KAPITEL 12
Unruhig auf und ab schreitend wartete Pitt in der Gasse. Von Zeit zu Zeit blieb er eine Weile stehen, spähte um die Ecke und ging dann wieder rastlos hin und her. Trotz der dichten Menschenmenge sah er Tellman schon, als dieser noch zwanzig Meter entfernt war, weil er rannte.
Pitt wollte ihm entgegeneilen, dann aber fiel ihm ein, dass sie einander im Gedränge verfehlen könnten, und so tat er wieder einen Schritt zurück. Im nächsten Augenblick wären sie fast zusammengestoßen.
»Wetron ist auf dem Weg zu Voiseys Haus«, keuchte Tellman. »Er hat eine Pistole mitgenommen. Ich vermute, dass er die Absicht hat, ihn zu erschießen und hinterher zu sagen, es sei in reiner Notwehr geschehen. Niemand würde etwas dagegen sagen können.«
»Er ist auf dem Weg zu Voisey? Dann schnell hinterher. Er kann uns nicht alle drei und die Dienstboten obendrein erschießen.« Mit großen Schritten eilte Pitt, von Tellman gefolgt, der nächsten größeren Straße entgegen, wo sie die erste freie Droschke anhielten. Pitt nannte Voiseys Adresse und forderte den Kutscher auf, sich zu beeilen. »Es geht um Leben und Tod!«, fügte Tellman mit so scharfer Stimme hinzu, dass andere Kutscher in der Nähe mit ungläubiger Miene herübersahen. Dann sprangen beide in die Droschke.
Die Droschke bahnte sich ihren Weg durch den dichten Verkehr. Keiner der beiden sprach. Sie bemühten sich, ihre Empfindungen zu beherrschen und ihre Fantasie daran zu hindern, sich auszumalen, was alles fehlschlagen konnte. Es wäre ein Albtraum, wenn Voisey Sieger bliebe und sich ein Racheakt an den anderen reihte, bis nichts und niemand mehr übrig wäre.
Aber auch die Hoffnung mussten sie unterdrücken. Sie würden Wetron wegen Mordversuchs an Voisey festnehmen. Der Beweis für Wetrons Schuld existierte, und Voisey hatte ihn im Besitz. Der Korruption wäre damit das Haupt abgeschlagen, und der Gesetzentwurf würde nicht durchkommen. Aber Voisey würde am Leben bleiben, mit allem, was das bedeutete.
Jetzt raste die Droschke durch eine halb leere Straße und bog so scharf um eine Ecke, dass der eine fast auf dem Schoß des anderen gelandet wäre. Der Kutscher trieb sein Pferd zu noch größerer Eile an.
Als die Droschke hielt, schien die Fahrt trotzdem eine Ewigkeit gedauert zu haben. Pitt gab dem Kutscher eine Hand voll Münzen, wobei er das, was er für den angemessenen Fahrpreis hielt, mit einem großzügigen Trinkgeld aufrundete. Dann stürmten er und Tellman über den Gehweg und die Stufen von Voiseys Haus empor. Pitt hämmerte gegen die Tür.
Der Butler öffnete mit hochnäsiger Miene. »Ja, Sir?« Der Ton, in dem er das sagte, zeigte deutlich, was er von Menschen hielt, die laute und ordinäre Geräusche machten, ganz gleich, aus welchem Grund. »Kann ich etwas für Sie tun?«
»Ich muss sofort mit Sir Charles sprechen!«, stieß Pitt atemlos hervor. »Sein Leben ist in Gefahr.«
»Sir Charles ist im Parlament. Tut mir Leid, Sir.«
»Aber vor vierzig Minuten war er noch hier«, begehrte Tellman auf, als sei das von Bedeutung.
»Nein, Sir«, sagte der Butler fest. »Sir Charles ist vor über einer Stunde gegangen.«
»Hauptkommissar Wetron hat gesagt …«, beharrte Tellman mit erhobener Stimme.
»Ich bedaure, Sir, Sie müssen sich irren«, erklärte der Butler.
Wilde Verschwörungstheorien jagten sich in Pitts Kopf, bis ihm die nahe liegende Lösung einfiel. »Er war gar nicht zu Hause«, sagte er. »Wetron hat uns in die Irre geführt. Wir müssen zum Unterhaus.«
»Dort kann er seinen Plan unmöglich ausführen!«, gab Tellman zu bedenken.
»Doch, ohne weiteres, in einem der Abgeordnetenbüros.« Pitt eilte wieder die Stufen hinab, gerade noch rechtzeitig, um dem Droschkenkutscher zuzurufen, dass er warten solle. Er hatte dem Pferd eine kleine Verschnaufpause gegönnt und dabei das Schauspiel am Eingang des vornehmen Hauses genossen. Gerade, als er abfahren wollte, rief Pitt ihn an, und so wartete er.
»Zum Unterhaus«, gebot Pitt.
»Wohl wieder so schnell, wie’s geht?«, fragte der Kutscher belustigt. »Fahr’n Se eig’ntlich nie mit normaler Geschwindigkeit wie and’re Leute? ’s geht wohl wieder um Leb’n un Tod, was?«
»Ja. Los! Falls Ihr Pferd aber erschöpft ist, halten Sie bei der nächsten Droschke an, und wir steigen um«, sagte Pitt.
Der Fahrer warf ihm einen herablassenden Blick zu und ließ sein Pferd antraben.
»Wir kommen bestimmt zu spät«, knurrte Tellman mit zusammengebissenen Zähnen. »Bis dahin hat ihn der Mistkerl erschossen.«
Pitt sagte nichts. Er fürchtete, dass Tellman Recht hatte.
Weil die Straßen verstopft waren, schien sich die Fahrt endlos lange hinzuziehen. Weder die Ungeduld noch das Bewusstsein eines bevorstehenden Fehlschlags konnte sie verkürzen oder verhindern, was beide inzwischen für unvermeidlich hielten.
Endlich kamen sie vor dem Parlamentsgebäude an. Pitt gab dem Kutscher fast den ganzen Rest seines Geldes und forderte ihn auf, dem Pferd dafür etwas Gutes zukommen zu lassen, dann eilte er Tellman nach, der bereits zwanzig Meter Vorsprung hatte.
Nachdem sie sich ausgewiesen hatten, wurden sie eingelassen und zu Voiseys Büro geführt. Kaum waren sie um die Ecke des langen Korridors gebogen, als sie sahen, dass sie zu spät kamen. Eine dichte Traube von Menschen mit bleichen und besorgten Gesichtern, die mit gesenkter Stimme sprachen, versperrte ihnen den Weg.
»Was gibt es?«, fragte Pitt, als er sie erreicht hatte. Er fürchtete, die Antwort bereits zu wissen.
»Fürchterlich«, sagte einer der Sekretäre, ein untadelig gekleideter bleicher junger Mann. Er zitterte so sehr, dass die Papiere, die er in den Händen hielt, ein raschelndes Geräusch von sich gaben. »Ganz und gar entsetzlich.«
»Was denn?«, fragte Pitt.
»Wissen Sie es nicht? Man hat Sir Charles Voisey erschossen. Einer von der Polizei ist da. Ein Mann aus der Bow Street. Ein Abgeordneter wird im Parlamentsgebäude erschossen! Wo soll das noch hinführen?«
Pitt drängte sich durch und schob Menschen beiseite, bis er die Tür erreichte. Dort stand Wetron einen Meter von ihm entfernt, bleich und allem Anschein nach tief erschüttert. Doch als sich ihre Blicke kreuzten, sah Pitt in den Augen des Mannes den Triumph, und ihm war klar, dass die Auseinandersetzung verloren war.
Wetron ließ sich nichts anmerken. Für die Umstehenden spielte er die Rolle eines Mannes, den ein widerwärtiges Ereignis in tiefster Seele erschüttert hatte.
»Ah, Oberinspektor Pitt«, sagte er, als habe dieser seinen einstigen Rang noch. »Wie gut, dass Sie da sind. Schreckliche Sache. Ich fürchte, es gibt unwiderlegliche Beweise für Sir Charles’ Schuld. Tragisch. Ich wollte ihn deswegen befragen, hoffte gegen alle Vernunft, dass er eine andere Erklärung hatte. Das aber war nicht der Fall. Er hat mich mit einem Brieföffner angegriffen, deutlicher Hinweis auf sein Schuldbewusstsein.« Es klang, als müsse er sich zu diesen Worten zwingen, als empfinde er Entsetzen und Bedauern. In seinen Augen aber lagen Siegesgewissheit und die Befriedigung, seinen Machthunger gestillt zu haben. Die Umstehenden konnten das nicht erkennen, wohl aber Pitt.
