»Lieber Freund! Bleib zu Hause«. Mit diesen Worten beginnt Seumes erster gedruckter Text, das Schreiben aus America nach Deutschland. Dabei waren die Unterbrechungen, Aufbrüche und »Ausflüchte«, wie Seume es mit einer Wendung sagte, die damals noch nicht nach Ausrede klang, die eigentliche Kontinuität in Seumes Leben. Die Gewissheit, an Ort und Stelle und immer an seinem Platz bleiben zu müssen, hätte ihn erdrückt. Vor lauter Angst, sich festzulegen und von anderen festgelegt zu werden, waren auch seine Versuche, ein Amt zu ergattern, eher halbherzig – was ihm manche zum Vorwurf machten. Hätte es mit einem der Mädchen geklappt, in die er sich im Lauf seines Lebens verliebte, wäre es vielleicht anders gekommen. Aber vielleicht hätte es, wenn es anders gekommen wäre, mit einem der Mädchen trotzdem nicht geklappt und Seume wäre nicht zu Hause geblieben, sondern aus der Ehe früher oder später ausgebrochen.
Den Schriftsteller Seume gäbe es nicht, wäre der Mensch Seume nicht immer auf dem Sprung gewesen. Er wäre kein Soldat geworden, wäre er als Student in Leipzig geblieben; und er wäre nicht der »Spaziergänger nach Syrakus« geworden, hätte er als Lektor in Grimma ausgeharrt. Das Buch, das ihm bis heute das literarische Überleben sichert, ist ein Losschreiten und Fortrennen in Worten und Sätzen, als würde beim Schreiben das Blatt brennen, so wie beim Wandern der Boden unter den Füßen gebrannt zu haben scheint.
Wie er sein Lebensabenteuer begonnen hat, so beendete er es auch – mit einem Aufbruch. Er starb nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Bett, aber das Sterbebett stand nicht zu Hause. Und bevor jener endgültige Aufbruch kam, von dem keiner zurückkehrt und niemand berichtet, raste er mit der Kutsche durch Sachsen und schrieb darüber seinen letzten Text: Ausflucht nach Weimar.
Der beschulte Bauernjunge
Bildung macht nicht unbedingt glücklich, vor allem dann nicht, wenn ihr die Selbstverständlichkeit fehlt, wenn man sie geschenkt bekommt, dafür untertänig dankbar zu sein hat und doch immer um sie kämpfen muss.
Im 18.Jahrhundert hatte ein Kleine-Leute-Kind wie Seume nur in Ausnahmefällen eine Chance, mehr als nur das absolut Notwendige zu lernen: Den Namen schreiben, bis zehn zählen und die Gebote aufsagen. Ging der Bildungsweg darüber hinaus, hatte meist ein Pfarrer die segensreiche Hand im Spiel. Entdeckte ein Dorfpfarrer ein besonders begabtes Kind, gab es Bibelunterricht und Lateinstunden, auf die Lateinstunden folgte die Lateinschule, auf die Lateinschule Oberschule oder Gymnasium, aufs Gymnasium das Theologiestudium, aufs Theologiestudium früher oder später die Pfarrstelle in einem Dorf, wo das ehemals vom Dorfpfarrer entdeckte und geförderte Kind nun seinerseits als Dorfpfarrer besonders begabte Kinder entdecken und fördern konnte.
So ähnlich ging es auch mit Seume – oder wäre es gegangen, hätte sich der junge Mann nicht aus dem ungeliebten Leipziger Theologiestudium davongestohlen. Dass er überhaupt nach Leipzig kam, hatte er erstens dem Pfarrer Schmidt zu verdanken, ebenjenem, der sich über den Grobschmied als Berufswunsch so amüsierte, und zweitens dem Grafen von Hohenthal. Der Pfarrer und der Graf waren die ersten beiden von einer ganzen Reihe von Ersatzvätern, die Seume sein Leben lang suchte und auch zu finden wusste. Persönlich war Seume diesen ›Standespersonen‹ dankbar. Publizistisch hat er die Priester und Aristokraten heftig bekämpft. Die Bildung, die er nicht als selbstverständliches Recht, sondern als Ausnahme und Privileg genoss, setzte ihn später in die Lage, die Ausnahmen und Privilegien in seinen Schriften anzuprangern. Die dabei zutage tretende, besser gesagt: zu Buche schlagende Heftigkeit hatte damit zu tun, dass man in solcher Lage die persönliche Dankbarkeit abschütteln muss, um seine politische Überzeugung ausdrücken zu können. Auf Menschen, die den Identitätsriss, der damit verbunden ist, nicht an der eigenen Seele erfahren haben, wirkt das haltlos, undankbar und überhaupt wenig sympathisch. Seume hat das zu spüren bekommen, und seine schwierige Lebensfreundschaft mit dem Freiherrn von Münchhausen – wieder einer dieser persönlich gemochten, politisch befehdeten Aristokraten – litt unter diesem Konflikt.
Davon war noch nichts zu spüren, als Seume vom Pfarrer Schmidt entdeckt und von Graf Hohenthal gefördert wurde. Er konnte von Glück sagen – und tat das in der posthum erschienenen Autobiographie Mein Leben auch – nach dem Tod des Vaters von zwei Stützen der Gesellschaft in Obhut genommen zu werden.
Als Seumes Vater 1776 starb, war Johann Gottfried dreizehn Jahre alt. Der Vorname Gottfried rührte nach eigener Auskunft vom Hubertusburger Frieden her, mit dem – gut zwei Wochen nach seiner Geburt am 29. Januar 1763 – der Siebenjährige Krieg zu Ende ging. Dieser Krieg, an dem alle europäischen Staaten vom Königreich Schweden bis Österreich-Ungarn, vom zaristischen Russland bis zum Frankreich der Bourbonen beteiligt waren, hatte den Aufstieg Preußens zur kontinentalen Großmacht bestätigt; und zugleich den Abstieg Sachsens zur machtpolitischen Drittrangigkeit. Beides war gewissermaßen ein kontinentaler Nebeneffekt des globalen Krieges, in dem England und Frankreich um ihre Weltmachtstellung kämpften. Und dieser Kampf endete nicht mit dem Hubertusburger Frieden. Er ging in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg über, und Seume selbst verschlug es trotz seines friedlichen Vornamens 1782 nach Halifax im heutigen Kanada. Aufgrund eines Subsidienvertrages, der fast auf den Tag genau dreizehn Jahre nach Seumes Geburt geschlossen wurde, hatte der hessische Landgraf an England 17 000 Soldaten für dessen Kolonialkrieg zu liefern. Hätte es diesen Subsidienvertrag nicht gegeben, wäre Seume nicht nach Amerika gekommen, sondern vielleicht nach Metz, wo er statt der theologischen Fakultät eine Artillerieschule besuchen wollte. Die Weltgeschichte dominiert immer die Lebensläufe. Das gilt nicht nur für den ›underdog‹ Seume, sondern auch für den sechs Jahre jüngeren Napoleon, dessen Heroenehrgeiz ohne die Französische Revolution wohl in Maulbeerpflanzungen auf Korsika verkümmert wäre.
Von all dem konnte Johann Gottfried nichts ahnen, als 1776 sein Vater Andreas starb. Die Mutter brachte die damals sechsköpfige Familie nur mit Mühe durch. Die Seumes waren kleine Leute, doch gehörten sie nicht zu den Armen. Der Vater hatte landwirtschaftlichen Grundbesitz im sächsischen Poserna, den er 1770 wegen verschiedener Zwistigkeiten mit Pfarrer (!) und Landadel (!) verkaufte, um in Knautkleeberg bei Leipzig den Gasthof Weißes Ross mit dazugehöriger Landwirtschaft zu pachten. Vielleicht rührt daher Seumes im Spaziergang nach Syrakus ausführlich dokumentiertes Interesse für Wirtshäuser, das Caroline Herder so abgestoßen hat; und es ist ein böser Zug des Schicksals, den vielgereisten Seume, dessen erstes großes Abenteuer mit der Verschiffung nach Halifax begann, am Ende zum Sterben ins Gasthaus Goldenes Schiff zu legen.
Das von Andreas Seume gepachtete Land gehörte zum Gut Lauer, das später von Graf Hohenthal erworben wurde. 1770/71 kam es in Brandenburg und Sachsen zu einer Hungersnot. Das Kurfürstentum Sachsen hatte in Seumes Geburtsjahr rund 1 635 000 Einwohner, 50 000 weniger als vor dem Siebenjährigen Krieg. Auch Anfang der 70er Jahre waren die Wehen und Nachwehen des Krieges noch nicht überwunden. Schlechte Ernten, die noch schlechtere Verwaltung der Reserven und die in Mangelsituationen üblichen Getreidespekulationen ließen die Brotpreise explodieren. Die Familie Seume überstand die Krise halbwegs, doch schmolzen die Ersparnisse zusammen.
1773, im Jahr der Boston Tea Party – wiederum ein welthistorisches Glied in Seumes persönlicher Schicksalskette, denn hätten die Bostoner Kolonisten den Tee nicht ins Meer geschüttet, um gegen die Steuerpolitik des Mutterlands zu protestieren, wäre der hessisch-englische Subsidienvertrag nicht geschlossen und der kleine Sachse nicht nach Halifax verschifft worden –, im Jahr 1773 lief die Pacht des Gasthofes aus, und Vater Andreas erwarb weiteres Land, mit dessen Bewirtschaftung jedoch Frondienste verbunden waren. Eine diesbezügliche Passage aus Mein Leben ist überaus aufschlussreich, und zwar im Wortsinn, denn sie schließt das auf, was Seume selbst für die seelische – und soziale! – Ursache seiner Verschlossenheit hielt:
»Mein Vater hatte […] eine kleine Ökonomie mit etwa sechzehn Ackern Feld gekauft. Das Drückendste für ihn an Körper und Geist war die Frohne, die er selbst verrichten musste […] Die Sense war seinem jetzt schwachen Arme zu schwer, er musste einige Mal die große Wiese verlassen. Ich erinnere mich, daß einige entmenschte Seelen, wie es deren überall gibt […] ihre bittergroben Bemerkungen darüber machten, als sie ihn vor der Haustüre auf der Schwelle mit einem kleinen Knaben, meinem jüngsten Bruder, spielen sahen. Der gute Mann wischte sich die Augenwinkel und legte sich lange einsam in den entlegensten Teil des Gartens. Nach drei Tagen lag er auf der Bahre. […] Dieser Vorfall vorzüglich ist mit Ursache meiner folgenden tief konzentrierten nicht selten finster mürrischen Sinnesweise. Ich habe die Katastrophe nie los werden können, ob ich gleich selten oder nie davon gesprochen habe.«
Die Fronarbeit gehörte zu jenen Privilegien, die vom Adel in allen europäischen Ländern mit Zähnen und Klauen, mit Petitionen und Peitschen verteidigt wurden. Selbst nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in einzelnen Ländern konnten die adligen Gutsherren Hand- und Spanndienste fordern. Die Zwanghaftigkeit, mit der Seume dieses »Privilegium« später gegeißelt hat, ist nicht bloß eine persönliche Marotte oder die Fixierung auf einen sogenannten ›Misstand‹ unter vielen, sondern das sozialpsychologische Resultat einer persönlichen, politischen und sozialen Demütigung. Und die dieser Demütigung zugrunde liegenden Standesinteressen waren auch die Interessen des Mannes, dem Seume zugleich dankbar zu sein hatte: Graf Friedrich Wilhelm von Hohenthal zu Städteln, der ihn Ostern 1777 in die Stadtschule von Borna und bei deren Rektor Johann Friedrich Korbinsky in Kost schickte.
Zwei Jahre später wechselte Seume auf die Nicolaischule in Leipzig und mietete sich bei deren Rektor Georg Heinrich Martini ein.
»Ich war bei dem Rektor in Wohnung und Kost und Holz verdungen; erhielt aber meinen Speiseteil durch die Magd auf mein Zimmer. Das wollte mir schon nicht behagen und schien mir illiberal: denn bei Herrn Korbinsky in Borna war ich wie ein Kind vom Hause mit allen übrigen gehalten worden.«
Der mittellose Junge vom Land, den der Graf in die Stadt und auf die Schule schickt, will nicht von der Magd auf seinem Zimmer verköstigt werden, sondern möchte einen Platz am Tisch des Hausherrn. Die Bevorzugung führt zur Erkenntnis der Benachteiligung. Die Bildung, die man dem Bauernjungen wegen seiner Begabung ausnahmsweise zugutekommen lässt, löst ihn aus seiner sozialen Herkunft heraus, fügt ihn in der Gegenwart aber noch nicht ein in das, was als soziale Zukunft erst erkämpft werden muss. In der Familie ist er der vielversprechende Sohn, der nicht nur die Eierschalen der Kindheit, sondern auch die bäuerliche Erde seiner Herkunft abschüttelt; in der Stadt, in der Schule, beim Rektor ist er ein hergelaufener Bauernjunge, der trotz der gräflichen Förderung erst noch beweisen muss, ob er den Katzenplatz am Tisch der höheren Bildung auch verdient. Lernt er zu wenig und zu langsam, ist er ein Tölpel und Faulpelz; lernt er zu schnell und zu viel, ist er überambitioniert und bildet sich Wunder was ein. So kann er es niemandem recht machen, nicht einmal sich selbst, denn die eigenen Wertmaßstäbe und der Maßstab des eigenen Werts müssen erst noch entwickelt werden. Wenn das endlich gelungen ist, werden sie um so nachdrücklicher verteidigt, was bei Seume später zur Abgrenzung der Ehre vom Ruhm führt, der Ehre vor sich selbst, und dem Ruhm bei den anderen. Die hybrideste Verkörperung dieses Ruhms ist Napoleon, die ehrlichste Ehre dagegen schreibt Seume in seiner Publizistik sich selber zu.
