Manchen guten Ratschlägen folgt der Spott auf dem Fuße und verwandelt sie in Ironie. So ist es auch bei Seume. Nach dem Rat »Bleib zu Hause«, mit dem er sein Schreiben aus America eröffnet, macht er sich sofort über die Leute lustig, die ihn befolgen:

»Es ist viel bequemer die Abenteuer anderer hinter dem Ofen im Schlafrocke und der Nachtmütze zu durchblättern, als selbst nur den geringsten Anhang davon zu bestehen.«

Die innere Imaginierung des Schriftstellers Seume ist mit seiner äußeren Inszenierung untrennbar verwoben. Welterfahrung und Selbsterkenntnis sind ein einziger Vorgang, auch wenn der Überwältigung des Selbst durch die Welt nur mit einem inneren Kern standzuhalten ist, der sich nie verliert, so weit man auch fährt. Man muss sich mitnehmen, um unterwegs bei sich zu bleiben. Das heißt jedoch auch, dass man sich nie loswerden kann, man mag laufen, wohin man will.

Die beiden großen Reisebücher, der Spaziergang und Mein Sommer 1805, sind flankiert von den beiden kleinen Reiseberichten Ausflucht nach Weimar und Schreiben aus America am Ende und zu Beginn von Seumes literarischer Karriere. In allen vier Texten treibt Seume sich in der Welt (und der Weltgeschichte) herum, und in keinem hat er sich gefunden – allenfalls so vorläufig, dass er dem bei nächstbester (oder schlechter) Gelegenheit wieder nachgehen und hinterherrennen musste.

So brachten die Abenteuer seines Lebens seine Schriften hervor; und seine abenteuerlichen Schriften machten etwas aus seinem Leben.

Verschiffung nach Halifax

Im ersten Brief, den Seume alias »Joh. Friedr. Normann« im Oktober 1786 als preußischer Soldat an Gleim in Halberstadt schrieb, hieß es:

»Ich verließ die Universität ohne äußere Beweggründe, als ich nicht viel über ein Jahr da gewesen war, bloß weil ich glaubte, die Weisheit der Hörsäle sei lange nicht so gut mich zu bilden als Welt und Erfahrung.«

Aber was erfährt man, wenn man über einen Ozean geschippert wird, tagsüber Matrosenarbeit verrichtet oder im Mastkorb schaukelnd die Nase in einen Band Vergil steckt, nachts »gedrückt, geschichtet und gepökelt wie die Heringe« in Verschläge gepfercht nach Schlaf sucht; das alles bei mit zunehmender Fahrtzeit abnehmenden Rationen aus hartem Speck, klebrigen Bohnen, Zwieback aus dem Siebenjährigen Krieg und stinkendem, von fauligen Schlieren durchzogenem Wasser – was erfährt und erlebt man unter solchen Bedingungen? Die erhabene Majestät des Meeres, bis sie sich während der Reise in die unendliche Öde des Ozeans verwandelt; die Seestürme als Probe darauf, ob Vergil sie in seiner Aeneis richtig geschildert hat; und jede Menge Leute, ganz andere als die im zivilisierten Klein Paris mit seinen Kaufleuten, Buchhändlern und Studenten, nämlich »wunderliche Caricaturen an Geist und Leib aus allen Reichen von Europa«. Viele Wochen sind mit diesen Leuten auszuhalten, tagsüber bei Wind und Wetter an Bord, nachts unter Deck im bedrängendsten Wortsinn hautnah:

»Im Verdeck konnte ein ausgewachsener Mann nicht gerade stehen, und im Bettverschlage nicht gerade sitzen. Die Bettkasten waren für sechs und sechs Mann; man denke die Menage. Wenn viere darin lagen, waren sie voll; und die beiden letzten mussten hinein gezwängt werden […] es war für einen Einzelnen gänzlich unmöglich, sich umzuwenden und eben so unmöglich, auf dem Rücken zu liegen.«

Wie lange lässt sich das aushalten? Im Schreiben aus America gibt Seume die Fahrtdauer mit siebzehn Wochen an, in Mein Leben sogar mit zweiundzwanzig. In Wahrheit werden es wohl knapp zehn Wochen gewesen sein, wie mithilfe zeitgenössischer Quellen nachgerechnet worden ist – immer noch eine lange, sehr lange Überfahrt. Sie wurde für Seume zu einer Entdeckungsreise, nicht etwa zu einer, auf der er viel entdeckt hätte, sondern zu einer, auf der er selbst entdeckt wurde: auf dem Schiff von einem väterlichen Kapitän und im Lager von Halifax von einem brüderlichen Offizier.

Auf dem Schiff sitzt er Horaz lesend einem Steuermann im Weg, der das schmächtige Kerlchen brutal verscheuchen will. Der Kapitän kommt dazu, wirft einen Blick ins Buch, heißt den Jungen sitzen bleiben und fragt erstaunt:

»You read latin, my boy? – Yes, Sir. – And you understand it? – I believe, I do.«

Von nun an füttert der Kapitän Seume mit Büchern aus seiner Reisebibliothek, und was noch wichtiger ist: Er füttert ihn auch heimlich mit Extraportionen Rindfleisch. Bei der sonstigen Verköstigung »ein sehr wohltätiges Stipendium«, wie Seume in Mein Leben schreibt. Nicht immer ist das Schöngeistige eine brotlose Kunst.

In der Schilderung des Zwistes mit dem Steuermann und des helfenden Eingreifens des Kapitäns drückt sich eine politische Grundüberzeugung aus, von der sich Seume sein Leben lang nicht emanzipieren konnte. Auch deshalb nicht, weil die Einsicht in strukturelle Machtverhältnisse von persönlichen Abhängigkeiten verstellt war. Für Seume sind es immer die mittleren Herren, die für die schlimmsten Übel verantwortlich sind: Auf dem Schiff die Steuermänner, in der Garnison die Offiziere, auf dem Land die Pächter, in der Stadt die Beamten, im Staat die privilegierten Aristokraten. Seume macht Kapitäne, Generäle und Minister, Fürsten, Könige und Zaren nur bedingt verantwortlich für den Missbrauch der Macht durch untergeordnete Obrigkeiten und durch Menschen, die »ein Privilegium auf der Nase tragen«. Er hat in Briefen und Schriften Generäle verteidigt, denen er diente, und auch solche, denen er nicht diente. Er hat Zaren in Schutz genommen und Könige gelobt. Alles in der vorrepublikanischen Tradition einer Aufklärung, der die Verkörperung der Macht in einer Institution (der Monarchie) und in einer Person (des Königs) die beste Garantie gegen Übergriffe der Zwischengewalten zu sein schien, mit denen man es im Alltag zu tun bekam. Steht man unter dem Schutz des Kapitäns, muss man sich vom Steuermann nicht mehr alles gefallen lassen.

Nachdem Seume dank Kapitänsprotektion und Rindfleischstipendium halbwegs über die Runden gekommen war während der langen Fahrt über den großen Teich, freundete er sich im Lager von Halifax mit dem nur vier Jahre älteren Freiherrn von Münchhausen an. Wie später noch öfter, etwa bei den an die Zellenwand geschriebenen Versen nach seiner Desertion oder bei den Gedichten auf Friedrich den Großen, die einem General in die Hände fallen, kommen ihm die Reime, die er sich aufs Leben macht, in ebendiesem zugute. Mit Poesie in der Hand kann er sich in der Phantasie aus dem schlechten Dasein stehlen, und in der Wirklichkeit wird er durch sie besseren Kreisen zugeführt. Davon erzählt Seume mit schlitzohrig gekonnter Naivität, konkret und sinnbildlich zugleich in Mein Leben:

»In dieser Zeit machte ich Münchhausens, oder er vielmehr meine Bekanntschaft. Ich saß im Zelte und wärmte mich gegen die nasse Kälte etwas an Flakkus Odenfeuer, da schlug ein Offizier den Zeltflügel zurück und fragte, ob ich der Sergeant Seume wäre. Da ich denn der war, hieß er mich herauskommen. Ich warf mich in die Ordonnanz und trat hervor; er belugte mich etwas neugierig, fasste mich am Arm, und fort gings […] In seinem Zelte lagen auf dem Tische einige Verse, die er mir hingab, und mich fragte, ob sie von mir wären. Ich besahe sie und sagte ja. Es war eine tragikomische Elegie über unser Leben im Lager, die, wie der Gegenstand selbst, lächerlich-weinerlich genug sein mochte. Wir müssen bekannt werden, sagte er: sehr gern, sagte ich. Er bat mich auf ein Stückchen Wildbraten […] den Abend zu Tische; und da in meinem Zelte Schmalhans Küchenmeister war, so kam mir die Einladung sehr willkommen. […] Sein Beifall war nun meine beste Belohnung, und seine Kritik meine beste Belehrung. Ich begriff, dass bloße Schule nicht alles sei; und er fand, dass die Schule doch vieles sei […] Es hatte sich ein freundschaftlicher Zirkel von Offizieren gebildet, in den man mich unvermerkt fast unzertrennlich hinein zog, und mit vieler Herzlichkeit behandelte.«

In diesem Kreis konnte Seume als junger Mann einüben, was er als immer noch nicht alter gegen Ende seines Lebens in den Apokryphen so zusammenfasste:

»Die beste Philosophie ist der geläuterte Menschenverstand; das beste Mittel dazu, die Welt sehen, die Geschichte lesen und selbst denken in gleichen Verhältnissen. Werden die Verhältnisse nicht beobachtet, so kommt das Resultat unkosmisch.«

Auf die Mischung also kommt es an zwischen überliefertem Wissen, eigenem Denken und Welterfahrung. Erst wenn die Kombination stimmt, wird es »kosmisch« oder »magisch«, wie Seume auch gerne sagt, wenn er begeistert ist.

Den neu gewonnenen poetischen Freund Münchhausen hat Seume beim Welterfahren dann aus den Augen verloren und trotz der Briefe und Gedichte, die man später austauschte, erst bei der Rückkehr von Syrakus wiedergesehen.

Fußmarsch nach Syrakus

So vielfältig die Gründe sein können, nach Syrakus zu reisen, so vielfältig ist die Typologie der Reisenden selbst: Es gibt:

»Müßige Reisende,

Wissbegierige Reisende,

Lügnerische Reisende,

Dünkelhafte Reisende,

Eitle Reisende,

Milzsüchtige Reisende.