»Beweise wofür, Hauptkommissar Wetron?«, fragte Pitt unschuldig, als sei er völlig ahnungslos.
Ohne seinen Ausdruck im Geringsten zu verändern, sagte Wetron: »Für Korruption, Mr Pitt. Sie scheint ein unglaubliches Ausmaß erreicht zu haben und beschränkt sich keineswegs auf aktive Polizeibeamte. Ich bedaure unendlich, sagen zu müssen, dass Sir Charles mit Oberinspektor Simbister aus der Cannon Street gemeinsame Sache gemacht hat. Noch schlimmer aber ist, dass unwiderlegliche Beweise für seine Verbindung zu den Anarchisten vorliegen, die den entsetzlichen Sprengstoffanschlag in der Scarborough Street verübt haben, denn das verwendete Dynamit ist über seine Kontakte beschafft worden. Es wäre mir lieber, wenn ich etwas anderes sagen könnte.« Im Hinblick auf die große Zahl der Zuschauer versagte er sich ein triumphierendes Lächeln, aber die Befriedigung über den Sieg leuchtete ihm aus den Augen.
Pitt spürte den Geschmack der Niederlage bitter wie Galle, doch fiel ihm nichts ein, womit er hätte zurückschlagen können. Es war sinnlos, Wetron zu fragen, ob Voisey irgendetwas davon gestanden hatte. Er würde einfach Ja sagen, und das Bewusstsein, dass es sich nicht so verhielt, würde Pitt nichts nützen.
»Ich werde Mr Narraway Bericht erstatten«, brachte er heraus. »Es wird ihn freuen, dass es im Fall des Anschlags in der Scarborough Street Beweise gibt.« Würde Wetron die Männer ans Messer liefern, die seine Befehle ausgeführt hatten? Möglich war es. Sofern sie weder wussten, woher die Befehle gekommen waren, noch Beweise dafür vorlegen konnten, dass sie auf Anweisung Wetrons gehandelt hatten, gab es für ihn nichts zu verlieren, wohl aber unter Umständen viel zu gewinnen. Die Vorstellung, dass sich Wetron in ungerechtfertigter Weise mit diesem Erfolg schmücken würde, wie auch das Bewusstsein seiner eigenen Hilflosigkeit machten Pitt wütend, doch gab es für ihn keinerlei Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen.
»Selbstverständlich«, erklärte Wetron leicht von oben herab. »Ich werde ihm das Material gern übergeben, sobald meine Männer es gesichtet haben. Natürlich hat die Angelegenheit mit dem Tod von Sir Charles Vorrang.«
Einer der umstehenden Abgeordneten nickte. »Unbedingt. Grauenvolle Sache, das. Bemerkenswertes Vorgehen, wenn ich das sagen darf. Beachtlicher persönlicher Mut, sich ihm allein zu stellen. Gut, dass hier kein ganzer Trupp von Polizisten in Uniform herumtrampelt. Furchtbarer Skandal. Grässlich. Wer hätte das gedacht?«
»Jahrelange Erfahrung«, sagte Wetron mit gespielter Bescheidenheit. »Allerdings muss ich zugeben, dass es mich ebenfalls entsetzt hat. Es handelt sich hier um … ein Verbrechen von einer unvorstellbaren Größenordnung. Eine Tragödie für das ganze Land. Ich …« Er erschauerte theatralisch. »Sicher werden Sie verstehen, dass ich im Augenblick nichts weiter sagen möchte. Die ganze Sache ist auch mir sehr nahe gegangen.« Er sah zur geschlossenen Tür von Voiseys Büro hinüber.
»Selbstverständlich«, stimmte der Abgeordnete zu. Er wandte sich an die übrigen Umstehenden und sagte: »Meine Herren, da wir ohnehin keine Hilfe leisten können, sollten wir uns nicht länger hier aufhalten, sondern andere ihre traurige Pflicht tun lassen. Kehren wir an unsere Arbeit zurück.« Er machte eine Handbewegung, und die Menschenmenge löste sich auf.
Pitt blieb noch ein wenig stehen. Er empfand einen sonderbaren Widerwillen, den Raum zu betreten und sich Voiseys Leiche anzusehen. Gehörte das zu seinen Aufgaben?
Wetron fasste seinen Arm und hielt ihn zurück. »Das ist Sache der Polizei«, sagte er mit Nachdruck. »Sie sind beim Staatsschutz, nicht wahr?«
Im nächsten Augenblick war Pitt entschlossen. »Habe ich Sie falsch verstanden? Hatten Sie nicht gesagt, dass Sir Charles in den Anschlag in der Scarborough Street verwickelt war und mit dem von den kleinen Leuten im Revier der Cannon Street erpressten Geld die Anarchisten finanziert?«
Einen Moment lang schien Wetron unsicher. Offenkundig wusste er nicht, was er darauf sagen sollte. Zumindest einer der Abgeordneten war noch in Hörweite.
»Damit fällt die Sache in unseren Aufgabenbereich«, sagte Pitt mit bitterem Lächeln. »Für Anarchisten und Sprengstoffanschläge ist der Staatsschutz zuständig. Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, weil Sie dem Mann auf die Schliche gekommen sind … und natürlich auch, weil Sie versucht haben, uns Amtshilfe zu leisten und ihn festzunehmen.«
Wetron gewann sein Gleichgewicht wieder, jedenfalls nach außen. »Wirklich bedauerlich, dass ich ihn Ihnen nicht lebend übergeben konnte«, sagte er scheinbar betrübt. »Dann hätte er vielleicht gegen andere ausgesagt. Das kann er jetzt natürlich nicht mehr.«
»Zweifellos ist auch ihm der Gedanke gekommen«, sagte Pitt zweideutig. Er löste seinen Arm aus Wetrons festem Griff, öffnete die Tür und überließ Tellman die Entscheidung, ob er ihm folgen wollte oder nicht. Im Stillen hoffte er, er werde es nicht tun.
Er trat ein und schloss die Tür hinter sich.
Der Raum lag still in der Morgensonne. Da die Fenster geschlossen waren und das Zimmer in einem der höheren Stockwerke lag, drang weder Verkehrslärm herein, noch hörte man Stimmen von den Uferwegen entlang der Themse und auch nicht von den Korridoren.
Alles war geradezu vorbildlich aufgeräumt. Es gab keinerlei Hinweise auf einen Kampf, als habe die Auseinandersetzung ausschließlich mit Worten und nicht auf körperlicher Ebene stattgefunden.
Charles Voisey lag zwischen dem Schreibtisch und einem der Fenster auf dem Teppich, halb auf der Seite, eine Hand gekrümmt. In der Stirn befand sich ein Einschussloch. Es sah aus wie ein drittes Auge. Auf seinem Gesicht war keine Überraschung zu erkennen, wohl aber der Ausdruck von Ärger. Offenkundig hatte er seinen Fehler begriffen und vorausgesehen, was geschehen würde.
Pitt sah auf ihn hinab und überlegte, ob Voisey gewusst hatte, dass sein Bemühen vom Vorabend fehlgeschlagen war und Pitt noch lebte. Ob es so etwas wie eine Möglichkeit der Erkenntnis nach dem Tode gab, die es ihm gestattete, das jetzt zu erfahren? Oder kümmerte sich die Seele, wie auch immer sie beschaffen sein mochte, lediglich um das, was in der Zukunft lag?
Ob Mrs Cavendish vor Kummer außer sich sein würde? Wer konnte ihr die traurige Mitteilung machen? Angehörige, Bekannte? In keinem der Gespräche mit Pitt hatte sich Voisey je über Freunde oder private Bekanntschaften geäußert. Wohl gab es Verbündete, Menschen, über die er Macht hatte, aber wohl niemanden, der ihn einfach deshalb vermissen würde, weil er ihm nahe gestanden hatte.
Pitt hatte ihn beinahe gemocht. Ein kluger Mensch, der ihn bisweilen zum Lachen gebracht hatte, voller Leben, fähig, seine Leidenschaften, seine Wissbegier und seine Bedürfnisse zu artikulieren. Sein Tod hinterließ eine gewisse Leere.
