienst er die russische Besetzung Polens er- und den polnischen Aufstand überlebte.

Über Weiße äußerte sich Seume in einem 1800 im Neuen Teutschen Merkur abgedruckten Lebensbild seines Freundes und zeitweiligen Begleiters auf dem Weg nach Syrakus, Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld:

»Weiße, in nähern und fernern Kreisen der väterliche Ratgeber und Unterstützer jedes aufkeimenden Talents, das sich ihm nähert, verschaffte ihm [Schnorr] manche Bekanntschaft.«

Ebendies galt auch für das Verhältnis zwischen Seume und Weiße.

Der letzte ›Vater‹ (und Übervater) in Seumes Leben ist Christoph Martin Wieland gewesen, der poetisch eleganteste und in seiner kritischen Prosa liebenswürdigste aller deutschen Schriftsteller der Aufklärung. Wieland gehörte für die Zeitgenossen neben Herder und Goethe zum Triumvirat des Weimarer Kulturbetriebs. Er war kein Kraftgenie wie die jungen Wilden des Sturm und Drang, die sich gut mit ihm verstanden, nachdem sie sich – auch an ihm – die Hörner abgestoßen hatten. Und er war kein verzückter Weltentrückter wie einige der Romantiker, die in ihm nur den literarischen Tanzmeister des Rokoko sehen wollten. Wieland hat ein erfolgreiches Leben geführt, in Amt und Würden und auch auf dem Markt, was damals nicht vielen gelang. Seine von Göschen verlegten Sämtlichen Werke brachten ihm so viel ein, dass er 150 Hektar von Gut Oßmannstedt in der Nähe von Weimar erwerben, wenn auch auf lange Sicht nicht halten konnte. »Ich hätte dies Gut nie kaufen sollen, sagte der ehrwürdige Wieland«, kolportierte Böttiger später.

Seume war bei Göschen mit der Betreuung der letzten Bände dieser Werkausgabe befasst, mit wesentlich mehr Freude an der Arbeit als bei den Oden des herablassend hoheitsvollen Klopstock. Dabei schrieb Wieland ebenfalls verstimmte, wenn auch milde Briefe an Göschen wegen der vielen Satzfehler, die Seume übersehen hatte.

Zur ersten persönlichen Begegnung zwischen dem kleinen Korrektor und dem Großschriftsteller ist es erst spät gekommen, zu einem Zeitpunkt, als der Korrektor schon auf dem Sprung war, nach Süden zu marschieren und sich literarisch in den »Spaziergänger« zu verwandeln, als den Wieland ihn dann so sehr ins Herz schloss. Am 20. November 1801, Wielands Frau war knapp zwei Wochen zuvor gestorben, tauchte Seume in Weimar auf, zusammen mit seinem Malerfreund Schnorr von Carolsfeld und einem reisenden Engländer mit Namen Henry Crabb Robinson. Auch bei Goethe sind sie ein Halbstündlein gewesen.

Den zweiten Besuch bei Wieland stattete Seume im August 1802 ab, auf dem Rückweg der sizilianischen Reise, den dritten im Herbst 1805 und den vierten und letzten im Mai 1810, während seiner Ausflucht nach Weimar.

Nach Seumes Tod bezeugte Wieland in einem Brief an Böttiger seine Freundschaft mit dem Verstorbenen. In den letzten Jahren habe es »eine so enge Verbindung unsrer Gemüter« gegeben, »als ob wir schon zwanzig Jahre in einer immer wachsenden Vertraulichkeit mit einander gelebt hätten«. An Göschen schrieb er – oder sollte man sagen, schrie er: »Gott! Welch ein Geist, welch ein Herz, welch ein Charakter ist mit diesem seltnen Mann aus der Welt verschwunden! Dass sein Verlust für mich unersetzlich ist, ist das Wenigste: die Menschheit hat an ihm eine ihrer größten – leider! unerkannten Zierden verloren!« Wie rührend diese Ausrufezeichen sind, stammen sie doch von einem großen Mann, der um einen kleinen trauert.

Seume war immer bewusst, wie schwer es ist, über sich und seine Herkunft hinauszugehen und doch bei sich selbst zu bleiben. In Kampf gegen Marbona, dem von Christian August Tiedge ohne Seumes Wissen verlegten autobiographischen Gedicht, dankt er denen, die ihm ermöglicht hatten, sich auf den Weg zu machen:

»Hohenthal, der Mann von alter Sitte,
Nahm sich mild des Waisenknaben an,
Lenkte freundlich meine ersten Schritte
Auf des Erdenrunds verschlungner Bahn.

Meine Freunde waren Gleim und Weiße,
Waren stets wie gute Väter mir.
Trat der Jüngling aus dem rechten Gleise,
Schalt mit edelm Zorn der Grenadier.«

Mit dem »Grenadier« ist Gleim gemeint, der nie einer war, sondern mit seinen Kriegsliedern nur ein wenig so getan hat. Dass Seume »Grenadier« auf »mir« reimt, klingt nicht nur komisch, sondern ist es auch: Denn nicht Gleim war einfacher Soldat gewesen, sondern Seume, obwohl Seume wie Gleim im Militärdienst nicht geschossen, sondern geschrieben hat. Außer dem »Grenadier« Gleim und dem »Kinderfreund« Weiße zollt Seume auch Wieland poetisch Tribut (»Vater Wieland winkte voll Vertrauen,/Wenn er seinen alten Pilger sah«) – und den Eltern:

»Ehrlich muss ich an dem Pilgerstabe
Frei bekennen, kindlich dankbar sein,
Alles, was ich Gutes an mir habe,
Pflanzten sorgsam mir die Eltern ein.«

In Mein Leben ist der väterliche Elternteil durch die alten Griechen ersetzt:

»Oft pflegte ich und pflege noch jetzt halb im Scherz halb im Ernst zu sagen: Was ich Gutes an und in mir habe, verdanke ich meiner Mutter und dem Griechischen.«

Die Mutter und die Mädchen

In der Schrift über den Schmerz der Eltern bei dem Verlust kleiner Kinder kommt Seume in unmittelbarem Anschluss an die Passage über den Vater auch auf die Mutter zu sprechen. In einer Art Komparatistik der Trauer vergleicht er den Schmerz des dreizehnjährigen Jungen beim Tod des Vaters mit demjenigen, den er als erwachsener Mann beim (noch bevorstehenden) Tod der Mutter empfinden würde:

»Wenn meine gute Mutter stürbe, die ich liebe und achte, der ich jede solidere Richtung meines Charakters zu danken habe, und wegen welcher das Erdenleben noch das meiste Interesse für mich hat; ich würde bei ihrem Tode vermutlich nicht so unaussprechlich schmerzlich trauern, obgleich meine Trauer gewiss länger und tiefer sein würde.«

Das Verhältnis Seumes zur Mutter war nicht einfach, genau wie das zu den Mädchen und zur Frau überhaupt. Er war ein ungestilltes Kind und ein Mann von unstillbarer Sehnsucht. Eine psychoanalytische Deutung seiner Persönlichkeit könnte ihre Reize haben. Aber Leute, die seit Jahrhunderten im Grab liegen, bettet man nicht um auf die Couch. Im Übrigen käme im Fall Seume statt der Freud’schen Hermeneutik eher die moderne Bindungstheorie infrage, wollte man schon von nekropsychologischer Diagnostik nicht lassen. Nach ihr hätte Seume als ›unsicher gebunden‹ zu gelten.

Wie wichtig die ersten Lebensjahre für den Seelencharakter eines Menschen sind, ist keine Erkenntnis der Bindungstheorie zu Beginn des 21.Jahrhunderts oder der Psychoanalyse um die Wende vom 19ten zum 20sten. Im ersten Drittel des 18.Jahrhunderts schrieb Johann Christoph Gottsched unter dem Pseudonym »Calliste« in seiner »moralischen Wochenschrift« Die vernünfftigen Tadlerinnen: In der »Morgenröte unseres Lebens ist, meines Erachtens, von unzähligen Eigenschaften unseres Gemütes und Körpers der Grund zu suchen. Hier bildet sich diejenige Beschaffenheit unsers Wesens, welche man das Naturell zu nennen pflegt.«

Zu Seumes »Naturell« gehörte das Sich-binden-wollen-und-nicht-können. Daraus erwuchs die frustrierte Freiheit des Mannes mit den vielen Vätern. Einem von ihnen, Graf von Hohenthal, schrieb er kurz vor der Verschiffung nach Amerika, er halte seine Lage »noch nicht vor [für] unglücklich, nur vor fatal«. Wie es ausgehe, müsse sich erst noch zeigen. Dann bricht ins Begrübeln des künftigen Schicksals ein Gefühl, aber ein Pflichtgefühl:

»Meine Mutter. Dies ist das Härteste! Wenn Sie mich noch nicht vor ganz verwildert, vor ganz verdorben halten, so sein Sie versichert, dass Kindespflicht mir das erste, heiligste Gefühl ist.«

Im ersten Brief an Freund Korbinsky einige Wochen zuvor steht zu lesen:

»Meine Mutter, ach! ich darf nicht als mit der größten Verwundung meines kindlichen Herzens an sie denken, – auch diese soll [wie zu diesem Zeitpunkt noch Hohenthal und Schmidt] nichts von mir wissen: es macht ihr mehr Sorge.«

Ob er, wie an Hohenthal zweieinhalb Monate und an Schmidt vier Jahre später, seiner Mutter von unterwegs doch noch geschrieben hat, ist unklar. Der erste von insgesamt drei überlieferten Briefen stammt aus seiner zweiten Leipziger Studienzeit und ist nichts weiter als ein Begleitschreiben, kurz und sehr nüchtern:

»Liebe Mutter,
Ich habe versprochen, heute dem Manne [offenbar aus dem Dorf der Mutter], ich habe seinen Namen vergessen, seine kleine Rede an Erndekranztage [Erntedankfest] zu schicken; hier ist sie. Habt die Güte, sie ihm zu geben. Er soll sie ordentlich lernen, so wird sie erträglich sein. Ich habe sehr wenig Zeit, sonst hätte ich auch noch an den Herrn Magister [gemeint ist Pfarrer Schmidt] geschrieben.
Lebt wohl
Euer
gehorsamer
Sohn
J.G.Seume«

Der zweite überlieferte Brief an die Mutter liegt einem Paket Wäsche bei, das er bald gewaschen zurückerbittet.