Alsdann folgen die Reisenden aus Notwendigkeit.

Der pflichtvergessene und schurkische Reisende,

Der unglückliche und unschuldige Reisende,

Der einfache Reisende,

Und endlich (mit Verlaub) Der Empfindsame Reisende (worunter ich meine eigene Wenigkeit verstehe)«.

Bei der kokettierenden Wenigkeit handelt es sich nicht um Seume, obwohl der seine »Personalität« beim Schreiben auch gern kleiner gemacht hat, um im Leben etwas größer zu wirken. Der prätouristische Musterbogen des Reisens stammt von einem gewissen Mr. Yorick. Jedenfalls steht auf dem Deckel des Reisebuches, dem die Passage entnommen ist, dieser Name – ein Name, wie er auch im Buche steht, in Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Dort figuriert der Landpfarrer Yorick als geduldiger Zuhörer von Tristram Shandys leiblichem Vater und zugleich als literarischer Wiedergänger von Tristram Shandys geistigem. Laurence Sterne reiste als Mr. Yorick durch Frankreich und Italien – wenigstens wird das im Titel A Sentimental Journey – Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien versprochen. Im Buch selbst erreicht Yorick Italien nicht.

Dass Sterne, der empfindsame Spötter, im Tristram Shandy und in der Sentimental Journey ausgerechnet unter dem Namen Yorick posiert, ist ein Spaß, der von Shakespeare herrührt. Yorick war im Prinz von Dänemark des Königs Spaßmacher. Sein Schädel wird von Totengräbern zutage gefördert und gibt Hamlet Gelegenheit zu etlichen halbphilosophischen Friedhofswitzen. Wieland, vor den Romantikern der wichtigste sprachliche Importeur des Genies aus Stratford, mochte die makabren Kalauer nicht und »würde diese ganze Scene eben sogern ausgelassen haben, wenn man dem Leser nicht eine Idee von der berüchtigten Todtengräber-Scene hätte geben wollen«. Also hat er übersetzt, wenn auch ungern und gekürzt: »Hamlet. (Indem der Todtengräber immer singend einen Schedel aufgräbt.) Dieser Schedel hatte einst eine Zunge, und konnte singen.«

Vom Friedhof bei Shakespeare führt ein Weg nach Syrakus, allerdings über Riga. Vor der Stadt, am Düna-Strand, hatte Seume einst einen Totenkopf gefunden und darüber einen Text geschrieben, den er in seinen Bericht über die Vorfälle in Polen 1794 einrückte:

»Dieser Kasten enthielt vielleicht Systeme von Hirnweben, so sinnreich und bunt, als sie je ein alter oder neuer Weiser oder Narr gesponnen.«

Nach der flüchtigen Anspielung auf Yoricks Narrenschädel beginnt Seume à la Hamlet zu sinnieren, wer in diesem hohlen Hirnkasten, den er nun in Händen hält, einst gelebt und gewebt, gedacht und gefühlt haben mag: Herr oder Sklave, Richter oder Gerichteter, Wohltäter oder Unterdrücker oder

»eine von den Millionen Nullen zwischen beiden. Du bist meiner Verwandtschaft, und bei uns ist das Äußerste erblich; wir sind Engel und Teufel. Ich weiß nicht, wo du jetzt bist; aber ich werde zu dir kommen.«

Der kleine Text taumelt zwischen Tiefsinn und Witz, kostet lüstern das Grauen aus bei der Vorstellung, dass einst Mädchenhände das Kopfgebein gestreichelt haben, macht Bocksprünge quer durch die Geschichte der Menschheit und schließlich hinüber ins Nichts nach dem Ende des eigenen Lebens. Zwischen den Zeilen steht Hamlet und grinst. Im Spaziergang nennt Seume ihn dann expressis verbis »einen seiner Lieblinge«.

Seume hat nicht nur seinen Shakespeare gekannt, und den von Wieland, sondern auch den Tristram Shandy und das Reisebuch von Mr. Yorick alias Sterne. Im Spaziergang wird Yorick einmal erwähnt – so beiläufig, dass die Stelle heute befremdet, sich damals aber bei der Berühmtheit Sternes/Yoricks von selbst verstand.

Nach dem kultischen Erfolg des Tristram Shandy wurde auch die Sentimental Journey nach dem Erscheinen 1768 zu einem europäischen Bestseller. Das Büchlein hat das Genre der Reiseliteratur auf den Kopf gestellt. Oder sollte man sagen: aufs Herz? Denn Empfindung und Gefühl bestimmten nun das erzählte Reisen, die Sachlage wurde nach Seelenlage geschildert. Der alternde Goethe hat das im Rückblick auf jene Jahre präzis zusammengefasst, auch um die Intention seiner eigenen, erst 1816/17 vollständig erschienenen Italienischen Reise davon abzugrenzen: »Seit Sternes unnachahmliche Sentimentale Reise den Ton gegeben und Nachahmer geweckt, waren Reisebeschreibungen fast durchgängig den Gefühlen und Ansichten des Reisenden gewidmet. Ich dagegen hatte die Maxime ergriffen, mich so viel als möglich zu verleugnen und das Objekt so rein als nur zu tun wäre in mich aufzunehmen.«

Goethe nimmt das von Sterne geschaffene englische Kunstgebilde »sentimental« auf Deutsch beim Wort. Doch verdankte es seinen Einfluss beim deutschen Publikum der von Lessing angeregten Übersetzung »empfindsam«. Dieses neue Wort passte so genau zu einer ebenfalls neuen, der alten Aufklärung überdrüssigen Geistes- und Gemütsstimmung, dass es heute als Epochenbegriff verwendet wird: »Empfindsamkeit« – meistens Arm in Arm mit »Sturm und Drang«.

Dem »Sturm und Drang« ist auch Goethes 1774 erschienener Werther zuzurechnen, den Seume während seiner eigenen Leipziger Sturm-und-Drang-Tage verschlungen hat. Das Echo des Werther-Sounds klingt noch durch die Vorrede des Spaziergang. Goethe ermunterte, »lass das Büchlein deinen Freund sein«, und fügte süffisant hinzu: »wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst.« Seume bittet zaghaft: »Ich hoffe, Du bist mein Freund oder wirst es werden«, und geht sofort in Deckung: »ist nicht das eine und wird nicht das andere, so bin ich so eigensinnig zu glauben, dass die Schuld nicht an mir liegt.«

Während die »Empfindsamkeit« auf Lessings glücklicher Eindeutschung des »sentimental« beruht, ist »Sturm und Drang« abgeleitet vom Titel eines Theaterstücks von Friedrich Maximilian Klinger, das zwei Jahre nach dem Werther Furore machte. 1803, im gleichen Jahr wie der Spaziergang und wie Seumes Reisebuch bei Hartknoch, erschienen Klingers Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Litteratur, aus Angst vor der Zensur allerdings mit der fingierten Verlagsangabe Peter Hammer, Köln. Seume schrieb darüber in der Zeitung für die elegante Welt:

»Der gute alte Peter Hammer von Köln muss jetzt manchem Wicht seinen Mantel leihen, seine geistigen Sterbelinge auf den literärischen Markt zu bringen, ehe die prämaturen [frühreifen] Dinger zu Hause absterben: aber hier hat ihn auch einmal ein Athlet umgehangen, den wir lieber ohne solche Hülle in seiner ganzen ursprünglichen Kraft sähen. […] Der Verfasser zeigt sich als Dichter und Weltmann in hohem Grade, und beide werden vom Denker beherrscht«.

Was den erfundenen Kölner Verleger Peter Hammer angeht, so stammten dessen ebenfalls erfundene Vorfahren aus Frankreich. Seit dem 17.Jahrhundert war »Pierre Marteau« der Deckmantel für Verleger unerlaubter Schriften. Dass man im Deutschland der Spätaufklärung die deutsche Übersetzung ins Impressum zensurbedrohter Bücher druckte, demonstriert lange gereiftes Selbstbewusstsein. Noch musste fingiert werden, wenn man sich keine Unannehmlichkeiten zuziehen wollte. Aber dass fingiert werden musste, wurde nicht mehr verborgen, sondern offen und anklagend zur Schau gestellt.

Klingers Buch hatte großen literarischen Einfluss auf die Apokryphen, an denen Seume in den letzten Lebensjahren arbeitete, obwohl Seumes persönliche Beziehung zu Klinger glücklos war, sowohl während seiner Kutschfahrt nach Norden im Jahr 1805 als auch bei den Bemühungen gegen Ende seines Lebens, doch noch eine Pension des Zaren für den Militärdienst in Polen zu erwirken.

Der Marsch nach Syrakus ist ohne Sturm, Drang und Empfindsamkeit denkbar, das Buch darüber nicht. Doch schlägt Seume weder den empfindelnden Ton an, der seit Sternes Tagen von der Mode zur Manier zur Masche herabgesunken war, noch markiert er das stürmische Kraftgenie. Er schreibt einfach darüber, was er beim Reisen von der Welt und über sich selbst erfahren hat.

Trotzdem ist er nicht ohne Vorbereitung nach Syrakus gelaufen. Bevor er vom Lektorenstuhl sprang und den Tornister packte, betreute er Karl Gottlob Küttners Reise durch Deutschland, Dänemark, Schweden, Norwegen und einen Theil von Italien, in den Jahren 1797. 1798. 1799. Diesem Werk, auf das er sich sowohl im Spaziergang als auch in Mein Sommer bezieht, verdankte er eine Reihe von sachdienlichen Hinweisen, von denen er während der Reise Gebrauch gemacht hat, wenn auch nicht immer beim Erzählen von ihr. Gleiches gilt von ungenannt bleibenden Kunstreiseführern wie von historischen Werken über die Geschichte Italiens.

Ausdrücklich erwähnt indessen sind die in drei Bänden von 1787 bis 1792 erschienenen Briefe über Calabrien und Sizilien von Johann Heinrich Barthel und die Nachrichten von Neapel und Sizilien, auf einer Reise in den Jahren 1785 und 1786 gesammelt von Friedrich Münter (1790), den dann auch Barthels in der zweiten Auflage seiner Briefe anführt.