»Dummkopf«, sagte Pitt laut. »Das wäre nicht nötig gewesen. Sie hätten … eine ganze Reihe von Möglichkeiten gehabt, etwas ganz anderes zu werden.« Er sah auf die Leiche hinab. »Was zum Teufel haben Sie mit dem Beweismaterial angefangen … wenn Sie es je hatten?«
Ob es sich lohnte, danach zu suchen? Würde nicht auch Wetron daran gedacht und alles getan haben, was er konnte, um es zu fälschen oder beiseite zu schaffen? Sicherlich hatte er nur solche Dinge an Ort und Stelle gelassen, die Voisey belasten konnten.
Das Bewusstsein der Niederlage bedrückte Pitt. Zugleich empfand er Wut und Trauer. Er hatte lange gegen Voisey gekämpft und dabei schwere Niederlagen erlitten. Dennoch hätte er nicht gewünscht, dass er so endete. Was hatte Voisey gewollt? Überrascht ging ihm auf: dass Pitt sich geändert hätte. Eine absurde Vorstellung, denn dazu wäre es wohl nie gekommen. Aus diesem Grund war er wütend auf ihn, so, wie er wütend auf Wetron war und auf sich selbst, weil er nicht scharfsinnig genug gewesen war, ihm zuvorzukommen.
Es klopfte an der Tür. Wahrscheinlich wollte man die Leiche abholen. Er konnte die Leute nicht warten lassen. Man würde über den Vorfall nicht weiter sprechen. Wetron hatte so viel von der Wahrheit preisgegeben, wie sich beweisen ließ, und so gab es für Pitt keinen Grund, die Leiche für weitere Ermittlungen zurückzubehalten.
»Herein«, sagte er.
Eine Stunde später verließ er das Parlamentsgebäude. Tellman war bereits mit Wetron aufgebrochen; ihm war nichts anderes übrig geblieben: Wetron als sein Vorgesetzter hatte ihm den dienstlichen Befehl dazu erteilt. Es war ein weiterer Hinweis auf seine und Pitts Niederlage. Pitt hatte nicht gewagt, Wetron daran zu hindern, weil ihm klar war, dass Tellman die Zeche dafür hätte zahlen müssen. So gut es ging, hatte er Voiseys Büro durchsucht, dabei aber nichts gefunden, was ihm hätte nützen können. Eine Reihe verschlossener Schubladen wollte man ihm nicht öffnen, da sie angeblich geheime Regierungsakten enthielten. Nur gut, dass sich alles Material, das Voisey zusammengetragen hatte, um Simbisters Verstrickung in die Sprengstoffanschläge nachweisen zu können, bereits in den Händen der zuständigen Behörden befand, wie auch die Papiere, aus denen die Beziehung zwischen Grover und Simbister hervorging und die Letzteren in Bezug auf das Dynamit im Laderaum der Josephine belasteten.
Auf dem Heimweg kam Pitt der Gedanke, Narraway könne nach wie vor in der Keppel Street auf seine Rückkehr warten. Charlotte und Vespasia würden bestimmt dort sein.
Kaum hatte er die Haustür geöffnet, als Narraway schon im Flur stand. Sogleich sah er auf Pitts Gesicht, dass er verloren hatte.
»Was ist geschehen?«
Pitt bückte sich und zog sich die Schuhe aus. »Eine üble Geschichte«, sagte er. »Er hat in Voiseys Haus angerufen und so getan, als wenn er mit ihm spräche. Dann hat er zu Tellman gesagt, er wolle ihn dort aufsuchen. Wir haben das geglaubt.«
»Und?«, fragte Narraway scharf.
Pitt stand in Strümpfen vor ihm. »Wahrscheinlich hat er mit dem Butler telefoniert, wenn er nicht den Anruf von A bis Z vorgetäuscht hat. Jedenfalls war Voisey nicht zu Hause, sondern im Unterhaus. Bis wir unseren Fehler erkannt hatten und dort ankamen, war er bereits tot. Wetron berichtete gerade den Umstehenden, dass er gekommen sei, Voisey festzunehmen, dieser ihm Widerstand geleistet und ihn mit einem Brieföffner angegriffen habe. Daraufhin habe er ihn in Notwehr erschießen müssen.«
Narraway fluchte laut, ohne daran zu denken, dass Charlotte und Vespasia das in der Küche hören konnten.
»Was können wir jetzt noch tun?«, fragte Charlotte niedergeschlagen.
Narraway drehte sich zu ihr um und errötete tief. Er schien zu überlegen, ob er sich entschuldigen sollte. Er holte tief Luft.
Vespasia sagte rasch: »Sicher macht Gracie uns gleich Tee, dann können wir gemeinsam überlegen, welche Möglichkeiten uns bleiben.«
»Bleiben uns denn welche?«, fragte Charlotte, als sie alle um den Küchentisch saßen, auf dem außer Tee auch Brot und Butter standen. Auch Vespasia hatte sich zu ihnen gesetzt, ganz so, als gehöre es zu ihren Gewohnheiten, mit guten Freunden, einem Dienstmädchen und dem Leiter des Staatsschutzes in einer Küche zu essen.
»Die Nachmittagsausgabe von Denoons Zeitung wird Wetron als Helden feiern«, sagte Narraway finster. »Mit diesem Erfolg im Hintergrund kann er sich ausrechnen, dass er der nächste Polizeipräsident wird.«
»Vermutlich hat er von Anfang an darauf hingearbeitet«, sagte Vespasia. »Ich muss gestehen, dass es kaum etwas gibt, was mich so wütend macht wie dieser Gedanke. Der Mann ist ein Ausbund an Niedertracht und wird dem ganzen Land nicht wieder gutzumachenden Schaden zufügen.«
»Ganz davon abgesehen steht er nach wie vor an der Spitze des Inneren Kreises«, fügte Pitt hinzu. »Voisey, der ihm als Einziger hätte Widerpart bieten können, lebt nicht mehr. Ich denke, jetzt wird lange Zeit niemand wagen, sich ihm offen entgegenzustellen.«
Gracie verzog das Gesicht. »Der is nich anders wie wir auch un muss mit ein’m Bein nach’m ander’n in seine Hose steig’n. Irg’ndwo hat der bestimmt ’ne schwache Stelle. Es muss was geb’n, woran er nich denkt.«
»Es sieht aber ganz so aus, als habe er an alles gedacht«, erwiderte Narraway. Einen Augenblick lang überraschte es ihn, dass sich ein Dienstmädchen die Freiheit herausnahm, sich am Gespräch der Herrschaften zu beteiligen. »Alles Beweismaterial, das wir kennen, lässt sich ebenso gut auf Voisey wie auf ihn beziehen. Simbister ist ganz und gar unglaubwürdig, und ich nehme an, dass Wetron ohnehin so viel Belastungsmaterial gegen ihn besitzt, dass der Mann unter keinen Umständen gegen ihn aussagen wird. Davon abgesehen dürfte es kaum etwas geben, was Wetron belastet. Zwar hat Voisey gesagt, er habe solche Beweise, aber niemand hat sie gesehen. Sollten sie existiert haben, hat Wetron sie inzwischen mit Sicherheit vernichtet.«
»Nicht einmal Piers Denoons Geständnis würde uns weiterhelfen, da es ausschließlich Simbister belastet, dessen Fall so oder so aussichtslos ist«, fügte Pitt hinzu. »Wir haben zwar die Handhabe, Piers festzunehmen, aber von ihm führt keine Spur zu Wetron.«
»Was für ’n Geständnis is das?«, fragte Gracie neugierig.
»Piers Denoon hat eine junge Frau vergewaltigt. Simbister hat ihn damit erpresst und ihn auf diese Weise dazu gebracht, die Anarchisten zu unterstützen und Magnus Landsborough zu erschießen«, erklärte Pitt knapp. »Wetron hat das Geständnis in seinen Besitz gebracht. Das aber können wir nicht beweisen.«
Angewidert verzog Gracie die Nase.