»Ich wünschte Euch wohl selbst zu sprechen, habe aber jetzt nicht Zeit hinauszukommen.«

Der dritte ist vom April 1803. Seume hat seinen alten Gönner besucht und will über Ostern nach Dresden wandern, für Mutter und Schwester fehlt ihm wieder die Zeit:

»Vorigen Sonntag war ich bei dem Grafen Hohenthal […] und hörte da von […] der Schwester Niederkunft, aber auch zugleich von Eurer Krankheit. Zu der ersten wünsche ich Glück, und hoffe, dass die andere bald wieder vorüber gehen wird. […] Wenn ich nicht längst versprochen hätte, diese Ostertage einen Gang nach Dresden zu machen, würde ich wohl ein wenig zu Euch kommen.«

Nach weiteren Ermunterungen (»Rafft nur Eure Kräfte zusammen und haltet Euch«) folgt mit »wahrer Liebe und Hochachtung« der Gruß und darauf die Begütigung:

»Zwischen Ostern und Pfingsten komme ich schon irgend einen Sonntag einmal einige Stunden hinaus.«

Es ist zu spüren, dass er sich verpflichtet fühlt – und dass es keine angenehme Verpflichtung ist. Dafür gibt es sogar einen Zeugen, ebenjenen Henry Crabb Robinson, der Seume im November 1801 auf der Reise nach Weimar begleitete. Unterwegs schaute man auch in Poserna bei Seumes Mutter vorbei: She »did not express much delight at seeing her Son who on his part seemed to be cold and indifferent«.

Gleichwohl schrieb Seume Anfang Februar 1802, nun schon in Venedig, an Gleim:

»Es hat mir niemand ein größeres Fest machen können, als wenn er mit mir zu meiner Mutter ging oder fuhr.«

Weil ihm das lieber war, als ihr allein gegenüberzutreten? Eine Bemerkung in einem Brief an Göschen vom Oktober 1800 hört sich ganz danach an:

»Den Sonnabend der Zahlwoche geben Sie mir wohl eine freundliche patriarchalische Herberge; und desto besser, wenn wir den Sonntag zusammen zu meiner Mutter wallfahren können.«

Im August 1803 wiederum schlug er Garlieb Merkels Angebot einer redaktionellen Mitarbeit am Freimüthigen in Berlin mit der Begründung aus, weder die Stadt noch das Geld locke ihn, außerdem sei es seiner alten Mutter ein Bedürfnis, ihn »alle Vierteljahre einmal zu sehen«. Als August von Kotzebue, der Mitherausgeber der Zeitschrift, nachhakend eine Redakteursstelle anbietet, antwortet Seume:

»Außer den Gründen, die ich meinem Freunde Merkel schon angeführt habe […] würde mir auch die sitzende Lebensart nicht bekommen. […] Die stärkste Ursache meines Hierbleibens ist unstreitig, weil es mir Pflicht ist, mich ohne Not nicht zu weit von meiner alten Mutter zu entfernen, für welche meine Nähe Beruhigung ist, und die ich von Berlin aus vielleicht kaum würde wiedersehen können.«

Schon im Sommer 1799 war es die Mutter gewesen, die Seume – einstweilen – zu Hause hielt, als er unglücklich in der Liebe zu Wilhelmine Röder und unzufrieden im Dienst Göschens an der Kette zerrte:

»Ihnen die Wahrheit offenherzig zu bekennen, muss ich sagen, dass mein Geist ziemlich unruhig wird, etwas wieder in die Welt hineinzuschauen. Meine alte Mutter fesselt mich, und ich ehre und liebe das Band. […] Nächst dieser ist fast niemand, den ich kindlicher ehrte und liebte als meinen guten Vater Gleim.«

Gleim zeigte sich gerührt und verglich Seume ausgerechnet mit Friedrich den Zweiten von Preußen, den er »seinen Einzigen« zu titulieren pflegte:

»Diesen Augenblick, Morgen zehn Uhr, erhalt ich, lieber braver Mann, Ihr Schreiben […] Dass dieser liebe Mann seine alte Mutter mit solcher Kindesliebe, wie mein Einziger die Seinige liebte, liebt, das macht ihn mir zu einem Ähnlichen meines Einzigen.«

In den Apokryphen, entstanden zwischen April 1806 und Juli 1807, macht Seume im Rückblick auf sein glückloses Leben und die beiden unglücklichen Lieben zu Wilhelmine Röder und Johanna Loth die trübe Bemerkung:

»Wenn meine Mutter nicht wäre, lebte ich wahrscheinlich nicht mehr; denn es gehört eine große Pflicht dazu, um diese allgemeine Weggeworfenheit zu dulden.«
Hexe Hip
Einem Rosenmädchen hat er seinen Namen aufs Näschen verab-seumt. Zum Mädchen aus Marmor hob er den Blick »von süßem Rausche trunken«. Aber Melancholia schmiegt er sich in die Arme zum »süßen traurigen Vergnügen«. Im Gedicht An die Schwermut blickt das lyrische Ich, wie es germanistisch korrekt heißen muss, auch wenn dieses Ich ohne jeden Zweifel das verzweifelte von Seume selber ist – dieses Ich also schaut an der Seite der »Göttin mit dem tiefen schwarzen Schleier« herab auf Menschenwerk und Menschheitsgeschichte: Blinder Potentatenehrgeiz häuft »Knochenhügel« auf, von den »Klostertürmen« funkelt »des Aberglaubens Gaukelei«, an »umgeworfnen Leichensteinen« weinen die Waisen, »der Armen Kummerschweiß« düngt die Gärten, »wo der Schwelger singet«. Überall Mord und Totschlag, Unterdrückung und Raub, Krieg und Verheerung, Brand und Zerstörung.
Seumes Blick auf die Geschichte ist der des Spätaufklärers. »Führe mich zu deiner Abendfeier«, heißt es in der ersten Zeile des Gedichts. Die Sonne der Aufklärung geht unter, aus dem Halbdunkel tritt das Grauen hervor. Der Fortschritt ist über Leichen gegangen, der Optimismus war eine Narrenlehre, das Licht der Erkenntnis flackert trübe. Die Neuzeit ist alt geworden und die Zukunft längst vergangen.
»Leite mich, Geliebte, wenn ich sinke,
Dass ich Kraft aus deinem Auge trinke,
Wenn der Zweifel wühlend auf mich rückt,
Wenn ich vor dem großen Vorhang stehe,
Und mit Zittern in die Tiefe sehe,
Dass mich nicht Verzweiflung niederdrückt.«
Das ist historisch und politisch zu nehmen, aber auch persönlich. Schließlich sind die Verse 1796, in der Zeit seiner unglücklichen Liebe zu Wihelmine Röder, entstanden. Im Oktober dieses Jahres versichert er Garlieb Merkel, wie leid es ihm tue, seinen neu gewonnenen Freund in die »Erbsünde der Hypochondrie geworfen« zu sehen, und im Mai 1797 schreibt er:
»Ich rate Ihnen, Freund, sich die Hexe Hip vom Halse zu schaffen.«
Das ist Freundeserziehung und zugleich Selbstermahnung. Hing doch auch Seume der Hexe ein Leben lang am Gängelband: Zehn Jahre vor dem Schwermutsgedicht ließ er »Bruder« Korbinsky wissen:
»… ich habe Epochen, wo meine Seele finstrer ist als Shakespeares schwarzestes Trauerspiel.«
1794 betastet er in poetischer Prosa Einen an der Düna bei Riga gefundenen Totenkopf, als befände er sich in der Friedhofsszene des Hamlet. 1796 rückt er das Gedicht Mein Geburtstag in die Obolen, seinen ersten Lyrikband.
»Vater, hilf die Stunden mir gewinnen,
Bis der Urne letzte Tropfen rinnen;
Dass ich dann in meines Lebens Buche
Nicht vergebens meine Werke suche.«
Im Dezember 1797 reimt er Schnorr von Carolsfeld brieflich die Bitte zurecht:
»Sodann noch eins. Es ist uns fast
Das Leben ohne Ton zur Last:
Drum schafft uns doch in unsern Nöten
Nur eine von den alten Flöten,
Damit, wenn uns die Grillen hudeln,
Wir doch ein Stückchen können nudeln.«
Im Januar 1803 bedauert er, dass er einen Brief Böttigers immer noch nicht beantwortet hat:
»… ich habe nicht einmal eine andere Entschuldigung als meine Faulheit und die Dame Hyp.«
Und das Eingangsgedicht von Mein Sommer 1805 klagt:
»Mir wird’s so dunkel und so abgestorben,
Und menschenleer,
Bin ich es, oder ist die Welt verdorben
Rund um mich her?«

Seumes Mutter starb am 13. Dezember 1807, und Seume hat sie wirklich nicht lange überlebt, obwohl er den angedeuteten Selbstmordgedanken widerstanden hat.

»Zwei Mal war ich nahe an dem Entschlusse, mich dem Tode zu geben«, heißt es in den Apokryphen, »beide Male für ein Weib oder aus Wahnsinn für sie. Das erste Mal hing die Ausführung von einem kleinen bedingten Umstande ab, der nicht eintrat; das zweite Mal überwog der Gedanke an meine Mutter.«

Aber wenn schon nicht aus dem Leben scheiden, dann wenigstens von Leipzig. So war es wegen Wilhelmine bei der Reise nach Süden, und so war es wegen Johanna bei der Reise nach Norden.

Wilhelmine Röder hatte Seume durch seinen Freund Schnorr von Carolsfeld kennengelernt, der die 19-jährige Kaufmannstochter im Zeichnen unterrichtete. Von Schnorr, der auch ein Aquarell von Seumes Mutter angefertigt hatte, stammte jenes Medaillonbildchen, das sich Seume auf dem Monte Pellegrino vom Halse schaffte. Gerade noch hatte er in einer Kapelle eine freie Stelle auf der heiligen Rosalie gesucht, um wie andere touristische Schmierfinken seinen Namen zu hinterlassen. Die Heilige war schon über und über beschriftet, nur auf der Nasenspitze, ausgerechnet, war noch ein Plätzchen frei, wenn wir Leser das sentimentale Anekdötchen glauben wollen, und dort hatte der Wanderer seinen Seume dem »Rosenmädchen« appliziert. Beim Rückweg stolpert er, stürzt und holt sich eine blutige Nase. Eine Rache der Rosalie, fragt der naseweise Wanderer und fasst sich mit kapriziöser Selbstironie ein Herz, um es vor dem Leser auszuschütten:

Dieses »war mir wohl ehedem etwas enge gewesen; jetzt war ihm längst wieder leicht. Ich hatte aus Gewohnheit noch ein kleines, niedliches Madonnenbildchen [mit Rödergesicht] an einer seidenen Schnur am Halse hangen […] Das Orginal hatte mich königlich betrogen. Jetzt nahm ich es [nicht das Original, das Bildchen] unwillkürlich von der linken Seite [die – angebliche – Herzseite], nach welcher sich das Idolchen immer neigte; schloss unwillkürlich das Glas auf, nahm das elfenbeinerne Täfelchen heraus und erschrak, als ich es heftig unwillkürlich in zehn Stücke zersplittert zwischen den Daumen hielt. […] Ich hielt die Trümmerchen in der Hand; Freund Schnorr mag verzeihen: er hatte mit Liebe an dem Bildchen gepinselt. Einige Minuten hielt mich Phantasus noch mit Wehmut am Original; ich […] sah es im Geist an der Spree im goldenen Wagen rollen. Rolle zu; und so flogen die Stücke mit der goldenen Einfassung den Abgrund hinunter. Ehemals wäre ich dem Bildchen nachgesprungen; noch jetzt dem Original.«

Wilhelmine Röder lebte gut verheiratet in Berlin, daher der goldene Wagen an der Spree. Der Sarkasmus im Märchenton entringt sich einem, der auf Schusters Rappen unterwegs ist, nicht mit Kutschen durch die Gegend fährt, der schlecht und recht mit Worten handelt, nicht mit Seide, wie der erfolgreiche Rivale.