Das mit dem Schulbesuch verbundene Hinaustreten aus dem Familienkreis bedeutet nicht automatisch das Hineintreten in die Bildungskreise. Die intellektuelle Emanzipation wird mit Einsamkeit bezahlt, und die besten Freunde heißen nicht Hans oder Michael, sondern Ovid und Tacitus. Den einen in der Hand, studierte er die »Liebeskunst«, den anderen in der Tasche, floh er von der Universität. Das freud- und freundlose Sich-Eingrübeln, das von etlichen Bildungsaufsteigern am eigenen Leib erfahren und am eigenen Leben beschrieben wurde, wird in Seumes Autobiographie thematisiert, wenn auch nicht in der einschnürenden Intensität wie im Anton Reiser seines Zeitgenossen Karl Philipp Moritz.
Noch Seumes brieflicher Stoßseufzer an Freund Münchhausen, wäre er nur Schuster wie sein Bruder geworden, dann müsste er sich nicht mit der Seele abplagen, rührt her von der inneren Unruhe des aus seinen Herkunftsverhältnissen ausgewanderten Bildungsgängers. Wer Schuster wird, kann bei seinen Leisten bleiben und braucht sich um keine höheren Ansprüche zu kümmern. Und wer Grobschmied wird, läuft wenigstens nicht Gefahr, eine brotlose Kunst zu erlernen. Die Funken, die der Hammer schlägt, sind reeller als die Funken beim Verseschmieden:
»Wäre ich Grobschmidt worden«, schreibt Seume als Soldat an einen Freund aus seiner Schulzeit in Borna, den Sohn des Rektors Korbinsky, »dann kennte ich Ramlern und Klopstock nicht und dächte nicht ans Oden dichten, aber ich könnte den Ambos schlagen und mein Schurzleder setzte mir nicht Illiaden ins Gehirne. Warum wurde der Funke geschlagen, dass er zündete und – konnte nicht ausspringen?«
Er konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass er später in seinem Leben ausgerechnet an Klopstocks Oden herumfeilen würde, noch dazu mit wenig Anerkennung durch den poetisch sehr und menschlich gar nicht gemochten Meister.
Als Schüler und Student musste Seume fürchten, die in ihn gesetzten Hoffnungen zu enttäuschen, aber zugleich durfte er sich von der Wahl der anderen, ausgerechnet ihm den vielen versperrten Bildungsweg zu öffnen, über sich selbst hinausgehoben fühlen. Doch wird man von anderen über sich hinausgehoben, wird man von anderen auch aus sich hinausgewiesen. Die helfende Hand gibt mehr als nur Fingerzeige, dass Zukunft nicht mit, sondern nur gegen die Herkunft zu haben ist. Ein auf diese Weise gewonnenes Selbstbewusstsein ist immer fragil. Noch dazu, wenn dies alles in Hochgeschwindigkeit geschieht: Statt »mich noch auf eine Schule zu schicken, wurde ich gleich auf die Universität getan«, schrieb Seume in seiner Autobiographie:
»Und so war ich denn in [innerhalb] einer Zeit von ungefähr drei Jahren ein wilder unwissender Landjunge, ein gänzlicher Analphabete, und Leipziger Student; das ging freilich ein wenig rasch.«
Wie alles in Seumes Leben, möchte man hinzufügen. Am 9. Oktober 1780 immatrikulierte sich Seume an der theologischen Fakultät.
Wer fördert, kann auch fordern, und Graf Hohenthal hatte von Seume das Studium der Theologie gefordert. Das war keine besondere Grausamkeit, sondern gewöhnlicher Pragmatismus. Der Geförderte sollte der Förderung baldmöglichst entwachsen, was am zuverlässigsten durch eine religiöse Pfründe zu bewerkstelligen war. Knapp zwei Wochen nach der Immatrikulation schrieb Seume seinem Gönner einen Dankes- und Bettelbrief:
»Ich schulde der Großmut Ihres Herzens alles, was mir zum Leben nötig ist, und ich bin so vollkommen von der Größe Ihrer Wohltaten überzeugt, dass ich mein Leben lang nicht genug dafür danken kann. […] Darum wage ich, Sie ganz ergebenst zu bitten, mich zu unterstützen. Die Geschenke, die Sie mir in den letzten Tagen gemacht haben, sind bereits verwendet. Weil ich die Bücher nicht bei einem Antiquar kaufen konnte – denn diejenigen, welche man in den akademischen Vorlesungen braucht, waren schnell vergriffen –, habe ich von Buchhändlern gekauft, weshalb sie viel mehr kosteten. Sie haben mir befohlen, alles aufzuschreiben, was ich kaufe, und ich setze es Ihnen auf mit einer Liste derjenigen Sachen, die ich nicht entbehren kann. Ich bitte Sie, meine Freimütigkeit zu entschuldigen; ich weiß, dass sie von einer seltenen Menschenfreundlichkeit sind, der ich mein ganzes Glück schulde.«
Ein dreiviertel Jahr später hielt Seume es in Leipzig nicht mehr aus.
Der entlaufene Student
»Es ist am 28ten oder 30sten Juni d. J. ein Student aus Leipzig unter dem Vorgeben, seine Anverwandten zu besuchen, verreist, und zur Zeit weder zu seinen Verwandten noch nach Leipzig zurückgekommen. Er war 18 bis 19 Jahre alt, mittlerer Statur, trug sein schwarzbraun Haar, welches ein wenig tief in die Stirn gewachsen war, in einem steifen Zopfe, und hat sehr starke schwarze Augenbrauen. Bei seiner Abreise trug er ein braunes Kleid von feinem Tuche mit Stahlknöpfen, eine grüne gewirkte Weste, schwarze Beinkleider und Stiefeln. Seine Degenscheide war mit Schlangenhaut überzogen und seine Wäsche mit J.G.S. bezeichnet. Man befürchtet, dass diesem jungen Menschen ein Unglück begegnet sein möchte, und ersucht diejenigen, welche eine zuverlässige Nachricht von ihm erteilen können, dieselbe gütigst in die Zeitungsexpedition zu Leipzig zu geben.«
Die Befürchtung, dem jungen Menschen möchte ein Unglück begegnen, bestand völlig zu Recht. Seume lief mit seinem Schlangenhautdegen geradewegs hessischen Soldatenwerbern in die Arme.
»Den Degen an der Seite, einige Hemden auf dem Leibe und im Reisesacke und einige Klassiker in der Tasche, marschierte ich zwar ganz rüstig und leicht, aber nichts weniger als ruhig durch die Dörfer nach Dürrenberg, setzte dort über die Saale, ging über das Schlachtfeld bei Roßbach [wo Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg gegen feindliche Übermacht gewonnen hatte] und blieb die erste Nacht in einem kleinen Dorfe bei Freyburg […] Die zweite Nacht blieb ich in einem Dorfe vor Erfurt, wo man mich mit vieler Teilnahme sehr gut sehr wohlfeil bewirtete, und mich schonend merken ließ, ich hätte wohl jemand mit dem Instrumente da, man wies auf den Degen, etwas übel behandelt und müsse das Weite suchen. […] Den dritten Abend übernachtete ich in Vach, und hier übernahm trotz allem Protest der Landgraf von Kassel, der damalige große Menschenmäkler, durch seine Werber die Besorgung meiner ferneren Nachtquartiere nach Ziegenhayn, Kassel, und weiter nach der neuen Welt.«
Was war mit Seume geschehen, dass er seine doch immerhin leidlichen Verhältnisse hinter sich ließ? Von Graf Hohenthal erhielt er fünf Taler im Monat, was nicht viel, für Seume jedoch genug war, auch wenn er sich Bücher buchstäblich vom Munde absparen musste und am ›höheren gesellschaftlichen Leben‹ nicht teilnehmen konnte. Dazu hätte es schon einer väterlichen Apanage bedurft, wie Goethe sie nach der Aufnahme seines Leipziger Studiums fünfzehn Jahre zuvor erhielt: tausend Taler jährlich.
Leipzig hatte zu jener Zeit etwa 30 000 Einwohner (Weimar rund 6000). Es war Messe- und Handelszentrum, Verlags- und Universitätsstadt, hatte aber zum Glück nicht die Residenz. Die Bürde der tagtäglichen Gegenwart des Landesherrn musste Dresden tragen. Das ließ den Leipziger Handelsbürgern mehr Freiraum für die geistigen und mehr Spielraum für die repräsentativen Bedürfnisse. Goethe schreibt in Dichtung und Wahrheit: Der »Studierende von einigem Vermögen und Ansehen hatte alle Ursache, sich gegen den Handelsstand ergeben zu erweisen und sich um so mehr schicklicher äußerer Formen zu befleißigen, als die Kolonie ein Musterbild französischer Sitten darstellte. Die Professoren, wohlhabend durch eigenes Vermögen und gute Pfründen, waren von ihren Schülern nicht abhängig, und der Landeskinder mehrere, auf den Fürstenschulen oder sonstigen Gymnasien gebildet und Beförderung hoffend, wagten es nicht, sich von der herkömmlichen Sitte loszusagen. […] Mir war diese Lebensart im Anfange nicht zuwider; meine Empfehlungsbriefe hatten mich in gute Häuser eingeführt, deren verwandte Zirkel mich gleichfalls wohl aufnahmen.«
Seume befand sich in einer ganz anderen Situation. Aber langweilig ist auch ihm nicht gewesen. Während die barocke sächsische Residenzstadt Dresden als »Elbflorenz« gelobt wurde, genoss das quirlige Leipzig den Ruf eines »Klein Paris«. Hätte das große Paris da nicht noch eine Weile warten können?
»Ich nahm mein Monatsgeld, verkaufte einige Bücher, die etwas Wert hatten, und nach Abzahlung meiner Schulden […] blieben mir ungefähr neun Taler. Mit diesen dachte ich schon nach Paris zu kommen und mich umzusehen, was da für mich zu tun sei.«
Von Paris wollte er weiter nach Metz. Dort gab es eine Artillerieschule, die bürgerliche Bewerber aufnahm und für eine Offizierslaufbahn vorbereitete – in den deutschen Staaten, auch im friderizianischen Preußen, war das nur sehr ausnahmsweise möglich. Nach Metz ist Seume nie gekommen, und mehr als ein kleiner Leutnant ist er auch nicht geworden. Immerhin hat er später auf dem Rückweg von Syrakus Station in Paris gemacht.
Was trieb Seume aus Leipzig? Die Liebe, wie einige seiner Bekannten vermuteten? Das hat er brüsk dementiert, denn »die Anmutung zum Geschlecht ist bei mir sehr späte gekommen«. Er selber schreibt den Aufbruch einem religiösen Gewissenskonflikt zu. Die Bibel las und liebte er, aber die Orthodoxie stellte er mehr und mehr infrage. Seume ist ein eklatantes Beispiel für den Realitätsgehalt der uralten konservativen Befürchtung: Kaum lässt man die Leute etwas lernen, laufen sie schon aus der Kirche. Und dass dieses geistige Aus-der-Kirche-Laufen sehr weltliche Folgen haben konnte, machte Seume zu schaffen:
»Es war natürlich, dass der Graf endlich alles erfahren musste […] Ohne seine Unterstützung konnte ich nicht in den Wissenschaften fortleben. Ich wollte der Katastrophe zuvor kommen, zog mich in mich selbst zurück und fasste den Entschluss, auf allen Fall meine eigene Kraft zu versuchen. […] Nach vielen Kämpfen, die mir allerdings wohl das Ansehen eines Melancholischen geben mochten, ging ich auf und davon, ohne einen fest bestimmten Vorsatz, wohin und wozu.«
Die letzte Bemerkung ist erstaunlich. Denn unmittelbar darauf folgt die bereits zitierte Passage mit dem Monatsgeld und dem Plan, nach Paris und Metz zu gehen. Einem weniger gehetzten Autor wäre der kuriose Widerspruch aufgefallen, unmittelbar nach der Behauptung, ohne Plan aufgebrochen zu sein, das Ziel dieses Aufbruchs zu nennen. Es ist dies eine der vielen, sehr vielen Stellen in Seumes autobiographischen Schriften, auch im Spaziergang, in denen zwar eins zum anderen kommt, doch hinten und vorne nicht zusammenpasst. Schon in seiner allerersten Publikation, dem 1789 erschienenen Schreiben aus America nach Deutschland, bittet er den fiktiven Leser seines als Brief fingierten Berichts:
Du »musst mir aber verzeihen, wenn Du alles so mischmaschmäßig durcheinander findest. Denn Du weißt wohl, dass ich gar kein guter Methodist, und folglich eben nicht geschickt bin, ein sehr genauer und ordentlicher Beobachter durch alle Kleinigkeiten zu sein.«
Gerade an den Wendepunkten seines Lebens lässt Seume jede Menge Lücken, die seine Leser büßen müssen. Er hält sie im Ungewissen, führt sie manchmal aus Versehen in die Irre und manchmal mit voller Absicht an der Nase herum. Darauf wird gleich, anlässlich seines Berichtes über seine Anwerbung als Soldat, zurückzukommen sein, und später noch einmal anlässlich der Schilderungen seiner Desertionen erst aus hessischen, dann aus preußischen Diensten.