»Wir … haben es aus Wetrons Panzerschrank geholt«, sagte Pitt, »und das dürfen wir natürlich öffentlich nicht sagen.«
»Trotzdem«, ließ Gracie nicht locker, »es muss was geb’n, wovor er Angst hat oder was ’m schadet. Bei Mr Voisey war’s die Schwester. Hat Mr Wetron denn niemand?« Sie stieß einen leisen Laut der Verärgerung aus. »Wir könn’n den doch nich einfach lauf’n lass’n!«
»Er befindet sich in einer ausgesprochenen Machtposition!«, sagte Vespasia und sah auf Gracies schmale Gestalt ihr gegenüber. »Und den größten Teil seiner Macht übt er im Geheimen aus.«
»Es muss aber doch jemand geb’n, dem das egal is!«, beharrte Gracie trotzig. »Wenn er so gemein is, hat er bestimmt jemand zugrunde gerichtet. Den müss’n wir nur find’n.«
Langsam zeichnete sich in Pitts Gedanken etwas ab, doch gefiel ihm diese Vorstellung nicht. Die Sache würde nicht besonders hilfreich sein und könnte außerdem viel Zeit kosten.
Charlotte sah ihn aufmerksam an. »Woran denkst du?«, fragte sie.
Er rieb sich die Stirn. Mit einem Mal war er entsetzlich müde. Er schien seit Wochen keinen erholsamen Schlaf gehabt zu haben. Alles, woran er geglaubt hatte, brach um ihn herum zusammen; von dem Anstand, den er stets für selbstverständlich gehalten hatte, war keine Spur zu sehen. All das war Wetrons Werk, er verdarb die Guten und übte Verrat an denen, die ihm vertrauten.
»Ich gehe wohl am besten zu den Landsboroughs und gebe dort Bescheid, dass wir wissen, wer ihren Sohn auf dem Gewissen hat«, sagte er und erhob sich langsam. »Sie haben ein Recht darauf, das zu erfahren. Um Piers Denoon festnehmen zu lassen, muss ich erst einmal wissen, wo er sich aufhält.«
»Wenn du Lord Landsborough diese Mitteilung machst, gibt er das unter Umständen seiner Schwester weiter, und die kann Piers warnen«, sagte Vespasia zögernd. Auf ihrem Gesicht lag der Ausdruck tiefen Mitleids. »Oder ist das deine Absicht, Thomas?«
Charlotte ließ den Blick zwischen ihr und Pitt wandern.
»Ich kann das nicht einfach so durchgehen lassen, Tante Vespasia«, sagte er. Die ganze Sache verursachte ihm Qualen. »Piers Denoon hat nicht nur eine junge Frau vergewaltigt und Geld für die Anarchisten beschafft, die den Anschlag in der Myrdle Street und höchstwahrscheinlich auch den in der Scarborough Street verübt haben, er hat vor allem Magnus getötet. Wenn es überhaupt eine Möglichkeit gibt, Wetron endlich das Handwerk zu legen, dann die, dass ich Piers wegen dieses Mordes festnehme und sein Vater erfährt, auf welche Weise Wetron ihn benutzt hat.«
»Ja«, stimmte sie zu. »Ich sehe auch keinen anderen Ausweg.«
Mit einer Trauer in der Stimme, die ihn fast erstickte, sagte Pitt: »Anfangsfehler sind oft nicht besonders bedeutend und lassen sich meist wieder gutmachen, wenn man rechtzeitig dafür bezahlt. Piers aber hat immer noch mehr Fehler begangen, um nicht für den ersten zahlen zu müssen, bis sie so gewaltig wurden, dass er nicht mehr dafür bezahlen konnte. Es tut mir Leid.«
Charlotte beugte sich vor und legte spontan eine Hand auf die Vespasias. Wenn ihr die Geste bewusst geworden wäre, hätte sie das vielleicht nicht gewagt.
»Natürlich.« Vespasia nickte kaum wahrnehmbar. »Ich habe das wohl nicht richtig bedacht. Wie aber willst du ihn festnehmen? Hat nicht Voisey gesagt, dass er das Land auf dem Wasserweg verlassen wollte?«
»Wir wissen nicht, ob das stimmt«, sagte Pitt, dem seine Vertrauensseligkeit nach wie vor peinlich war. »Ich nehme an, dass uns Edward Denoons Verhalten einen Hinweis darauf liefern wird, ob sein Sohn noch im Lande ist. Ich vermute, dass er zumindest einen Teil des Geldes zur Verfügung gestellt hat, mit dem dieser die Anarchisten finanziert hat, sofern die erpressten Schutzgelder nicht reichten.«
»Ich verstehe. Möchtest du, dass sich Edward Denoon in Lord Landsboroughs Haus befindet, wenn du es ihm sagst?« Vespasias Frage klang fast wie ein Angebot.
Alles krampfte sich in Pitt zusammen. »Ja … bitte.«
»Ich würde gern einmal telefonieren.«
Er bot ihr seine Hand.
Sie stand auf, ohne sie zu nehmen, und warf ihm einen abweisenden, zugleich aber belustigten Blick zu. »Ich bin zwar vom Kummer niedergedrückt, Thomas, aber durchaus imstande, allein aufzustehen!«
Pitt wandte sich an Gracie. »Danke«, sagte er aufrichtig. »Möglicherweise gibt es tatsächlich eine Stelle, an der Wetron ein wenig verletzlich ist.«
Gracie errötete vor Freude.
Pitt richtete den Blick auf Charlotte und sah ihr eine Weile wortlos in die Augen. Dann folgte er Vespasia in die Diele.
Vespasia brachte Pitt in ihrer Kutsche zum Haus der Familie Landsborough, bevor sie in ihr eigenes zurückkehrte. Auf der kurzen Fahrt saßen sie einander schweigend gegenüber, ohne das traurige Thema weiter anzusprechen. Pitt dachte daran, wie Voisey auf dem Boden seines Büros gelegen hatte, von einem Augenblick auf den nächsten all dessen beraubt, was ihn so lebendig hatte erscheinen lassen. All seine Wut und Habgier waren dahin, all sein Witz und sein Machthunger. Was Vespasia beschäftigte, wusste er nicht, doch vermutete er, dass sie an Sheridan Landsborough und seinen Kummer dachte, an Enid und den Schmerz, der ihr bevorstand.
»Danke, Tante Vespasia«, sagte er leise, als die Kutsche hielt.
Statt einer Antwort lächelte sie ihm leicht zu. Auf ihren Zügen lag tiefes Mitgefühl.
Gern hätte er gewusst, was er sagen oder tun konnte, und wäre es nur eine kleine Geste, aber ihm fiel nichts ein, und so verabschiedete er sich schließlich einfach, als er ausstieg und den Wagenschlag hinter sich schloss.
Der Lakai der Familie Landsborough empfing ihn ohne den geringsten Ausdruck von Überraschung und ohne nach seinem Namen zu fragen. Sheridan und Cordelia erwarteten ihn im Wohnzimmer. Auch das Ehepaar Denoon war anwesend. Alle wandten ihre bleichen Gesichter der Tür zu, als sie seine Schritte im Vestibül hörten.
Landsborough trat auf ihn zu. »Guten Tag, Mr Pitt. Es ist sehr freundlich von Ihnen, uns persönlich zu informieren.«
»Ich nahm an, dass Sie es wissen möchten«, gab Pitt zur Antwort. »Wir haben inzwischen genug Beweismaterial, um den Mann festzunehmen, der Ihren Sohn getötet hat.«
Landsborough wandte sich seiner Gattin zu, die einen Seufzer der Erleichterung ausstieß.
»Danke«, sagte sie mit unsicherer Stimme. »Das … das Warten war sehr belastend.«
Landsborough wahrte seine Haltung mit Mühe. »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Pitt. Mit dieser Mitteilung nehmen Sie mir eine große Last von den Schultern, und das zu einer Zeit, in der uns so viele schlechte Nachrichten erreichen.« Er verzog das Gesicht, als er fortfuhr: »In den Nachmittagszeitungen habe ich die näheren Umstände von Sir Charles Voiseys Tod gelesen.« Er sah zu Pitt hin, ersehnte sich offenbar verzweifelt einen Funken Hoffnung darauf, dass das Gesetz scheitern würde. Die Enttäuschung in seinen Augen war unübersehbar. Sein Sohn war tot, und die liberale, tolerante, aufgeklärte Welt, zu deren Verfechtern er selbst gehörte, schien im Begriff, in einer Woge korrupter Tyrannei unterzugehen. Er sah keine Möglichkeit, sie zu bekämpfen, und schon gar nicht hätte er hoffen dürfen, einen solchen Kampf zu gewinnen. Und jetzt würde der letzte schreckliche Schlag kommen, den ihm Pitt nicht ersparen konnte. Es war ihm nicht einmal möglich, ihn hinauszuzögern, denn Wetron war ein zu gerissener und zu gefährlicher Gegner. Er musste ihn in Denoons Gegenwart führen.