Die Heirat zwischen Wilhelmine und dem hugenottischen Kaufmannssohn George Henri Favreau lag bereits fünf Jahre zurück, als der Spaziergang im Mai 1803 bei Hartknoch erschien. Und noch in Mein Sommer findet sich eine Reminiszenz an Wilhelmine, obwohl die (fort)treibende Kraft dieser Reise Johanna Loth gewesen ist. Johanna muss aber erst ausgerechnet werden, was nur den Eingeweihten unter Seumes Leserinnen und Lesern möglich war:

»Jeder Mensch hat seine eigenen Heiligentage […] Ehemals war einer meiner großen Heiligentage der fünf und zwanzigste April [Wilhelmines Geburtstag]. Die Ursache liegt bei mir ziemlich tief in der Sakristei der Seele, die ich Dir gelegentlich wohl aufschließen kann. Der Aprilheiligentag ist nun etwas obsolet geworden, vermutlich weil er – April war; nicht eben durch meine Schuld. Nun überraschte mich ein solcher Tag [also ein anderer ›Heiligentag‹] in Holkaberg. Du kannst zwischen dem fünf und zwanzigsten und siebzehnten [am 17. September hatte Seumes Mutter Geburtstag] aussuchen, welchen Du willst, und wirst in der Mitte wohl nicht sehr irren.«

Zieht man vom Geburtstag Wilhelmines vier Tage ab oder zählt man zum Geburtstag der Mutter vier Tage zu, ergibt das den einundzwanzigsten, und am 21. August hatte Johanna Loth Geburtstag.

Wie mögen Wilhelmine und ihr Mann diese Passage aufgenommen haben? Allerdings hatten beide schon ganz anderes von Seume zu hören und zu lesen bekommen: Wilhelmine Liebesbriefe und Vorwürfe, ihr Mann eine unverschämte Epistel mit Belehrungen. Anfang Dezember 1796 reimt Seume vor dem Schlafengehen (»es ist recht spät, und ich bin recht müde«):

»Und wenn ich hundert Jahre schriebe
Ich schriebe doch Dir nichts als Liebe.
Der Puls, der Dir nicht Liebe schlägt,
Der Wunsch, der mich zu Dir nicht trägt,
Gehöret nicht zu meinem Wesen,
Ist meiner Seele fremd gewesen.
Die Liebe nur belebt mein Herz
Und hebet froh es himmelwärts;
Die Liebe, die Du mir zum Leben
Und für die Ewigkeit gegeben.«

Die Ewigkeit dauerte indessen bloß hundert Tage. Auf wenige Wochen Seligkeit folgten für Seume Tage selbstmörderischer Düsternis und Jahre verzehrender Trauer. Es hat den Anschein, als sei die Liebe für Seume eine Erlösung von sich selbst gewesen, eine Öffnung zum Leben hin.

»Jetzt Wilhelmine, lieb ich Dich
Und alles wird nun froh um mich.«

So reimt er in einem weiteren Briefgedicht und verrät mit dem Wörtchen »nun« die unfrohe Wahrheit, wie er sich vor seiner Liebe zu Wilhelmine in der Welt fühlte. Ungefähr zur gleichen Zeit erkundigt er sich bei Göschen, wie er es anstellen solle, eine bürgerliche Existenz zu gründen. Allein würde er »sorglos den Strom der Welt hinunterschwimmen […] ohne Hoffnung und Furcht«, wie er in seinem gekünstelten Stoizismus gern und allzu gern beteuert. Hätte er »die Wahl gehabt«, bekennt er, »hätte ich wohl meine Freiheit behalten und mich um die ganze Weiberwelt nichts bekümmert«. Aber nun:

»Ich liebe: ich hätte nie geglaubt, mich je mit festem Ernst in einem solchen Falle zu finden. […] Ich bin arm, habe nichts als meine Ehrlichkeit; aber darauf bin ich stolz, vielleicht etwas zu sehr. Solange ich allein da stand, war dieses wohl gar nicht zu tadeln. Wenn ich mich aber in Verbindung mit mehrern Personen denke, die ich sodann durchaus in keiner Rücksicht von mir trennen kann, so möchte dieses Gefühl mir manche Streiche spielen. Mein Mädchen ist ziemlich reich, eine Qualität, die sonst die Liebhaber eben nicht in Verlegenheit setzt, die mir aber viele Unruhe macht. Was soll ich tun?«

Für eine akademische Laufbahn fehle es ihm an gründlichen Kenntnissen und an der dafür unvermeidlichen »Biegsamkeit«; das »Soldatenwesen taugt für Familienverhältnisse noch weniger«; nach Russland will er trotz seiner alten Verbindungen nicht gehen, denn dort treibe »nur dann und wann ein Fragment von Menschlichkeit auf dem Ozeane der Barbarei« herum.

»Ich habe eine Menge Entwürfe gemacht, und sie wieder verworfen. Nun ist mir der Gedanke eingefallen, Buchhändler zu werden. […] Es ist mir nicht um den Buchhandel, nicht um Geld, nicht um Ruhm, ich bin sehr offenherzig, um nichts zu tun, als um das Mädchen; und nur darum um ein leidliches Auskommen zu einer sehr frugalen Ökonomie.«

Auch in einem Brief an Wilhelmine spricht er das Problem an:

»Die Welt wird Dich sehr tadeln, wenn sie Deine Wahl erfährt; aber ich will Dich rechtfertigen dadurch, dass ich ihr zeige, ein Weib könne an meiner Seite wohl so glücklich sein als in einem goldnen Wagen.«

Da rollt sie schon, die sinnbildliche Kutsche des Reichtums, in der er auf dem Monte Pellegrino in gekränkter Phantasie das für ihn verlorene Mädchen durch die Stadt und durchs Leben fahren sieht. Auf dem Berg reißt er sich das Bildnis vom Hals und endlich die Liebe aus dem Herzen. In seinem letzten, beinahe fünf Jahre zurückliegenden Brief an Wilhelmine hatte er geschrieben:

»Ich bin glücklich gewesen, in meinem Wahn glücklich gewesen, das danke ich Dir. Du kannst stolz sein, es hat mich kein weibliches Geschöpf glücklich gemacht, als Du; Du kannst sehr stolz sein, es wird mich keines wieder glücklich machen.«

Diese trotzige Versicherung widerlegte er später mit Johanna Loth. Aber im Januar 1797 war die schwer heilende und erst auf dem sizilianischen Marsch vernarbende Wunde noch ganz frisch:

»Ich versichere Dich, Liebe, ich werde Dich nicht aus meiner Seele verlieren. […] Wilhelmine, Du hättest redlicher mit mir handeln sollen; bei Gott, ich hätte Dir alles aufgeopfert. Wirst du glücklich sein, wenn ich bei Deiner Hochzeit ein Trauerlied singe, dass meine Freunde mit mir weinen?«

Als er im Mai 1798 dann tatsächlich von ihrer Hochzeit hört, kann er das kaum verkraften und schreibt an Gleim:

»Ihr Brief ist meiner Seele ein wahrer Balsam gewesen. Ich erhielt ihn an einem Abend, der mir einer der bösesten meines Lebens war, noch schlimmer als der hinter den Tonnen in Warschau [wo er als Soldat in russischem Dienst den Aufstand der Polen überlebte]. Es war mir eben zufällig gemeldet worden, dass es der Trauungstag des Mädchens war, der mein Herz zu viel getraut hatte, und ich fühlte mich in meiner ganzen Schwäche. Doch stille davon! Männer müssen Männer sein, auch wenn die Laute Wehmut tönt.«

Auch an Wilhelmines Gatten schrieb Seume einen Brief. »Ich vergebe ihr gern und wünsche ihr Glück«, verkündet er so großartig wie ungefragt, bevor er den rund elf Jahre jüngeren, frisch vermählten Ehemann erst rügt und dann mit Erkenntnissen über den Charakter von dessen Gattin aufwartet:

»Sie selbst, mein Herr, haben bei der Sache als ein junger, nicht ganz ernsthafter Mann gehandelt. Ich wünsche Ihnen Glück; Sie haben das nötig. Ihre Frau ist gut, ich habe sie tief beobachtet, und würde nicht im Stande gewesen sein, mein Herz an eine Unwürdige zu verlieren. Dass zwischen uns nichts Strafbares vorgefallen ist, dafür muss Ihnen mein Charakter und meine jetzige Handlungsweise bürgen. Sie hat Fehler: sie kann hassen, verzeiht nicht leicht und ist leichtsinnig. Sie haben also keinen leichten Gang mit ihr. Sie müssen ihr manchen Fehler vergeben, und selbst keinen begehen. […] Sie sind ein Mann; von Ihnen hängt alles ab. Wenn Wilhelmine je von ihrem Charakter sinken könnte, ich würde den meinigen fürchterlich rächen. Verzeihen Sie und halten das nicht für Impertinenz.«

Das ist schon für sich genommen ein starkes Stück. Doch dann verlangt er auch noch:

»Wenn Sie selbst Ihre Pflichten immer erfüllen, so führen Sie ihr immer in einer ernsthaften Stunde mein Andenken wieder zu. Es kann ihr heilsam werden, und soll Ihnen nicht schaden.«

Zu Wilhelmine selbst hat er zum Zeitpunkt dieses Briefes seit über einem Jahr keinen Kontakt mehr. Aber in einer Mischung aus Treue und Verbohrtheit lässt er weiterhin nichts auf sie kommen. Nicht einmal von Vater Gleim:

»Sie haben das Mädchen nicht gekannt und dürfen also kein Urteil über sie sprechen. Es soll ihr wohl gehen; ich werde sie wahrscheinlich nie wieder sehen; aber verdammen lasse ich sie nicht; und sollte ich noch jetzt mein Leben für sie opfern. So glücklich werde ich nie wieder werden, als ich einige Monate in dem schönen Traum war. […] Ich habe Kraft genug, jeder Schickung mutig entgegen zu sehen; aber ich will mir selbst die Schattenbilder der Vergangenheit nicht nehmen lassen. Sie sollen meine leere Zukunft ausfüllen. Mit dem Nestbauen wird es nunmehr wohl bei mir getan sein.«

Aber nachdem er sich die Liebe zu Wilhelmine aus dem Leib gelaufen hatte, gab es doch noch einen Nestbauversuch. Wieder handelte es sich um ein ›reiches‹ Mädchen, wieder hatte Seume wohl von vornherein keine Chance, wieder geriet er an den Rand des Selbstmords, als er von der Verbindung der jungen Frau mit einem anderen erfuhr, und wieder ging er auf und davon, obwohl er diesmal mehr fahren musste als laufen konnte.