An Mein Leben hat Seume unter Schmerzen und mit fliegender Feder gearbeitet. Für Federlesen blieb da keine Zeit. Für das Anfertigen einer Reinschrift aber schon. Wann genau Seume mit der Arbeit an seiner Autobiographie begann, im November 1809 oder, wie der Seume-Kenner Dirk Sangmeister für plausibel hält, schon im Herbst 1808, ist eine der vielen Unklarheiten um diesen geheimnisvollen Text, dessen handschriftliche Urfassung wahrscheinlich verloren gegangen ist und dessen Reinschrift von der Fondation Bodmer in Genf seit dem Ankauf 1937 unter Verschluss gehalten wird.
Aber vielleicht ist aus den Briefen ohnehin mehr über die Beweggründe seines Weggangs von der Universität zu erfahren als aus seinen Erinnerungen. Am 23. Februar 1782, mehr als ein halbes Jahr nach seinem Verschwinden, wandte er sich an seinen ehemaligen Leipziger Studienfreund Johann Gottlob Korbinsky, Sohn jenes Rektors, dessen väterliche Förderung Seume einst genossen hatte:
»Lieber Bruder! Du glaubst mich vielleicht längst im Reich der Toten, und wirst dich sehr wundern von mir als einen Beweis meines Nochseins einen Brief zu lesen. Was mich von Leipzig weggetrieben, wird Dir nur allzu gut bekannt sein; meine Beruhigung ist, dass es nicht schlechte Streiche sind, und dass man von mir nicht anders als von einem ehrlichen und rechtschaffenen Kerl wird sprechen können.«
Wir erfahren nicht, was Bruder Korbinsky »nur allzu gut bekannt« war. Bezieht sich Seumes Anspielung auf seine religiöse Krise, auf seine Unstetigkeit oder doch auf ein Mädchen? Ist Seumes Dementi diesen Punkt betreffend wirklich glaubhaft? Schulden können jedenfalls nicht der Grund fürs Fortlaufen gewesen sein, denn die hatte er vorher bezahlt. Auch der Rest des anrührenden Briefs macht die Sache nicht deutlicher:
»Da mich das Schicksal einmal in fremde Länder geschlagen hat, so werde ich auch nicht zurück kehren, wenn es nicht zu meiner Ehre und der Befriedigung meiner Freunde geschehen kann. Der Baron von Hohenthal und M[agister] Schmidt [der Dorfpfarrer] sollen nicht wissen, dass ich noch lebe; ich habe meine Ursachen – folglich – ich verlasse mich auf deine Freundschaft und Verschwiegenheit.«
Nur wenige Wochen später, mit einem Brief datiert vom 2. Mai 1782, meldet Seume sich selbst bei Hohenthal:
»Hochwohlgeborener Herr, Gnädiger Herr! Werden Sie noch einen Brief von mir lesen wollen? Ich genoss Ihre Wohltaten in einem so hohen Grade, ich hatte Ihnen meinen ganzen Unterhalt zu danken; ich bekam durch Ihre Unterstützung die angenehmste Hoffnung, die schmeichelhafteste Aussicht in die Zukunft; […] Was kann Ihnen meine Entfernung vor Begriffe von meiner Dankbarkeit, von meiner Erkenntlichkeit beibringen?«
Trotz der Befürchtung, für undankbar gehalten zu werden, kann er dem Förderer nicht sagen, was der Freund nur allzu gut weiß und wir nur allzu gerne wissen möchten:
»Die Ehre gewisser Personen verbietet mir Ihnen die Ursachen zu melden, warum ich Leipzig verlassen.«
Also steckte hinter dem Ausbruch aus Leipzig wie später hinter dem Aufbruch nach Sizilien doch eine unglückliche Liebe, dem Dementi in Mein Leben zum Trotz? Dem Mädchen, dessen Bildnis er später auf der Brust bis zum Monte Pellegrino trug, hatte er in Briefen geschworen, sie sei seine erste Liebe und würde seine letzte bleiben. Das zweite erwies sich als voreiliges Versprechen, sollte sich das erste als falsche Behauptung herausstellen? Hätte er in Mein Leben zugegeben, aus Leipzig mehr eines Mädchens als der Religion wegen fortgelaufen zu sein, hätte das auch das Eingeständnis bedeutet, zu seiner ersten großen Liebe bezüglich der »Anmutung zum Geschlecht« nicht aufrichtig gewesen zu sein.
Einem normalen reifen Mann, der eben auch einmal jung war, wie es bei dieser Gelegenheit gern augenzwinkernd und schulterzuckend heißt, hätte das kaum das Herz bedrückt oder die Seele beschwert. Aber Seume, der in der Liebe so wenig Glück hatte wie im Leben, quälte sich lange und auf verdrehte Weise sogar gern damit.
Einen ganz anderen Beweggrund für sein Fortgehen aus Leipzig nennt Seume in seinem ersten Brief an den verehrten Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim in Halberstadt. Der Brief stammt vom Oktober 1786. Zu diesem Zeitpunkt war Seume schon längst ›welterfahren‹, wenn auch nicht ›kampferprobt‹ aus Halifax zurückgekehrt. Und er war aus dem hessischen Söldnerregiment desertiert, von preußischen Werbern aufgegriffen worden und diente seit drei Jahren zwangsweise als preußischer Soldat in Emden. Der Brief enthielt zwei Gedichte Seumes, war mit »Joh. Friedr. Normann« unterzeichnet und bittet den Empfänger:
»Stellen Sie sich einen jungen Menschen vor, dessen Herz gewiss gut, dessen Einbildungskraft aber mit schwärmerischen und überspannten Ideen erhitzt war. Ich lebte fast einzig von Stipendien. Der Schwung meiner Phantasie war immer hoch, aber leider, ohne mir angemessene Richtung. Was mich mit einem mäßigen Vermögen sehr glücklich und nützlich würde gemacht haben, machte mich ohne dasselbe ganz unglücklich.«
Etwas Derartiges an Hohenthal zu schreiben wäre völlig unmöglich gewesen. In der Vorrede zum Spaziergang wiederum, diesem literarischen Resultat eines Ausbruchs, dessen wahre Motive nicht viel klarer sind als die seiner Flucht aus Leipzig, berichtet er über diese erste, sein gesamtes Leben verändernde Eskapade:
»Als ich als ein junger Mensch von achtzehn Jahren als theologischer Pflegling von der Akademie in die Welt hinein lief, fand man bei Untersuchung, dass ich keinen Schulfreund erstochen, kein Mädchen in den Klagestand gesetzt und keine Schulden hinterlassen […]; und man konnte nun den Grund der Entfernung durchaus nicht entdecken und hielt mich für melancholisch verirrt […] Dem Psychologen wird das Rätsel erklärt sein, wenn ich ihm sage, dass die Gesinnungen, die ich seitdem hier und da und vorzüglich in folgender Erzählung [Spaziergang nach Syrakus] geäußert habe, schon damals alle lebendig in meiner Seele lagen, als ich mit neun Talern und dem Tacitus in der Tasche auf und davon ging. Was sollte ein Dorfpfarrer mit diesen Gärungen?«
Das drohende Dorfpfarrerschicksal hing direkt mit seiner Vermögenslosigkeit zusammen. Seume ging auf Abwege, um der ihm von Hohenthal bestimmten Zukunft aus dem Weg zu gehen.
Dazu passen die Angaben, die Seume 1803 in einer Kurzvita für Friedrich von Matthison macht, dem Herausgeber einer vielbändigen Lyrischen Anthologie:
»Man wollte mit aller Gewalt mich zum Pfeiler der Kirche machen, aber mein Ideengang nahm eine ganz andere Richtung. In der Gärung wollte ich AD 1780 [richtig wäre 1781] nach Frankreich gehen, um dort irgend etwas zu lernen, das mir besser wäre als die Theologie. Da schickten mich die Hessen wider meinen Willen, aber nicht ganz wider meine Neigung nach Amerika.«
Die Wendung »wider meinen Willen, aber nicht ganz wider meine Neigung« erklärt vielleicht, warum Seume bei der Beschreibung seiner Rekrutierung immer recht dunkel blieb. Der Plan wiederum, ihn »mit aller Gewalt« für den Kirchendienst zu rekrutieren, widerstrebte sowohl seinem Willen als auch seiner Neigung.
Dem Gönner mochte er seinerzeit diese Auskunft über die Gründe seiner Flucht nicht zumuten. Es blieb nichts anderes übrig, als wenigstens den Verdacht der Undankbarkeit zu zerstreuen. Dies sollte sich als klug erweisen, doch konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass er die Hilfe des Grafen noch einmal benötigen würde (und bekommen wird): bei der Rückkehr an die Leipziger Universität fünf Jahre später. Weitere fünf Jahre später, beim gelingenden Abschluss des zweiten Studiums, bezeichnet er den Abbruch des ersten in einem akademischen Lebenslauf als »übereilten Entschluss«. Dem entspricht die Bemerkung, die Seume gleich zu Beginn seines Schreiben aus America macht:
»Welcher Cacodämon mir ins Gehirn fuhr und mich von Leipzig wegjagte, kann ich mir bis diese Stunde nicht entziffern. So viel weiß ich wohl, dass ich ein Narr war; und doch wird mirs äußerst schwer, diese Narrheit zu bekennen, oder nur zu bereuen.«
Dieser Text wurde 1789 veröffentlicht, zu Beginn des zweiten, erneut von Graf Hohenthal geförderten Studiums in Leipzig. Im Mai 1782 konnte es indessen nur darum gehen, vor dem Förderer die Ehre zu verteidigen, die im Dank des Geförderten lag:
»Wie lange habe ich gekämpft, ehe ich mich entschlossen Ihnen zu schreiben! Zehnmal machte ich Entwürfe, und stieß sie wieder um; zehnmal ergriff ich die Feder, und legte sie zurück: Aber Stillschweigen schien mir meine Undankbarkeit zu vermehren; also habe ich es gewagt, meine jetzigen Umstände zu melden. Ich bin jetzo hessischer Soldat, und ziehe in den Krieg nach Amerika.«
Der desertierte Soldat
Der Bauernjunge ging zur Schule und wurde Student in Leipzig, der Student entlief der Universität und wurde Soldat in Halifax. Ein Jahr nach der Anwerbung in Vacha (Seume schreibt Vach) in der Rhön und der anschließenden Ausbildung in der hessischen Festung Ziegenhayn begann in Bremen die Fahrt über den Ozean.
Doch wie kam es überhaupt zur Anwerbung? War nackte Gewalt oder rohe Erpressung im Spiel? Mit einem gewöhnlichen, sich vom Bauernhof ins Wirtshaus an der Landstraße verirrten jungen Mann wurden die Werber im Handumdrehen fertig, nicht nur die hessisch landgräflichen, sondern auch die königlich preußischen. Großzügig eingeschenkter Wein und ein vorgezeigtes Geldstück konnten genügen, einen solchen Bauernjungen zu veranlassen, die Unterjochung auf dem Gutshof mit der Disziplin bei der Armee zu tauschen. Geprügelt wurde da wie dort, und den Stock führten die Herren von Adel als Gutsbesitzer wie als Offiziere.
Als Seume auf die hessischen Werber traf, war er jedoch kein Bauernbengel mehr, sondern Student. Und anders als die jungen Männer seiner Herkunft, die selten oder nie ein Geldstück zwischen den Fingern drehten, hatte er in Leipzig gelernt, mit Barem zu wirtschaften und führte eine Börse mit sich: immerhin neun Taler!
Betrunken gemacht und gekauft haben werden ihn die hessischen Werber also nicht. Dass sie ihn mit Gewalt verschleppten, ist wenig wahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen, schließlich bewegten sie sich auf landesherrlichem Territorium. Das erlaubte mehr ›Freiheiten‹ bei der Freiheitsberaubung, obwohl man wie die preußischen Werber nicht davor zurückschreckte, auch auf fremdem Gebiet zu ›wildern‹. Wirklich handgreifliche Entführungen vermied man jedoch auf heimischem wie auf fremdem Terrain.
Während Seume in seiner Autobiographie nicht davon erzählt, wie er als Soldat geworben wurde, erzählt Karl Philipp Moritz in seinem autobiographischen Roman Anton Reiser, wie er nicht als Soldat geworben wurde. Moritz wanderte im Sommer 1776 von Hannover nach Erfurt und musste sich in einem Gasthaus in der Nähe des thüringischen Mühlhausen gegen einen Werber wehren. Anton Reiser wird gewarnt, »sich vor den Kaiserlichen und Preußischen Werbern in diesen Gegenden in acht zu nehmen, und sich durch keine Drohungen schrecken zu lassen, wenn sie etwa äußerten, dass sie ihn mit Gewalt nehmen wollten«.
Direkte Gewalt musste Reiser also nicht fürchten, wohl aber einschüchternde Avancen: »Nun kam schon in aller Frühe ein Kaiserlicher Unteroffizier in die Gaststube […], der sich mit seinem Krug Bier ganz vertraulich neben Reisern an den Tisch setzte, und vom Soldatenleben erst von weitem mit ihm zu sprechen anfing, bis er nach und nach immer zudringlicher wurde, und ihm endlich geradezu versicherte, dass er doch vor den Preußischen und Kaiserlichen Werbern nicht über Mühlhausen kommen würde, und sich also lieber nur gleich von ihm für sieben Gulden Handgeld anwerben lassen möchte.«
Zwischen Preußen auf der einen und Österreich und den »Kaiserlichen« auf der anderen Seite schwelten seit Jahrzehnten Konflikte, die nach den Schlesischen Kriegen und dem Siebenjährigen Krieg im Juli 1778 den Bayerischen Erbfolgekrieg auslösten. Beide Seiten bemühten sich rechtzeitig darum, die Reihen zu füllen.