»Ja«, sagte Pitt. »Er scheint auf eine Weise korrupt gewesen zu sein, von der wir uns keine Vorstellung gemacht haben.«
»Die Zeitungen haben es ausführlich geschildert«, bestätigte Landsborough mit erkennbarem Widerwillen. »Hauptkommissar Wetron ist der Held des Tages.«
»Ein guter Mann«, sagte Denoon mit Nachdruck. »Er hat überaus mutig und entschlossen gehandelt, und wir verdanken ihm sehr viel. Ich bewundere jeden, der für seine Überzeugungen eintritt und sich seinem Gegner persönlich entgegenstellt, statt Untergebene vorzuschicken.« Er lächelte trübselig. »Nur gut, dass er selbst es getan hat. Ein minder fähiger Mann hätte Voisey womöglich einfach festgenommen. Das hätte allen möglichen Leuten geschadet und zu einer Gerichtsverhandlung geführt, in deren Verlauf ein ganzer Haufen schmutziger Wäsche gewaschen worden wäre. Mit diesem Vorgehen hat er Simbister demaskiert und Voisey auf einen Schlag unschädlich gemacht. Jetzt können wir uns dem Prozess der Gesundung zuwenden und daran gehen, Korruption und Anarchie mit der Wurzel auszureißen.«
Cordelia warf ihm einen eisigen Blick zu. »Mr Pitt ist gekommen, um uns zu sagen, wer Magnus ermordet hat, Edward, und nicht, um Wetron ein Loblied dafür zu singen, dass er Sir Charles Voisey erschossen hat. In diesem Zusammenhang ist es völlig unerheblich, dass wir eine andere politische Meinung vertreten haben als Voisey.«
»Ich nicht«, sagte Enid mit einem Blick auf ihre Schwägerin. »Zwar habe ich in ihm immer einen fürchterlichen Menschen gesehen, grausam, machtbesessen und ohne jede Rücksicht anderen gegenüber, aber mit seinen politischen Vorstellungen hatte er meiner Ansicht nach unbedingt Recht.«
»Um Himmels willen, Enid, du weißt ja nicht, was du redest!«, stieß Denoon hervor. »Er war ein Gegner des Gesetzentwurfs! Inzwischen wissen wir auch, warum: Er war bis ins Mark korrupt und hatte Simbister mit in diesen Sumpf hineingezogen.«
»Das ist kein Grund«, sagte sie.
Mit wutverzerrtem Gesicht sagte Denoon: »Und ob das einer ist! Er durfte auf keinen Fall zulassen, dass es zu einer polizeilichen Untersuchung kam, da er bis zur Halskrause in die Sache verwickelt war.« Zu Pitt gewandt, schloss er: »Gewiss sind Sie gekommen, um uns das zu sagen?«
»Haben Sie denn Ermittlungen im Zusammenhang mit der Korruption der Polizei geführt?«, fragte ihn Landsborough.
»Ja«, sagte Pitt. »Und es gab nicht die geringsten Hinweise auf eine mögliche Verwicklung von Sir Charles Voisey in diese Angelegenheit.«
»Dann müssen Sie unfähig sein«, fuhr ihn Denoon an. »Aus Hauptkommissar Wetrons Darstellung der Lage geht klipp und klar hervor, dass Voisey an der Sache nicht nur beteiligt, sondern genau genommen die treibende Kraft dahinter war. Wenn Sie Ihr Handwerk beherrschten, hätten Sie das ermittelt und bewiesen, dann hätte Wetron das nicht für Sie tun müssen.«
Sheridan Landsborough erstarrte. »Edward, Mr Pitt ist ein Besucher meines Hauses«, sagte er kühl. »Als solchen wirst du ihn höflich oder, sofern du dich dazu nicht im Stande siehst, zumindest zivilisiert behandeln. Er ist gekommen, um mir zu berichten, dass er im Begriff steht, den Mann festzunehmen, der meinen Sohn ermordet hat. Willst du nicht wenigstens die Gefühle meiner Frau und meine eigenen respektieren, wenn es dir schon nicht möglich ist, daran zu denken, dass du ebenfalls als Besucher hier bist, wenn auch als einer, der zur Familie gehört?« Der abgrundtiefe Sarkasmus, mit dem er das Wort ›Familie‹ betonte, zeigte Pitt schlagartig, dass Landsborough durchaus wusste, wer der Erzeuger seines Sohnes war.
Denoon sah Pitt an und wurde puterrot. In seinen Augen lag jetzt nicht nur Wut, sondern auch Angst.
Cordelia warf ihrem Mann einen ärgerlichen Blick zu, schwieg aber ebenfalls.
Enid erhob sich, reckte den Kopf und sagte: »Bitte verzeihen Sie die schlechten Manieren meines Mannes. Ich würde Ihnen gern einen vernünftigen Grund dafür nennen, der das entschuldigen könnte, aber ich weiß keinen. Würden Sie trotzdem die Freundlichkeit besitzen, uns zu sagen, was Sie in Erfahrung gebracht haben? Zumindest Sheridan wüsste es gern. Er hat mit großer Liebe an Magnus gehangen und alles getan, was er nur konnte, um ihn von seinem anarchistischen Irrweg abzubringen.«
Pitt erschien ihr Mitgefühl fast unerträglich. Er überlegte sogar, ob es eine Möglichkeit gab, ihr die Festnahme des eigenen Sohnes und das Bewusstsein zu ersparen, dass ihm eine Gerichtsverhandlung bevorstand, an dessen Ende höchstwahrscheinlich das Todesurteil stand.
»Nun?«, brach Cordelia das Schweigen.
Es gab keine solche Möglichkeit. Es war nicht das erste Mal, dass er es aus tiefster Seele verabscheute, einen Täter festnehmen zu müssen, wobei er für viele von ihnen mehr Verständnis aufgebracht hatte als für Piers Denoon.
»Es ist einer der anderen Anarchisten«, sagte er. »Ich bin nicht sicher, ob ich eine Möglichkeit haben werde, ihn festzunehmen, werde aber alles tun, was ich kann. Es tut mir Leid. Ich wünschte, ich könnte der Sache ein Ende machen, indem ich sagte, es war Voisey, aber das geht einfach nicht.«
»Warum denn um Gottes willen?«, erwiderte Cordelia. »Wir wollen unbedingt, dass der Täter festgenommen wird, ganz gleich, wer es ist! Also stehen Sie nicht herum, sondern tun Sie Ihre Pflicht, und lassen Sie es uns wissen, wenn die Sache erledigt ist.«
Ihre Direktheit ärgerte Pitt, doch verflog das Gefühl rasch. »Mein Bedauern geht darauf zurück, dass der Täter jemand war, den Magnus kannte und dem er vertraute«, entgegnete er. »Vielleicht war er ihm sogar wichtig. Den Namen werde ich Ihnen erst nach der Festnahme sagen, weil ich Ihnen unnötige Schmerzen ersparen und keinesfalls jemanden belasten möchte, dessen Täterschaft ich nicht beweisen kann. Ich denke, dass die Sache so oder so morgen um diese Zeit erledigt ist. Auf Wiedersehen.«
Landsborough begleitete ihn zur Tür und blieb unmittelbar davor stehen.
»Stimmt es, Pitt, dass Sie wissen, wer der Mann ist?«, fragte er eindringlich.
»Es scheint nur eine mögliche Antwort zu geben«, sagte Pitt.
»Aber Sie wollten von uns etwas in Erfahrung bringen. Das war doch der Grund Ihres Besuchs?«
»Sie sind Magnus nachgegangen und haben versucht, ihm die Sache auszureden?« Pitt stellte die Frage, obwohl er die Antwort kannte.
Landsboroughs Züge verhärteten sich. Wie jemand, der vollständig besiegt ist, gab er es gequält zu.
Pitt kam sich vor, als seziere er brutal einen Menschen bei lebendigem Leibe. Wenn er sich allerdings für das entschuldigte, was er zu tun im Begriff stand, würde er die Sache nur verschlimmern.