Seume war ein gern gesehener Gast in der Familie Göschen, und wenn er von Grimma zum nahe gelegenen Landgut Göschens bei Hohnstädt wanderte und dem Verleger danach einen Brief schrieb, war darin nicht nur die Rede davon, wie es um die Oden Klopstocks stand, sondern auch um die Kohlköpfe auf den Äckern des Chefs. Durch die Göschens hatte Seume Zugang zur Familie Loth, und dort verliebte er sich 1804 in Johanna, die mit ihren zwanzig Jahren halb so alt war wie er. Im Unterschied seiner Bindung an Wilhelmine, die mit Wissen und Einverständnis des Mädchens geschah, spielte sich die Liebesgeschichte dieses Mal hauptsächlich in seinem Kopf ab, oder in seinem Herzen. An Weihnachten 1804 erfuhr er im Familienkreis der Göschen und Loth ganz nebenbei von Johannas Verlobung mit dem Kaufmann Johann-Emanuel Devrient – und schrieb prompt einen Brief an ihren Vater, einen schwer bewölkten, obwohl er für den Vater aus heiterem Himmel gekommen sein dürfte:

»Dieser Brief wird Sie unstreitig überraschen, vielleicht auch nicht; […] Ich darf und werde nicht mehr in Ihr Haus kommen und jede Gelegenheit sorgfältig vermeiden, Ihre Tochter zu sehen. […] Meine Seele hat seit langer Zeit große Abgötterei mit dem Mädchen getrieben, und ich bin in eine Stimmung geraten, wo ich Gefahr laufe, ein Raub meiner Empfindungen zu werden. […] Das Mädchen weiß nichts; wenigstens nicht mehr, als was sie vielleicht mit ihrem feinen Takt erraten kann. […] Sie war freilich die Ursache manches Besuchs, den ich in Ihrem Hause machte; sie war aber auch oft die Ursache, dass ich nicht kam. Ich wollte meine Empfindung niederkämpfen; aber das geht nun, wie ich wohl merke, ohne heroische Mittel nicht. […] Ihr Herr Sohn hat mir gestern eine Eröffnung gemacht, die meinen schwankenden Entschluss festsetzen muss, ehe ich von meiner Schwachheit zuviel verrate. Ich will gute Verhältnisse nicht stören, und sollte ich darüber mit meinem Wesen zu Trümmern gehen. Es ist freilich traurig, dass ich nun wieder einsam und freudenleer sein werde; aber ich muss in mich selbst zurückgehen und mit mir allein leben. Es bleibt mir nichts als das Bewusstsein eines ehrlichen Mannes, das zwar endlich sicher, aber trostlos kalt ist. Ich bin zur Verwaisung geboren und bezahle meine höhere Bildung etwas teuer. In meinem Herzen liegt ein unendlicher Reichtum, mit dem ich und niemand etwas anzufangen weiß; ich werde nun bei den Toten leben.«

Dies war nicht die Ankündigung eines Selbstmords, sondern die eines Rückzugs zu den ›Alten‹, den griechischen und römischen Autoren, deren Schriften in Jahrhunderten und Jahrtausenden so gut abgehangen waren, dass man sich ohne Furcht und Hoffnung über sie beugen konnte.

Auch an Johanna selbst hat Seume in diesem Winter seiner Seele geschrieben, ziemlich genau acht Jahre nach den Dezemberbriefen an Wilhelmine:

»Liebe, liebe Freundin,
Es ist das erste und höchst wahrscheinlich das letzte mal, dass ich diese vertrauliche Sprache des Herzens zu Ihnen spreche, auf die ich mir durch meine reinsten Gesinnungen gewiss ein Recht erworben habe. Meine Entfernung aus dem Hause Ihres Vaters kann Sie über meine Seelenstimmung nicht in Ungewissheit gelassen haben, und wenn es auch nicht großmütig ist, so ist es doch sehr menschlich, dass ich mich nicht so ganz ohne etwas freundlichen Abschied von Ihnen trenne. […] Ich bin freilich bei der Sache ein etwas unbesonnener Knabe gewesen, der die Dinge rund um sich her nicht überlegt hat, und ich büße die Sorglosigkeit jetzt sehr hart; […] Dass Sie ein reiches junges Mädchen sind, daran habe ich leider wenig gedacht; ich empfand nur, dass Sie schön und liebenswürdig sind. […] Ich bekenne meine Schwachheit; die Nachricht [von Johannas Verlobung] fasste mich bis zur Zerrüttung. […] Sie wären die Seligkeit meines Lebens gewesen, und ich bin mir durchaus bewusst, ich würde Ihnen keinen Ihrer schönen Tage verdorben haben. Ich habe Kraft und Mut zu arbeiten und würde mit Frohsinn gearbeitet haben, bis die Fingerspitzen geblutet hätten. Eine Frau hätte ich selbst ernähren können, aber freilich keine Dame, und leider sind in unsrer Konvenienz die Frauen seltener als die Damen. Doch wozu leidige Äußerungen? Wenn Sie gewiss sind, dass der Mann, den Sie wählen wollen, Ihre ganze herzliche, uneingeschränkte Teilnahme verdient hat und verdient, dass Sie Ihr Glück unbedingt in seine Hände legen können, dass Sie unverrückt beständig mit zärtlicher Hingebung sich an seinen Charakter zu halten hoffen dürfen, so eilen Sie, die Verbindung zu schließen, die Ihr Herz wünscht; fühlen Sie aber Bedenklichkeiten, die der Ernst rechtfertigt, so gehen Sie behutsam und langsam, damit Sie nicht eine solche Übereilung mit dem Unglück Ihres Lebens büßen. […] Ich sehe Sie wahrscheinlich nie wieder; das Gebein schauert mir bei dem Gedanken. Sehen Sie, wie gut es gewesen wäre, wenn meine Seele ohne allen Ton zärtlicherer Empfindungen wäre? Ohne meine Mutter wäre ich längst fort, hinaus in die wildesten Elemente.«

Eines dieser »wilden Elemente« ist der Tod selbst:

»Wenn mich die Pflicht nicht leben hieße, würde ich den Tod suchen, einen Freund, mit dem ich nicht [erst] seit ehegestern bekannt bin.«

An seinen Verleger Johann Friedrich Hartknoch schrieb er noch im Januar, »es fehlte nicht viel, so hätte ich zu den kleinen runden Schnapphähnen an der Wand gegriffen«, womit die beiden Pistolen auf seiner Stube gemeint sind.

Im Unterschied zu Wilhelmine brach der Kontakt zu Johanna Loth nur vorübergehend ab. Später kam es zu einer freundschaftlichen Wiederannäherung, und Seume widmete der nunmehr verheirateten Frau Devrient ein Gedicht:

»Aus Deinen Blicken trink’ ich Begeisterung;
Mein ganzes Wesen atmet die Huldigung,
Die mich in Deinen Zauber hüllet
Und mit Entzücken die Seele füllet.«

Nach weiteren Strophen mit Nachtigallen und Frühlingsfreuden werden wieder unverbrüchliche Treue und durch nichts zu erschütternde Opferbereitschaft beschworen:

»Es bleibet, Freundin, stets mit Bescheidenheit
Dir meine Seele bis in den Tod geweiht;
Und Dir die Ruhe zu erwerben,
Könnt’ ich noch heute mit Freuden sterben.«

Im Winter 1804 hatte er in seinem langen Brief an Johanna geschrieben, nur die Pflicht gegenüber der Mutter halte ihn am Leben. Als sie am 18. Dezember 1807 verstarb, wandte er sich wiederum an Johanna:

»Ich bin kaum im Stande, mir meine Mutter als abwesend zu denken, so sehr war sie in alle meine Gedanken verwebt. Die Zeit wird das ihrige tun und die Gefühle mildern; töten wird und soll sie sie nie. Ihre Freundlichkeit liegt wieder ganz in den Zügen Ihrer Schrift, und eine Träne, halb des Schmerzes und halb der süßen Rührung, zitterte mir von der Wimper.«

Ein paar Tage später reagiert Seume in seinem Weihnachtsbrief beunruhigt auf finanzielle Schwierigkeiten von Johannas Mann, von denen er gehört hat. Wie er seinerzeit an den Gatten von Wilhelmine schrieb, um ihm den Charakter von dessen Eheweib zu erklären, so schreibt er nun an Johanna, um sie vor allzu großer finanzieller Opferbereitschaft zugunsten ihres Gatten zu warnen. Wieder spürt er selbst das Ungehörige, das »Impertinente« an diesem Brief; und wieder setzt er sich mit viel Pathos über die eigenen Bedenken hinweg:

»Ich hätte mich gewiss stillschweigend entfernt, wenn nicht Ihre jetzige Lage mir es zur Pflicht zu machen schiene, Ihnen einige ernste Worte zu sagen. Misskennen [missverstehen] Sie den Beweggrund, so hülle ich mich in mein Bewusstsein und gehe traurig weiter. Sie können von einem Manne nicht verlangen, das, was er auf der Welt am zärtlichsten liebt, in Gefahr zu glauben und nichts dabei zu tun.«

Nach den gut gemeinten und schlecht gerechtfertigten Ratschlägen, die niemand, am wenigsten Johanna, von ihm erbeten hatte, kommt er noch einmal auf den Tod der Mutter zu sprechen:

»Ich ging mit voller, unruhiger Seele das letzte mal von Ihnen, traurig und bekümmert ohne fest bestimmte Ursache; den andern Tag erhielt ich einen Boten mit der Nachricht, meine Mutter, die ich noch ziemlich gesund glaubte, sei gestorben.«

Da die Mutter in Poserna unweit von Grimma bei Seumes Schwester wohnte, hätte Seume eigentlich besser über ihren Gesundheitszustand informiert sein können.

»Dieses Gefühl [der Trauer] verschlang nun alle übrigen; ich habe wenige so wehmütige Momente meines Lebens gehabt. Auch dieses ergriff mich mehr, als ich gefürchtet hatte. Als Sie mir schrieben, begrub ich meine Mutter, eine vortreffliche alte Frau, der ich das meiste Gute in mir verdanke. Die Loskettung von der Pflicht hat in meinem Wesen eine traurige Leere gelassen, die an Vernichtung grenzt.«

Es berührt seltsam, wie Seume, der religiöse Schwärmerei immer schwungvoll verachtet hat, sich in seiner Seelennot ausgerechnet an einem alten pietistischen Begriff festhält, dem der »Vernichtung«, der vom vielen Gebrauch in den zurückliegenden Jahrzehnten empfindsamer Frömmelei ganz abgenutzt war.