Reiser konnte dennoch entkommen, auch weil er dem Werber glaubhaft machte, dass er nach Erfurt wollte, um zu studieren. Diese Karte hat Seume, der von Leipzig kam, um nicht mehr zu studieren, beim Pokern mit den Werbern gefehlt. Wie es im Einzelnen aber tatsächlich zuging, ist schwer einzuschätzen. Für die spätere Behauptung von Christian August Heinrich Clodius – er schrieb zusammen mit dem Verleger Georg Joachim Göschen Seumes Mein Leben zu Ende –, der entlaufene Student sei freiwillig Soldat geworden, weil man ihm eine Offizierskarriere versprochen habe, gibt es bei Seume keinen Hinweis. Nach der oben zitierten Bemerkung über den Kasseler »Menschenmäkler« folgt in Mein Leben der ebenfalls im Auszug zitierte Abschnitt über die Gründe und Nichtgründe seines Weggangs aus Leipzig. Danach kommt Seume auf seinen (wiederum schon zitierten) Brief an Hohenthal zu sprechen, bevor er das Thema seiner Rekrutierung zum Abschluss bringt:
»Man brachte mich als Halbarrestanten nach der Festung Ziegenhayn, wo der Jammergefährten aus allen Gegenden schon viele lagen […] Die Geschichte und Periode ist bekannt genug: niemand war damals vor den Handlangern des Seelenverkäufers sicher; Überredung, List, Betrug, Gewalt, alles galt. Man fragte nicht nach den Mitteln zu dem verdammlichen Zwecke. Fremde aller Art wurden angehalten, eingesteckt, fortgeschickt. Mir zerriss man meine akademische Inskription als das einzige Instrument meiner Legitimierung. Am Ende ärgerte ich mich weiter nicht; leben muss man überall: wo so viele durchkommen, wirst du auch: über den Ozean zu schwimmen war für einen jungen Kerl einladend genug; und zu sehen gab es jenseits auch etwas. So dachte ich.«
Im Spaziergang hatte Seume ebenfalls über die Episode geschrieben, veranlasst dadurch, dass er auf dem Rückweg von Sizilien einen Abstecher nach Paris machte und von dort nach Hause marschierend erneut in das Dorf in der Rhön kam. In seinem Reisebericht geht er über die persönlichen Umstände der Werbung mit der Bemerkung hinweg, es hätten ihn »Handlanger des alten Landgrafen in Beschlag genommen«, die sozialen Umstände werden jedoch etwas genauer geschildert:
»Es wäre unbegreiflich, wie der Landgraf seit langer Zeit so unerhört willkürlich, zum Verderben des Landes und einzig zum Vorteil seiner Kasse, mit seinen Leuten geschaltet und förmlich den Seelenverkäufer gemacht hat, wenn es nicht durch einen Blick ins Innere erklärt würde.«
Der Adel, fährt Seume fort, war abhängig vom Hof, und alle, vom Minister bis hinab zum kleinen Offizier, hatten ihre Vorteile von diesem Geschäft, das auf dem Rücken der Landeskinder – und zulasten der Landwirtschaft – mit den Engländern gemacht wurde. Nach diesen Erwägungen leitet Seume die nächste Station seiner Reise mit dem lapidaren Satz ein:
»Von Vach wollte ich Post nach Schmalkalden zu meinem Freunde Münchhausen nehmen.«
Seume hatte Karl Ludwig August Heyno von Münchhausen-Oldendorf in Halifax kennengelernt und seit der Rückschiffung nach Bremen nicht mehr gesehen. Die beiden standen nur brieflich in Kontakt. Es muss ein seltsames Gefühl gewesen sein, ausgerechnet von jenem Ort aus zu Münchhausen zu reisen, an dem er über zwei Jahrzehnte zuvor den Werbern in die Hände fiel, um nach Halifax verfrachtet zu werden. Doch äußert sich Seume über diese eigenartige Konstellation so wenig wie über die genauen Umstände seiner Anwerbung.
In Mein Leben stellt er dafür einen Ausbruchsversuch aus der Festung Ziegenhayn zu Beginn seiner ›Laufbahn‹ als hessischer Soldat und seine Desertion aus Bremen, mit der er sie im Herbst 1783 beendete, dramatisch ins Licht.
Seumes Kameraden waren eine bunte Menge aus Abenteurern, Bankrotteuren, davongelaufenen Mönchen, hinausgeworfenen Beamten und kassierten Militärs, insgesamt eintausendfünfhundert Mann – nach Seumes Auskunft. Nach militärgeschichtlichen Quellen dürften es wohl eher um die vierhundert gewesen sein.
Ob nun vier- oder fünfzehnhundert: Dass eine solche Horde – »Menschenragout« nannte Seume sie in Mein Leben – ausgerechnet dem Studentchen aus Leipzig das Kommando eines Ausbruchs anvertrauen wollte, ist kaum glaubhaft. Und doch wird es so von Seume geschildert. Vielleicht erhofften sich die Haudegen Informationen von Seume, der als ›Studierter‹ in der Festung als Schreiber beschäftigt war. Vermutlich jedoch übertrieb – oder erfand – Seume seine Rolle bei dem Ausbruch, um die publikumswirksame Geschichte erzählen zu können, wie ein alter, kampferprobter Feldwebel den jungen, unerfahrenen Schreibtischtäter vor einer lebensgefährlichen Dummheit bewahrt:
»Junger Mensch, sagte er, Sie eilen in Ihr Verderben unvermeidlich, wenn Sie den Antrag annehmen. Selten geht eine solche Unternehmung glücklich durch; der Zufälle sie scheitern zu machen sind zu viele. […] Sie scheinen gut und rechtschaffen; und ich liebe Sie wie ein Vater. Lassen Sie meinen Rat etwas gelten.«
Der Feldwebel, mag er nun halb oder ganz erfunden sein, figuriert in Seumes Leben als einer der vielen ›Väter‹, die Seume im Leben zu gewinnen wusste. Er berichtet, dass er den ›väterlichen‹ Rat annimmt, die verführerische Führerschaft ablehnt und sich an der Flucht nicht beteiligt. Tatsächlich scheitert der Ausbruch durch einen Verrat:
»Der Prozess ging an; zwei wurden zum Galgen verurteilt, worunter ich unfehlbar gewesen sein würde, hätte mich nicht der alte Preußische Feldwebel gerettet. Die Übrigen mussten in großer Anzahl Gassen laufen, von sechs und dreißig Malen herab bis zu zwölfen. Es war eine grelle Fleischerei.«
Das Gassenlaufen ist in literarischen Lebenserinnerungen immer wieder beschrieben worden, beispielsweise in der hinreißenden Autobiographie Ulrich Bräkers, die 1789 unter dem Titel Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg erschien. Der Schweizer Bräker war in seiner Jugend von preußischen Werbern zwangsrekrutiert worden und kommt bei seiner Beschreibung Berlins auch auf die Desertionsstrafe zu sprechen: »Bald alle Wochen hörten wir […] neue ängstigende Geschichten von eingebrachten Deserteurs […] Da mussten wir zusehen, wie man sie durch 200 Mann achtmal die lange Gasse auf und ab Spießruten laufen ließ, bis sie atemlos hinsanken – und des folgenden Tags aufs neue dran mussten, die Kleider ihnen vom zerhackten Rücken heruntergerissen und wieder frisch drauflosgehauen wurde, bis Fetzen geronnenen Bluts über die Hosen hinabhingen.«
Schon vor dem Ausbruchsversuch von Seumes Kameraden in Ziegenhayn war es in Cuxhaven auf Söldnerschiffen zu Meutereien gekommen. Auch diese Männer hatte der hessische Landgraf an England für den Krieg in Übersee verkauft. Die Revolten wurden niedergeschlagen, und die Rädelsführer, oder die man dafür hielt, erbarmungslos abgestraft. Johann Christoph Sachse berichtet in seiner Lebensgeschichte darüber. Doch ist sie unter dem Titel Der deutsche Gil Blas erst 1822 von Goethe herausgegeben worden. Seume kann sie nicht gekannt haben. Übrigens macht Goethe einleitend in einer unnachahmlichen Mischung aus Verständnis und Herablassung eine Bemerkung, die Caroline Herder wohl vor den Kopf gestoßen hätte: »Selbst die oberen Stände werden nicht ohne Erbauung das Büchlein durchlesen, besonders wenn es ihnen auffällt: wie es wohl aussehen möchte, wenn ihre Bedienten auch dergleichen Bekenntnisse schrieben.«
Bis diese für die »oberen Stände« eher unangenehme Vorstellung Wirklichkeit wurde und Dienstmädchen, Hausknechte und Fabrikarbeiter ihre Geschichten niederschrieben, hat es noch einige Generationen gedauert. Ein Klassiker dieser Gattung, falls man in Gegenwart Goethes einen dieser Texte so bezeichnen kann, ist die Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters von Moritz Theodor William Bromme. Der früh invalidisierte Bromme schrieb sie 1903 mit Anfang dreißig in einer Lungenheilanstalt in der Nähe von – Weimar.
Ob Seume tatsächlich zum Zeugen von Gassenläufen nach dem Scheitern des Ausbruchs wurde, ist unklar, denn die historische Wahrheit, ob es zu dieser Art der Verurteilung überhaupt gekommen ist, bleibt einstweilen im Dunkel der Archive. Als Seume diese Erinnerung beschrieb, dürfte ihm vor Augen gestanden haben, was er zum Zeitpunkt des Erlebens nicht ahnen konnte: dass er während seiner auf den hessischen Dienst folgenden Jahre beim preußischen Militär selbst zum Gassenlaufen verurteilt werden und der Vollstreckung nur durch Begnadigung entgehen sollte.
Darauf hinzuweisen ist wichtig, denn beim Erzählen eines Lebens fallen die Steine seines Kaleidoskops in andere Muster als während des Erlebens selbst. Die Frage, ob diesen Mustern beim Erzählen ein Sinn nachträglich (und buchstäblich) zugeschrieben wird, den das Leben gar nicht hatte, wird immer wieder zu stellen sein: um zu verstehen, nicht etwa, um zu ›entlarven‹ oder bloßzustellen.
Das Gassenlaufen ist die militärische Form des seit alters überlieferten Spießrutenlaufs. Ursprünglich handelte es sich um ein Opfer- und Versöhnungsritual. Nach der Urteilsverkündung vor der Gruppe wurde der Missetäter in einen Kreis speertragender Männer gestoßen und dort im Wortsinn niedergemacht. Nach dem Tod des Verurteilten, der in eigentümlicher Umkehrung dadurch aus der sozialen Gemeinschaft ausgestoßen wurde, dass man ihn hineinstieß in die bewaffnete Gruppe, zog die gereinigte Gemeinde um den Leichnam. Bei dieser zeremoniell aufgeführten Ausstoßung wurde der Delinquent von allen gemeinsam gerichtet und von niemandem persönlich getötet.
Bei der Militärstrafe des Gassenlaufens kehrte das alte Ritual als Instrument kalkulierter Demütigung wieder. An die Stelle der Spieße traten Ruten und Stöcke. Unter dem Kommando des Offiziers strafte der gemeine Soldat den gemeinen Soldaten. So wurde gleichzeitig der Wille der Schlagenden und der des Geschlagenen gebrochen. Die Soldaten, die in der Nacht von Desertion träumten, wurden tagsüber gezwungen, einem Kameraden, der den Traum zu verwirklichen versucht hatte, den Rücken zu zerfetzen. So prügelten die Strafenden die Freiheitssehnsucht aus den Leibern ihrer Kameraden und zugleich aus den eigenen Köpfen.
Bald nach dem misslungenen Ausbruch der Rekruten erfolgte ihre Verschiffung nach Halifax. Auf Seumes Schilderung dieser Reise und seiner Abenteuer in Neuschottland kommt das nächste Kapitel zurück.
Jetzt geht es um die Flucht, die Seume nach dem Rücktransport in Bremen gelang. Als zwei seiner Kameraden ohne ihn ausgerissen waren, versuchte er es auf eigene Faust, nicht zuletzt deshalb, weil das Gerücht ging, die aus Amerika zurückgekehrten Soldaten würden vom Landgraf an die Preußen verkauft:
»Das Gespenst der Preußen saß mir fest im Gehirn, ich hatte ganz gegen meine Gewohnheit ohne alle Absicht [gemeint sind vorgefasste Fluchtabsichten] in einigen Gläsern Wein mich etwas warm getrunken, und machte kurz und gut auf und davon, am Ufer hin, über die Brücke weg, in die Altstadt hinein. Ein guter alter ehrlicher Spießbürger mochte mir doch wohl einige Verwirrung ansehen; er kam freundlich zu mir und fragte: ›Freund! Ihr seid wohl ein Hessischer Deserteur?‹ Und wenn ich denn einer wäre? sagte ich: Da muß ich Euch sagen, unser Magistrat hat Kartel mit dem Landgrafen. Und nun –«
»Und nun – das sind die letzten Worte, welche Seume geschrieben hat«: Das sind die ersten Worte, die seine Fortsetzer Göschen und Clodius geschrieben haben. Dann erzählen sie, wie Seume erst von Bremer Bürgern gerettet und aus der Stadt bugsiert wird, dann aber denen in die Hände fällt, an die er von den Hessen auf keinen Fall verkauft werden wollte: den Preußen.