»Haben Sie bei einer dieser Gelegenheiten zwei Männer gesehen, einen mit bleicher Haut und roten Haaren und einen anderen mit dichten, schwarzen Locken?«
»Ja. Wieso fragen Sie das?«, sagte Landsborough verwirrt.
»Man hat mir gesagt, es habe sich um Bekannte Ihres Sohnes gehandelt. Stimmt das?«
»Ja. Ich habe sie mehrfach bei ihm gesehen. Sie schienen ziemlich … vertraut miteinander zu sein. Ist das jetzt noch wichtig?«
»Durchaus. Ich möchte mithilfe der beiden den Mörder zu fassen bekommen.« Pitt empfand tiefes Schuldbewusstsein, weil es keine Möglichkeit gab, Landsborough schonend auf den Schock vorzubereiten, der ihm bevorstand. Aber so nah, wie der Mann seiner Schwester stand, konnte er nicht ausschließen, dass er ihr die Wahrheit verriet – sei es unabsichtlich oder weil er ihr Kummer ersparen wollte, und sei es auch noch so wenig. »Danke«, sagte er. »Zwar habe ich vermutet, dass mir die beiden die Wahrheit gesagt haben, doch bestand die Möglichkeit, dass sie logen, falls sie mit in die Sache verwickelt waren.«
Landsborough runzelte die Stirn. »Sie haben aber doch gesagt, dass es jemand war, dem er vertraute«, sagte er.
»Damit hat es auch seine Richtigkeit. Aber von diesen beiden kann es eigentlich keiner gewesen sein. Wir wissen genau, wo sie sich zum Zeitpunkt der Tat befanden. Danke, Lord Landsborough. Jetzt muss ich gehen und meine Pflicht tun.« Da es ihm widersinnig schien, dem alten Herrn einen Guten Tag zu wünschen, begnügte er sich mit einem knappen Lächeln und ging.
Er suchte auf kürzestem Wege das Gefängnis auf, in dem sich Welling und Carmody in Haft befanden. Dort forderte er den Wärter auf, sie gemeinsam in eine Zelle zu führen, und ging dann selbst hinein.
Die beiden sahen ihn fragend an. Sie wussten nicht, was sie von der Neuerung halten sollten, und fürchteten sich vor den möglichen Folgen. Genau diese Unsicherheit hatte er beabsichtigt, auch wenn sie nur einer der Gründe für sein Handeln gewesen war. Es war seine Absicht, Piers Denoon aus seinem Versteck zu locken, damit er ihm das Angebot machen konnte, mit einer Aussage gegen Wetron seine Haut zu retten.
Wartend sahen ihn die beiden Anarchisten an.
»Ich möchte, dass Sie Piers Denoon eine Mitteilung zukommen lassen«, sagte er unvermittelt.
Höhnisch fragte Welling: »Sie meinen, wir sollen ihm einen Brief schicken? Das können Sie ebenso gut selber tun.«
»Nein – Sie sollen zu ihm gehen«, sagte Pitt.
»Ach ja? Und dann brav ins Gefängnis zurückkommen, damit Sie mich für den Rest meines Lebens einsperren können?« Er sah Pitt mit einem Blick an, der deutlich machte, dass er ihn in die finsterste Hölle wünschte. Nur wagte er das nicht zu sagen, denn er fürchtete, damit die wenigen Privilegien aufs Spiel zu setzen, die man ihm eingeräumt hatte – wenn nicht gar Pitt seine Zusage zurücknahm, ihm zu glauben, dass nicht er Magnus getötet hatte.
»Wenn Sie mich ausreden ließen«, sagte Pitt kühl, »könnte sich zeigen, dass das Angebot deutlich besser ist, als Sie es hinstellen.«
»Also halt den Schnabel!«, fuhr Carmody seinen Gefährten an. »Ja, Mr Pitt?«
Pitt sagte mit schmalem Lächeln: »Einer von Ihnen soll Piers Denoon aufsuchen und dazu bringen, dass er in sein Elternhaus zurückkehrt. Auf welche Weise Sie das erreichen, ist mir gleichgültig. Er hat Magnus Landsborough erschossen, und das kann ich nicht einfach durchgehen lassen.« Er sah die Gemütsbewegung auf den Gesichtern der beiden, die Wut und den Schmerz. »Falls Ihnen das noch nicht genügt«, fuhr er fort, »sollen Sie wissen, dass er auch das Geld für das Dynamit beschafft hat, mit dem die Häuser in der Scarborough Street in die Luft gesprengt worden sind. Bei diesem Anschlag, den nebenbei bemerkt die Öffentlichkeit ebenfalls den Anarchisten zuschreibt, sind, wie Sie wissen, acht Menschen ums Leben gekommen und viele weitere verletzt worden.«
»Welchen Grund hätte er haben sollen, Magnus zu töten?«, fragte Welling zweifelnd. »Die beiden waren doch Vettern!«
»Man hat ihn dazu erpresst«, teilte ihm Pitt mit. »Es ist ohne weiteres möglich, dass er eigentlich nichts mit den Anarchisten zu tun haben wollte, doch blieb ihm keine Wahl. Ich habe sein schriftliches Geständnis und die Aussagen von Zeugen gesehen, aus denen sich zweifelsfrei ergibt, dass er vor drei Jahren eine junge Frau vergewaltigt hat. Polizeibeamte haben ihn mithilfe dieser Unterlagen, die sie in Verwahrung hatten, gezwungen, zu tun, was sie von ihm wollten.«
Mit von Abscheu und Hass verzerrtem Gesicht gab Carmody einen obszönen Fluch gegen die Polizei von sich.
»Vergessen Sie nicht, dass er Magnus erschossen hat, statt sich den Folgen seiner Tat zu stellen und seine Strafe auf sich zu nehmen«, erinnerte ihn Pitt.
»Wir sollen also Verrat üben.« Carmody biss sich auf die Lippe.
»An wem?«, fragte Pitt. »An Piers oder an Magnus?«
»Und was ist, wenn derjenige von uns, der die Sache übernimmt, nicht zurückkommt?«, fragte Welling.
»Das verlange ich gar nicht«, gab Pitt mit einem angedeuteten Lächeln zurück. »Wenn Sie tun, worum ich Sie bitte, wird auch der andere freigelassen. Andernfalls bleibt er hier und muss sich der Anklage wegen des Anschlags in der Myrdle Street stellen. Angesichts der vielen Todesopfer in der Scarborough Street dürften Geschworene zur Zeit Sprengstoffattentätern alles andere als wohlgesonnen sein.« Diese kaum verhüllte Drohung fügte er hinzu, weil er es sich nicht leisten konnte, auch diesen letzten Kampf zu verlieren, ganz davon abgesehen, dass er den Anarchisten nicht enthüllen konnte, was auf dem Spiel stand.
»Ich übernehme den Auftrag«, sagte Welling entschlossen.
Pitt sah erst ihn und dann Carmody an. »Nein«, sagte er. »Carmody. Brechen Sie gleich auf. Wenn Sie es nicht schaffen, zahlt Welling den Preis dafür, und ich werde dafür sorgen, dass Kydd davon erfährt.«
Welling fuhr herum und sah ihn scharf an.
Pitt lächelte. »Waren Sie etwa der Ansicht, ich kenne ihn nicht?«
Welling stieß leise den Atem aus.
»Kommen Sie jetzt?«, sagte Pitt zu Carmody.
Dieser richtete sich auf. »Ja … Sir, ja, ich komme.«
Das lange Warten begann unerträglich zu werden, und das keinesfalls nur wegen der Möglichkeit, dass Carmody sein Ziel nicht erreichte oder vielleicht gar nicht erst versuchte, seinen Auftrag zu erledigen. Zwar hatte Pitt gedroht, in dem Fall Welling die Folgen tragen zu lassen, doch war er nicht wirklich bereit, das zu tun. Einen Menschen für die Schwäche oder Feigheit eines anderen zu bestrafen erschien ihm nicht nur ungerecht, sondern geradezu abstoßend. Mehr noch aber setzte ihm das Bewusstsein dessen zu, was mit einem Erfolg des Unternehmens verbunden wäre: Piers Denoons Festnahme im Elternhaus vor den Augen des Vaters – um zu erreichen, dass sich Edward Denoon gegen Wetron stellte. Dabei waren Pitt Edward Denoons Empfindungen gleichgültig. Er war nicht stolz auf die Freude, die es ihm bereiten würde, einem so eingebildeten Menschen etwas heimzuzahlen, einem, der unter Umständen sogar an Wetrons Stelle die Leitung des Inneren Kreises übernehmen würde, wenn man ihn nicht daran hinderte. Doch bei dem Gedanken an Enid und Landsborough zog sich ihm das Herz zusammen, sogar schon jetzt, während er steifgefroren am Lieferanteneingang des gegenüberliegenden Hauses stand und wartete. Tellman, der dienstfrei hatte, war bei ihm, weil Pitt für eine Festnahme einen Polizeibeamten brauchte. Ganz davon abgesehen, hatte Tellman es auch verdient, die Früchte ihrer Arbeit zu ernten.