Alles in allem war Seume ein gut informierter Wanderer. Keineswegs ist er losmarschiert ohne ›Bücherwissen‹ im Kopf, nur mit antiken Klassikern im Sack:

»als a) Ein alter Homer, b) ein abgenutzter Theokrit, c) ein funkelnagelneuer Anakreon, d) ein alter Plautus, e) ein Horaz, f) ein Vergil, g) ein Tacitus, h) ein Sueton, i) ein Terenz, k) ein Tibull, Catull und Properz in minima«.

So die Bestandsliste der Tornisterbibliothek, wie Seume sie während des Aufenthalts in Prag im Dezember 1801 für Göschen zusammenstellte.

Zum »kosmischen Verhältnis« in der Seume’schen Variante des gesunden Menschenverstands gehörte neben dem Erfahren der Welt und dem Selbstdenken auch das Lesen der Geschichte. Man sieht nicht nur mit den Augen, sondern mit dem ganzen Kopf, Erkennen setzt Wissen voraus. Die wünschenswerte Alternative zum erfahrungsresistenten Spazierenführen angelesener Vorurteile ist nicht das kenntnis- und zusammenhanglose Sammeln sinnlicher Eindrücke, sondern ein Verstehen, das der Fremde (und den Fremden) mit Herz und Kopf auf den Leib rückt. Alles was bloß Programm ist, und sei es ein aufklärerisches, führt dazu, dass im Erleben die Begriffe klappern; alles was bloß Haltung ist, und sei es eine empfindsame, verunklart das Wahrnehmen durch Sentimentalität.

Fußwandeln als Lebenswandel
Seumes Philosophie der Fußgängerei ist eine Kutschengeburt. Er schrieb sie nieder, als er nicht mehr laufen konnte, jedenfalls nicht mehr weit.
»Diesmal habe ich nur den kleinsten Teil zu Fuße gemacht«, heißt es in der Vorrede zu Mein Sommer 1805. »Lieber wäre es mir und besser gewesen, wenn meine Zeit [und seine Gesundheit, die er unerwähnt lässt] mir erlaubt hätte, das Ganze abzuwandeln. Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. […] Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne, und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zu viel fährt. […] Wo alles zu viel fährt, geht alles sehr schlecht: man sehe sich nur um. So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll: man tut notwendig zu viel oder zu wenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.«
Was hätte Seume wohl zu Eisenbahnen gesagt? Oder zu Autos? Von Flugzeugen gar nicht zu reden. Wenn mit »ursprünglicher Humanität« die zweibeinige Fortbewegung gemeint ist, entfernen wir uns von ihr ohne auch nur einen Schritt zu tun rasend im Sitzen. An speziellen Orten kehren wir dann trainingshalber zum aufrechten Gang zurück. Man stelle sich Seume im Fitnessstudio vor: um sich herum schwitzende Leute, die auf Laufbändern rennen.
Vielleicht wäre in unserer Beschleunigungsepoche dieses Laufen auf der Stelle die angemessene Daseinsmetapher, so wie jahrhundertelang die Pilgerschaft das Sinnbild irdischen Lebens gewesen ist. Doch schon zu Seumes Zeiten litt dieser Vergleich unter der Materialermüdung seiner ursprünglich religiösen Bedeutung. War dem Erdenpilger das Leben eine Last, wurde nun dem Erdenbürger das Wandern zur Lust. Und die romantische Schwärmerei des frühen 19.Jahrhunderts führte über das Naturburschentum im frühen 20.Jahrhundert in die folkloristische Eskapade. »Ich bin dann mal weg!« Wer möchte das nicht hin und wieder von sich sagen?
Seume indessen hat keinen Urlaub gemacht, auch nicht in kulturell wertvoller Form wie der von Weimarer Amtsgeschäften erschöpfte Goethe. Seume ist losmarschiert, Theokrit im Tornister, Wilhelmine Röder im Herzen und die Unerfüllbarkeit aller Sehnsucht im Sinn. Wer so lebt und geht macht keine Ansprüche auf einen bürgerlichen Lebenslauf:
»Und gleich ists auch, so deucht es mir, für andre,
Ob ich dahin
Hier oder dort durchs schale Leben wandre,
Und Niete bin.«

Beide Fehler hat Seume vermieden und dafür den Preis einer koboldhaften Sprunghaftigkeit im Erzählen bezahlt, die einen im Lesesessel Reisenden je nach Naturell den Kopf schütteln oder ihm das Herz hüpfen lässt. Seume war nie als »bedächtiger Mann« unterwegs. »Noch betracht’ ich Kirch’ und Palast, Ruinen und Säulen,/Wie ein bedächtiger Mann schicklich die Reise benutzt«, erklärt Goethe gravitätisch in der ersten Römischen Elegie, bevor er genauso gravitätisch auf »Amors Tempel« und die Liebe zu sprechen kommt, die ewig ist wie die Stadt Rom. Seume macht nicht so viel Umstände. Sein Amor-Tempel ist das »Körbchen« einer jungen »Sünderin«, die ihn in einem Mailänder Gasthaus zu verführen suchte, vergeblich übrigens, was er im Rückblick bedauert. Die Kirchen und Paläste wiederum stehen von vornherein nur am Rand seines Interesses. Er sei »nicht nach Italien gegangen, um vorzüglich Kabinette und Galerien zu sehen«. Ja, schimpfte Caroline Herder, sondern Wirtshäuser und Landstraßen. Es gilt eben, dass »ein jeder seinen eigenen Maßstab hat, wonach er die Dinge außer sich abmisst, und seinen eigenen Gesichtspunkt, woraus er die Gegenstände betrachtet«. So heißt es in der Vorrede zu den Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782 von Karl Philipp Moritz. Aber der war Caroline ja auch suspekt.

Konnte man Seumes Herumtreiberei und das Schreiben darüber auch nicht »schicklich« nennen, so war es doch neu und wirkte auf vorurteilslose Leserinnen und Leser erfrischend. Sein Wirtshausrepublikanismus führte ihn an gemiedene Orte und an solche, die, wenn sie schon nicht gemieden werden konnten auf einer Reise, doch nicht der Rede und erst recht nicht der Schrift wert waren. An diesen Orten begegnete er Menschen, die beim Fahren in der Kutsche wie beim Lesen im Kabinett nur flüchtig wahrgenommen werden. Und dann gab er auch noch das Räsonnement dieser gewöhnlichen Leute wieder, die doch tatsächlich eine Meinung hatten, obwohl das die gewöhnlichen Intellektuellen im Deutschland jener Jahre als ein Privileg von ihresgleichen ansahen, als eine Sache der Journale, die man hielt, und der Debatten im Salon. Nicht nur den geistigen Repräsentanten am Musenhof in Weimar war ein altgriechischer Feldherr oder Philosoph gedanklich und menschlich näher als die Magd in der eigenen Küche.

Obwohl Seume seinen Weg geht, geht er nie so weit, sich gemein mit dem gemeinen Mann zu machen. Er ist eben doch ein studierter Herr, wenn auch kein feiner. In der ersten seiner vielen Wirtshausszenen, es sind fast so viele wie im Don Quijote, herrscht denn auch das Pittoreske vor, in dessen Modus nach Ansicht gebildeter Leute die einfachen ihr sogenanntes pralles Leben leben:

»In der Budiner Wirtsstube [auf dem Weg nach Prag] war ein Quodlibet [Durcheinander] von Menschen, die einander ihre Schicksale erzählten und hier und da zur Verschönerung wahrscheinlich etwas dazu logen.«

Seume weiß, wovon er schreibt, er hatte damit seine eigene Erfahrung.

»Einige österreichische Soldaten, Stallleute und ehemalige Stückknechte [an Artilleriegeschützen], die alle in der französischen Gefangenschaft gewesen waren, und einige Sachsen von dem Kontingent machten eine erbauliche Gruppe, und unterhielten die Nachbarn lang und breit von ihren ausgestandenen Leiden. Besonders machte einer der Soldaten eine so greuliche Beschreibung von den Läusen im Felde und in der Gefangenschaft, dass wir andern fast die Phthiriase [Filzläusebefall] davon hätten bekommen mögen. Mir war es nunmehr nur eine drollige Reminiszenz meiner ersten Seefahrt nach Amerika.«

Auf dem weiteren Weg durch Böhmen kommt es dann zum ersten Mal im Spaziergang zu jenem Ton, der sich angesichts der Not in Sizilien zu galliger Empörung steigert. Diese Aufwallungen sind so herzzerreißend wie hilflos, aber sie machen Seume unvergesslich in der beschämend schmalen Tradition sozialkritischer Schriftstellerei im Deutschland um 1800:

»Die Dörfer lagen dünn, und waren arm; noch mehr als in dem Gebirge. Man drosch in den Herrenhöfen auf vielen Tennen« – gezwungen von der Fron, die trotz der josephinischen Aufhebung der Leibeigenschaft 1781 immer noch geleistet werden musste – »und die Bauernhäuser waren leer und verfallen; die Einwohner schlichen so niedergedrückt herum, als ob sie noch an dem härtesten Joche der Sklaverei zögen. Mich deucht, sie sind durch Josephs wohltätige Absichten wenig gebessert [bessergestellt] worden, und höchst wahrscheinlich sind sie hier noch schwerer durch die Fronen gedrückt als irgendwo.«

In Prag erhält Seume, noch in Begleitung seines Freundes Schnorr von Carolsfeld, die erste Warnung vor Wegelagerern. Je weiter es nach Süden geht, desto ärmer werden die Landstriche, desto »gedrückter« die Leute, desto rabiater die Räuber. Zwischen Wien und Graz trifft er auf Dutzende Gefangene in Ketten, von einem starken Militärkommando bewacht; zwischen Triest und Venedig kündigt man ihm an, er werde »nun wohl ein bisschen tot geschlagen werden«; hinter Ancona »waren die Arme und Beine der Hingerichteten häufig genug hier und da zum Denkmal und zur schrecklichen Warnung an den Ulmen aufgehängt«; hinter Tolentino steigt er durch Schluchten, »und hier und da aufgehangene Menschenknochen machten eben nicht die beste Idylle«; hinter Spoleto »unterhielt man mich überall mit Räubergeschichten und Mordtaten«, auch, um ihm »einen Maulesel mit seinem Führer aufzuschwatzen«; bei Sessa sieht er »einige bis auf die Zähne abgedorrte Köpfe in eisernen Käfigen an dem Felsen befestigt«; auf dem Weg nach Caserta sagt man ihm, die Gefahr werde übertrieben; in Caserta wundert man sich, »dass ich den Räubern noch nicht in die Hände gefallen wäre«. Von Neapel lässt er sich mit dem Schiff nach Palermo übersetzen, und auf Sizilien, noch bevor er Syrakus erreicht, kommt es zu dem Überfall, den der Wanderer lange befürchtet und der Leser lange erwartet hat:

»Man rief mir Halt! und da ich tat, als ob ich es nicht gleich verstanden hätte, ritt einer [der drei Räuber] mit Vehemenz auf mich zu, fasste mich beim Kragen und riss mich so heftig herum, dass das Schisma noch an meinem Rocke zu sehen ist. Wer seid Ihr? – Ein Reisender. – Wo woll Ihr hin? – Nach Syrakus. – Warum reitet Ihr nicht? – Es ist mir zu teuer, ich habe nicht Geld genug dazu.«

Die Banditen durchsuchen seinen Tornister und finden nichts als Bücher, trockenes Brot, harten Käse, zwei Hemden und ein Notizbuch. Das will der Chef des Trios an sich nehmen. Seume protestiert:

»Aber das ist mein Tagebuch mit einigen Reisebemerkungen für meine Freunde.«

Zum Glück bekommt er das Bändchen zurück. Wie hätte Seume sonst »ein Büchelchen aus meinem Tagebuche« machen sollen, wie er Gleim bald nach seiner Rückkehr brieflich ankündigte. Der sizilianische Gauner hat sich wirklich um den Spaziergang nach Syrakus und die deutsche Literatur verdient gemacht. Seumes Uhr und sein Geld haben die Räuber gar nicht erst gefunden. Sehr professionell scheinen sie nicht gewesen zu sein, oder sie waren überzeugt: bei dem ist sowieso nichts zu holen. Sie laden den armen Schlucker zu einem Schluck aus der Flasche ein und lassen ihn laufen – erst nach Syrakus und dann nach Palermo. Von dort fährt Seume mit dem Schiff nach Neapel zurück, steigt in eine Kurierkutsche und rattert nach Rom. Unterwegs muss ein Rad repariert werden, Seume in seiner Rastlosigkeit läuft voraus und wird zum zweiten Mal überfallen. Die Banditen sind zu viert:

»Einer fasste mich bei der Krause, und setzte mir den Dolch an die Kehle, der andere am Arm, und setzte mir den Dolch auf die Brust; die beiden übrigen blieben dispositionsmäßig in einer kleinen Entfernung mit aufgezogenen Karabinern. In der Bestürzung sagte ich halb unwillkürlich auf Deutsch zu ihnen: Ei so nehmt denn ins Teufels Namen alles, was ich habe! Da machte einer eine doppelt grässliche Pantomime mit Gesicht und Dolch […] In Eile nahmen sie mir nun die Börse und etwas kleines Geld aus den Westentaschen […] Nun zogen sie mich mit der vehementesten Gewalt nach dem Gebüsche, und die Karabiner suchten mir durch richtige Schwenkung Willigkeit einzuflößen. Ich machte mich bloß so schwer als möglich, da weiter tätigen Widerstand zu tun der gewisse Tod gewesen wäre: man zerriss mir in der Anstrengung Weste und Hemd. […] In diesem kritischen Momente, denn das Ganze dauerte vielleicht kaum eine Minute, hörte man den Wagen von oben herabrollen und auch Stimmen von unten: sie ließen mich also los, und nahmen die Flucht in den Wald.«

Wieder kommt Seume davon, und mit noch mehr Glück als in Sizilien behält er auch diesmal die gut versteckte Uhr und das unter der Achsel in den Rock genähte Geld.

Es gab Leser, die das für eine Räuberpistole hielten. Aber Seume hat von dem Überfall häufiger berichtet, und trotz des renommierenden Abenteurertons stimmen die verschiedenen Varianten überein. Das kann man nicht von allen gefährlichen Geschichten sagen, die Seume in seinem nicht ungefährlichen Leben erzählte. An Göschen schrieb er im Mai 1802, nicht lange nach dem Überfall:

»Vier Kerle griffen mich an, zwei mit Dolchen, zwei mit Karabinern. Einer fasste mich am Kragen und setzte mir den Dolch an die Kehle, der zweite auf die Brust. Die zwei Schnapphähne hielten mit gespanntem Gewehr etwas von ferne. Das war gar pathetisch anzusehen, wie geschickt die Schurken die Kammerdiener machten.«

Seume wird später seine Briefe von der Reise für den Bericht über sie verwenden. Die Verwandlung der Reiseerlebnisse in eine Reiseerzählung integriert Texte, die unterwegs entstanden sind. Die gekonnte Kunstlosigkeit, mit der das geschieht, erzeugt im Verein mit den im Präsens gehaltenen direkten Anreden des Lesers eine Vertraulichkeit zwischen dem Reisenden auf den Straßen und dem im Sessel.

»Ich erzähle Dir nur freundschaftlich, was ich sehe, was mich vielleicht beschäftigt und wie es mir geht.« »Ich weiß, dass mich Deine freundschaftlichen Wünsche begleiten, so wie Du überzeugt sein wirst, dass meine Seele oft bei meinen Freunden und also auch bei Dir ist.«

Diese Intimität zwischen Erzähler und Leser war keine Erfindung Seumes, sondern gepflegte literarische Form, die freundschaftliche Umgangsformen aufnahm, die wiederum von der Literatur des Freundschaftskultes präfiguriert waren.

Der sprunghafte Umgang mit Ort und Zeit, der keinem Kalkül folgt, sondern aus der raschen Niederschrift resultiert, verstärkt noch den Eindruck, nicht nur Seumes Spaziergang nachzulesen, sondern tatsächlich den Spaziergang Seumes mitzuerleben. Das Erzählen erfolgt entweder unmittelbar aus der erzählten Situation heraus oder es bedient sich der Rückblicke wie etwa in Rom, wo wir im Nachhinein die letzte Etappe des Weges dorthin erfahren. Des Öfteren befinden wir uns in einem Moment in der Gegenwart, machen im nächsten Satz einen Sprung nach vorn, holen im nächsten Absatz frühere Ereignisse nach, ziehen im übernächsten eine Extraschleife der Erinnerung an Erlebnisse vor der Reise und werden dann wieder in die gegenwärtige Szene zurückgestellt. Mitunter treibt es der Erzähler so toll, dass er sich selbst zur Ordnung ruft, nur um gleich darauf die Unordnung zu rechtfertigen:

»Ich muss mich etwas fassen, dass ich Dich den Weg über den Berg und Taormina hierher [nach Messina] mit mir nicht gar zu unordentlich machen lasse; ob Du gleich Geduld genug wirst haben müssen, denn ich bin ein gar schlechter Systematiker.«

Ein roter Faden kommt auf diese Weise nicht zustande, nicht einmal ein Knäuel, das sich vom geduldigen Leser anstelle des kapriziös unsystematischen Autors entwirren ließe. Statt in zeitlicher Chronologie den Ereignissen nachgehen zu können wie ein Wanderer, der Wegmarkierungen folgt, wird man von Seume erzählerisch kreuz und quer durch den Raum geschubst. Ein Spaziergang ist die Reise nach Syrakus für den Leser nicht.

Dieser faszinierende und irritierende Effekt verstärkt sich noch, wenn der Erzähler seinen Posten verlässt, die Perspektive wechselt und plötzlich vom Beschreiben der Reise zum Beschreiben der Reisebeschreibung übergeht. Dann ist gänzlich unklar, ob wir uns in Syrakus befinden oder in einem Brief, den Seume aus Syrakus schickt. Oder in Seumes Schreibstube in Sachsen, wo wir ihm über die Schulter schauen und lesen, wie er so tut, als würde er uns aus Syrakus schreiben:

»Wenn ich recht viel hätte schreiben wollen, hätte ich eben so gut zu Hause in meinem Polstersessel bleiben können« –

– schreibt Seume zu Hause in seinem Polstersessel, in dem er seine Reise nacherzählt, damit wir sie in unserem Sessel nacherleben können.

Dies alles geschieht weniger aus erzählerischer Raffinesse als aus schriftstellerischer Ungeduld. Seumes narrative Technik und Taktik sind in der akademischen Forschung lange unterschätzt worden, neuerdings wird eher überinterpretiert. Der Schriftsteller wollte schnell fertig werden mit seinem Bericht, so wie der Reisende rasch vorankommen wollte auf seinem Weg. Das eine wie das andere hatte mit der Bürde seiner Rastlosigkeit zu tun, aber auch mit der Leere seiner Börse. Als auf dem letzten Streckenabschnitt in Sizilien nach den Stichworten »Palermo« und »Agrigent« endlich »Syrakus« auftaucht, macht der Schriftsteller im Satz und der Reisende auf dem Absatz kehrt:

»Dies ist also das Ziel meines Spazierganges, und nun gehe ich mit einigen kleinen Umschweifen wieder nach Hause.«

Die »kleinen Umschweife« führten Seume über Neapel, Rom, Florenz, Bologna, Mailand und den Gotthard nach Luzern, Zürich, Basel, Dijon und schließlich nach Paris:

»Mein Aufenthalt ist zu kurz; ich bin nur ungefähr vierzehn Tage hier und mache mich schon wieder fertig abzusegeln.«

Über Nancy, Straßburg, Mainz, Frankfurt, Fulda ging es nach Vacha – wo der Abstecher zu Münchhausen erfolgt – und von dort über Weimar zur Mutter in Poserna:

»Meiner alten guten Mutter […] war meine Erscheinung überraschend. Man hatte ihr den Vorfall von den Banditen schon erzählt, und Du kannst glauben, dass sie meinetwegen etwas besorgt war.«

Diese bemerkenswerte Notiz lässt vermuten, dass Seume seiner Mutter von unterwegs keine Briefe schrieb. Sonst hätte er sie über den Ausgang des Abenteuers beruhigen können, wie er es beispielsweise mit Göschen gehalten hatte.