Allerdings stimmt an der ganzen Geschichte etwas nicht. Der von Seume angedeutete Fluchtweg ist so wenig nachvollziehbar wie die von Göschen und Clodius beschriebene Bremer Heldentat. Um das herauszufinden, muss man nur mit der Linie 1, der Bremer Linie 1, zur Haltestelle Franziuseck fahren. Ebendas hat Karl Wolfgang Biehusen, seit Jahren engagierter Betreiber der Seume-Website, getan: »Wer hier aussteigt, befindet sich auf einer Halbinsel – und findet rasch ein Denkmal für Johann Gottfried Seume. Auf der Vorderseite der Stele kann man den ›Deserteur‹ auf einer Plakette westwärts, also zur Neustadt, schauen sehen. Auf der Rückseite ist vermerkt: ›1783 wurde der Dichter auf seiner Flucht von Bremer Bürgern gerettet.‹«
Nach der Straßenbahnfahrt in die Vergangenheit merkt Biehusen zur Darstellung in Mein Leben an: »So kann sich die Geschichte nicht ereignet haben.« Die Lage der Dinge passt nicht in die Topographie der Umgebung. Die Gewässer fließen nicht, wie sie fließen müssten, der Fluss Hunte wird mit dem Flüsschen Ochtum verwechselt, und überhaupt stimmt vieles weder mit Seumes Andeutungen überein noch mit den anekdotischen Ausschmückungen durch Göschen und Clodius: »Seume, ein trefflicher Läufer, flog wie ein Pfeil. Demungeachtet waren seine Verfolger, die Hessischen Jäger, ihm immer ganz nahe und trieben ihn endlich in einen Sack zwischen den beiden Flüssen der Hunte und der Weser. Hier, glaubten sie, könnte er ihnen nicht entspringen, und er selbst hielt sich für verloren: denn, wollte er sich ins Wasser stürzen, so tötete ihn, den durch und durch Erhitzten, der Schlag; blieb er stehen, so war er das Opfer seiner Flucht. Zum Glück sah er in einem Weidenbusch am Ufer der Hunte einen Fischerkahn und sprang hinein.«
Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss – oder fällt nicht zweimal in denselben Dreck, wenn einem die Beckett’sche Variante von Heraklits Sentenz lieber ist; man springt auch nicht zweimal in denselben Kahn. Schon gar nicht, wenn das Erinnern vom Erleben durch Jahrzehnte getrennt ist. Sogar der Nachruhm geht manchmal einen anderen Weg als der Gerühmte, selbst bei wichtigeren Fragen als der, auf welchem denn nun Seume die Flucht gelungen ist.
Jedenfalls werden sich die Bremer die Plakette zu Seumes – und ihrem eigenen – Ruhm nicht nehmen lassen. Biehusen resümiert: »Als Seume seine ›Flucht‹ beschrieb, ging es ihm womöglich um nicht mehr und nicht weniger, als um die Illustration der Schrecken des Menschenhandels im Zeitalter des Absolutismus. Seine Rezipienten sind es womöglich, die den Text fehlinterpretieren, wenn sie ihn als simple Wiedergabe banaler Tatsachen lesen.«
Ist damit der Fall erledigt? So einfach ist es nun auch wieder nicht. Wenn eine Tatsache »banal« und deren Wiedergabe »simpel« ist, wie soll dann überhaupt ein Schreiben funktionieren, das aus der gelebten Wirklichkeit kommt, indem es auf das wirkliche Leben eingeht? Und hat nicht Seume in der Vorrede zu seinem Spaziergang eine aktenmäßige Akkuratesse gerade bei der »Wiedergabe banaler Tatsachen« angemahnt?
»Örter, Personen, Namen, Umstände sollten immer bei den Tatsachen als Belege sein, damit alles so viel als möglich aktenmäßig würde.«
Entsprochen hat er diesem Vorsatz in seinen Sätzen jedoch nicht. Das »mischmaschmäßige Durcheinander«, für das er sich im Schreiben aus America noch entschuldigte, blieb ein Makel seines literarischen Werks – sagen die einen; es garantiert bis heute dessen Frische – widersprechen die anderen.
Die abenteuerliche Geschichte der Desertion in Bremen wurde nach Seumes »Und nun –« von Göschen und Clodius zu Ende erzählt. Das Motiv, oder wenigstens ein Motiv für die Flucht hat Seume unmittelbar vor dem rätselhaften »Und nun« noch selbst genannt:
»Die nächste Veranlassung war ein Gezänk mit dem Feldwebel über Brotlieferung, in welches sich der kommandierende Offizier etwas diktatorisch handgreiflich mischte.«
Dieser kommandierende Offizier war nicht Freund Münchhausen. Den hatte er auf der Rückfahrt von Halifax aus den Augen verloren. Doch hinsichtlich der militärischen und sozialen Position hätte Münchhausen ohne Weiteres an der Stelle dieses Offiziers sein können. In seinem Journal aus jenen Jahren ist notiert, wie er auf einem der Rekrutenschiffe Soldaten handgreiflich ›zur Vernunft‹ bringen ließ, die über schlechte Verpflegung »greulich Resonirten«. Weil »die impertinence« der Rekruten »alzu groß war so muste ich sie binden und tüchtig hauen laßen, wovon sie denn auch recht artig wurden«.
Wäre der gemeine Soldat Seume von dem jungen Offizier Münchhausen in Halifax nicht beim Verseschmieden, sondern bei einem »Gezänk über Brotlieferung« ertappt worden, hätte sich statt der Freundschaft zwischen den beiden leicht eine Feindschaft entwickeln können. Der soziale Abstand zwischen einem, der den Stock führt, und einem, der ihn fühlt, ist politisch nicht zu überwinden mit persönlicher Sympathie und poetischer Kumpanei. Seume hat des Dichterfreundes Tagebuchnotiz gewiss nicht gekannt, doch spürte er schmerzhaft die Kluft, die ihn trotz des Freundschaftskultes in der Poesie im wirklichen Leben von Münchhausen trennte:
»Die einzige Bedenklichkeit in unserer Freundschaft war, dass Münchhausen ein Edelmann war.«
Nachdem Seume, von Brotgezänk und Wein erhitzt, die Flucht aus Bremen gelungen war, trug er das »preußische Gespenst im Kopf« den Preußen in der gespenstischen Wirklichkeit entgegen. Im damals dem König in Berlin unterstehenden Minden wurde er aufgegriffen und (wieder gegen seinen Willen, doch nicht ganz gegen seine Neigung?) in die preußische Garnison von Emden verschleppt. Dort verwandelte sich Johann Gottfried Seume in Johann Friedrich Normann, bis er vier Jahre und zwei Desertionsversuche später auf Kaution freikam und erneut in die Rolle des Leipziger Studenten schlüpfte, diesmal nicht im theologischen, sondern im philologischen Fach.
Die Jahre in Emden sind durch eine Entdeckung und eine Enttäuschung markiert. Nach einem ersten gescheiterten Fluchtversuch schreibt Seume mit Kreide einen lateinischen Vers an die Zellentür. Der diensthabende Offizier entdeckt die Inschrift und beginnt eine philologische Debatte mit dem Arrestanten. Der Vorfall landet beim Garnisonschef, General Courbière, der Seume begnadigt, ihn als Sprachlehrer seiner Tochter engagiert und an weitere Familien empfiehlt. So wird es von Göschen und Clodius kolportiert. Seume schrieb 1792 im Rückblick auf die Emdener Jahre an Münchhausen:
»So jammerlich ich da die ersten Monate lebte, weil ich ganz isoliert mir nicht merken ließ, dass ich mehr als 3 zählen könne und nur auf Gelegenheit zum Entwischen lauerte, so leidlich oder wohl gar so gut ging es doch die übrige Zeit. Ganz durch Zufall [Seume konnte nicht nur über-, sondern auch untertreiben] machte ich die Bekanntschaft einiger Honoratioren der Stadt, die mich so zu sagen wieder in die Schulmeisterei zogen. Ich gab Unterricht im Lateinischen, Griechischen und Englischen, wozu man mich fast zwang, und hatte die Ehre, obgleich bloßer gemeiner Flintenträger, von sehr guten, ja den meisten besten Gesellschaften zu sein.«
Wie die Entdeckung hatte auch die Enttäuschung mit Versen zu tun, diesmal nicht mit vergilischen, sondern welchen von Seume. Er hatte sie auf Friedrich II. gedichtet, nachdem der Preußenkönig im August 1786 gestorben war. Die Huldigung gelangte in Courbières Hände. Seume wird die seinen dabei im Spiel gehabt haben, auch wenn er in einem Brief an »Bruder« Korbinsky von Mitte Dezember 1786 unschuldig tut:
»Ich hatte mich da so hübsch empfohlen; unwissend, unschuldig und zufälliger Weise; denn [Du] weißt wohl, dass ich nicht zudringlich bin. Also ich hatte eine Gedächtnis-Rede und ein Gedicht auf den alten großen Friedrich geschrieben, die durch die dritte Hand vielleicht in des Generals Hände kam.«
Courbière setzte sich für eine Ernennung Seumes zum Offizier ein, doch scheiterte das »Avancement« des »gemeinen Flintenträgers« an aristokratischen Privilegien. Die Enttäuschung darüber steigerte sich zum Zorn, der Zorn schmolz das »Eisenjoch«. Anfang Januar 1787 schickte er Korbinsky den gereimten Fluchtvorsatz:
»Und soll ich bis mein graues Haupt sich bückt,
Und mir das Eisenjoch
Das Angesicht in hohle Falten drückt
Hier frohnen? – Sklav, ich zaudre noch!
Brutus du schläfst, erwache! – ruft mir tief
Mein Genius in das Ohr!
Ich höre dich; hah Schande, dass ich schlief!
Und hebe kühn die Faust empor,
Und brech es los mit meiner freien Hand
Das Band, das ein Tyrann
Hohnsprechend mir um Fuß und Nacken wand;
Wo nicht, so sterb ich denn als Mann!«
In Prosa setzte Seume hinzu:
»Du siehst hier die Lage meiner Seele! Es ist keine Poesie; es ist reifer Entschluss.«
Wie er ihn verwirklichte, berichtete er 1792 an Münchhausen:
»Der General v.Courbier […] hatte die Absicht, bei einem Avancement Rücksicht auf mich zu nehmen; aber der König schickte Offiziers aus dem [adligen] Kadettencorps, und meine Hoffnung war auf lange Zeit dahin. Gewöhnlicher Korporal hatte ich nicht Lust zu sein. Wäre der Wunsch des Generals damals erfüllt worden, so wäre ich jetzt vermutlich preußischer Offizier und auf immer im Dienste. Die Fehlschlagung wurmte mich; ich war jung, wagend, und ging in dem entsetzlichsten Wetter durch. […] Drei Tage schlug ich mich herum, und wurde wieder erwischt. Der Prozess wurde mir gemacht, und eine Probe, dass ich doch ziemlich im Kredit stand, ich lief nicht Gassen, sondern die Sentenz des Standrechts wurde auf Interzession in einen monatlichen Arrest bei Wasser und Brot verwandelt. Aber nie habe ich einen bessern Tisch gehabt, als diesen Monat. Ich gab der ältesten Fräulein von Courbier […] Unterricht i.d. Englischen. – Der General riet mir, wenn ich Gelegenheit hätte, den Dienst zu quittieren […] Ein guter Freund gab mir auf mein ehrliches Gesicht 50 Rth.[…] Ich ging mit Kaution auf Urlaub, und verstand sich kam nicht wieder, welches man gleich selbst vermutete.«
Der »gute Freund« – der Emdener Bürger Jacques Tapernon, dessen Kinder Seume unterrichtet hatte – bezifferte die Kaution für das »ehrliche Gesicht« in seinen Erinnerungen mit 35 Reichstalern. So wenig wert wollte Seume offenbar nicht sein. Und in der von fremden Federn ausgeschmückten Fortsetzung von Mein Leben wuchs die Kaution gar auf 80 Taler an.
Wie hoch die Summe auch immer gewesen sein mag, das Ganze war ein sympathetisches Komplott, um Seume nach seinen zwei heißen Desertionen gewissermaßen eine kalte zu ermöglichen.
Wieder in Leipzig beginnt er sein zweites Studium, unterstützt von Graf Hohenthal mit einem Kredit, den er später zurückzahlt. Und er übersetzt, vermittelt durch Christian Felix Weiße, auch einer seiner vielen ›Väter‹, für seinen späteren Chef, den Verleger Göschen, einen englischen Roman. Das Honorar ermöglicht ihm die Rückzahlung des Emdener Kautionkredits. Seine Unruhe kann er nicht besänftigen. Im August 1788 schreibt er an Tapernon:
»Mir gehts? Vortrefflich, entsetzlich gut! Außer dass mirs hier nicht behagen will […] Wissen Sie, dass ich nach England gehen werde? Ja, Ja! sans spas! [witzboldig französisch-deutsch für: ohne Witz] In einem Anfalle von Weisheit, – von Narrheit, wollen meine Freunde sagen – habe ich straks den Enschluss gefasset, eine philosophische Pilgerschaft zu machen. […] Ich habe große Lust, so ohngefähr ein Jahr in Oxford oder Cambridge auf den Pandekten herumzureiten […] Finden Sie nicht, dass ich noch die alte rastlose Seele bin? Wird nie anders werden.«
Damit hat er recht behalten, auch wenn er einstweilen doch in Leipzig bleibt, 1789 sein Schreiben aus America nach Deutschland veröffentlicht, 1790 eine wiederum von Weiße vermittelte Erzieherstelle bei dem jungen Grafen Gustav Andreas Otto von Igelström antritt, 1791 sein Zweitstudium abschließt und sich 1792 mit einer eher kuriosen Schrift über die Waffen in Antike und Gegenwart habilitiert.