Wenige Wochen später sandte Seume Madame de Staëls Liebesroman Corinne in der deutschen Übersetzung von Dorothea Schlegel an Johanna, wieder als selbst ernannter Lehrmeister, aber diesmal wenigstens auf eigenem, nicht finanziellem, sondern literarischem Gebiet. Der Roman war mit ausgiebigen Anmerkungen Seumes verziert. Im Begleitschreiben bietet er alles an schriftstellerischen Berühmtheiten auf, was ihm möglich ist, um zu demonstrieren, wie wenig sie auf der Waagschale der Liebe bedeuten:

»So ernsthaft Sie mich kennen, weiß ich doch, dass ich über einem Blatt von Wieland vom Tische aufgesprungen bin und die Verse im Zimmer abgetanzt habe; […] Gleim war mein Freund, und Herder und Schiller und Weiße, und Wieland ist es; und Goethe ist mir nicht abhold. Das könnte meiner Eitelkeit genug sein, und ich wollte doch jeden Gedanken hingeben, womit ich die Schätzung dieser Männer gewonnen habe, wenn – wenn –  –
Schweigen soll ich, will ich, werd’ ich, Liebe;
Wenn Du zürntest, scheuchte mich ein Wort,
Als ob man mein Todesurteil schriebe,
In ein freudenleeres Leben fort.

Fort von neuem durch empörte Meere,
Wo die Woge furchtbar heulend bricht.
Schweigen will ich, wenn’s zum Tode wäre;
Aber anders werden kann ich nicht.«

Das war auch nicht nötig. Johanna blieb Seume freundlich und freundschaftlich verbunden, obwohl er gelegentlich Gründe hatte, sich über Vernachlässigung zu beklagen. Ein Vierteljahr vor seinem Tod, nur die »letzte Ausflucht Weimar« und die Reise zur vergeblichen Kur nach Teplitz standen noch aus, beklagte er sich »ohne Scherz«, doch Kapriolen schlagend:

»Sie mögen sehen, wie Sie es mit Ihrem Gewissen ausmachen, dass Sie mich armen, kranken Teufel so lange hartherzig ohne eine freundliche Silbe haben liegen lassen. Da sind doch Mad. Göschen und die Frau Doktor Braune ein wenig großmütiger gewesen. Aber ich bin doch wohl ein recht undankbarer Geselle. Sie schreiben mir nun so gütig freundlich; und ich zanke wie ein Eisbär.«

Dieser Brief ist von einer ganz unseumigen Gelassenheit, geschrieben schon aus Todesnähe. Deshalb greift er trotz historischer Ferne heute noch ans Herz. Das Schreiben endet mit dem – im besten, wahrsten und schönsten Sinne – frommen Wunsch:

»Der Himmel nehme Sie in seinen heiligen Schutz und erhalte mir Ihr Wohlwollen.«

Die großmütige Frau Braune übrigens war die Ehegattin des mit Seume befreundeten, nicht weniger großmütigen Leipziger Arztes Christian Gottfried Carl Braune. Er behandelte den »armen, kranken Teufel« unentgeltlich und erhielt dafür von Seume das Manuskript der unvollendeten Autobiographie, die von Göschen und Clodius fortgeschrieben und als Mein Leben veröffentlicht wurde. In dieser Fortsetzung gibt es auch eine Passage über Seume und die Mädchen: »Seume hatte Empfänglichkeit für die Reize des schönen Geschlechts, er war mehrere Male wirklich verliebt mit der ganzen Stärke und Heftigkeit seines Gemüts. Ich würde dieses […] gar nicht erwähnen […] wenn es nicht auffallend gewesen wäre, dass die beiden letzten Gegenstände seiner Liebe« – also hat es doch nicht nur Wilhelmine und Johanna gegeben? – »reiche Mädchen waren. Er suchte ihren Reichtum nicht, aber da sie reich waren, ließ er sich hier gehen, und strebte nach einer ehelichen Verbindung mit dem Gegenstand seiner Liebe […] Gewiss haben mehrere Mädchen Eindruck auf ihn gemacht« – in den Apokryphen findet sich die Notiz »Je älter ich werde, desto schöner sind die Mädchen.« –, »aber wenn sie arm waren, so suchte er gleich Anfangs Herr über eine solche Liebe zu werden, und ihrer Macht zu entgehen.«

Mit den armen Mädchen wollte er, mit den reichen sollte er kein Glück haben. Mit einem aus Marmor lief es besser, sogar in dichterischer Hinsicht. Hat Göttin Hebe auch ein Herz aus Stein, sie schenkt immer Ambrosia aus, ewige Mundschenkin des Glücks. Von »süßem Rausche trunken, wie in ein Meer von Seligkeit versunken«, schaute Seume im Februar 1802 in Venedig zu ihr auf. Das Gedicht auf Canovas Statue ist in seiner jubelnden Hingerissenheit eines von Seumes schönsten. Im Unterschied zu den lyrischen Liebeserklärungen, die er den wirklichen Mädchen schickte, ist die Bewunderungspoesie auf die Marmorgöttin frei vom leidenden Seume’schen Grundton. Hier ist alles freudiges Entzücken. Im Angesicht von Canovas gemeißelter Schönheit darf Seume sich frei fühlen von Furcht und Hoffnung, die ihn bei Frauen aus Fleisch und Blut quälten. Doch hatte er es in Venedig nicht nur mit Hebe zu tun:

»Ich zählte für den Tag meinem Lohnbedienten sein Geld in die Hand […], da kamen, weiß der Himmel, ob meine Figur, mein Gesicht oder meine Handvoll Liren sie angelockt, ein Paar allerliebst freche Venezianische Dirnchen und lehnten sich freundlich an Schulter und Ellbogen und plauderten wer weiß welchen frommen oder gottlosen Unsinn her.«

Man merkt beim Lesen dieses Briefs an Göschen noch heute, wie gut ihm das getan und wie sehr es ihm gefallen hat. Dennoch begann er, »so stark als möglich russisch zu fluchen«, legte sein »Gesicht in die gröbsten Sackfalten« und blieb »ungehudelt«, wie er sich ausdrückt. Auch im Spaziergang berichtet er das Erlebnis und schmückt es noch hübscher aus:

»Ich zahlte dem Bedienten jeden Abend sein Geld; […] dieses geschah diesen Abend, da es noch ganz hell war, auf dem Markusplatze. Einige Mädchen der Aphrodite Pandemos mochten bemerkt haben, dass ich bei der Abzahlung des Menschen eine ziemliche Handvoll silberner Liren aus der Tasche gezogen hatte.«

Figur und Gesicht lässt er diesmal weg und konzentriert sich, realistischer, auf das, was Aphrodite Pandemos, die käufliche Göttin fürs Volk, wirklich lockt: Lire. Die Mädchen

»legten sich, als der Bediente fort war und ich allein gemächlich nach Hause schlenderte, ganz freundlich und gefällig an meinen Arm. Ich blieb stehen und sie taten das nämliche. Man gruppierte sich um uns herum, und ich bat sie höflich, sich nicht die Mühe zu geben, mich zu inkommodieren. Sie fuhren mit ihrer artigen Vertraulichkeit fort, und ich ward ernst. Sie waren beide ganz hübsche Sünderinnen, und trugen sich ganz niedlich und anständig mit der feineren Klasse. Ich demonstrierte in meinem gebrochenen Italienisch so gut ich konnte, sie möchten mich in Ruhe lassen. Es half nichts; […] Eine von den beiden Nymphchen schmiegte sich endlich so schmeichelnd als möglich an mich an. Da ward ich heiß und fing in meinem stärksten Baßtone auf gut russisch zu fluchen, mischte so etwas wie Impudenza [Unverschämtheit] und senza vergogna [schamlos] dazu, und stampfte mit meinem Knotenstocke so emphatisch auf das Pflaster, dass die […] erschrockenen Geschöpfchen ihren Weg gingen.«

Nach dieser Episode folgt im übernächsten Absatz wie zufällig und doch in gekonntem Kontrast die Begegnung mit der Marmorgöttin:

»Jetzt ist meine Seele voll von einem einzigen Gegenstande, von Canovas Hebe.«

In Mailand kommt es erneut zum Verführungsversuch einer »schönen Sünderin«:

»Ich saß an einem Sonntag Morgen recht ruhig in meinem Zimmer und las wirklich zufällig etwas in den Libertinagen Katulls [Liebeslyrik des römischen Dichters]; da klopfte es, und auf meinen Ruf trat ein Mädchen ins Zimmer, das die sechste Bitte [im Vaterunser: ›… und führe uns nicht in Versuchung‹] auch ohne Katull stark genug dargestellt hätte. Die junge, schöne Sünderin schien ihre Erscheinung mit den feinsten Hetärenkünsten berechnet zu haben. […] Signore comanda qualche cosa? [›Befehlen der Herr etwas?‹] fragte sie in lieblich lispelndem Ton, indem sie die niedliche Hand an einem Körbchen spielen ließ und Miene machte, es zu öffnen. Ich sah sie etwas betroffen an und brauchte einige Augenblicke, ehe ich etwas unschlüssig No antwortete. Niente? fragte sie, und der Teufel muss ihr im Ton Unterricht gegeben haben. Ich warf den Katull ins Fenster [auf die Fensterbank] und war höchst wahrscheinlich im Begriff, eine Sottise zu sagen oder zu begehen, als mir schnell die ernstere Philosophie still eine Ohrfeige gab. Niente, brummte ich grämelnd, halb mit mir selbst in Zwist; und die Versucherin nahm mit unbeschreiblicher Grazie Abschied. Wer weiß, ob ich nicht das Körbchen« – hätte Freud nicht seine Freude daran gehabt? – »etwas näher untersucht hätte, wenn die Teufelin zum dritten Mal« – kräht im Evangelium nicht dreimal der Hahn, während Petrus gefragt wird, ob er zu den Jüngern Jesu gehört, und es leugnet? – »mit der nämlichen Stimme gefragt hätte, ob gar nichts gefiele.«

Seume hat widerstanden, wenn auch mit Bedauern. Und für den Fall, dass Freund Leser auf die Idee kommt, die Sache werde im Buch anders erzählt, als sie im Leben gewesen ist, fügt Seume hinzu:

»So war die Sache, mein Freund; und wäre sie anders gewesen, so bin ich nicht so engbrüstig [engherzig] und könnte sie Dir anders oder gar nicht erzählt haben.«

Im gleichen Jahr, 1803, in dem Seumes Spaziergang erschien, veröffentlichte Schiller seine 1785 entstandene Ode An die Freude. In diesem späteren Beethoven-Hit und europäischen Vereinigungsschlager umschlingt der Chor die ganze Menschheit – und stößt doch, was gern überhört wird, einzelne Menschen, solche wie Seume etwa, grausam aus:

»Seid umschlungen, Millionen!/Diesen Kuss der ganzen Welt!/Brüder – überm Sternenzelt/Muss ein lieber Vater wohnen.//Wem der große Wurf gelungen,/Eines Freundes Feund zu sein;/Wer ein holdes Weib errungen,/Mische seinen Jubel ein!/Ja – wer auch nur eine Seele/Sein nennt auf dem Erdenrund!/Und wers nie gekonnt, der stehle/Weinend sich aus diesem Bund!«