Ein einziger weiterer Satz ist der Mutter gewidmet: Er vermeldet gerührt, sie habe sein Fortwandern nicht geduldet, sondern ihn »bedächtiglich in den Wagen packen« lassen. Dann folgen eine hastig abgehakte Wiedersehensszene mit Schnorr, ein kurzes Lob des Schuhmachers Heerdegen in Leipzig für die ausdauernden Stiefel und eine knappe Verabschiedung des Lesers. In ihr blendet Seume das Reisen und Schreiben, das Leben und Lesen noch einmal übereinander:

»Bald bin ich bei Dir, und dann wollen wir plaudern; von manchem mehr als ich geschrieben habe, von manchem weniger.«

Der Spaziergang ist Bericht einer Reise nach Italien und zugleich Bekenntnis einer Lebensreise, fragmentarisch das eine wie das andere:

»Nimm also mit Fragmenten vorlieb«, schreibt er seinem Leser, »aus denen am Ende doch unser ganzes Leben besteht.«

Das Leben selbst, nicht bloß das Schreiben darüber!

Dieses bekenntnishaft Fragmentarische einer Lebens- und Italienreise verbindet Seume mit politisch bekennerhafter Reportage. Im pittoresken, mitunter gar drolligen Spaziergang explodieren die Tretminen der Empörung:

»Nie habe ich eine solche Armut gesehen, und nie habe ich mir sie nur so entsetzlich denken können. Die Insel [Sizilien] sieht im Innern furchtbar aus. Hier und da sind einige Stellen bebaut; aber das Ganze ist eine Wüste, die ich in Amerika kaum so schrecklich gesehen habe. Zu Mittage war im Wirtshause durchaus kein Stückchen Brot zu haben. Die Bettler kamen in den jämmerlichsten Erscheinungen, gegen welche die römischen auf der Treppe des spanischen Platzes noch Wohlhabenheit sind: sie bettelten nicht, sondern standen mit der ganzen Schau ihres Elends nur mit Blicken flehend in stummer Erwartung an der Türe. Erst küsste man das Brot, das ich gab, und dann meine Hand. Ich blickte fluchend rund um mich her über den reichen Boden, und hätte in diesem Augenblicke alle sicilischen Barone und Äbte mit den Ministern an ihrer Spitze ohne Barmherzigkeit vor die Kartätsche stellen können.«

Vergleicht man diesen Abschnitt mit der Passage über die Armut der böhmischen Bauern und beides wiederum mit den Beobachtungen, die Seume in Frankreich anstellt, lässt sich das soziale Gefälle in Europa ermessen – und vielleicht auch die materielle Grundlage der politischen Überlegenheit Frankreichs, dessen kontinentales Ausgreifen zum Zeitpunkt von Seumes Reise noch nicht absehbar war, obwohl sie im historischen Rückblick betrachtet unmittelbar bevorstand. Frankreich ging es gut, und deshalb ließ sich dort gut gehen:

»Nun ging ich über Besançon und Auxonne nach Dijon herunter. Es war ein Vergnügen zu wandeln, überall sah man Fleiß und zuweilen auch Wohlstand. Wenigstens war nirgends der drückende Mangel und die exorbitante Teuerung, die man jenseits der Alpen fand: und doch hatte hier die Revolution gewütet und der Krieg gezehrt.«

Die französischen Verhältnisse werden trotz der Revolution – nicht wegen ihr, wie ein Jakobiner argumentiert hätte, der Seume nie war – den erbärmlichen Zuständen in Italien gegenübergestellt. Arkadien ist verkommen, und auch wenn in diesem Land immer noch Zitronen und Orangen blühen, findet der nüchterne Blick auf die nackten Tatsachen kaum etwas zu loben. In Frankreich gedeiht der Wohlstand, selbst dort, wo es nur ein kleiner ist, und die Zukunft wächst heran. An ihr wird Seume während seiner letzten Lebensjahre die zersplitterte deutsche Gegenwart messen – mit einem Patriotismus ohne Vaterland.

Es gefällt Seume, durch Frankreich zu gehen, und es missfällt ihm, in Paris Napoleon zu sehen:

»Von Bonaparte sollte ich wohl lieber schweigen, da ich nicht sein Verehrer bin.«

Wegen dieser und weiterer antinapoleonischer Bemerkungen höhnte der französische Journalist Pierre Louis Roederer im Journal de Paris, Seume sei von englischem Geld bestochen und von deutschem Bier besoffen. Auf diesen Angriff kommt Seume an etwas merkwürdiger Stelle zurück, in seiner Vorrede zu Robert Percivals »Beschreibung des Vorgebirges der Guten Hoffnung«, das er gleich nach dem Erscheinen des Originals in London 1804 übersetzte:

»Mein Buch, der Spaziergang nach Syrakus, enthält nach meiner Überzeugung nur Wahrheit; und wenn ich darin über Wien und Rom, Neapel und Paris schrieb, so geschahe das ohne alle weitere Absicht, als weil ich eben dort war und sahe, was ich sahe, und darüber dachte wie ich dachte, und weil ein rechtlicher unbefangener Mann mit Anstand darüber seine Meinung freimütig zu äußern befugt ist. Wenigstens will ich mir dieses Recht nicht nehmen lassen, so lange ich das Wesentliche meiner Persönlichkeit fühle. Wenn Millionen vor einem einzigen Manne zittern und anbeten, so will ich weder das eine noch das andere; und wenn mich auch ein Schauerchen der Menschlichkeit [menschliche Schwäche] überfiele, so soll es doch weder in Überzeugung noch Handlung etwas ändern. Ich werde nie so verwegen sein, mir irgend einen Einfluss auf öffentliche Dinge anzumaßen; aber auch nie so kleinmütig, meine Begriffe von Freiheit und Gerechtigkeit durch despotische Willkür bestimmen zu lassen. Schweigen kann ich sehr wohl, das wissen alle, denen ich nahe bin, aber wenn ich rede, rede ich nur, was ich denke.«

Diese Replik war Seume nicht wegen Roederer wichtig, den sie kaum erreicht haben dürfte, sondern wegen seines Publikums in Leipzig und Weimar. Und dieser Zweck wurde erfüllt, wie ein Brief Wielands an Göschen bezeugt: »Die Vorrede unseres Freundes Seume zur Übersetzung des Percivallischen Werks habe ich mit großem Interesse gelesen. Es ist eine Freude, derbe Wahrheiten so freimütig und kräftig und doch so manierlich gesagt zu hören. Seume kann nun sicher sein, dass niemand glauben noch sagen wird, dass englische Guineen […] aus ihm sprechen.«

Seumes Alternative, entweder zu schweigen oder die Wahrheit sagen zu müssen, ist nicht bloß persönliche Haltung, sondern ein allgemeiner rhetorischer Gestus in der Epoche der Aufklärung. Georg Forster beispielsweise benutzte in einem Brief aus dem revolutionären Paris eine ähnliche Wendung: »Schweigen kann ich, aber nicht gegen meine Überzeugung und Einsicht schreiben.« Die Wahrheit kann zwar unterdrückt, aber nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Schweigen heißt: biegsam sein, aber nicht, sich zu beugen. Dieses Schweigen verleugnet die eigene Meinung nicht, sondern verschiebt nur ihre Äußerung.

Mit der Wahrheit wurde im 18.Jahrhundert ein großer Kult getrieben, und oft genug wurde sie von Wahrhaftigkeit nicht unterschieden. Auch von Seume nicht. Die Wahrhaftigkeit lag ihm immer am Herzen, auch wenn er die Wahrheit manchmal aus den Augen verlor. Wahrheitsliebe ist nicht gleich Faktentreue. Gleichwohl muss gelegentlich Treue zu den Fakten bewiesen werden, soll die Liebe zur Wahrheit glaubwürdig bleiben. Im Grunde jedoch kommt es auf die innere Haltung zur äußeren Wirklichkeit an. So jedenfalls setzt Rousseau es seinen Lesern im vierten Spaziergang seiner Träumereien auseinander und legt es sich dabei selbst zurecht: »Ich habe Leute gesehen, die man in der Welt wahrhaftig nennt. Ihre Wahrhaftigkeit erschöpft sich in müßigen Unterhaltungen darin, Ort, Zeit und Personen richtig anzuführen, sich keine Erdichtungen zu erlauben, keinen Umstand auszuschmücken, nichts zu übertreiben. Sie sind in ihren Erzählungen von unbestechlicher Treue, solange es nicht ihr eigenes Interesse berührt. Kommt es aber darauf an, von etwas zu handeln, das sie angeht, eine Begebenheit zu erzählen, die sie nahe betrifft, so werden alle Farben gebraucht, die Sache in dem für sie vorteilhaftesten Licht zu zeigen, und wenn die Lüge ihnen nützen kann, so enthalten sie sich zwar selbst, sie zu sagen, aber sie begünstigen sie geschickt und bewirken so, dass sie angenommen wird, ohne dass sie auf ihre Rechnung geschrieben werden kann.«

Dem äußeren Schein hält Rousseau die innere Wahrhaftigkeit entgegen: »Derjenige, den ich wahrheitsliebend nenne, tut gerade das Gegenteil. Bei völlig gleichgültigen Dingen rührt ihn die Wahrheit, um die sich der andere dann so emsig bemüht, sehr wenig, und er wird sich kein Gewissen daraus machen, eine Gesellschaft mit erdichteten Begebenheiten zu unterhalten […] Jede Rede aber, die […] Achtung oder Verachtung der Gerechtigkeit und Wahrheit zuwegebringen kann, ist eine Lüge, die nie aus seinem Herzen, aus seinem Mund oder aus seiner Feder kommen wird.«

Faktentreue ohne Wahrheitsliebe hat keinen Sinn, Wahrheit ohne Gerechtigkeit keinen Wert: »Aber wie, wird man sagen, reimt sich diese Nachlässigkeit [bei gleichgültigen Dingen] mit der glühenden Wahrheitsliebe, die ich an ihm rühme? Dieser Eifer muss also unecht sein […] Nein, er ist lauter und wahrhaft, er ist ein Ausfluss der Liebe zur Gerechtigkeit und will nie falsch sein, obgleich er sich oft Erdichtungen erlaubt. Gerechtigkeit und Wahrheit sind in seinem Geiste gleichbedeutende Worte, deren er sich ohne Unterschied bedient. Die geheiligte Wahrheit, der sein Herz anhängt, besteht bei ihm nicht in gleichgültigen Dingen und leeren Namen, sondern darin, einem jeden getreulich das, was ihm wahrhaftig gehört, zukommen zu lassen an […] Ehre oder Tadel, Lob oder Missbilligung. […] Seine eigene Achtung ist ihm vor allem wichtig, dies ist das Gut, das er am wenigsten entbehren kann, und er würde es als einen wirklichen Verlust empfinden, die Achtung anderer auf Kosten seiner eigenen zu erlangen.«

In dieser Rousseau’schen Träumerei ist Seumes gesamtes Wahrheitsprogramm enthalten, bis hin zu seiner Unterscheidung zwischen Ruhm (bei den anderen) und Ehre (vor sich selbst).