Im August des gleichen Jahres beginnt seine abenteuerliche Militärlaufbahn in russischen Diensten. Sie führt ihn wie in Ziegenhayn, Halifax und Emden in die Schreibstuben, doch dieses Mal auch in die Schlacht – falls der polnische Aufstand im russisch besetzten Warschau von 1794 so bezeichnet werden kann. Er überlebt die Revolte mit viel Glück und ohne Kampf in einem Dachbodenversteck, übersteht auch die polnische Gefangenschaft, wird nach der äußerst brutalen Rückeroberung der Stadt durch die Russen befreit, reist nach Riga und soll 1795 einen jungen, schwerkranken russischen Major nach Italien begleiten. Doch diese Ausfahrt wird durch die Weltgeschichte in Gestalt Napoleons verhindert, dessen Truppen Norditalien unsicher machen.
Seume bleibt in Leipzig, veröffentlicht 1796 seinen ersten Gedichtband, bescheiden nach kleiner römischer Münze Obolen tituliert, und freundet sich mit dem Schriftsteller Garlieb Merkel an. Dessen aufrüttelndes Buch über die erbarmungswürdigen Zustände der livländischen Letten enthält im Anhang ein Gedicht Seumes über die dritte polnische Teilung, die nach dem gescheiterten Aufstand Polen bis 1918 von der politischen Landkarte tilgte. Auch eine eigenständig publizierte Schrift widmet Seume den »Vorfällen in Polen«. Sie erscheint ebenfalls 1796 und ist seinem Gönner Graf Hohenthal zugeeignet. Gleich zu Beginn wendet er sich an einen fiktiven »lieben Freund«, mit dem weniger der Graf im Besonderen gemeint ist als allgemein der Leser. Dieser »liebe Freund« erhält eine dieser später so oft wiederholten ein- und aufdringlichen Versicherungen der durch nichts zu erschütternden Wahrheitsliebe des Verfassers, deren Redundanz eher Miss- als Zutrauen hervorruft:
»Seit langer Zeit kennen Sie meine Aufrichtigkeit, Unparteilichkeit und feste Wahrheitsliebe; Sie wissen, dass ich ohne alle Rücksicht immer mein Urteil sage, auch wenn ich mir wohl gar Nachteil und Gefahr dadurch erwerbe. Ich bin ein ehrlicher Mann, der ohne Vorurteile zu sehen glaubt.«
Als die Polenschrift erschien, war Seume offiziell immer noch in russischem Militärdienst. 1797 wird er ohne Pensionsberechtigung entlassen, weil er nach dem Tod der Zarin Katharina im Jahr zuvor einem Ukas ihres Nachfolgers, der die ausländischen Offiziere nach Russland rief, nicht folgen konnte – vielleicht auch nicht wollte. In der Vorrede zum Spaziergang schreibt er:
»Man hat es gemissbilligt, dass ich den Russischen Dienst verlassen habe. Ich kam durch Zufall hin, und durch Zufall weg. Ich bin schlecht belohnt worden; das ist wahrscheinlich auch Zufall.«
Seume hat um seinen ehrenvollen Abschied aus dem Dienst gekämpft und ihn Ende 1798 auch erhalten. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits für Göschen ein Auftragswerk über die russischen Verhältnisse nach dem Tod der Zarin geschrieben, und ein weiteres Ueber das Leben und den Karakter der Kaiserin von Rußland Katharina II. Mit Freymüthigkeit und Unparteylichkeit; Freund Münchhausen hatte Rückerinnerungen herausgegeben mit schlechten Gedichten von Seume und noch schlechteren von sich; Seume selbst hatte das zweite Bändchen der Obolen publiziert. Außerdem arbeitete er seit April 1797 bei Göschen als Korrektor und Lektor. Und seit Herbst 1796 war er auch noch verliebt, unglücklich, versteht sich, obwohl er einige Wochen brauchte, das zu begreifen, und etliche Jahre, um die Liebe zu Wilhelmine Röder endlich aus dem Leib zu laufen und sich die Geliebte, oder wenigstens ein Medaillon mit ihrem madonnenhaften Bild – vom Hals zu schaffen.
In Göschens Verlagsbüro in Grimma saß Seume auf glühenden Kohlen, über Oden von Klopstock und Romane von Wieland gebeugt, manchmal hochfahrend, häufig niedergedrückt. Er wurde zum Tintenmann, der Buchstaben zählte statt Schritte, und sich mit edler Poesie herumschlug statt mit edlen Wilden in Halifax. Viereinhalb Jahre lang zerrte er an der Kette aus fremden Worten, dann ging er wieder auf und davon.
Der entflohene Lektor
Es gab viele Gründe für Seume, nach Syrakus zu marschieren:
- um sich »das Zwerchfell auseinander zu wandeln, das ich mir über dem Druck von Klopstocks Oden etwas zusammen gesessen hatte«;
- um »die sitzende literärische Lebensweise« abzustreifen;
- um »das ganze Korrektorenwesen radicitus [zu] korrigieren«;
- um »wieder etwas auf die Beine zu kommen«;
- um »den Theokrit in die Tasche zu stecken und ihn in Syrakus zu lesen«;
- um »den Theokrit bei einer Syrakuser Traube zu lesen«;
- um »der Mediceerin ein wenig auf und in die Händchen und dem Vater Ätna in den Mund zu sehen«;
- »um einige Oden des Horaz unter seinem Himmel zu lesen«;
- um »einmal den klassischen Boden« zu durchwandern;
- »bloß um an dem südlichen Ufer Siziliens etwas herumzuschlendern und etwa junge Mandeln und ganz frische Apfelsinen dort zu essen«;
- »bloß um eine Grille zu befriedigen«;
- um in Venedig »von süßem Rausche trunken« ein Gedicht auf ein Marmormädchen zu schreiben;
- um auf dem Monte Pellegrino einem Rosenmädchen ein Autogramm »auf die Nasenspitze zu setzen«;
- um »ein niedliches Madonnenbildchen an einer seidenen Schnur am Halse« auf den Monte Pellegrino zu tragen und dort in den Abgrund zu werfen;
- nicht, »um vorzüglich Kabinette und Galerien zu sehen«;
- nicht, um »eine topische, statistische, literarische oder vollständig kosmische Beschreibung von den Städten« zu geben;
Alles in allem: Weil der Gang »lange Zeit eine meiner Lieblingsträumereien gewesen« ist, und »da ich zu Hause vor der Hand nichts vernünftigeres zu tun weiß«.
Jede Position dieser kapriolenhaften Liste ist in der einen oder anderen Form von Seume angeführt worden, sei es im Spaziergang selbst oder in einem seiner Briefe in den Jahren vor und den Monaten während der Reise. In den Briefen vor der Flucht aus dem Büro über die Alpen den Stiefel hinunter wird Seume immer aufgedrehter, wenn es um das Gehen nach Italien – geht. Es ist wie Purzelbaumschlagen im Käfig. Aber bereits im Mai 1797, kaum im Kontor, lässt er Merkel wissen:
»Nun habe ich mich aber verbindlich gemacht, einige Zeit in Göschens Offizin als Korrektor zu arbeiten; dann gedenke ich nach Italien zu gehen und dann: quid futurum sit, cras [fuge quaerere – Was morgen sein wird, vermeide zu fragen; Horaz]. Je älter ich werde, desto leichtsinniger werde ich, oder vielmehr, desto leichter wird mein Sinn.«
Besuch beim Marmormädchen
Wann immer jemand sie im Museum besuchen kommt, schenkt sie gerade Ambrosia aus, denn Hebe ist die Göttin der Jugend. Ganz Anmut hebt sie den Arm mit der Karaffe in der Hand und zieht mit der Bewegung die linke Brust etwas nach oben. Sie steht auf einer steinernen Wolke, das heißt: Sie schickt sich gerade an, von dieser Wolke herabzusteigen. Dabei modelliert sich ein allerliebst vorgeschobenes Knie unter dem Steingewand. Schaut man zu ihrem Herabsteigen hinauf, kann der Blick leicht unter ihre Achsel fallen, auf eine zarte Hautfalte im Stein, verursacht durch den erhobenen Arm.
»Sie denken wohl, dass mich das Marmormädchen ein wenig außer mir gebracht hat; und so mag es allerdings sein«, schrieb Seume am 6. Februar 1802 aus Venedig an den Siez-Freund Böttiger. »Du denkst wohl«, fragt er seinen Duz-Leser im Spaziergang, »dass ich bei dem marmornen Mädchen etwas außer mir bin; und so mag es allerdings sein.«
Vor der wiederverwerteten Stelle im Buch steht wie im Brief ein Gedicht:
»Ich stand, von süßem Rausche trunken,
Wie in ein Meer von Seligkeit versunken,
Mit Ehrfurcht vor der Göttin da,
Die hold nach mir herunter sah,
Und meine Seele war in Funken:
Hier thronte mehr als Amathusia.
Ich war der Sterblichkeit entflogen,
Und meine Feuerblicke sogen
Aus ihrem Blick Ambrosia«.
Im Briefgedicht von unterwegs waren die Blicke »still«, beim Abfassen des Spaziergang zu Hause fingen sie Feuer.
Das Feuer brannte noch, als Seume 1805 nach Osten und Norden kutschierte und in Dresden einem Satyr begegnete, dem die Hebe nachgehauen wurde. Jedenfalls vermutet das Seume: »Es ist mir ziemlich wahrscheinlich, dass Canova die schöne Stellung seiner Hebe von dem jungen Faun zu Dresden genommen hat.«
Die Hebe des klassizistischen Bildhauers Antonio Canova (1757–1822), seit 1799 Hofkünstler des von Seume leidenschaftlich geschmähten Napoleon, treibt sich in der ganzen Welt herum. Der Originalgips steht im italienischen Bassano. Die von Seume bedichtete erste Marmorfassung war 1800 nach Venedig gebracht worden und steht heute in der Alten Nationalgalerie Berlin – ewig jung wie eh und je, aber abgeschminkt. Von den ursprünglichen Farbtönungen blieb nichts erhalten. Weitere Repliken befinden sich in der Eremitage in St.Petersburg, in Schloss Chatsworth (England) und in der Pinacoteca Civica in Forli. Hier ist die steinerne Wolke in steinernen Stein verwandelt: Hebe schreitet vom Fels. Wolke und Marmor waren nach Meinung der Kunstrichter ästhetisch unverträglich, und auch ein Canova hielt es für besser, sich zu beugen. Zur Belohnung wurde das Marmormädchen europaweit beliebt, verjüngte sich zur halben Größe (Fockemuseum, Bremen), vermehrte sich in Zink- und Bronzeabgüssen und verkörperte sich auch unter Bertel Thorvaldsens Meißel. Hier hält sie keine Karaffe, sondern einen Krug in der Hand, und der Arm ist nicht über den Kopf erhoben, sondern hängt züchtig und matt am Körper herab. Ein Abguss dieser Variante steht seit den 1960er-Jahren in einer Grotte vor dem Pavillon, den Seumes zeitweiliger Chef, der Verleger Göschen, im Garten seines Landhauses in Grimma-Hohnstädt hatte errichten lassen.
Den ersten Ausbruchsversuch machte Seume Anfang März 1798. Veranlasst durch einen Tadel seines Arbeitgebers Göschen, bittet er in einem Brief um seine Entlassung, wenn er auch nicht einfach hinwirft:
»Haben Sie die Güte, gelegentlich an einen Mann zu denken, der die Arbeit, die Sie mir übertragen haben, mit besserer Genauigkeit besorgen kann. Für die Bedingungen, die Sie mir zugestanden, werden Sie leicht Subjekte finden, welche die erforderlichen Eigenschaften besitzen. Nehmen Sie dieses nicht für Empfindlichkeit; es ist Überzeugung, dass es so gut ist für Sie und für mich. Ich will Sie auch nicht übereilen; denn ich will, bis Sie versorgt sind, wenn es möglich ist, mit besserm Fleiß, alles besorgen.«
Was da zu besorgen ist, kann einem wirklich auf die Nerven, an die Nieren und ans Zwerchfell gehen:
»Ich sitze manchmal von früh Sieben bis nach Fünf Nachmittags, ziemlich ununterbrochen, und bohre auf dem Papiere herum. Meine eigenen Gedanken hindern mich oft, indem sie den Autor anders festhalten und verfolgen als sie sollten. Sehr leicht, dass die Silben- und Wortstecherei leidet, wenn meine Seele sich von irgend einem Gedanken oder einem Bilde nicht losreißen kann.«
In einem englisch geschriebenen Brief legt er wenige Tage später noch einmal nach, weist Göschens Vorschlag, ihn nicht mehr nach Zeit, sondern nach korrigierten Bögen zu bezahlen, zurück und bedauert zugleich die durch das Neudrucken schlecht durchgesehener Bögen verursachten Zusatzkosten – an denen allerdings, auch das lässt er nicht unerwähnt, keineswegs nur er selbst, sondern auch der rechthaberische Klopstock Schuld trage, dessen Werk Seume neben dem Wielands betreute.