Narraway, der es sich nicht hatte nehmen lassen, ebenfalls zu kommen, wartete etwa dreißig Schritt entfernt.
Es war kurz nach sechs, ein heller, aber kühler Morgen. Gerade als Pitt zur Themse hinsah, von der ein kalter Wind herüberwehte, stieß ihn Tellman in die Seite.
»Da ist er!«, flüsterte er, als jemand mit einem Paket auf dem Arm die Stufen zum Nebeneingang des Hauses der Familie Denoon hinabeilte, so, als wolle er etwas liefern. Statt an die Tür der Spülküche zu klopfen, schloss er sie auf.
Pitt eilte die Stufen empor und rief Narraway etwas zu. Dann lief er mit Tellman über die Straße und klopfte an die Tür des Denoon’schen Hauses.
Ein junges Mädchen, das eine Schürze trug, öffnete. Ihre Hände waren mit Asche bedeckt – vermutlich war sie gerade damit beschäftigt gewesen, den Küchenherd auszuräumen.
»Ja, Sir?«, sagte sie unsicher.
»Polizei«, knurrte Tellman und schob sich an ihr vorüber.
»Vielleicht sollten Sie besser den Hausherrn wecken«, fügte Pitt hinzu.
Tellman war bereits auf dem Weg in die Küche. Pitt folgte ihm, vorüber an einem benommen dreinblickenden Stiefelputzer und einer Küchenmagd, die einen Eimer Kohlen trug.
Sie fanden Piers in der Küche. Er war unrasiert, seine Wangen waren hohl, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen.
»Es ist sinnlos, durch die Hintertür entwischen zu wollen«, sagte Pitt ganz ruhig. »Dort steht jemand und wartet auf Sie.«
Piers erstarrte. Entsetzen mischte sich mit einer Art sonderbarer und verzweifelter Erleichterung darüber, dass das Versteckspiel endlich vorüber war und er sich dem stellen konnte, was unvermeidlich auf ihn zukommen würde.
»Piers Denoon«, sagte Tellman förmlich. »Ich nehme Sie wegen Mordes an Magnus Landsborough fest. Im Interesse Ihrer Angehörigen empfehle ich Ihnen, keine Schwierigkeiten zu machen.«
Piers stand reglos, als könne er sich nicht bewegen. Tellman wusste nicht recht, ob er ihm Handschellen anlegen sollte oder nicht.
»Gehen Sie nach nebenan, Mr Denoon«, sagte Pitt. »Es ist nicht erforderlich, Sie vor den Dienstboten festzunehmen.«
Wie ein alter Mann machte sich Denoon daran, durch den Gang in den Wohntrakt des Hauses zu gehen. Tellman hielt sich einen halben Schritt hinter ihm.
Als sie durch die mit grünem Tuch bespannte Tür kamen, sahen sie, dass Enid Denoon, die einen Morgenrock übergeworfen hatte, am Fuß der Treppe stand. Ihr lose herabfallendes schimmerndes Haar bildete einen scharfen Kontrast zu ihrem verhärmten Gesicht.
»Was ist geschehen?«, fragte sie.
Pitt hatte den schrecklichen Verdacht, dass sie es ahnte.
»Es tut mir aufrichtig Leid, Mrs Denoon.« Mit diesen Worten war es ihm ernst. Er hätte viel darum gegeben, es ihr nicht sagen zu müssen. Es hätte ihn weit weniger geschmerzt, wenn Edward Denoon statt seines Sohnes dort gestanden hätte.
Piers sah seine Mutter an, doch war deutlich zu sehen, dass er das nicht tat, weil er sich von ihr Hilfe erhofft hätte. Ihm war klar, dass niemand etwas für ihn tun konnte. »Ich wusste nicht, wie ich mich der Sache stellen sollte, und dachte, ich könnte mich ihr entziehen«, sagte er schlicht.
Enid sah an ihm vorüber auf Pitt.
Sie verdiente eine Erklärung. Er hielt sie so einfach, wie er konnte. »Vor drei Jahren hat er ein Verbrechen begangen«, sagte er. »Die Polizei hat sein Geständnis und die Aussagen der Zeugen zurückgehalten und sie dazu benutzt, ihn zu erpressen, damit er für die Anarchisten Geld beschaffte. Man wollte durch die Bombenanschläge die öffentliche Meinung so weit aufstacheln, dass sich die überwiegende Mehrheit dafür aussprach, die Polizei mit Schusswaffen auszurüsten und ihr größere Vollmachten zu geben.«
Ihr Gesicht war aschfahl. Sie verstand, was als Nächstes kommen würde. »Und Magnus wusste das?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis«, gab er zu. »Auf jeden Fall aber hat man ihn getötet, um die öffentliche Empörung zu schüren und zu erreichen, dass das Thema Anarchismus in allen Zeitungen behandelt wurde. Hätte das Opfer nicht einer bekannten Familie angehört, wäre die Sache wahrscheinlich nicht so hochgespielt worden.«
»Die Polizei hat das getan?«, fragt sie. »Wer steckt dahinter? Dieser Simbister – oder Wetron, der gestern Voisey getötet hat? Nein, sagen Sie nichts. Er muss es sein, sonst wäre Ihnen die Sache nicht noch immer so wichtig. Ich sehe es Ihnen an.« Sie richtete den Blick auf ihren Sohn. »Ich werde es deinem Vater sagen. Ich zweifle, dass er eine Möglichkeit hat, dir zu helfen, aber bestimmt wird er es versuchen. Ich tue, was ich kann.« Zu Pitt sagte sie: »Meine Pflichten hier im Hause hindern mich daran, Sie hinauszubegleiten. Ich verstehe, dass Sie getan haben, was Sie tun mussten – und jetzt ist die Reihe an mir.« Sie wandte sich um und ging langsam die Treppe empor, die Hand auf das Geländer gelegt, als müsse sie sich daran festhalten.
Pitt folgte Tellman und Piers Denoon nach draußen, wo Narraway mit einer Droschke auf sie wartete. Tellman legte dem jungen Mann die Handschellen an, für den Fall, dass er plötzlich in Panik geriet und davonlief oder gar versuchte, sich aus der Droschke zu stürzen. Narraway stieg mit ein.
»Gut gemacht, Pitt«, sagte er freudlos. »Tut mir Leid, aber Sie werden sich eine andere Droschke suchen müssen.«
»Ja, Sir«, gab Pitt zurück. »Jetzt muss ich möglichst rasch zu Lady Vespasia. Ich denke, Mrs Denoon braucht jeden Trost, den man ihr geben kann.«
»Es ist noch nicht einmal sieben!«, gab Narraway zu bedenken.
Pitts Entschluss war unumstößlich. Sein eigener Kummer diktierte ihm die Notwendigkeit, nicht bis acht oder neun Uhr zu warten, um die Nachricht zu überbringen. »Ich weiß. Falls ich warten muss, werde ich mich dem fügen.« Ohne Narraways Antwort abzuwarten, wandte er sich um und schritt der nächsten Querstraße entgegen, wo er eine Droschke zu finden hoffte. Sofern er keine bekam, würde er zu Fuß gehen. Es waren nicht einmal drei Kilometer.
Als endlich eine Droschke kam, hatte er nur noch zehn Minuten zu gehen, und so ließ er sie vorüberfahren.
Natürlich war Vespasia noch nicht aufgestanden, aber ihr Dienstmädchen kam an die Tür und forderte Pitt auf, im Salon zu warten, während sie ihre Herrin weckte.