Eine der wenigen Seelen, die Seume sein nennen konnte, war Baron Freiherr von Münchhausen, der Freund aus den »huronischen« Tagen in Halifax. Im Gedicht Abschiedsschreiben erteilt Seume ihm Ratschläge für eine gute Lebensführung. Das Gedicht wurde zuerst 1792 in Schillers Thalia veröffentlicht und von Münchhausen dann in die 1797 erschienenen Rückerinnerungen aufgenommen. Darin gibt es eine Warnung »vor dem Weibe«, die sich anhört, als nehme sie schon 1792 die wilhelminasche Liebesverwundung von 1796 vorweg:

»Flieh vor dem Weibe, Freund; in ihren Netzen
Ist erst Berauschung und sodann Entsetzen;
Und in der ganzen Schöpfung liegt
Kein Wesen, das mit allen Engelgaben,
An denen sich die blinden Opfer laben,
Am Ende grausamer betrügt.«

In seinem Nachruf an Seume dichtet Münchhausen zurück und wendet sich an den »Sohn des Unmuts«: »Du gibst als Freund mir wohlgemeinte Lehren;/Ich danke Dir. Auch sie von mir zu hören,/Entadelt Deine Weisheit nicht./Nimm nun auch Du mein Herz in Lehren wieder/Und hör’ ein Wort in diesem meiner Lieder,/Ein Wort, das meine Seele spricht.//Flieh nicht das ganze menschliche Geschlechte,/Damit Du nicht im angemessnen Rechte/Den Namen Menschenhasser trägst./Sieh nicht im Weib das Krokodil vom Nile/Und mach’ es nicht zu Deines Grolles Ziele,/Worauf Du Deine Pfeile jägst.«

Die Freunde und die Chefs

»Die Liebe, sagt man«, schrieb Adolph von Knigge 1788 in Über den Umgang mit Menschen, »sei blind; sie fessle durch unerklärbaren Instinkt Herzen aneinander, die dem kalten Beobachter gar nicht füreinander geschaffen zu sein schienen, und da sie nur durch Gefühle, nicht durch Vernunft geleitet werde, so fallen bei ihr alle Rücksichten des Abstandes, den äußere Umstände erzeugen, weg. Die Freundschaft hingegen beruhe auf Harmonie in Grundsätzen und Neigungen; nun aber habe jedes Alter sowie jeder Stand seine ihm eigene Stimmung, nach der Verschiedenheit der Erziehung und Erfahrungen, und desfalls finde unter Personen von ungleichen Jahren und ungleichen bürgerlichen Verhältnissen keine so vollkommene Harmonie statt, als zur Knüpfung des Freundschaftsbandes erfordert werde.«

Mit ihrem Alter passten Seume und Münchhausen, nur etwa vier Jahre getrennt, gut zusammen. Doch was den bürgerlichen Stand und die soziale Lage betraf, hätte es zwischen dem übers Meer verschlagenen Kleineleutekind und dem ehrgeizigen Freiherrn nie und nimmer zur Freundschaft kommen können. Knigge fährt allerdings fort: »Diese Bemerkungen enthalten viel Wahres, doch habe ich schon zärtliche und dauerhafte Freundschaften unter Leuten wahrgenommen, die weder dem Alter noch dem Stande sich ähnlich waren.«

Im Lauf des 18.Jahrhunderts entwickelte sich in der aufgeklärten Ständegesellschaft vor allem in bürgerlichen Kreisen ein Kult der Freundschaft, der mit seinen künstlichen und manchmal kunstvollen Gefühlsergüssen, seiner öffentlich ausgelebten Empfindsamkeit und seinem nie enden wollenden Bereden in Briefen, Romanen und Gedichten geradezu hysterische Züge annahm. Zusammen mit anderen Schlag- oder vielleicht besser gesagt: Koseworten der Menschlichkeit war ›Freundschaft‹ eine schnell zirkulierende (und recht abgegriffene) Münze im persönlichen und publizistischen Austausch, ähnlich der ›Humanität‹, der ›Empfindsamkeit‹, der ›Philanthropie‹ und – gut deutsch gesagt, denn das griechische ›philos‹ heißt Freund, ›anthropos‹ ist der Mensch – der ›Menschenfreundlichkeit‹.

Auf Münchhausens freundschaftlicher Warnung, Seume müsse aufpassen, dass er nicht zum »Menschenhasser« werde, lastete epochales Gewicht. Viele Briefe und Bücher wurden über Freundschaftsthemen geschrieben, viele Zeitschriften konkurrierten um Abonnenten. Die ›Menschenfreundlichkeit‹ brachte es sogar zu allen drei titelmöglichen Varianten: Der Menschenfreund (Hamburg 1737–39), Der Mensch (Halle 1751–56), Der Freund (Ansbach 1754–56). Allerdings erschien auch ein Hypochondrist auf dem literarischen Marktplatz, aber nur kurz, 1762, und nur im nordisch gemütsdüsteren Schleswig.

Auch Bücher sollten Freunde sein oder welche werben. Ölgemälde und Scherenschnitte hielten Freundesantlitz und Freundschaftsprofil gegenwärtig. Die Pfarrer predigten von Freundschaft. Die Pietisten trieben die Innerlichkeit auf die Spitze und wurden mit dem Jesuskind intim, die Pädagogen wollten Freunde ihrer Schüler sein. Erziehungsanstalten, die aus Kindern lesende Menschen machen sollten, zum Beispiel durch das Verfüttern von Lebkuchenbuchstaben, gaben und nannten sich philanthropisch. 1774, im gleichen Jahr, in dem Goethe mit den fingierten präsuizidalen Briefen Werthers an einen Freund zum literarischen Star avancierte, gründete Johann Bernhard Basedow in Dessau die Erziehungsanstalt Philanthropinum und veröffentlichte sein mit prachtvollen Kupferstichen von Chodowiecki geschmücktes vierbändiges Elementarwerk. Dieses philanthropische, ›menschenfreundliche‹ pädagogische Kompendium annonciert sein Programm schon in seinem Untertitel: »Ein geordneter Vorrat aller nötigen Erkenntnis. Zum Unterricht der Jugend, von Anfang bis ins akademische Alter, zur Belehrung der Eltern, Schullehrer und Hofmeister, zum Nutzen eines jeden Lesers, die Erkenntnis zu vervollkommnen.«

Der Dichter Gleim pflegte ebenfalls den Freundschaftskult und richtete in einem Zimmer seines Hauses in Halberstadt einen ›Freundschaftstempel‹ ein. Er sammelte Porträts von Zeitgenossen, mit denen er korrespondierte, und wenn er einen seiner zahlreichen Briefe zu schreiben hatte, rückte er das Schreibpult vor das Bild, das vom Adressaten an seiner Wand hing.

Göschen wiederum ließ einen Freundschaftspavillon in den Hohenstädter Hauspark setzen, und wenn Besucher die Treppe zu ihm emporstiegen, hatten sie die Giebelinschrift »Amicitiae« im Blick: »der Freundschaft«.

Der symbolische und emotionale Überschuss, der das Knüpfen und Pflegen von Freundschaften über das auch damals schon übliche ›networking‹ hinaus ins Kultische trieb, rührte von einem Mangel her: von einem Mangel an offenen Herzen und offenen sozialen Räumen. Das gesellschaftliche System aus der alten Zeit wurde Menschen mit neuen geselligen Bedürfnissen zu eng. Was politisch nicht zu überwinden war, wurde persönlich überspielt. Der wahre Menschenfreund weiß im freundschaftlichen Umgang die sozialen Schranken zu heben. Aber oft sollten diese Schranken eben nur gehoben, auf keinen Fall abgeschafft werden. Man wollte mehr Humanität bekommen und doch seine Privilegien behalten. So wurde das, was sich in der Unschuld der frühen Tage als Menschlichkeit Bahn brach, im Lauf der Jahre ritualisiert und in Konventionen gebannt. Die Empfindung verkünstelte zur »Empfindeley«, Schwärmerei erstickte das wahre Gefühl, und Affektiertheit umrauschte den Einklang der Herzen wie ein Ballkleid die schmale Taille der Tänzerin.

Der tatsächliche, wirkliche Freund aus Fleisch und Blut verschwand hinter dem Bild, das sich die Einbildungskraft von ihm machte. Der nicht präsente Freund war der präsentabelste. Karl Philipp Moritz, einer der großen Bekenner der Literatur des 18.Jahrhunderts und in seinen Selbstauskünften direkter (und naiver) als Rousseau in den literarisch meisterhaft inszenierten Bekenntnissen, brachte die seelische Spannung, die zwischen Abwesenheit und Präsenz des Freundes entstehen kann, recht trocken auf den Punkt. In dem von ihm gegründeten Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, der ersten empirisch-psychologischen Zeitschrift im deutschen Sprachraum, heißt es: »Der abwesende Freund ist mir mehrenteils wichtiger und interessanter, meine Empfindungen für ihn zärter, zuweilen gar enthusiastisch, als der Freund, mit dem ich eben spreche.«

Das freundschaftliche Wort nahm leicht überhand, wenn man die Feder ergriff, um es auf Brief- oder Manuskriptblätter zu schreiben, kam aber nur schwer über die Lippen, wenn es darum ging, es vor einem anwesenden Gegenüber in den Raum zu stellen. Denn dort stand es dann ungeschickt herum und war allen peinlich.

Auch die Freundschaft zwischen Seume und Münchhausen war zärtlich auf weite Distanz. Auf diese Weise blieb sie dauerhaft, trotz des einen, missglückten Besuchs Seumes bei Münchhausen, und obwohl sie nahezu ein Vierteljahrhundert nach Seumes Tod doch noch zerbrach, als Münchhausen mit erstaunlicher Verzögerung Mein Leben las. Geschlossen in Halifax, wurde der Freundschaftsbund zwischen den beiden bekräftigt durch die 1797 in den Rückerinnerungen dokumentierte lyrische Zwiesprache. Das Bändchen eröffnet mit einer Vorrede Münchhausens: »Mein Leser! Hier hast Du ein Büchlein. Es enthält einige Harfenschläge der Freundschaft von mir und meinem Freunde Seume. Kannst Du irgend eine gute, biedere Seele Dein nennen; weißt Du, was echte, wahre Freundschaft ist, und wie wohl sie dem Herzen tut, so lies es; wo nicht [so stehle Dich weinend aus diesem Bund?], so lege es wieder hin.«

Nachdem der Leser in die Freundesrunde aufgenommen ist, folgt ein Gedicht Münchhausens, dessen erstes Wort »Seume!« lautet, Seume mit vorwurfsvollem Ausrufezeichen. Dann folgen Fragen (»Wars Gelübde der Freundschaft, oder was war er, der Schwur?«) und Zweifel (»Schweige, Gefühl der Liebe; verstumme, Stimme der Freundschaft; Denn der Schwärmer verlernte diese vertrauliche Sprache.«).