Göschen reagierte, stellte Seume einen Hilfskorrektor an die Seite und schrieb einen Beruhigungsbrief an den Dichter: »Zu Ihrem Troste meld ich Ihnen daß mein voriger Correcktor Lorent, ein Mann einzig in seiner Art, der mir nach Grimma [wohin Göschen wegen zünftlicher Einschränkungen in Leipzig ausgewichen war] nicht folgen wollte, sondern in Leipzig blieb, sich nun entschloßen hat auch auf Michaelis nach Grimma zu kommen und daß dieser Umstand es werth ist den Druck des Meßias bis zu Lorents Ankunft zu verschieben. Denn Seume, so schätzbar er von einer Seite als Correcktor und so durchaus treflich er als Mensch ist, hat durchaus kein Talent für das Buchstaben zählen und für die Correcktheit der Worte und Sylben.«
Dass dies generell so einfach nicht war, zeigt die orthographische Originalgestalt dieses Verlegerbriefs. Die Normierung von Rechtschreibung, Interpunktion und Grammatik war auf dem Weg, aber noch nicht durchgesetzt, und so kam es zwischen Korrektoren, besonders solchen mit philologischen Ambitionen wie Seume, und Autoren, besonders solchen mit philologischer Selbstüberschätzung wie Klopstock, immer wieder zu Auseinandersetzungen. Im Streitfall Seume versus Klopstock wurden die Klagen und Gegenklagen vor den recht wackeligen Richterstuhl des entnervten Göschen getragen; und stets ging es neben der Richtigkeit auch sehr ums Rechtbehalten.
Göschen gelang es, Seume in Grimma zu halten, einstweilen. Schon im Oktober 1798 fängt Seume wieder an zu jammern, etwa in einem Brief an Gleim:
»Wenn ich so fort korrigiere, fürchte ich nur, mein ganzes Leben wird ein Druckfehler werden.«
Im November schreibt er an Gleim:
»Jetzt schwärme ich nun im Geiste auf dem Ätna herum.«
Seume träumt von Syrakus, die Arbeit an Klopstocks Oden wird zum Albtraum. Im März 1799 schreibt er einen langen, langen Brief an den Meister. Und wird keiner Antwort gewürdigt. Im April sucht er einmal mehr Zuflucht bei Gleim:
»Wenn doch meine übrigen Verhältnisse so frei wären als mein Herz warm ist und meine Füße rasch sind, so hätt ich meiner Unruhe längst wieder durch eine Pilgerschaft ein Ende gemacht.«
Im Juni schreibt er an Böttiger, es wäre am besten, wieder Soldat zu werden, im Juli an Gleim:
»Ich finde sonst in nichts meine Abhängigkeit vom Glück empfindlich, als dass ich nicht pro lubita [nach Belieben] meinen Tornister schnallen und auf und davon wandeln kann, wohin ich so eben möchte.«
Ende Dezember lässt er Gleim wissen:
»Ich bin nämlich gesonnen, mit dem Jahr 1801 eine Tour nach Italien und Sizilien zu machen. Es wäre doch Schande, wenn ein Mensch mit so guten Knochen und so vielem Enthusiasm nicht einmal den klassischen Boden durchwanderte.«
In diesem Brief fühlt Seume vor, ob Gleim ihm bei der Finanzierung der Reise helfen könne. Gleim hatte früher schon einmal Geld geschickt, ohne dass Seume darum gebeten hätte, nur aufgrund des Gerüchts, Seume sei in Not geraten. Wieder gibt der gute Alte, aber so, dass die Linke nicht weiß, was die Rechte tut. Die Gabe schickt der diskrete Gleim, der seiner schlechten Augen wegen sonst diktiert, mit einem Brief von eigener Hand. Am nächsten Tag lässt er einen von fremder Hand folgen und redet dem Beschenkten ins Gewissen: »Verreisen also, Sie mein lieber braver Seume, doch nur nicht, bleiben Sie nun, Sie haben genug schon verreist, im Lande, und nähren sich rechtlich; treten Sie mit ihrem Göschen in Gesellschaft und ziehn Sie junge Correctors; Sie selber aber müssen keiner mehr sein, Sie müssen Einer unsrer Klassiker noch werden. Sie dürfens nur wollen!«
Das war schrecklich gut gemeint und furchtbar schlecht durchdacht. Die beiden Ratschläge, Compagnon von Göschen und »einer unsrer Klassiker« zu werden, schlossen einander aus, abgesehen davon, dass Göschen das eine und Seume sicherlich beides nun gerade nicht gewollt hätte. In seiner Antwort hält sich Seume bedeckt, rasselt nur dankbar mit der Kette:
»Der Himmel gebe Ihnen noch manche Jahre! Wenn ich auf alle Weise nicht so an der Kette läge, so wäre ich oft bei Ihnen; es mag aber auch sein Gutes haben, dass man so an der Kette hängt. Man gewöhnt sich an die eiserne Notwendigkeit, die dann durch Gewohnheit weit milder und weit weniger fühlbar wird: wenigstens sehe ich nicht, dass Leute, deren Kette sehr lang ist, etwas merklich besser machen oder sich merklich besser befinden.«
In einem weiteren Brief an Gleim schreibt er trotzig:
»Nach Italien zu gehen bin ich doch gesonnen, wäre es auch nur um einige Oden des Horaz unter seinem Himmel zu lesen.«
An Böttiger wiederum meldet er:
»Meine Personalität denke ich künftiges Jahr nach Italien zu tragen. Alle Vorkehrungen sind schon so ziemlich getroffen. […] Mein Vaterland verliert wie ich merke nichts, wenn mich auch ein Banditendolchstich dahin fördern sollte.«
Den Banditendolch bekam er dann in Italien tatsächlich an die Kehle, jedenfalls wenn man seinen Briefen von unterwegs und der entsprechenden Episode im Spaziergang Glauben schenken darf. Nach der Reise schmeckte er die Gefahr noch einmal bei ihrer Beschreibung, vor der Reise tat er sie als unwichtig ab. Er traf seine Vorbereitungen und setzte im Februar 1801 Gleim ins Bild:
»Auf künftige Weihnachten habe ich Göschen den Handel aufgekündigt; und er sieht selbst ein, dass ich mich, wenn ich so fort fahre, zusammen hypochondere und doch nichts gescheites zu Werke bringe.«
Im August schreibt er an Gleim:
»Die Zeit meiner Pilgerschaft rückt immer näher, und ich kann nicht [ver]bergen, dass ich mich darauf freue, nach so manchem durchsessenen Jahre wieder etwas auf die Beine zu kommen. Vielleicht tritt auch mein Kopf dabei in bessere Fugen, und die linke Seite [das Herz] erweitert sich. Man versitzt sich in die Länge an Leib und Seele. Der Maler Schnorr wird mein Gefährte sein bis Rom.«
Am 6. Dezember 1801 ist es schließlich so weit. Schon auf dem Sprung schickt er Göschen noch rasch ein Billett:
»Sonntag früh. Eben schnalle ich zusammen und gehe […] Der Himmel gebe mir das Glück Sie alle wohl wieder zu sehen.«
Das Glück hatte er nötig, der Gang war wirklich gefährlich, nicht nur wegen der Banditendolche und Wirtshausbetrügereien, sondern auch wegen der unsicheren politischen Lage infolge der napoleonischen Feldzüge. Sein Begleiter, der Maler Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld, brach die Reise in Wien ab und kehrte nach Hause zurück. Seume äußerte Verständnis:
»Schnorr hatte als Hausvater billig Bedenken getragen, den Gang nach Hesperien weiter mit mir zu machen. Man hatte die Gefahr, die auch wohl ziemlich groß war, von allen Seiten noch mehr vergrößert; und was ich als einzelnes isoliertes Menschenkind ganz ruhig wagen konnte, wäre für einen Familienvater Tollkühnheit gewesen. Komme ich um, so ist die Rechnung geschlossen und es ist Feierabend.«
Diese Stelle im Spaziergang ist keine Angeberei bei der nachträglichen Beschreibung glücklich bestandener Gefahr. Agonale Bemerkungen wie diese finden sich auch in den Briefen von unterwegs, als noch keineswegs klar war, wie er die vielen Abenteuer während der Reise überleben würde. Es hat den Anschein, als habe Seume mit der Idee gespielt, sich unterwegs ums Leben bringen zu lassen, wenn man es im Leben zu Hause schon zu nichts brachte. Als er seine »Personalität« dann doch heil nach Sachsen zurück »tornistert« hatte, wehrte er sich in der Vorrede zum Spaziergang gegen das kursierende Klischee vom verantwortungsscheuen Durchbrenner:
»Man hat mich getadelt, dass ich unstet und flüchtig sei: man tat mir Unrecht. Die Umstände trieben mich, und es hielt mich keine höhere Pflicht. Dass ich einige Jahre über dem Druck von Klopstocks Oden und der Messiade saß, ist wohl nicht eines Flüchtlings Sache. Man wirft mir vor, dass ich kein Amt suche. Zu vielen Ämtern fühle ich mich untauglich.«
Und am Schluss dieser im Nachhinein geschriebenen Vorrede zum Bericht über einen immerhin vier Jahre ersehnten und zwei Jahre geplanten Aufbruch redet er sich selber zu:
»Jetzt will ich leben, und gut und ruhig leben, so gut und ruhig man ohne einen Pfennig Vorrat leben kann. Es wird gewiss gehen, wie es bisher gegangen ist: denn ich habe keine Ansprüche, keine Furcht und keine Hoffnung.«
Letzte Ausflucht Weimar
Es ging tatsächlich. Aber erst nicht besser und bald viel schlechter als bisher. Die sieben Jahre, die Seume noch blieben, sind eher unter die mageren zu rechnen. Aber wann hätte er fette gesehen? Dass er weder Ansprüche habe noch Furcht noch Hoffnung, war Ausdruck der seelischen Sicherheitshocke, in die sich jemand fallen lässt, der erwartet, nichts mehr erwarten zu können. Diese Haltung mögen klassisch gebildete Leute ›stoisch‹ nennen. Doch ist dieses In-die-Knie-Gehen vor einer instabilen Zukunft kein Zeichen philosophischer Weisheit, sondern ein psychologischer Reflex. Mit ihm lässt sich Risiko minimieren. Wer in die Hocke geht, kippt nicht so leicht aus den Latschen.
»Ich habe für diese Welt nichts mehr zu hoffen, noch zu fürchten« schrieb Jean-Jacques Rousseau gegen Ende seines Lebens im »ersten Spaziergang« seiner Träumereien eines einsamen Spaziergängers. Sie waren auf Deutsch 1782 im Anhang einer Übersetzung der Bekenntnisse enthalten, und Seume dürfte sie gekannt haben. Jedenfalls benutzte er wie Rousseau die ›antike‹ Wendung, weil er daran interessiert war, möglichst wenig Interesse zu haben. Inter-esse heißt Dazwischensein, in der Welt, zwischen den anderen; heißt teilnehmen und sich aussetzen, nicht nur den äußeren Gefahren der Welt, die Seume suchte, sondern auch den inneren Gefährdungen durch die anderen, die Seume floh.
Das Aufrufen der Furcht- und der Hoffnungslosigkeit sowohl in Seumes persönlichen Briefen als auch in den publizierten Schriften funktionierte als mentale Parole, die ihm Zugang zu seinen Adressaten und seinem Publikum verschaffen sollte, ganz ähnlich, wie die militärische Parole dem Soldaten Zugang zum bewachten Lager verschafft.
Die Formel signalisiert: Ich muss mich nicht mehr fürchten, auch nicht vor dir – und weil ich nichts erhoffe, auch nicht von dir, brauchst du mich nicht zurückzuweisen aus Angst, ich könnte etwas von dir wollen oder dir gar gefährlich werden.