Seume und Rousseau
»Zu Fuß meinen Weg machen, bei schönem Wetter, in schöner Landschaft, ohne Eile, als Ziel meiner Reise vor mir etwas Angenehmes, diese Lebensweise ist am meisten von allen nach meinem Geschmack.« Dieser Satz könnte von Seume stammen, steht aber in den Bekenntnissen von Jean-Jacques Rousseau. Dieses Buch ekstatischer Aufrichtigkeit ist zugleich eines von eklatanter Unzuverlässigkeit. Was dies betrifft, hätte Seume kein besseres Vorbild haben können.
Die Entsprechungen zwischen dem Uhrmachersohn aus Genf und dem sächsischen Kleineleutekind sind zahlreich, bis hin zu frappierenden Ähnlichkeiten bei lebensgeschichtlichen Details. Beide waren große Spaziergänger und haben entsprechende Bücher geschrieben: Seume mit dem Spaziergang nach Syrakus, Rousseau mit den Träumereien eines einsamen Spaziergängers, ein Text, der in sieben »Spaziergänge« gegliedert ist und auf Deutsch unter dem Titel J.J.Rousseau’s Selbstgespräche auf einsamen Spaziergängen. Ein Anhang zu den Bekenntnissen 1782 in Berlin erschien. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Seume die Texte Rousseaus nicht gekannt hat.
Eine weitere Ähnlichkeit ist beider Vorliebe für Plutarch. Das war im 18.Jahrhundert nicht ungewöhnlich, doch ist die Intensität dieser Vorliebe erstaunlich: In den Bekenntnissen wird Plutarch schon auf den ersten Seiten erwähnt, und Seume hat in seinen letzten Jahren an einem Buch über Plutarch gearbeitet. In dieser Zeit litt Seume an der Nieren- und Blasenkrankheit, an der er gestorben ist, während Rousseau von Jugend an mit einem Blasenleiden kämpfte. Die Krankheiten waren medizinisch unterschiedlicher Natur, hatten aber psychologisch ähnliche Folgen, sowohl was die Pein als auch was die Peinlichkeit anging.
Beide waren kurzsichtig, der eine wurde trotzdem Soldat, der andere wäre es beinahe geworden. Auch Rousseau hätte um ein Haar die Uniform übergestreift, und zwar ähnlich wie bei Seume in Zusammenhang mit einer Erzieherstelle beim Neffen eines hohen Militärs. Daraus wurde nichts, doch dienten Rousseau und Seume als Sekretäre, der eine bei einem General in Warschau, der andere bei einem Gesandten in Venedig.
Beide berichten von einem Bruder, der auf und davon ging und verschollen blieb, »so vollständig«, schreibt Rousseau, »dass man nie erfahren hat, was aus ihm geworden ist«. Auch von Seumes Bruder erfuhr man nie, was aus ihm geworden ist. Er wurde erst zwei Jahrzehnte nach Seumes Ableben für tot erklärt.
Nicht nur die Brüder ergriffen die Flucht, sondern auch sie selbst. Rousseau war knapp sechzehn, als er nach einem Ausflug die Stadttore von Genf verschlossen fand und davonlief. Sein Weg führte den Genfer Calvinisten in den Schoß der katholischen Kirche und in die Arme von Madame de Warens. Seume war etwas über achtzehn, als er aus Leipzig floh und hessischen Werbern in die Hände fiel.
Beide berichten auch von schweren Demütigungen der Väter. Rousseaus Vater floh nach Händeln mit einem Aristokraten aus Genf, was Rousseau, dessen Mutter im Kindbett gestorben war, zum faktisch vaterlosen Gesellen machte. Die Demütigung von Seumes Vater durch die Fron war weniger dramatisch, brach dem Mann aber, jedenfalls nach Darstellung des mitleidenden (und im Vater mitgedemütigten) Sohnes den Lebenswillen.
Des Weiteren berichten beide von einem »Verbrechen«, dessen sie als Kinder angeklagt und für das sie bestraft wurden, ohne es begangen zu haben. Bei Rousseau handelte es sich um einen zerbrochenen Kamm, bei Seume um einen gestohlenen Gulden. Die Züchtigung »war schrecklich«, wie es in Rousseaus Bekenntnissen, sie geschah auf »schreckliche Weise«, wie es in Seumes Mein Leben heißt. Solche Urszenen verletzter Gerechtigkeit werden bis heute viele Kinder erleben, und ihr seelischer Nachhall ist sicher vielen Erwachsenen nicht fremd. Die Übereinstimmung des erzählerischen Gestus zwischen Rousseau und Seume ist dennoch erstaunlich.
Auch zu Seumes Lieblingswendung, ohne Furcht und Hoffnung durchs Leben zu gehen, gibt es Entsprechungen bei Rousseau. Im ersten seiner »einsamen Spaziergänge« heißt es, er »habe für diese Welt nichts mehr zu hoffen, noch zu fürchten«. Und selbst noch beim Wollen des Nichtwollens stimmen die beiden überein. Garlieb Merkel erzählt davon, wie Seume, vom Freund wegen der mangelnden Energie zum Positiven ins Gebet genommen, unwirsch zugibt, nun einmal besser zu wissen, was er nicht wolle. Rousseau wiederum schreibt im ersten seiner vier Bekenntnisbriefe an Malesherbes: »Kurz, die Art des Glücks, das ich brauche, besteht nicht so sehr darin zu tun, was ich will, als nicht zu tun, was ich nicht will.«

Kutschfahrt nach Norden

Nach Syrakus lief Seume wegen Klopstock, Theokrit und Wilhelmina Röder; nach Polen und ins Baltikum, nach Russland, Skandinavien und Dänemark fuhr er wegen Zar Alexander und Johanna Loth. Die beiden Frauen waren vielleicht nicht die Hauptursachen, aber doch die Anschubmotivationen dieser Reisen. Zu Beginn von Mein Sommer 1805, gleich nach einer radikalpolitischen Vorrede und einem sehr trüben Gedicht, in dem sich »Totenhügel« auf »Rabenflügel« reimen – gleich nach dieser erst aufbegehrenden, dann niedergedrückten Einstimmung erklärt er seinem alten Duz-Freund, dem Leser:

»Dieses [Gedicht] nehme ich eben für dich aus meinem [auf der Reise geführten] Taschenbuche, mein Freund; und die Wahrheit jeder Silbe ohne Dichtung behauptet, will es weiter nichts sagen, als dass ich mit meiner Weisheit etwas in den Brüchen und in der Leidenschaft – leidenschaftlich war. Es gehören Jahre dazu, ehe ich weich werde; dann wirkt es vulkanisch: aber mit einem einzigen heroischen Streiche [eben dem Aufbruch nach Norden] ist auch die Kur vollendet; ich bin wieder der Alte, und halte nicht nur an dem Begriffe der Pflicht und der Männerwürde, sondern lebe auch kräftig darin.«

So schafft er es, dem »Geschlechtszauber« zu entrinnen und seine »drei platonischen Seelen« – als da wären: Begierde, Willenskraft und Vernunft – »wieder in ziemlich gute Ordnung« zu bringen:

»Es geht nahe an der Zertrümmerung meines Wesens vorbei; aber es geht. Genug davon.«

Nur noch eine kleine Stelle aus einem Brief an Hartknoch vom Januar 1805:

»Es ist in meinem innern moralischen Wesen ein kleiner Vorfall geschehen, der mich schnell bestimmt hat, mit dem Eintritt des Frühlings den Sommer über eine Ausflucht zu suchen. Da es jetzt in England nicht ganz ruhig ist [wegen der Kontinentalsperre Napoleons], werde ich nach Petersburg wandeln, wozu außerdem noch einige andere persönliche Rücksichten einladen.«

Mit diesen »persönlichen Rücksichten« ist der Versuch gemeint, bei Alexander eine Pension zu erwirken für seinen russischen Militärdienst in den 1790ern. In Mein Sommer erinnert er den Leser bei der Schilderung des Petersburger Aufenthaltes an dieses Vorhaben:

»Ich war, wie dir bekannt ist, halb und halb mit der Absicht ausgegangen, hier Zutritt bei dem Kaiser zu suchen und ihn um einen kleinen Jahrgehalt zu bitten, den ich verdient zu haben glaube und mit Selbstgefühl erwarten könnte.«

Aber weil daraus nichts geworden ist – der Zugang zu Machthabern steht nicht allen jederzeit offen –, rafft er sich auf, wenigstens seinen Stolz zu behalten, der, wie so oft in seinem Leben, das Einzige ist, woran er sich halten kann:

»Schon unterwegs hatte ich den Gedanken ziemlich aufgegeben, und hier fand ich den Monarchen durch die kritische Lage der öffentlichen Angelegenheiten so sehr von wichtigen auf keine Weise angenehmen Geschäften belagert, dass es mir nicht einfiel, einen Schritt deswegen zu tun. Es würde mir vielleicht so schwer nicht geworden sein: aber bei genauerer Prüfung fand ich, dass es doch wohl besser sei, aus eigenen Kräften durch mich so lange als möglich allein zu leben.«

So will er sich und den Leser glauben machen, er habe das, was er nicht erreichen konnte, gar nicht wirklich bekommen wollen. Später, in den allerletzten Lebensmonaten, wird er aus Not doch noch einen Vorstoß unternehmen müssen.