Seume antwortet mit Meinem Münchhausen zum Denkmal. Das lyrische Ich, der fingierte Sprecher des Gedichts ist nicht einfach mit Seume identisch, sondern von diesem erfunden und an ein Dichtergrab gestellt, und zwar mit ästhetischer Wirkungsabsicht an dasjenige Gellerts, dessen Lyrik Seume mit Münchhausen in Halifax gelesen hatte:

»So wahr ich lebe, Freund, und hier am Staube
Des großen Menschenfreundes steh,
Und froh in Sternenregionen seh,
So wahr ich an den Wert der Tugend glaube:

Mein Herz zwar hart und arm, doch gut und bieder,
War einst so folgsam, als du mir
Am Felsen riefst, und sendet jetzo Dir
Dein Echo aus der tiefsten Falte wieder.«

Der Band enthält insgesamt sechs Gedichte, gerecht verteilt zwischen den beiden Autoren. Das wichtigste und sicher auch wertvollste von ihnen ist Seumes Abschiedsschreiben mit seinen Freundschaftsbeteuerungen, denen dann – »Jetzt lebe wohl und höre von dem Freunde,/Als ob er scheidend dir im Arme weinte,/Ein Wort, das meine Seele spricht« – eine lyrische Strophenkette voller Ermahnungen folgt. Das Gedicht stand ursprünglich im Zusammenhang mit Seumes Entscheidung von 1792, gegen Münchhausens Ratschlag in russischen Militärdienst zu treten und Abschied vom »Vaterland« wie vom Freund zu nehmen.

Sechs Jahre später, Seume ist längst wieder in Leipzig und inzwischen kein ganz unbekannter Autor mehr, schreibt er an Münchhausen:

»Ich weiß wohl, dass ich in der Welt nicht viel tauge, dass ich für die meisten Lagen des Lebens etwas verstimmt bin; aber das weiß ich doch auch, dass ich wahrhaft Ihr Freund bin und es zu sein verdiene. Wenn ich nicht immer so bin, wie Sie mich haben wollen, so kann ich nicht dafür. Unsere Individualität ist fast nie in unserer Gewalt; am allerwenigsten, wenn ihr ganzer Stempel schon geschlagen ist.«

Dann erklärt er, noch nicht zu wissen, was er aus sich oder das Schicksal aus ihm machen werde, und kommt auf Gleim und die Rückerinnerungen zu sprechen:

»Gleim lässt Sie grüßen. Er hat von ungefähr unsere Rückerinnerungen gesehen, und schrieb mir eine ganze Seite voll Erkundigungen nach Ihnen in seinem letzten Briefe. Wenn Sie nicht weiter von mir wären als der Alte Patriarch Gleim, so würde ich längst einmal zu Ihnen geflogen sein.«

Gleim wunderte sich in der Tat darüber, »wie’s möglich ist, dass Ihr Amerikaner Euch in Europa noch nicht gesehen habt!«. Seume erklärte es ihm:

»Dass wir, Münchhausen und ich, uns in der alten Welt noch nicht gesehen haben, daran sind wohl nur unsere Lagen und im geringsten nicht unsere Gesinnungen schuld. [In Mein Leben wird Seume das glatte Gegenteil behaupten.] Wir sind 50 Meilen von einander entfernt, und in seinen und meinen Verhältnissen kann man nicht so viel Zeit ersparen, um eine solche Ausflucht zu machen. Ich bin aber gesonnen, sobald als möglich ihn eben so zu überraschen, wie ich glaube, dass ich den Vater Gleim überrascht habe.«

Diese Überraschung ist Seume auf dem Rückweg von Syrakus wirklich gelungen. Im Oktober 1802 schreibt er darüber an Sophie von La Roche:

»Er erkannte mich nicht, und erst, nachdem ich ihm mein Introduktionsschreiben, einen Ring mit seinem Bildnisse vorhielt, sank er, wie von einem elektrischen Funken gerührt, in meine Arme, und führte mich zu seiner jungen Frau als seinen alten Freund.«

Aber schon mit dem nächsten Satz verlässt Seume den alten Freund im Briefbericht und geht zur Weimarer Station seiner Rückreise über. Im Spaziergang hingegen hat er die Wiederbegegnung etwas ausgeschmückt:

»Hier habe ich ein kleines Empfehlungsschreiben, sagte ich, indem ich ihm meinen Finger hinhielt, an dem sein Bild von ihm selbst in einem Ringe war. Es war, als ob ihn ein elektrischer Schlag rührte, er fiel mir mit meinem Namen um den Hals und führt mich im Jubel zu seiner Frau. Dieses war wieder einer der schönsten Momente meines Lebens. Einige Tage blieb ich bei ihm und seinen Freunden, und genoss, so weit mir meine ernstere Stimmung erlaubte, der frohen Heiterkeit der Gesellschaft.«

Die Einschränkung wegen der »ernsteren Stimmung« ist wohl berechtigt. Jedenfalls war Münchhausen über Seumes Benehmen deutlich verärgert: »Seume, vor einigen Monaten war er bei mir«, schrieb er an einen anderen Freund, »hat mir aber nicht mehr gefallen. Er kam von seiner Reise aus Italien zurück u. war – ganz italienische Reise u. Original Mensch in seinem Sinn. Meiner Frau, die doch sonst so schonend richtet, tat es leid, dass er gekommen war, als er ging: denn er nahm ihr die hohe Idee mit fort, die sie vorher von ihm hatte.«

Münchhausen beschwerte sich auch bei Seume über Seume, der missmutig seinen Missmut während des Besuchs zu rechtfertigen versucht:

»Es ist möglich, dass ich irgend wo das Ansehen der Hartnäckigkeit und Anmaßlichkeit gehabt habe, es ist aber auch schwer, dieses nicht zu haben, wenn man oft auf meine heiligsten Überzeugungen stößt und den Menschen aus seinem Innersten weckt. Vielleicht haben mich die Leute nicht erkannt, vielleicht verdienen sie nicht, mich zu kennen; vielleicht habe ich auch selbst in der Art meines Ausdrucks gefehlt: denn meine Verhältnisse erlaubten mir nicht – den Grazien genug zu opfern. Es gehört schon etwas Stärke dazu, alle die Misskennungen zu ertragen, die ich ertragen habe, und doch kein Murrkopf zu werden. Gegen Sie bin ich wohl zuweilen etwas anmaßlich gewesen; das wurde vielleicht durch meine Freundschaft gerechtfertigt oder wenigstens entschuldigt.«

Von den Grazien, denen Seume nicht genug zu opfern wusste, hat sich eine zu Wort gemeldet: die Dichterin Arnoldine Wolf: »Münchhausen war nicht zufrieden mit ihm. Jüngst erst zurückgekehrt vom Altare, an welchem der priesterliche Segen seine feurige Liebe krönte, konnte er die ruhige Kälte seines ältern Freundes [Münchausen, Jahrgang 1759, war der Ältere!] nicht begreifen, der seine junge schöne Frau nicht mit der erwarteten freundschaftlichen Wärme und ihn nicht mit der gehörigen Teilnahme an seinem Glück begrüßt hatte.«

»Flieh’ vor dem Weibe«, hatte Seume Freund Münchhausen im Abschiedsschreiben zugerufen, und offenbar hielt er beim Wiedersehen das Weib immer noch für ein »Krokodil vom Nil«, wie Münchhausen in seinem Antwortgedicht befürchtet hatte.

Das missglückte Wiedersehen dieser poetisch inszenierten Freundschaft hatte ein wiederum poetisches Nachspiel. Wahrscheinlich veranlasst durch Münchhausen, schickte Arnoldine Wolf »Nach gemachter persönlicher Bekanntschaft« ein so betiteltes Gedicht an Seume, in dem sie die Vermutung äußert, seine Ungefälligkeit rühre daher, dass eine Frau ihn einmal tief verletzt habe. Seume antwortete seinerseits mit einem Gedicht, das sowohl vom Freundesbesuch als auch von der Liebesverletzung handelt:

»Ich kam, und war so herzlich froh, und dachte,
Dass ich dem Freund gewiss Vergnügen machte;
Und nun zerstört man mir den süßen Wahn.
So hätt’ ich denn mit meinem ganzen vollen
Gefühl für ihn vorüber pilgern sollen!
Das hätt’ ich dann als euer Mann getan.«

Zwei Strophen später:

»Nun ja, man [Wilhelmine] hat mir Liebe vorgelogen;
Darüber ist mein schöner Lenz verflogen:
Doch dies macht mich nicht dunkler als ich war.«

Wolf wiederum reagierte mit einem Sonett: Meine Rechtfertigung an Seume. Gegen Ende von Seumes Leben, er war schon schwer krank, bat Arnoldine um die Rückgabe ihrer Gedichte und um die Erlaubnis, sie mit dem Seumes veröffentlichen zu dürfen. Seume antwortete:

»Hier folgen die Verse zurück. Ich gebe Ihnen Erlaubnis, damit zu tun, was Ihnen beliebt. Ich bin meines Taktes so gewiss, dass mein Charakter [Hervorhebung von Seume, er meint: im Unterschied zum Dichter] nichts wagt, wenn auch jede Zeile meiner Hand gedruckt wird. […] Um den gewöhnlichen Beifall bekümmere ich mich nicht viel und um die Kritiker noch weniger, da ich bloß dem Bedürfnis meiner Seele lebe.«

Gegen Ende des Briefes kommt er noch einmal auf Münchhausen zu sprechen:

»Münchhausen ist mir durch den Sturm der Zeit entrückt, und die Männergedanken über diesen Gegenstand sind zu schwarzer Farbe, als dass es für mich oder ihn gut sein sollte, darüber eine neue Mitteilung anzustimmen. Er lebt freundlich in meinem Geiste, wie ich hoffentlich in dem seinigen.«

Arnoldine Wolf hat die Gedichte nach Seumes Tod in einem der damals beliebten Jahresalmanache veröffentlicht. Er trug den Titel Taschenbuch für das Jahr 1811. Der Liebe und Freundschaft gewidmet. Der Gedichtwechsel erinnert ein wenig an den lyrischen Dialog der Rückerinnerungen so viele Jahre zuvor.

Dessen Kerngedicht, Seumes Abschiedsschreiben, fiel Veit Schnorr von Carolsfeld in die Hände, und Schnorr wurde einer jener seltenen Freunde, mit denen Seume nicht bloß poetisierte oder abenteuerte, sondern auch alltäglichen Umgang hatte. Der nur wenig jüngere Schnorr fungierte sogar als Liebesbote (zwischen Wilhelmine und Seume) und Geldbote (zwischen Göschen und Seume).