»Bitte sagen Sie ihr, dass Mrs Denoon ihren Trost so bald wie möglich braucht«, fügte Pitt hinzu.
»Gewiss, Sir. Soll ich dem Küchenmädchen sagen, dass es Ihnen Tee und Toast bringt?«
»Ach bitte, ja.« Mit einem Mal merkte Pitt, wie sehr er fror und wie unglücklich er war. Er empfand eine tiefe innere Leere. Zwar hatte er die Wahrheit ermittelt, doch war ihm bewusst, dass Piers Denoon nichts weiter als eine unbedeutende Schachfigur im Spiel anderer gewesen war. Wetron befand sich nach wie vor nicht nur auf freiem Fuß, sondern durfte sich auch als Gewinner der Partie fühlen. Es war mehr als unsicher, ob ihm Edward Denoon auf die eine oder andere Weise das Handwerk legen würde. Eher musste man damit rechnen, dass ihn Wetron auf seine Seite zog, indem er dafür sorgte, dass man Piers entweder begnadigte oder entkommen ließ. Vielleicht fände er sogar eine Möglichkeit, die Schuld an der Tat jemandem zuzuschieben, der nichts damit zu tun hatte – beispielsweise Simbister!
Der Tee und der Toast kamen, und Pitt genoss beides. Er war gerade fertig, als Vespasia eintrat. Obwohl seit seiner Ankunft kaum zwanzig Minuten vergangen waren, war sie schon ausgehfertig und offensichtlich bereit, das Haus zu verlassen.
»Was ist geschehen, Thomas?«, fragte sie. Ihrer Stimme war anzuhören, was sie befürchtete, so, als wisse sie bereits alles. Das aber war gänzlich unmöglich.
Er stand sofort auf.
»Ich habe heute Morgen Piers Denoon wegen Mordes an Magnus Landsborough festnehmen lassen«, sagte er. »Wetron hat ihn dazu erpresst, leider aber kann ich das nicht beweisen. Simbister hat mit den Erpressungen angefangen, deshalb steht sein Name auf den Dokumenten.«
Alle Farbe wich aus Vespasias Gesicht. »Und Enid weiß Bescheid?«
Sein Unbehagen wuchs. »Ich wollte, dass Denoon es zuerst erfuhr, und habe das Dienstmädchen geschickt, damit sie es ihm sagte. Sie hat aber Enid statt seiner geweckt.«
»Vermutlich hat sie Angst vor ihm«, sagte Vespasia, während sie zur Tür ging. »Meine Kutsche wartet.« Ihre Stimme war heiser vor tiefer Gemütsbewegung. »Piers ist ihr einziges Kind. Beeil dich, Thomas. Vielleicht kommen wir ohnehin schon zu spät.«
Er fragte nicht, was sie damit meinte. Ob sie fürchtete, dass sich Enid Denoon das Leben genommen hatte, weil sie die Schande und den Kummer nicht ertragen konnte? Er hätte sich vergewissern sollen, dass ihr Mann da war, damit sich jemand um sie kümmerte, oder zumindest ein zuverlässiger, fähiger Dienstbote – der Butler oder eine Zofe, die schon lange im Hause war. Er verwünschte sich wegen seiner törichten Handlungsweise. Aus lauter Hass auf Wetron hatte er es unterlassen, dafür zu sorgen, dass Enid Denoon eine Möglichkeit bekam, den Schock zu verarbeiten.
Staunend hörte er, dass Vespasia dem Kutscher Wetrons Adresse angab und nicht die der Familie Denoon. Sie stieg ein, ohne darauf zu warten, dass Pitt ihr helfend die Hand reichte.
»Wieso Wetron?«, rief er aus.
»Schnell!«, sagte sie, sonst nichts.
Der Kutscher gehorchte und trieb die Pferde an. Sie fuhren durch die Straßen, die um diese Stunde wie ausgestorben dalagen. Außer Lieferanten, die Waren zu den Häusern brachten, sah man kaum jemanden.
Es gab keinen Anlass, miteinander zu reden, und Pitt war froh darüber. Seine Gedanken jagten sich, waren aber zu wirr und ergaben keinen Sinn. Als die Kutsche anhielt, riss er den Schlag auf, um Vespasia hinauszuhelfen. In ihrer Eile wäre sie fast über ihn gefallen. Enids Kutsche stand auf der anderen Straßenseite.
Gemeinsam eilten sie über den Gehweg und die Treppe zum Eingang empor. Es war das zweite Mal an diesem Morgen, dass er an eine Haustür hämmerte und ein verblüffter Dienstbote öffnete.
Gerade als sie an ihm vorbeistürzten, fiel ein Schuss. Mit einem Aufschrei wandte sich Vespasia dem Empfangszimmer zu, in dessen Tür Wetron mit wirrem Haar und aschfahlem Gesicht erschien. Er hielt eine kleine Pistole in der Hand.
»Die Frau ist wahnsinnig!«, stieß er hervor und sah wild zuerst auf Vespasia, dann auf Pitt. »Sie hat sich auf mich gestürzt wie eine … eine Furie! Mir blieb nichts anderes übrig. Es ist …« Er sah auf die Waffe in seiner Hand, als überrasche es ihn, sie dort zu sehen. »Es ist ihre. Sie wollte mich erschießen! Man hat ihren Sohn festgenommen. Das … das hat ihren Geist verwirrt … das arme Geschöpf.«
Vespasia schob sich an ihm vorbei, als sei er ein Dienstbote, der ihr im Weg stand, und ging ins Empfangszimmer. Die Tür ließ sie hinter sich weit offen.
Sogar von dort aus, wo Pitt stand, konnte er Enid sehen, die auf dem Rücken lag. Blut strömte scharlachrot aus einer Wunde in ihrer Brust.
Vespasia beugte sich über sie und nahm sie in die Arme, ohne darauf zu achten, dass das Blut ihr Kleid befleckte.
Pitt nahm Wetron die Waffe ab. Sie war überraschend klein, eine Damenpistole.
Enids Leben war noch nicht ganz erloschen.
»Die Frau ist verrückt«, sagte Wetron erneut mit sonderbar schriller Stimme. »Mir blieb nichts anderes übrig!«
Vespasia hob den Blick. Sie kniete am Boden und hatte den Arm jetzt um Enids Schultern gelegt. »Unsinn«, sagte sie mit Triumph in den Augen. »Die Kugel steckt im Teppich unter ihr«, erklärte sie mit rauer Stimme. »Also haben Sie auf sie geschossen, als sie am Boden lag. Sie haben sie niedergeschlagen, und sie ist gestürzt. Dabei ist ihr die Pistole entfallen. Die haben Sie aufgehoben und kaltblütig damit auf die arme Frau geschossen. Der Gerichtsarzt wird in der Lage sein, das zu beweisen. Sie haben einen schweren Fehler begangen, Mr Wetron. Sie haben Mrs Denoons Neffen und ihren Sohn zugrunde gerichtet, jetzt aber hat sie Sie zugrunde gerichtet. Damit ist der Gesetzentwurf erledigt, und ich glaube, endlich auch der Innere Kreis. Voisey ist tot, und Denoon ist am Ende.«
Sie senkte den Blick auf Enid. Tränen traten ihr in die Augen. »Ich hoffe, sie hat noch mitbekommen, was sie erreicht hat«, flüsterte sie und ließ sie schließlich los. »Thomas, du solltest besser telefonieren, damit jemand kommt und diesen Verbrecher abholt. Du hast doch bestimmt Leute für solche Zwecke. Ich werde dann Lord Landsborough sagen, was verloren und was gewonnen ist.«
Ihm fiel ein, dass er unter all den vielen Dingen in seiner Tasche auch Handschellen hatte. Er nahm sie heraus und schloss Wetron damit an eine der Messingstangen des herrlichen Gitters um den Kamin herum an, sodass er genötigt war, nur einen Schritt von Enids Leiche entfernt auf dem Boden zu sitzen.
»Ja, natürlich«, sagte er. »Es tut mir Leid.«
Vespasia sah ihn an, ohne auf ihre Tränen zu achten. »Das muss es nicht, mein Lieber. So hat sie es gewollt, und ich denke, es hätte vielleicht auch gar keine andere Möglichkeit gegeben.«
»Danke, Tante Vespasia«, sagte er, schluckte und ging, um zu tun, was zu tun war.