Trotz seiner prekären finanziellen Situation reiste Seume als anerkannte Persönlichkeit. Er hatte Böttiger am 13. März angekündigt, »zu Ende des Monats denke ich hier wegzutornistern«, und so wurde sein Aufbruch in der Zeitung angekündigt, nicht wie viele Jahre zuvor als Suchanzeige nach einem entlaufenen Studenten, sondern in Form einer Hommage seines publizistischen Freundes und, wie Caroline Herder gespottet hatte, »Herumbieters« Böttiger: »Unser wackerer Seume (wir Leipziger sind stolz auf den Besitz dieses Ehrenmannes, der immer wieder in unsere Mitte zurückkehrt, und nennen ihn gern den unsern, auch wenn er uns mitunter eine unvergoldete Pille zu schlucken gibt), der Spaziergänger nach Syrakus, ist auf einer neuen Wanderung begriffen. Es riss ihn unwiderstehlich fort; er musste den Wanderstab ergreifen.«

Fortgerissen hat es den »wackeren Seume«, aber den »Wanderstab ergriff« er nicht. Diesmal legte er den überwiegenden Teil der Strecke auf Rädern zurück. Sein Protest gegen das Straßen ruinierende Spurfahren der Kutscher im Spaziergang hätte eigentlich besser in Mein Sommer 1805 gepasst – wie umgekehrt die Theorie der Fußgängerei, die er im Vorwort zu Mein Sommer entwickelt, eher zum Spaziergang.

Aber den legendären Tornister, in dem er den Thukydides nach Süden schleppte, hat er für die »nordische Reise« doch reaktiviert, und für Teilstrecken schlüpfte er trotz der Beschwerden, die ihm seine alte Fußverletzung machte, wieder unter die Riemen:

»Von Dorpat aus nahm ich hohen Mutes meinen sicilianischen Seehundstornister wieder selbst auf eigene Schultern […] Man fühlt sich nie mehr in seiner Kraft, als wenn man geht; und so möchte ich einmal abtreten. Es muss kein herrlicheres Ende sein, als der Tod in dem Gefühl seiner Kraft.«

Das war ihm nicht vergönnt. Seinen »letzten Gang« trat er keine fünf Jahre später im Liegen an, dahinsiechend in einem Wirtshausbett im Badeort Teplitz, dessen Heilwasser ihm nicht helfen konnte.

Du sollst nicht spuren
Während Seume nach Osten und Norden fuhr, philosophierte er über das »Fußwandeln«; während er nach Süden marschierte, dachte er über das Kutschenfahren nach. Unterwegs auf Schusters Rappen gerät er außer sich, wenn er die Spurrillen sieht, die schlecht gelenkte Pferde mit Fuhrwerken in die Straßen fahren:
»Es ist mathematisch zu beweisen, dass die Gewohnheit des Spurfahrens, zumal der schweren Wagen, die beste, festeste Chaussee in kurzer Zeit durchaus verderben muss. Ist einmal der Einschnitt gemacht, so mag man schlagen und ausfüllen und klopfen und rammeln, so viel man will, man gewinnt nie wieder die vorige Festigkeit; die ersten Wagen fahren das Gleis wieder aus und machen das Übel ärger. Fängt man an, ein zweites Gleis zu machen, so ist dieses bald eben so ausgeleiert; und so geht es nach und nach mit mehrern, bis die ganze Straße ohne Hilfe zu Grunde gerichtet ist. Wenn aber der Weg nur einigermaßen in Ordnung ist und durchaus kein Wagen die Spur des vorherigen hält, so kann kein Gleis und kein Einschnitt entstehen, sondern jedes Rad versieht, so zu sagen, die Stelle eines Rammels und hilft durch die beständige Veränderung des Drucks die Straße bessern.«
Es mag einem kurios vorkommen, dass ein Fußgänger sich Gedanken um den Zustand der Straßen macht. Aber erstens drückt sich darin ein Interesse am Allgemeinen aus, das über die unmittelbaren eigenen Bedürfnisse hinausgeht; zweitens hat dieses Interesse am Allgemeinen dann doch Rückstoßeffekte auf das eigene:
»Geleite und Wegegeld und Postregal haben durchaus keinen Sinn, wenn daraus nicht für den Fürsten die Verbindlichkeit entspringt, für die Straßen zu sorgen.«
Wenn man schon Wegegeld entrichtet, dann sollen auch die Straßen in Ordnung sein. Modern ausgedrückt: Mautgebühren für Autobahnen mit Schlaglöchern will niemand zahlen. So gesehen ist Seumes Sorge schon viel weniger bizarr, trotz der komisch-drakonischen Bemerkung im nordischen Reisebericht:
»Wenn ich es je dahin bringen könnte, dass niemand Spur führe, dass man die hartnäckigen Spurfahrer endlich ins Zuchthaus steckte; so würde ich glauben, ich hätte eine Ehrensäule verdient.«
Das Spurfahren war ›polizeylich‹ untersagt, und für die Radbeschläge gab es Regeln. Nur kümmerte sich niemand darum, beklagt er im Spaziergang:
Von »Wegen darf ich mit meinen Landsleuten nicht sprechen; die sind wohl selten in einem andern Lande schlimmer und gewissenloser vernachlässigt, als bei uns in Sachsen.«
In ganz Deutschland mangelte es an befestigten Fernstrecken. Preußen mit seiner riesigen Armee hatte einige schlecht angelegte Heerstraßen, aber »beim Tode Friedrichs II. [1786] keine einzige ausgebaute Chaussee!«, wie Hans-Ulrich Wehler in seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte fassungslos konstatiert.
Seume pflegte in den Dörfern die gemauerten Schornsteine auf den Dächern zu zählen und daraus Rückschlüsse zu ziehen auf den Wohlstand der Regionen:
»Wenn man in Estland und Liefland [Lettland] nur selten einen Schornstein sieht, so hat hier [in Schweden] manches Bauerngut vier bis sechs Schornsteine, und viele schöne Nebengebäude.«
Beim Rezensieren der Straßen zwischen den Städten folgte er demselben Impuls konkreter Kritik.

Die in Mein Sommer beschriebene Route führte über Dresden, Görlitz, Breslau nach Warschau, wo Seume elf Jahre zuvor den Osteraufstand gegen die russische Besatzung miterlebt hatte und in polnische Gefangenschaft geraten war. Den Aufstand erwähnt er, betrübt darüber, dass die Trümmer noch immer nicht beseitigt sind, als sollten die Ruinen der Häuser an die Ruinen der polnischen Nation erinnern. Die Gefangenschaft lässt er unerwähnt. In seinen 1796 veröffentlichten Nachrichten über die Vorfälle in Polen hat er ihre Dauer mit sieben Monaten angegeben, doch fügt sich diese Zeitspanne nicht passgenau in andere Lebensdaten.

Von Warschau ging es über Grodno (heute in Weißrussland), Kowno in Litauen nach Riga in Lettland, wo er General Igelström, dem alten Chef aus Warschauer Tagen, seine Aufwartung zu machen versuchte. Doch wurde er nicht vorgelassen, was den leicht kränkbaren Seume nachhaltig verärgerte.

Die nächste wichtige Reisestation war Dorpat (Tartu) im damals russisch beherrschten Estland. Kurz vor der Ankunft kam es zu einem Unfall:

»Der Wagen jagte echt russisch reißend auf der ganz glatten Chaussee hin, als im Sturz die eiserne Achse brach, die große hohe Maschine umflog und meine ganze Poetik in einem Bogen von vielen Klaftern rechts hinab in den Graben schleuderte. Die Pferde machten vernünftig Stillstand, und wohlbehalten arbeitete ich mich mit meinem jungen Freunde aus dem Gepäcke heraus, und setzte mich mit einer nur kleinen Kontusion auf die Füße.«

Bei dem »jungen Freund« handelte es sich um einen Heranwachsenden, den Seume in der Rolle eines reisenden Hofmeisters nach Dorpat zu bringen und bei Verwandten abzuliefern hatte. Aus Freude, diese Aufgabe glücklich erledigt zu haben, machte er nach Dorpat ein wenig Strecke mit dem Tornister, nicht weil er Angst vor brechenden Achsen hatte oder sich Sorgen um seine »Poetik« machte.

Von Dorpat ging es nach St.Petersburg, wo Seume unter anderen mit Klinger zusammentraf, dem Direktor des Petersburger Kadettencorps und Kurator der Universität Dorpat. Von Stockholm aus schrieb Seume darüber am 14. August an Göschen:

»Klinger trug mir wiederholt eine Professur in Dorpat an und riet mir, meine Mutter dahin mitzunehmen. Aber ich halte es nicht mehr der Mühe wert, eine neue Lebensweise anzufangen: zumal da meine Mutter in ihren Jahren sich schwerlich entschließen würde, ihr Vaterland und ihre dortige Familie zu verlassen.«

Was das für eine Professur gewesen sein könnte, kann heute nicht mehr rekonstruiert werden. Aber die Begründung ihrer Ablehnung ist bemerkenswert: Als ob er geahnt hätte, dass ihm nur noch fünf Jahre bleiben, mag er sich nicht mehr die Mühe eines Neuanfangs machen. Und dann wird noch die Mutter im sächsischen Vaterland aufgeboten. Dabei weiß Göschen, und Seume erwähnt es doch auch selbst, dass sie untergebracht und versorgt ist. Seume hätte die Mutter also nicht mitnehmen müssen, sondern allein umsiedeln können. Die Vermutung, das habe er nicht gekonnt, weil er sich nicht von ihr trennen mochte, liegt nahe. Seume freilich lag das fern, jedenfalls fern genug, um von Grimma aus nur selten ins nahe gelegene Heimatdorf zu einem Besuch bei der Mutter zu kommen. Das Verhältnis zwischen den beiden dürfte weniger innig gewesen sein, als Seume vorgab, wenn er sich lebenspraktischen Zumutungen in Form pädagogischer Posten entziehen wollte. Er hing nicht an Mutters Rock, flüchtete aber hinter ihren Rücken, um den Verführungen und Verpflichtungen eines bürgerlichen Amtes zu entwischen. Dennoch war es ihm wichtig, seinem alten Chef Göschen von Klingers Angebot zu erzählen. Es sollte zu Hause nur ja niemand denken, es gäbe in der Welt kein Interesse an einem wie ihm.