In seinen Erinnerungen berichtet er, wie ein Bekannter ihn auf ein Heft von Schillers Horen (Schnorr verwechselt sie mit Schillers bei Göschen erscheinender Neue Thalia, die das Abschiedsschreiben 1792 gedruckt hatte) aufmerksam machte: »Dieses Gedicht ergriff und bewegte meine Seele gewaltig. […] Und – was Seume sagte, – schien mir so wahr aus einem von tiefer Einsicht für Humanität und Menschenwert erfüllten Herzen in großer Kraft hervorgegangen zu sein; an Gedicht und Kunst dachte ich gar nicht. Mit einem Worte; ich hatte von diesem Moment an keinen anderen Wunsch, als den Verfasser persönlich kennen zu lernen.«

Seume scheint es bei Schnorr im Unterschied zu Münchhausen nicht gestört zu haben, dass auch Schnorr nicht »vor dem Weibe« geflohen war. Jedenfalls ist Seume nett genug, seinem frischen Freund zu schreiben:

»Sie müssen durchaus ein großer Künstler werden, da Sie enthusiastisch glücklich geheiratet haben. Wenn ich ein Nebengeschöpfchen dieser Art in meinem Vaterlande fände, so könnte ich auch wohl noch Buße tun et numen agnoscere [das ›göttliche Wirken anerkennen‹] Aber da habe ich Dummkopf nun nichts gelernt, ein Weib zu ernähren.«

Diese vernünftige Selbsteinschätzung hielt Seume nicht davon ab, sich Hals über Kopf in Wilhelmine zu verlieben, und Schnorr nicht, den Liebesboten zwischen dem »reichen Mädchen« und seinem armen Freund zu spielen. In seinen Erinnerungen schreibt er: »Ich gab in R[öders] Hause [Zeichen-]Unterricht und musste das Abgeben der wechselnden Briefe übernehmen. – Mein Freund drang mehr als einmal in das heißgeliebte Mädchen, den Vater von diesem Verhältnis in Kenntnis zu setzen, oder es ihm selbst zu gestatten. – Allein Wilhelmine wusste ihn immer noch zu beschwichtigen: noch sei es nicht ratsam. – Der Mann litt furchtbar dabei; da heimliches Wesen seiner ganzen Seele zuwider war. – Und doch musste er nachgeben. – Wilh. war wirklich ein interessantes Wesen. Aus ihren schwarzen Augen leuchteten Geist und Tiefe.«

Anders als mit Schnorr, dem Seume endlich einmal wohltuend normalmenschlich verbunden gewesen zu sein scheint, pflegte er mit Garlieb Merkel eine eklatant politische Freundschaft. In einer Rezension von dessen aufsehenerregendem, 1797 in Leipzig erschienenen Buch Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts erzählt Seume von dieser Freundschaft:

»Wir schlossen uns in Leipzig bald an einander an, fanden uns zusammen wohl, nahmen uns beide einander als ehrliche Leute, stritten und vereinigten uns über manche Dinge, oder blieben freundschaftlich nach verschiedenen Gründen verschiedener Meinung.«

Merkel und Seume empörten sich über die gleichen Missstände, vor allem was die Privilegien des Adels betraf, und äußerten ihre Kritik in ähnlicher Schärfe. In ihrer Gemütslage waren sie ebenfalls Wahlverwandte, beiden drückte die Schwermut aufs Herz, beiden saß Hexe Hip auf der Schulter. Vielleicht hat niemand Seumes innere Verfassung besser verstanden als Merkel. In seinem dreißig Jahre nach dem Tod des Freundes publizierten zweiten Band der Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben schrieb er über dessen persönliche wie politische Haltung: »Seumes Charakter gehörte zu den reinsten, edelsten, festesten, die ich gekannt habe; aber er war zugleich derjenige, an dem mir der Unterschied zwischen Stärke und Kraft, das heißt zwischen dem Vermögen, zu widerstehen, und jenem, zu wirken oder zu schaffen, am hellsten eingeleuchtet hat.« Dann erzählt Merkel eine treffliche Anekdote: »In einem unserer vertrauten Gespräche macht’ ich ihm einst freundschaftliche, ziemlich lebhafte Vorwürfe darüber, dass er in allen Verhältnissen seines Lebens immer und immer nur damit beschäftigt gewesen sei, seine moralische Individualität zu retten. Ich ging so weit, zu behaupten, dass es Grösse sei, allenfalls selbst jene Individualität der Ausführung einer großen wohltätigen Idee zu opfern. Er stritt heftig; endlich aber schüttelte er mit jener sonderbaren Weise, die seine Freunde wohl alle an ihm gekannt haben, murrend den Kopf und rief: ›Lassen Sie mich in Ruhe! Ich gehöre nun einmal zu den Menschen, die nur: Ich will nicht! sagen können.‹«

Das bekam auch Göschen zu spüren, als Seume definitiv nicht mehr in die Offizin in Grimma, sondern bloß noch nach Italien wollte. Der Verleger war einer der geduldigsten, ausdauerndsten und verständnisvollsten Freunde, die Seume jemals hatte, obwohl es die Freundschaft zwischen einem Untergebenen und seinem Chef gewesen ist. Und im Unterschied zu Vater Gleim oder zum Jugendfreund Münchhausen bekam Göschen es nicht nur mit den teils melancholischen, teils schnurrigen Briefen Seumes zu tun, sondern mit dem Mann selbst und seinem »Murrsinn«, wie Seume es – nur halb bedauernd – ausdrückt, mit seiner das Unhöfliche mehr als streifenden Schroffheit und seiner überstrapazierten, wie ein Abwehrschild vor sich her getragenen Aufrichtigkeit.

Seume hatte bei Göschens Familienanschluss, er wurde auch nach Beendigung des Angestelltenverhältnisses unterstützt, und er stieß bei dem vielbeschäftigten Verleger stets auf ein offenes Ohr. Dafür hatte dieser Verleger dann das letzte Wort – und ließ sich nicht nehmen, es in der Fortsetzung von Seumes Mein Leben auch zu schreiben. Sogar über Seumes militärischen Chef, General Otto Heinrich von Igelström: »Igelström und Seume! Das war eine Verbindung eigener Art. Der alte Hof- und Staatsmann war üppig, prachtliebend, sinnlich, verständig und klug; aus Diensteifer ein tüchtiger politischer Despot, übrigens ein braver Soldat, großmütig und gutmütig. […] Diesem Manne stand Seume zur Seite, wie wir ihn kennen; Seume, der immer die Wahrheit unverhohlen sagte und von den polnischen Angelegenheiten ganz andre Ansichten hatte, als der General und die Kaiserin. Demohngeachtet bewies Igelström seinem Sekretär privatim und öffentlich die größte Achtung und ein aufrichtiges Wohlwollen.«

Was hier der literarische Chef über den militärischen schreibt, beruht sicher auf dem, was Seume über den militärischen Chef dem literarischen erzählt hatte. Zwischen beiden lagen Welten. Der General war Seume anders als der Verleger nicht bloß familiär und finanziell überlegen, sondern von einem Rang und Namen, der einen sächsischen Bauernjungen, studiert oder nicht, trotz allen persönlichen Wohlwollens sozial zu einem Niemand machte. Igelström entstammte einer deutsch-baltischen, ursprünglich schwedischen Familie, war mit einer Polin verheiratet, machte aber trotz seiner polnischen Verbindungen im russischen Militär Karriere.

Seume arbeitete Anfang der 90er Jahre in Leipzig als Erzieher von dessen Neffen Gustav Andreas. Nach dem Abschluss des zweiten Studiums mit einer lateinischen Schrift über die Bewaffnung bei »den Alten«, gewidmet Johann Jakob Igelström, dem Vater seines Zöglings und Bruder seines künftigen Chefs, reiste er im August 1792 nach Riga und von dort ins russische Pleskow, wo er beim General eine Adjutantenstelle annahm. Das erscheint heute ungewöhnlicher als es damals war. Hatte nicht dreißig Jahre zuvor sogar ein Lessing als Sekretär eines Generals gedient, wenn auch eines preußischen und in Breslau?

Als Igelström zum Oberkommandierenden der russischen Besatzungstruppen in Warschau ernannt wurde, begleitete ihn Seume und widmete ihm die in Warschau erschienene Schrift über Prüfung und Bestimmung junger Leute zum Militair. Nach der Niederschlagung des polnischen Aufstandes arbeitete er mit Igelström an einer Denkschrift für Zarin Katharina, um Igelströms Verhalten zu rechtfertigen. 1795 sollte er im Auftrag Igelströms den schwer kranken jungen russischen Major Muromzow auf einer Reise nach Italien begleiten. Die von Napoleon durcheinandergewirbelten Verhältnisse in Italien erzwangen den Abbruch der Reise in Leipzig.

Zehn Jahre später sucht Seume den General in Riga auf, wird jedoch nicht empfangen, wie er in Mein Sommer 1805 erzählt:

»Ich ließ mich melden, bloß um dem alten Herrn als meinem ehemaligen Chef meine Achtung zu bezeigen: eine andere Absicht konnte ich durchaus nicht haben.«

Hinter einem Dementi steckt immer die Furcht, oder zumindest die Vorsicht. Seume scheint zu fürchten, die Leser könnten doch »andere Absichten« vermuten. Immerhin war ein Ziel der Reise von 1805 auch das Erwirken einer Pension für seine russische Dienstzeit. Allerdings hätte in dieser Sache Igelström ohnehin nichts für Seume tun können.

»Er ließ mich ziemlich lange stehen und mir endlich sagen: Er sei krank; wenn er wohl sein werde, wolle er mich sehen. Sein Arzt und sein Neffe hatte mich vorher seines hinlänglichen Wohlseins versichert. Ich ging und kam natürlich nicht wieder; denn ich war nicht hingegangen, um den Hof zu machen.«

Der frühere Untergebene zeigt sich gekränkt von der Krankheit des Chefs, über dessen »hinlängliches Wohlsein« er sich »versichert« glaubt, und erinnert auf der Stelle an seine früheren Verdienste:

»Es war eine Zeit, wo er mir alle Geheimnisse seiner öffentlichen Ämter und seiner Privatverhältnisse anvertraute, ein Vertrauen, das ich nie missbrauchte, wo ich wochenlang an seinem Bette saß und arbeitete, wo er mich wie einen vertrauten Freund behandelte und sich dann mit meinen Papieren vor der Monarchin rechtfertigte.«

In einem langen Lehrbrief, den Seume 1792 nach der Beendigung seiner Hofmeisterstelle an den jungen Igelström richtete, erteilte er neben vielen anderen Ratschlägen auch diesen:

»Begegnen Sie immer Ihren Untergebenen und Bedienten mit Güte und Freundlichkeit, selten oder nie mit Vertraulichkeit und Freundschaft.«

Der General ging mit Seume nicht so um, wie dieser dem Neffen einst den Umgang mit Untergebenen empfohlen hatte. Zur echten Freundschaft zwischen dem Leutnant ohne Stand und dem General von altem Adel konnte es dennoch nicht kommen.

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben
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