Vater Gleim war einer der wenigen Menschen, von denen Seume immer etwas wollte. Auch wenn er in seinem allerersten Brief an den »verehrungswürdigen Mann« geschrieben hatte:
»Ich weiß eigentlich nicht, was ich von Ihnen will; aber in meinem Innern schlug mirs zu, als wenn Gleim, der Menschenfreund, der Günstling der Musen, der Stolz seiner Nation, der Geliebte seines Königs für mich etwas tun könnte und wollte. Folgende zwei Gedichte übersende ich Ihnen […].«
Na also. Mit seinem ersten Brief wollte er herausfinden, was der berühmte Dichter von den lyrischen Versuchen des kleinen Soldaten Johann Friedrich Normann in Emden hielt. Und mit dem Brief vor seinem Aufbruch nach Syrakus wollte er herausfinden, was er nach der Rückkehr von diesem Aufbruch mit und aus sich machen sollte:
»Sagen Sie mir einmal, als der wirklichste meiner Freunde, was ich mit meiner Existenz anfangen soll, damit ich etwas Gutes tue und zugleich für Leib und Seele Beschäftigung habe. Um Geld und Brot und gewöhnliche Ehre tue ich nichts, obgleich von allem diesem auch doch etwas sein müsste, weil es meine Verhältnisse wollen. Doch das alles ist noch Zeit, wenn ich in zwei Jahren von meiner Pilgerei zurückkomme. Meine Gedichte werden jetzt gedruckt […].«
Göschen in seiner Doppelrolle als Arbeitgeber und Freund Seumes (wenigstens nicht auch noch Verleger, denn das war Johann Friedrich Hartknoch) machte sich nach dessen Rückkehr seine eigenen Gedanken – und ließ sie Böttiger wissen, dessen Sabina er gerade für den Druck vorbereitete: »In sechs Tagen ist alles gesandte Manuskript abgesetzt, wenn gleich noch nicht gedruckt. Der Seume soll schwitzen!«
Seume hat geschwitzt. Aber zum letzten Mal, jedenfalls in Göschens Verlagskontor. Nach der Durchsicht von Böttigers Sabina nahm Seume keine Korrektorenarbeit mehr an. Er schrieb in größter Eile von Oktober 1802 bis Februar 1803 für den Verleger Hartknoch den Spaziergang, legte in der Zeitung für die elegante Welt im März Einige Blumen auf Gleims Urne, der im Februar gestorben war, erteilte Sprachunterricht, verliebte sich wieder unglücklich und machte erneut eine Tour, um die Liebe loszuwerden: diesmal nach Polen, über Litauen, Lettland und Estland nach Rußland, dann nach Finnland, über den Bottnischen Meerbusen nach Schweden, über den Sund nach Kopenhagen und schließlich über Kiel, Lübeck und Halberstadt zurück nach Leipzig. Das alles mehr in der Kutsche als auf Schusters Rappen. Über diese »nordische Reise«, wie es damals hieß, empörte sich Göschen wiederum in einem Brief an Böttiger, offenbar von der eigenen Anteilnahme am nicht korrigierbaren Schicksal seines ehemaligen Korrektors gereizt: »Das ärgert mich eben, dass der Mensch so sorglos in die Welt hineinspaziert. Ich meine sorglos, wegen der zukünftigen Tage seines Lebens. Er geht, um zu gehen, oder um etwas zu vergehen. Ergehen wird er sich nichts.«
Vom sogenannten ›bürgerlichen Standpunkt‹ ist Göschens Unmut verständlich, doch folgte Seume seinem Bewegungstrieb auch deshalb, weil er dem Liebestrieb zu seiner glücklos Erkorenen eben nicht folgen konnte und diese Abweisung – da hatte Göschen ganz recht – »vergehen« musste, damit sie verging.
Die »nordische Reise« schrieb Seume wie die südliche mit fliegender Feder. Mein Sommer 1805 erschien im Folgejahr und wurde wegen der renitenten Vorrede mit ihren Angriffen auf Klerus und Adel in Süddeutschland, Österreich und Russland sofort verboten.
Im April 1806 begann Seume mit der Arbeit an den Apokryphen, die zu seinen Lebzeiten gar nicht, und in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod nur verstümmelt erscheinen konnten. Im Oktober 1806 marschierte er von Leipzig über Dresden nach Berlin, wo er zum letzten Mal mit seinem Freund Garlieb Merkel zusammentraf, dem Herausgeber der antinapoleonischen Zeitschrift Der Freimüthige, für die auch Seume geschrieben hatte. Nach Napoleons Sieg bei Jena und Auerstedt floh Merkel gerade noch vor der Besetzung Berlins durch französische Truppen in seine Heimatstadt Riga. Das war keine übertriebene Reaktion. Immerhin war Ende August in Braunau am Inn der Nürnberger Verlagsbuchhändler Johann Philipp Palm wegen der in seinem Laden gefundenen anonymen Schrift Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung auf Anordnung Napoleons standrechtlich erschossen worden.
Im Jahr 1807 beugte sich Seume über das Werk des bewunderten griechischen Geschichtsschreibers Plutarch und verfasste – sicherheitshalber auf Lateinisch – eine weitere seiner rebellischen Vorreden, die sich gegen Napoleon und die ihm hörigen deutschen Fürsten richtete. Sie konnte wie die Apokryphen trotz der dem großen Publikum fremden Gelehrtensprache zu Seumes Lebzeiten aus politischen Gründen nicht erscheinen.
Im Dezember 1807 begrub er seine Mutter. Über Ostern 1808 wanderte er von Leipzig nach Dresden. Es war sein letzter großer »Spaziergang«. Im Juni brach die Blasen- und Nierenkrankheit aus, die er sich – vermutlich – auf seiner Kutschfahrt nach Norden geholt hatte. In den beiden Jahren, die ihm noch blieben, machte er sich an seine Autobiographie, freute sich über die dritte, erweiterte Auflage seiner Gedichte und freute sich nicht über das Gedicht Kampf gegen Morbona, bei der Genesung niedergeschrieben von J.G.S. im Februar 1809, das ein Bekannter, der Schriftsteller Christian August Tiedge, ohne sein Wissen veröffentlicht hatte. Im Vorwort zu den Gedichten ergriff er die Gelegenheit, den übereifrigen Tiedge zu tadeln und einige von dessen Behauptungen, zum Beispiel die über eine Fußverletzung, zurechtzurücken:
»Mein schadhafter Fuß ist der linke und nicht der rechte; die Schußwunde an demselben habe ich nicht im Gefecht erhalten, und das Hauptübel ist eine Contusion unten am Knöchel.«
Dieser Hinweis ist insofern wichtig, als Seume mit einem »schadhaften Fuß« nach Syrakus »spaziert« ist. Dass es der linke war, wird im Spaziergang erwähnt, als er ihn auch noch verrenkte. Die alte und die neue Verletzung rücken die physische Leistung dieses ›Lebenslaufs‹ einschließlich der strapaziösen Besteigung des Ätna doch in ein besonderes Licht, mögen auch heutige Nachrechner die Zahl der Meilen, die dabei per pedes zurückgelegt wurden, für geringer ansetzen, als Seume seinen Lesern halb vorgerechnet, halb vorgemacht hat.
Den publizistischen Übergriff hat Seume dem sehr um ihn bemühten Tiedge offenbar nicht nachgetragen. Sonst hätte er ihm nicht einen ausführlichen Brief über seine Fahrt nach Weimar geschrieben:
»Endlich, lieber Tiedge, habe ich nach einigen Jahren, die ich kränkelnd hinlungerte, wieder eine Art von Ausflucht gewagt: aber welcher Abstand! Sonst machte ich einen Spaziergang nach Syrakus, jetzt mache ich eine Reise nach Weimar; und das letzte ist dennoch ein größeres Wagstück als das erstere: so ändern sich die Zeiten.«
Die Kutscherei wurde zur Qual:
»Jeder Wagenstoß drohte mir die Symphysis zu sprengen, unter den entsetzlichsten Schmerzen. Das Bedürfnis nötigte mich oft hinaus, und der Sturm schickte mich immer etwas fieberhafter wieder hinein in den Kasten.«
Die feuchte Fahrt wurde zu einer Reise in die Vergangenheit, und der Wagen zu einem Guckkasten der Erinnerung. Aber nicht zu einem, in den man hinein-, sondern aus dem man herausschaut:
»Sodann blieb meine Seele auf den alten Dorfkirchhof geheftet, wo wir seit langen, langen Jahren meinen Vater begraben. […] Der Schauer der Natur fasste mich; das Rückenmark fing an in dem Nacken zu glühen, und die Wimper fing an feucht zu werden. Ich warf mich in den Winkel des Wagens, zog den Mantel der Windseite zu, und überließ mich ohne Widerstand der Fortwirkung dessen, was in mir erregt worden war. Einige Tropfen mochten wohl dem Auge entglüht sein, augenscheinlich auch mit ein Dokument meiner jetzigen Schwäche im Nervensystem; denn ich glaube nicht, dass ich überzeugungsweise in meinem Alter ein Empfindler werde; als ich von außen den Regen ziemlich stark an die Kutsche schlagen hörte. Diese Tropfen des Himmels trockneten […] die meinigen in dem Auge.«
Diese außergewöhnliche Passage schwingt zwischen Trauer und Kitsch, zwischen Gefühl und Empfindelei, zwischen innerer und äußerer Natur. Das schwache Nervensystem und das schlechte Wetter lassen Tränen und Regentropfen ineinander verschwimmen. Und im Subtext unter der Haut des Hingeschriebenen klingt die Elegie. Bey dem Grabe meines Vaters des Göttinger Hainbund-Dichters Hölty (1748 – 1776). Seume hat ihn immer bewundert, wie er noch in Mein Leben betont:
»Das beste von Hölty wusste ich damals [in Halifax] auswendig […] Die Elegie am Grabe eines Dorfmädchens und am Grabe seines Vaters sind für mich noch jetzt [beim Schreiben der Autobiographie] die lieblichste Wehmut, die ich in der Literatur kenne.«
Auf dem weiteren Weg seiner Kurzreise in die Erinnerung durchfährt er den Landstrich seiner Geburt, macht Station bei seiner Schwester und vergnügt sich mit deren Kindern.
»Es ist etwas eigenes um den Zauber der Kindheit. Ehemals war mir alles so groß, so weit, so herrlich, so feierlich; jetzt ist es mir so klein, so enge, aber doch so heimisch, so traulich, dass ich mit aller meiner Welt von Petersburg bis Syrakus hier wohl wieder Knabe werden könnte.«
Und weil ihm so heimatlich eng ums Herz wird mit all dieser Welt in der weitgereisten Brust, bricht der Sterbenskranke – nein, nicht wieder in Tränen wie während der Vorbeifahrt am Grab des Vaters, sondern in Reime aus und besingt die eigene Geburt:
»Dort steht noch, im Dorf in der Mitte,
Die freundliche friedliche Hütte,
Wo einst mich die Mutter gebar,
Der Vater dann jauchzte vor Freuden,
Dass glücklich der Knabe nun beiden
Zum Leben geboren war.«
In der zweiten Strophe kommt er dann auf das kindliche Vorspiel seiner militärischen Lebensleidenschaft zu sprechen:
»Dort ritt ich mit großer Beschwerde
Gar tapfer die hölzernen Pferde
Und dachte sehr wichtig dabei;
Dort war ich ein Feldherr nicht ärmlich,
Und schlug unbarmherzig erbärmlich
Mit meinen Soldaten von Blei.«
Nachdem Seume seine »väterliche Flur sehr zufrieden« verlassen hatte, durchquerte er das Gebiet bei Jena und Auerstedt, auf dem keine vier Jahre zuvor die preußische Armee von Napoleon geschlagen worden war. Und wie schon in seinen beiden großen Reisebüchern macht er sich auch in diesem kleinen Bericht von seiner letzten »Ausflucht« Gedanken über militärisches Gelände. Die »Deutschen«, schreibt er, haben verwirrt agiert, ihre Stellungen nicht zu nutzen gewusst:
»Nicht die Überlegenheit der französischen Waffen hat gesiegt; sondern die Schwäche des deutschen Geistes ist geschlagen worden.«
Es folgen einige Erwägungen, wie man es besser hätte machen können, dann mündet der Bericht von dieser Fahrt durch alte persönliche und jüngste welthistorische Geschichtslandschaften in die Gegenwart zurück und wendet sich Weimar, dem Wirtshaus und Wieland zu:
»Als ich in Weimar mein Reisebündel im Gasthofe zum Erbprinzen gehörig geborgen und für meinen Leichnam auf den Abend und die Nacht alles gehörig besorgt hatte, wandelte ich über den Markt hin, die Esplanade hinauf, vor Thaliens Tempel vorbei, zu Vater Wieland. Die Hauptabsicht meiner Reise war […], den alten Herrn zu sehen, der sich immer so patriarchalisch freundlich meiner angenommen hat und den ich mit jedem neuen Wiedersehen höher schätze und lieber gewinne.«
Seume, der leicht kränkbare und schnell verletzte, fühlt sich gut aufgenommen, von Wieland und bei Hof, und wie immer, wenn er mit den anderen zufrieden ist, gibt er sich auch zufrieden mit den Umständen. Darf er die Huld der Großen genießen, zeigt er sich versöhnlich im Kleinen. Ein »Fürstenfeind« sei er nicht, nur mache die »Verworfenheit der Menschen« es ihnen so schwer, »echt gut und vernünftig zu werden und zu bleiben«. Das In-Schutz-Nehmen der höchsten Fürsten und obersten Feldherrn bei gleichzeitig heftiger Kritik am Adel als privilegiertem Stand zwischen Volk und Fürst ist typisch für Seume und begegnet in allen seinen politischen und militärischen Schriften. Diese publizistisch häufig klargestellte und politisch doch immer unklar gebliebene Haltung des Spätaufklärers Seume bleibt in einer Tradition, deren Spuren bis in die Frühzeit der Aufklärung zurückführen.
Am Ende des Berichts über den Weimarer Aufenthalt notiert Seume trocken »Nun fuhr ich eben so wieder nach Hause«, erwähnt rasch den erneuten Besuch bei der Schwester auf der Rückfahrt und fixiert abschließend den Status des Textes:
»Es wird Ihnen gewiss nicht einfallen, dieses für eine Reisebeschreibung zu nehmen: es soll nur ein kleines Dokument sein, dass Ihr Freund noch nicht ganz tot ist und in der Tat noch zuweilen eine Art von regsamer Lebenskraft in sich verspüret, die sich vielleicht wieder festsetzen und ihn aufrichten kann.«
Als das »kleine Dokument« von Tiedge in einem der damals so beliebten Jahresalmanache publiziert wurde, war Seume gestorben. Der letzte von ihm selbst vollendete Text handelte noch einmal von einer Ausfahrt, so, wie schon sein erster veröffentlichter Text von einer Ausfahrt gehandelt hatte: jener nach Amerika.