In diesem Brief erwähnt Seume auch, er habe durch Klinger von Schillers Tod erfahren. Im Reisebuch schildert er die Szene so:

»Eben war ich […] in einer gemütlichen und traulichen Unterredung, da trat ein großer, ernster, charaktervoller Mann herein, mit finsterem, fast mürrischem Gesichte, warf seinen Federhut und Stock nachlässig auf einen Seitentisch und schritt schweigend einige Mal im Zimmer auf und ab. Der Mann war Klinger; er kam von der Kaiserin [Maria Fjodorowna, die Mutter des Zaren, zu deren Beraterkreis Klinger gehörte]. Kinder, sagte er mit dem Tone der tiefen männlichen Rührung: Schiller ist tot. Werter hätte mir Klinger in langer Zeit nicht werden können, als in diesem einzigen Moment durch diesen Ton; ob er mir gleich keine traurigere Nachricht hätte bringen können.«

Von Petersburg nach Moskau erlebte und erlitt Seume eine »Höllenfahrt«, die nur erlesen amüsant ist:

»Der Weg ist das solideste, gröbste, etwas ausgefahrene Steinpflaster mit abwechselnden Knüppelbrücken; das Fuhrwerk gilt zwar für eine Postkibitke, ist aber bloß ein offener, sehr massiver, backtrogähnlicher Karren, Telege genannt, fest auf der Achse liegend und bei jedem Stoß durch alle Sehnen dröhnend. Ich bat um Heu oder Stroh; da war aber selten etwas zu haben; so dass ich in der besten gewöhnlichen Richtung im Kasten auf der Achse saß, und nur die Wahl hatte, mich gelegentlich durch eine schlimmere Wendung auf kurze Zeit etwas zu verbessern. Nun jagt der gemeine Russe mit seinen Stahlknochen über kleine und große Steine polternd hinweg, dass die Haare fliegen, und fragt nicht, was Brust und Schenkel des Reisenden dabei empfinden. Das wirft und stößt und dröhnt von dem heiligen Bein bis in die Zirbeldrüse.«

Und in der sitzt, jedenfalls lehrte das Descartes, die Seele. Bei derart erschütternder Fortbewegung ist es kein Wunder, dass Seume gehen wollte – wenn es nur gegangen wäre mit der alten Verletzung am Fuß.

Von Moskau führte die Reise zurück nach Petersburg, wo er, vermutlich auf Empfehlung Klingers, von Maria Fjodorowna empfangen wurde:

»Das war mir nun unerwartet genug, und meine halbhuronische Personalität geriet doch einige Sekunden ins Betroffene. […] Die Kaiserin sprach mit mir ungefähr eine halbe Stunde, zuerst über mich selbst, meine kleinen Wanderungen und literarischen Arbeiten. […] Die Kaiserin fragte mich viel über Schiller, dessen Tod noch das Gespräch der Stadt war […] Da ich mit Schiller immer in freundschaftlichen Verhältnissen gewesen war, konnte ich mit wahrer Wärme von seinem Charakter sprechen. Der bessere Mensch in ihm ließ von den minder guten Momenten keine Flecken einrosten.«

Dann kommt die Fürstin auf das Angebot zu sprechen, das Klinger Seume gemacht hatte,

»und fragte, warum ich das nicht wollte? Ich sagte ihr sogleich mit Wahrheit den Hauptgrund, dass ich in meinem Vaterlande eine alte Mutter habe, der ich für meine Entfernung durch nichts Ersatz geben könne […] Ihre Majestät werden das Gefühl gehörig würdigen, da Sie selbst Mutter sind. Dawider ist nichts zu sagen, dawider ist gar nichts zu sagen: sprach sie mit sichtbarer Zufriedenheit.«

Auch Seume ist mit der Begegnung sichtbar nachlesbar zufrieden. Von einem General, dem er einst gedient hatte, wurde er nicht vorgelassen, aber eine Fürstin hat ihn empfangen. Wie schon auf der Schifffahrt nach Halifax ist wieder die mittlere Macht zu tadeln, während die große ein Lob verdient:

»Man glaubt wohl mit Recht, dass in keinem Fürstenhause mehr Innigkeit und freundliche Humanität, mehr Güte und wahre Aufklärung herrscht, als in der hiesigen kaiserlichen Familie.«

Kein »Edelmann ist gerecht und vernünftig als solcher«, heißt es in den Passagen über Dorpat, »sondern nur in so fern er aufhört, es zu sein«. Die Könige und Kaiserinnen aber können bleiben, wer sie sind, und trotzdem »gerecht und vernünftig« sein.

Nach dem zweiten Petersburger Aufenthalt reiste Seume über Wiburg (Vyborg) nach Abo (Turku) in Finnland. Dann querte er den Bottnischen Meerbusen. Während der Überfahrt kommt es zu einem schlimmen Rückfall in seine »Erbsünde«, Seume bedichtet Schiller:

»Liebenswürdig war der Mann als Dichter;
Und der Dichter es noch mehr als Mann.
Glücklich wer wie er so viel Gesichter,
So viel Herzen, auch als strenger Richter,
Auf den guten Weg erheitern kann.«

In Schweden besuchte er Uppsala und Stockholm, querte den Sund nach Kopenhagen und kehrte über Kiel, Lübeck, Hamburg und Halberstadt nach Leipzig zurück. Am 30. September 1805 lässt er Hartknoch, den Verleger des Spaziergang, wissen,

»dass ich wieder in meiner Klause zu St.Thomas [also der Thomasschule] in Leipzig angelangt bin. […] Ich bin in einiger Verlegenheit, nicht um Geld, sondern über einen Fall im Leben und Handeln. […] Sie sind mein Freund; Göschen ist es von noch älteren Zeiten her. Er war der erste, den ich kennen lernte, als ich als Halbhurone ziemlich verwildert aus Amerika kam: unsere guten Verhältnisse sind seitdem nie unterbrochen worden. […] Er wünscht, wie ich merke, dass ich für ihn etwas schreiben möchte, und es würde sehr unfreundlich sein, wenn ich mich weigerte […] Ich bin nicht ganz gewiss, ob ich Ihnen ein Versprechen gegeben habe oder nicht. Wort zu halten ist die erste Pflicht eines Mannes. Es würde mir lieb sein, wenn es mit Ihrer Genehmigung geschehen könnte, dass ich Göschen das Produkt meiner jetzigen Musestunden gäbe«,

also das Buch über die Reise nach Osten und Norden. Doch hat weder Göschen noch Hartknoch das Werk gedruckt. Im November 1806 berichtet Seume an Münchhausen:

»Von meiner Reise nach dem Norden, die nun schon sehr alt ist, kann ich Ihnen wenig sagen. Ich ging nach Petersburg und Moskau, durch Finnland und den bothnischen Meerbusen nach Stockholm und von da über Kopenhagen und Hamburg nach Hause. Voilà tout. Das Ganze habe ich drucken lassen, ungefähr wie meinen Spaziergang nach Syrakus, und es ist betitelt: Mein Sommer 1805. […] Der Inhalt ist nach meiner Weise sehr fragmentarisch und freimütig über alles; Sitten, Gebräuche, Statistik, Kultur und den ganzen Farrago [etwa: Mischmasch] des menschlichen Lebens.«

Fragmentarisch und freimütig über alles – das ist eine recht passende Selbstcharakterisierung von Seumes Schriftstellerei. Und das Freimütige an ihr war der Grund, warum die Formulierung, »das Ganze habe ich drucken lassen«, wörtlich zu nehmen ist. Weder Göschen noch Hartknoch wollten das Risiko auf sich nehmen, Seumes Sommer zu publizieren. Das Buch wurde bei Junker in Rudolstadt gedruckt, im Auftrag Göschens und auf Seumes Rechnung. Es wurde in Russland, Österreich und in den französisch besetzten Gebieten Süddeutschlands verboten. Zu dezidiert antiklerikal und antiaristokratisch war die Haltung des Autors, zu forciert der kritische Ton des Textes.

Mein Sommer konnte im Unterschied zum Spaziergang kaum Wirkung entfalten. Doch gibt es über das Buch eine anrührende Stelle in einem Brief Therese Hubers an Göschen. Therese Huber, Tochter des Göttinger Professors Christian Gottlob Heyne, war mit Georg Forster verheiratet gewesen – in glückloser Ehe. Als Forster 1794 in Paris starb, war das Paar schon in Scheidung. Die Ehe mit ihrem zweiten Mann Ludwig Ferdinand Huber dauerte bis zu dessen Tod 1804. Sowohl im Haus ihres Vaters als auch in den Lebensabschnitten mit Forster und Huber spielten das Lesen und Schreiben eine überragende Rolle. Therese selbst veröffentlichte teilweise anonym, teilweise unter dem Namen Ludwig Ferdinand Huber. Später musste sie als Redakteurin aufreibende Emanzipationskämpfe im männerdominierten Zeitschriftenwesen durchstehen. Zum Zeitpunkt ihres Briefes an Göschen lebte sie bei der Familie ihrer zweiten Tochter: Wir »wünschten […] Seumes Bekanntschaft zu machen, dessen Reise im Norden uns das höchste Interesse für seine Individualität einflößte. Sie kennen Seume, – wenn er je durch diese Gegend kommt, so soll er, sagen Sie es ihm, wie griesgrämig er auch sei, an unserm Herde seinen Platz einnehmen.«

Die Reaktion von Therese Huber auf Mein Sommer ist der von Caroline Herder auf den Spaziergang stracks entgegengesetzt. Und gewiss nicht nur deshalb, weil Therese einige Stationen von Seumes Reise aus eigener, wenn auch rund zwei Jahrzehnte zurückliegender Erfahrung kannte, hatte sie doch von 1785 bis 1787 mit Forster in Wilna gelebt. Die außergewöhnliche und vom Leben ziemlich herumgeschüttelte Frau ist neugierig auf Seume. Während Caroline sich wegen des südlichen Reisebuchs von dessen Persönlichkeit abgestoßen fühlt, empfindet Therese wegen des nördlichen Reisebuchs »Interesse für seine Individualität« – und das trotz Seumes legendär ungefälliger Art von Geselligkeit. Göschen wird die wohlwollende und Seume sicher auch wohltuende Einladung nicht verschwiegen haben. Aber zu einer Begegnung zwischen Seume und der nur um ein gutes Jahr jüngeren Therese ist es nicht gekommen. Schwer vorstellbar, wie sie verlaufen wäre.

Seume konnte nach seiner dritten weiten Reise keine großen Sprünge mehr machen. Es fehlte ihm an Geld und an Kraft, der Fuß tat ihm weh, und das Herz war ihm schwer. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte seine »Personalität« in Leipzig und sein Geist im alten Griechenland. Er gab Sprachunterricht und beugte sich über den Plutarch. Es kam, wie er es im letzten Satz von Mein Sommer vorhergesehen und sich vorgeschrieben hatte:

»Dann setze ich mich wieder zu meinem Griechischen, und verschulmeistere mein Amphibienleben so gut es geht.«
Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben
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